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Nr. 2938

 

Die Union der Zehn

 

Auf der Suche nach Perry Rhodan – und der wahren Geschichte der Galaxis

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Die Kriegserklärung

1. Das Gedankengespinst

2. Einmal ist keinmal

3. Die Raumschlacht

4. Das Übliche

5. Die Zahlen des Navigators

6. Das ominöse Protektorat

7. Die Ankunft einer Legende

8. Die Verunfallten

9. Stolz und Vorurteile

10. Shifts

11. Der berühmte Nagezahn

12. Idole

13. Helden

Epilog: Diplomatie

Stellaris 61

Vorwort

»Der Schlüssel zur Versöhnung« von Roman Schleifer

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodans Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, lebt nach wie vor. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen immer noch Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.

Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten; dazu zählen auch die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris. Einst waren sie in der Milchstraße beheimatet und haben nun den Wunsch geäußert, erneut Kontakt aufzunehmen. Gegenwärtig hält sich Rhodan in ihrem Goldenen Reich auf, wo er auch auf ein Splittervolk der Menschheit gestoßen ist: das Neue Solare Imperium.

Auch seine Enkelin Farye Sepheroa-Rhodan ist dort gemeinsam mit Gucky auf der Spur jener Geheimnisse, die das Reich der Thoogondu und Gäonen umgeben. Es gelang ihnen, ein »telepathisches Archiv« zu erbeuten – und das nennt einen rätselhaften Begriff: DIE UNION DER ZEHN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Mausbiber untersucht das telepathische Archiv der Nachtherolde.

Farye Sepheroa-Rhodan – Die Kommandantin der BJO BREISKOLL sucht eine Spur zu Perry Rhodan.

Koray Ho – Der Gäone hantiert mit gondischer Technologie.

Truchnur – Der Khuluntur landet in einem fernen, unbekannten Sternensektor.

Shanina Sivathassam – Die Admiralin stellt den Terranern eine Falle.

»Was ist Wahrheit?«

(Pontius Pilatus, ca. 33 n. Chr., nach Joh. 18,38)

 

 

Prolog

Die Kriegserklärung

 

Pünktlich auf die Sekunde ging der angekündigte Hyperfunkanruf ein.

Shanina Sivathassam hatte nichts anderes erwartet. Verlässlichkeit und eherne Disziplin zählten seit jeher zu den Grundtugenden des Zweiten Solaren Imperiums.

Unverzüglich bestätigte die Kommandantin der BOUNT TERHERA den Empfang. Vor einigen Minuten hatte sie die Befehlsgewalt über das Superschlachtschiff der ARGUS-Klasse an den Ersten Offizier abgetreten und sich in ihr Privatquartier zurückgezogen.

Nur sie wusste, wer sie kontaktieren wollte. Trotzdem spürte Shanina, dass sich ihre Nackenhärchen aufstellten, so sehr sie sich bemühte, den Schultergürtel zu entspannen.

Es gab eine kurze Verzögerung. Klar: Die Verbindung war aufwendig kodiert.

Sie entschlüsselt zu etablieren, kostete selbst das hochgezüchtete Rechnernetz der TERHERA einen Moment. Es musste gewährleistet bleiben, dass niemand sonst an Bord des 1500 Meter durchmessenden Kugelraumers mithörte.

Endlich flammte das Holo auf, nicht ohne noch zwei-, dreimal zu ruckeln. Es zeigte das markante Gesicht eines Gäonen im besten Alter: eisgraue, makellos gestutzte Haare, hohe Geheimratsecken, energisches Kinn – ein Mann von Charisma und Entscheidungskraft.

»Admiralin«, sagte Arbo Perikles Dannan. »Sei mir gegrüßt. Ich freue mich, dich zu sehen.«

Sie salutierte, womit sie dem Oberkommandierenden der Raumflotte den Anflug eines Lächelns entlockte. »Die Freude ist ganz meinerseits, Sternenadmiral.«

In Wahrheit hatte Shanina dem avisierten Gespräch unter vier Augen mit einer gewissen Nervosität entgegengesehen. Was wollte der mächtigste Mann des ZSI von ihr?

