Cover
Dynamik und Dominanz - Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 72 Heft 4 2017

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Liebe Leserinnen und Leser,

die Ohren gehören auch bei den Menschen zu den empfindlichen Organen. Davon können all die ein Lied singen, in deren sommerlicher Nachbarschaft Grillorgien, durchstartende Motorradfahrer, Open-air-Musikpräsentationen oder hochtourige Rasenkantenschneider zum Einsatz gelangen. Nicht minder kann den Augen Schmerz zugefügt werden – durch Skalpelle, grelles Licht, aber auch durch diese oder jene »Provokation« oder »Beleidigung«, d. h. durch Verletzung der einen oder anderen Sehgewohnheit.

Den Anfängen der musiktheatralen Video-Kunst war der Gedanke des Provokativen nicht wesensfremd. Reinhard Ermen beleuchtet sie am Beispiel des Medienpioniers und Grenzgängers Nam June Paik, der als »Vater der Videokunst« in das kollektive Gedächtnis einging. Gefeiert wird mit ihm auch dessen enge Mitarbeiterin, die Performance-Künstlerin Charlotte Moorman, für die Paik aus drei Monitoren das »TV Cello« baute. Das Foto der Heroine mit dem monströsen Ding ist ein Schlüsselbild des beginnenden Medienzeitalters und ziert daher das Cover dieses Heftes. Wer hätte in den Sechziger- und Siebzigerjahren gedacht, dass Paiks »Exhibitionen« als lokale und punktuelle Events so weitreichende und nachhaltige Folgen zeitigen? Deren Breite und Vielfalt im aktuellen Konzertleben untersucht Bernd Künzig vor dem Hintergrund des längst historisch gewordenen Verhältnisses von Musik und »