Und vor allem: Warum durfte außer ihnen beiden niemand davon erfahren?

»Wahrscheinlich fragst du dich, was der Grund dieses Anrufs ist«, sagte Dannan nonchalant. »Ich will dich nicht lange auf die Folter spannen. Es geht um Perry Rhodan.«

 

*

 

Perry Rhodan ...

Die Lichtgestalt, die Legende. Begründer und Großadministrator des Ersten Solaren Imperiums.

Rhodan, die Schlüsselfigur, die der Menschheit den Weg zu den Sternen gewiesen hatte. Rhodan, der nach über eineinhalb Jahrtausenden in die 111 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernte Galaxis Sevcooris gekommen war, um ...

Ja, wozu eigentlich? Und ...

Shanina bemerkte, dass sie unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Sie räusperte sich. »Unter uns, Sternenadmiral ...«

Abermals erriet Arbo P. Dannan ihre Gedanken. »Unsere Analysten haben jegliche Zweifel ausgeräumt. Der Besucher ist tatsächlich mit dem historischen Rhodan identisch. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass er immer noch dieselben Werte vertritt.«

»Du hältst ihn für ...« Shanina Sivathassams Stimme drohte zu versagen. Mit Mühe brachte sie den Begriff über die Lippen: »Für einen Verräter?«

»Des Verrats am Solaren Imperium«, Dannan hob abwehrend den Arm, »würde ich ihn nicht bezichtigen. Noch nicht.«

»Aber?«

»Die Sache ist äußerst heikel, Admiralin. Kann ich mir deiner absoluten Loyalität sicher sein?«

»Selbstverständlich.« Das war kein Lippenbekenntnis.

Shanina verehrte den einige Jahre Jüngeren; nicht erst, seit er die höchste Führungsposition der Flotte und somit des Reiches erklommen hatte. Dannan stand für Pflichtbewusstsein, strenge Ordnung und – falls nötig – gnadenlose Härte gegenüber allen Feinden des ZSI.

»Ich glaube dir. Hör mir genau zu! Du hast die Ankunft Perry Rhodans im Neo-Solsystem mitverfolgt?«

»Ein klein wenig zeitverzögert, aber ... ja, klar.« Auch ihren entlegenen Außenposten hatten die Hyperfunkbilder vom nachgerade triumphalen Empfang erreicht, den die Gäonen dem biologisch unsterblichen Terraner bereitet hatten. »Mitsamt der Konfettiparade.«

»Peinlich, nicht wahr? Aber die Solastratorin hat darauf bestanden.«

Shanina vollführte eine wegwerfende Armbewegung, um zu vermitteln, welchen Stellenwert sie der offiziellen Regierungschefin beimaß. »Ich nehme an, es wäre zu früh gewesen, die offene Konfrontation zu suchen.«

»Richtig, Admiralin. Sehr richtig. Wir durften und dürfen nicht außer Acht lassen, dass Perry Rhodans Mythos in der Bevölkerung tief verankert ist.«

»Aber?«

Arbo P. Dannan verzog den rechten Mundwinkel um wenige Millimeter nach oben. »Ich glaube, dass Rhodan nicht zufällig in Sevcooris und im Orionsland aufgetaucht ist. Nicht aus heiterem Himmel, auf einmal, nach all dieser langen Zeit. Und schon gar nicht aus eigenem Antrieb.«

»Sondern?«

»Als Spitzel des Wanderers.«

»Du meinst ...?«

»Manches deutet darauf hin, dass ihn die Superintelligenz nach dem endgültigen Verlust ihrer Mächtigkeitsballung zu uns entsandt hat. Um auszukundschaften, ob sich Sevcooris als neue Basis eignen würde.«

»Seine öffentlichen Reden ...«

»Hörten sich anders an, ich weiß. Aber was Rhodan über die Verhältnisse in der Milchstraße und über die angebliche ›Liga Freier Galaktiker‹ erzählt hat, sind nichts als hochkomplexe Lügen. In Sachen Manipulation ist Rhodan unzweifelhaft der gelehrige Musterschüler des Wanderers.«

Shanina Sivathassam schauderte. Sie versuchte, das eben Gehörte möglichst schnell zu verarbeiten. Ein Idol, das sich als feindlicher Agent entpuppte ...

Sie drehte den Kopf und sah zur spärlichen Bildergalerie an der Stirnwand ihres privaten Arbeitszimmers hinüber. Zwischen animierten Holos ihrer engsten Familienangehörigen hing eine uralte, flache 2-D-Darstellung Perry Rhodans, wie er gerade dem legendären Mausbiber Gucky den pelzigen Schädel tätschelte.

»Uns allen«, sagte Arbo P. Dannan weich, jedoch mit Nachdruck, »fällt es schwer, uns von der idealisierten Vorstellung zu trennen, die wir von Perry Rhodan haben. Gleichwohl gebietet unsere grandiose Geschichte, allzeit wachsam zu bleiben.«

Er klopfte sich an die Brusttasche der Uniform, und Shanina tat es ihm gleich, ohne zu zögern. Das Emblem der Flotte, das heilige Wappen des ZSI, zierte ein Spruchband mit nur zwei Wörtern in altertümlicher Schrift.

Allzeit wachsam.

Sie atmete tief durch. »Was verlangst du von mir, Sternenadmiral?«

 

*

 

»Dies ist kein Befehl. Haben wir uns verstanden?«

Sie nickte. Ein Befehl würde in der Flottendokumentation vermerkt werden, und das wollte Dannan offensichtlich nicht.

»Ich äußere bloß eine Bitte«, sagte der wahre Machthaber des ZSI.

»Die da lautet ...?«

»Sehr wahrscheinlich werden, eher früher als später, ein oder mehrere weitere Großraumschiffe auf den Plan treten, die offen oder verdeckt unter Perry Rhodans Kommando stehen.«

»Verstehe.« Shanina hinterfragte nicht, wie der Sternenadmiral zu dieser Mutmaßung gekommen war. Dass er damit rechnete, bestätigte ein weiteres Mal, warum er und nicht sie die Zügel der Macht in der Hand hielt. »Wie soll die Wachflotte darauf reagieren?«

»Aus meiner bescheidenen Perspektive wäre es nützlich«, sagte Arbo P. Dannan, »wenn man in diesem Fall einen Zusammenstoß provozieren könnte, der Rhodan und seinen Leuten die Maske vom Gesicht reißt.«

»Wie weit soll i..., sollte man gehen?«

»So weit wie nötig.«

»Was genau gilt es zu erreichen?«

»Der Mann, der einmal Perry Rhodan, unser Vorbild und Held war, soll als das entlarvt werden, wozu er geworden ist: ein erbärmlicher Abklatsch früherer Tatkraft, ein verabscheuungswürdiges Echo ehemaliger Glorie.«

Shanina schluckte. Abermals blickte sie zu dem vergilbten Foto an der Wand.

Dann aber gleich wieder zurück zum Holo, wo ihr Oberbefehlshaber die dichten Augenbrauen hob und insistierte: »Rhodan ist ein Feind unseres Volkes. Unserer gesamten Idee einer reinen, einigen, zu Höherem berufenen Menschheit.«

»Ich soll also ...«

»Ihn auch so darstellen. Indem du ihn, beziehungsweise seine nachkommenden Truppen, zu einer offen feindseligen Aktion verleitest.«

»Welche Art von Aktion? Feindselig gegen wen?«

»Gegen uns, die Gäonen. Gegen das wahre Solare Imperium. Über die Mittel dazu verfügst du.«

Allerdings.

Vor ihrem geistigen Auge lief eine ganze, lange Liste möglicher, perfider Inszenierungen ab. »Wie ich sie einsetze ...«

»Bleibt dir überlassen, Admiralin. Du hast vollkommen freie Hand. Nur so viel: Wir bereiten uns seit vielen Generationen auf einen großen Krieg vor, nicht wahr?«

Shanina bejahte. In ihren Knochen und Sehnen spürte sie voller Stolz den Nachhall jenes Drills, den ihre begnadeten Ausbilder ihr hatten angedeihen lassen. »Irgendwelche Rücksichtnahmen auf Kollateralschäden, oder sonstige Einschränkungen?«

»Habe ich mich missverständlich ausgedrückt? – Meiner Ansicht nach befinden wir uns mittlerweile im Krieg, Soldatin. Definitiv in einem Krieg zugunsten unserer Zukunft, ironischerweise gegen unsere Vergangenheit.«

»Es wird Opfer geben.«

»Opfer, die wir bedauern und zugleich beglückwünschen. Weil sie geholfen haben werden, das Imperium zu retten. Für nichts anderes kämpfen wir.«

»Wir sind im Krieg«, wiederholte Shanina Sivathassam. Sie hätte gerne etwas mehr Zeit gehabt, diese lang ersehnte Ankündigung einsickern zu lassen.

»Ja, Admiralin. Und du und deine Wachflotte steht an vorderster Front, an der Grenze. Enttäuscht mich nicht!«

»Niemals.«

»Nichts anderes erwarte ich von dir. Nun denn, frisch ans Werk!«

Dannan tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Die Übertragung erlosch.

Völlig freie Hand!, dachte Shanina, während sie sich vor dem leeren Holo verneigte. Sie ballte die Hände zu Fäusten, führte sie zusammen und stützte ihr Kinn darauf. Oh ja.

Arbo P. Dannan hatte recht, wie immer. Tatsächlich verfügten sie und ihr Schiff, die BOUNT TERHERA, sowie die ihr unterstellten Geschwader über Möglichkeiten, von denen potenzielle Eindringlinge nicht einmal träumen konnten.

Shanina Sivathassam verspürte ein Kribbeln in allen Gliedmaßen. Sie war beglückt.

Wie freute sie sich darauf, die erwähnten Mittel endlich einmal anwenden zu können!

1.

Das Gedankengespinst

Drei Wochen davor

 

»Ausgeschlafen?«, fragte Gucky.

»Einigermaßen.« Donn Yaradua rieb sich die Augen und gähnte. Dann sagte er vorwurfsvoll: »Unangekündigt in eine fremde Kabine zu teleportieren, ist nicht die feine Art. Schon mal was von Intimsphäre gehört?«

»Ein- oder zweimal, wenn ich mich richtig erinnere ... Keine Sorge, die Gefahr, dich in einer delikaten Situation zu überraschen, war gering. Schließlich hast du selig geschlummert.«

»Was bedeutet, dass du zuvor auch in meinen Gedanken gestöbert hast.«

»Wie sollte ich?«, gab sich Gucky entrüstet. »Schließlich bist du mentalstabilisiert. Ich habe bloß telepathisch festgestellt, dass du schläfst. Dann dachte ich mir, ich wecke dich lieber selber, und nicht durch ein unpersönliches Anrufsignal.«

»Überaus rücksichtsvoll!«, grummelte Yaradua.

»Tja, so bin ich nun mal. – Wie fühlst du dich?«

Der groß gewachsene Terraner, dem Gucky telekinetisch die Decke weggezogen hatte, setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Er kratzte sich am Kopf, dass die braunen Stoppelhaare knisterten. »Geht so.«

»Irgendwelche Nachwirkungen des gestrigen Einsatzes?«

»Hm.« Yaradua horchte in sich hinein. »Nichts Schlimmes, glaube ich. – Bei dir?«

»Ausgeruht, rundum erholt, entsprechend tatendurstig.«

»Das habe ich befürchtet ... Wie spät ist es eigentlich?«

 

*

 

Man schrieb den 25. Oktober 1551 Neuer Galaktischer Zeitrechnung.

Am Vortag hatten Gucky und Donn Yaradua das telepathische Archiv der Nachtherolde, das diese als Hort der Wahrheit, die Thoogondu jedoch als Lügengespinst bezeichneten, auf die BJO BREISKOLL gebracht. Nur kurz war es Gucky gelungen, Kontakt mit dem Archiv aufzunehmen.

Was er dabei geespert hatte, reichte jedoch aus, um eine begründete Vermutung anzustellen: Der Hort enthielt die wahre Geschichte der Galaxis Sevcooris und der Ursprünge des Goldenen Reiches der Thoogondu – oder wenigstens wichtige Abschnitte daraus.

Irgendwie perfide: Das angebliche Lügengespinst enthielt offenbar jene Wahrheiten, welche die aktuellen Beherrscher dieser Sterneninsel mit aller Gewalt unterdrückten ...

Entsprechend begierig war Gucky darauf, mehr vom Archiv zu erfahren. »In etwa einer Stunde«, sagte er zu Donn Yaradua, »werde ich mir unsere Beute vorknöpfen. Da ich dich gerne dabei hätte, solltest du allmählich zusehen, dass du in die Gänge kommst.«

»Was soll ich ...?«

»Mich unterstützen. Notfalls, indem wir einen Parablock bilden. Zumindest theoretisch solltest du im Rahmen deiner Ausbildung darauf vorbereitet worden sein, oder?«

Mit seinen knapp 45 Jahren war Yaradua, der von einem hinterwäldlerischen Planeten stammte, kein Jungtalent mehr. Trotzdem galt er als Spätzünder, der seine parapsychischen Gaben bei Weitem nicht ausgereizt hatte.

Donn Yaradua war Metabolist. Als solcher konnte er auf die biochemischen Prozesse eines Lebewesens zugreifen und sie manipulieren. Müdigkeit, Schläfrigkeit, Hunger, Durst und so weiter vermochte er auszulösen, sogar die Atemgasaufnahme zu verhindern oder zu optimieren.

Auch Gefühle fast aller Art konnte er generieren. In begrenztem Umfang ließ sich seine Gabe auch zur Beschleunigung oder Unterdrückung körpereigener Heilprozesse einsetzen.

Nichts davon würde im Umgang mit dem erfolgreich geborgenen Hort der Nachtherolde direkt gefragt sein. Aber wie Gucky aus der Erfahrung von Jahrtausenden wusste, ergab die mentale Verbindung zweier Mutanten sehr oft wesentlich mehr als bloß eine Verdoppelung des parapsychischen Potenzials.

»Darf ich wenigstens vorher duschen und frühstücken?«, fragte Yaradua. Mit spitzen Fingern zupfte er an seinem von Nachtschweiß klebrigen Schlafanzug.

»Klar. Aber spute dich, husch-husch!«

Undefinierbares murmelnd, schlurfte Donn Yaradua Richtung Hygienezelle.

 

*

 

Gucky teleportierte zurück in die Hauptleitzentrale der BJO BREISKOLL.

Etliche Crewmitglieder zuckten zusammen, als er wie aus dem Nichts erschien. Nie hätte er zugegeben, dass er dabei diebische Freude empfand.

»Muss das wirklich immer wieder sein?«, fragte Farye Sepheroa-Rhodan, die Kommandantin des MARS-Kreuzers, mit leicht tadelndem Unterton.

»Es muss. Ich habe einen Ruf zu wahren. – Gibt's neue Erkenntnisse?«

Perry Rhodans Enkelin hob die Augenbrauen. »Nein, und das ist ganz gut so. Die Anwesenheit der BREISKOLL im Varchasystem scheint nicht bemerkt worden zu sein.«

»Fein. Yaradua und ich fühlen uns ab sofort in der Lage, das Archiv der Nachtherolde zu erkunden. Spricht etwas dagegen?«

Farye schüttelte den Kopf. Ihr Schlachtkreuzer der MARS-Klasse stand derzeit in einem abgelegenen, kaum frequentierten Sektor der Galaxis Sevcooris, viele Tausend Lichtjahre entfernt vom Ort ihres jüngsten Eingreifens.

Die BJO BREISKOLL trieb mit geringer Unterlichtgeschwindigkeit dahin, nahezu gänzlich ohne auffällige Energie-Emissionen. Uralte Raumfahrerregel: Im Zweifelsfall war der Leerraum zwischen den weit verstreuten Sternen immer noch das beste Versteck.

»Kannst du abschätzen«, fragte Rhodans Enkelin, »welche Nebenwirkungen die Öffnung des telepathischen Archivs mit sich bringen könnte?«

Wahrheitsgemäß verneinte Gucky. »Das ... Ding war zwar in meinem Kopf, aber während dieser Zeit hat es sich abgekapselt und blieb mir verschlossen.«

»Woher nimmst du dann die Zuversicht, nun doch darauf zugreifen zu können?«

»Erstens, weil Donn und ich uns und unsere Fähigkeiten regeneriert haben. Zweitens, weil der Hort, hatte ich den Eindruck, eigentlich danach giert, seine Weisheit zu offenbaren. Und vor allem drittens ...«

»Weil du Gucky bist?«

»Schön, dass wir einander verstehen.«

 

*

 

Man traf alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen.

Die Ingenieure und Bordmaschinisten adaptierten das Beiboot BBK-7, eine Korvette der 60 Meter durchmessenden DEIMOS-Klasse. Hauptsächlich schufen sie Platz für das Hochenergielabor-Modul, in dem der Schatz der Nachtherolde mittlerweile untergebracht war.

»Gibt es neue Untersuchungsergebnisse?«, erkundigte sich Gucky.

»Exakt null«, antwortete Master-Sergeant Quentin Slocombe. »Nach wie vor messen wir einzig und allein an, dass wir nichts messen. Dass also unsere Instrumente unfähig sind, dein Mitbringsel wahrzunehmen – geschweige denn, es zu analysieren.«

Trotzdem wirkte der 65 Jahre alte, kahlköpfige, auf Ferrol geborene Terraner, den Farye mit der Projektleitung betraut hatte, keineswegs frustriert. Dafür war Slocombe, seines Zeichens Robotiker und Spezialist für den Umgang mit Fremdtechnologie, viel zu sehr Pragmatiker.

Gucky seufzte theatralisch. »Fluch meiner Existenz. Alles lastet wieder mal auf meinen zarten Schultern!«

Schmunzelnd strich der Master-Sergeant mit Daumen und Zeigefinger über den kurz gestutzten, dunkelblonden Schnauzbart. »Du sagst es. Ohne dich geht gar nichts.«

Seit Gucky das telepathische Archiv gewissermaßen aus seinem Geist entlassen hatte, existierte es wieder unabhängig von ihm. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass nur er es zu bewegen und zu transportieren vermochte.

Deswegen sollte er, erläuterte Quentin Slocombe, sich bereits im Hochsicherheitslabor aufhalten, wenn dieses in die Korvette verfrachtet wurde. »Für alle Fälle, meint die Kommandantin.«

»Farye will den Hort der Nachtherolde unbedingt aus der BJO BREISKOLL haben, während Donn und ich den Zugriff versuchen, was?«

»Das Labormodul ist mit einem Paratronschirm gesichert. Natürlich können Strukturlücken geschaltet werden, für dich oder für eine vorhandene Transmitterverbindung zum Hauptschiff, aber ...«

»Durch diese könnten gegebenenfalls auch das Archiv selbst oder dessen Auswirkungen schlüpfen, schon klar.«

»Niemand weiß, ob und wie die Situation eskalieren wird. Wir bemühen uns, so viel wie möglich im Vorfeld zu bedenken.«

Die Besatzung der BBK-7 wurde auf dreißig Personen verdoppelt. Hinzu kamen etliche Wissenschaftler, Mediker und Sicherheitskräfte sowie drei Dutzend zusätzlicher Kampfroboter.

Donn Yaradua traf ein, intensiv duftend nach einem eher herben Männerparfüm. Ausnahmsweise verzichtete Gucky auf einen spöttischen Kommentar. Er wollte den Metabolisten nicht in die Verlegenheit bringen, sein labiles Selbstbewusstsein wieder einmal mit übertriebenen Respektlosigkeiten zu kaschieren.

Gemeinsam begaben sie sich in das Hochsicherheitslabor.

 

*

 

Der Hort der Nachtherolde schien sich nicht verändert zu haben.

Gucky nahm den immateriellen Gedankenspeicher als eine Art Kugel wahr, geflochten aus grellen, mentalen Blitzen. Der Durchmesser der Sphäre war nicht bestimmbar; mal erschien sie faustgroß, mal raumfüllend. Dann empfand Gucky sich wie in einer endlosen Holografie stehend, umgeben von unaufhörlichem Wetterleuchten.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragte er Yaradua.

»Bloß ein Flirren in der Luft. Aber ich kann die starke, psionische Präsenz zumindest erahnen. – Sollen wir einen ersten Versuch unternehmen, den Parablock zu bilden?«

»Jetzt noch nicht. Ich habe Farye versprochen, mit jeglichen Experimenten zu warten, bis wir in einigen Lichtsekunden Sicherheitsabstand zur BJO Position bezogen haben.«

Tags zuvor war Gucky daran gescheitert, das Archiv telepathisch zu kontaktieren. Der Hort hatte sich ihm nicht geöffnet, sondern war stattdessen in Guckys Geist teleportiert. Einen ähnlichen Fluchtreflex galt es zu verhindern. Auch dabei erhoffte sich Gucky Hilfe durch den Parablock mit Donn Yaradua.

Der muskulöse Terraner vertrieb sich die Wartezeit mit Gymnastikübungen. Es dauerte nicht lange, dann meldete Quentin Slocombe, dass die Überstellung des Labormoduls in die Korvette problemlos vonstatten gegangen war. Schließlich erteilte Perry Rhodans Enkelin dem Beiboot den Startbefehl.

»Bald wird's ernst«, sagte Yaradua. Er verzog den Mund zu einem Grinsen, das auf Gucky eine Spur zu forsch wirkte.

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Illustration: Dirk Schulz

2.

Einmal ist keinmal

Ungefähr zur selben Zeit

 

Lekhaim Tern erwachte aus tiefer Ohnmacht mit dem Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Schon der Entzerrungsschmerz war ihr irgendwie ... falsch vorgekommen. Gut, die Qualen, die mit einer Transition einhergingen, schienen jedes Mal aufs Neue ebenso unfassbar wie endlos.

Die Entstofflichung glich einer schlagartigen Auflösung in die winzigsten Bestandteile des Körpers. Als erlebte er förmlich eine Explosion von innen heraus, aber in Superzeitlupe.

Mit der räumlichen Versetzung hörten zwar die Schmerzen auf, aber der anschließende Schock der Rematerialisation führte praktisch immer zur Bewusstlosigkeit. Aber normalerweise erholte man sich deutlich rascher von den unvermeidlichen Strapazen der überlichtschnellen Raumfahrt.

Vielstimmiges Stöhnen erfüllte die Zentrale der GAUGRUCH. Im Flackern der Notbeleuchtung sah Lekhaim Tern, wie sich mehr und mehr ihrer Kameraden zu regen begannen.

Kommandant Truchnur, der einzige an Bord, der mehr Transitionen in den Knochen hatte als sie, war bereits wieder aktiv. Seine beiden stark behaarten Rüssel fegten über die Bedienflächen der Konsole.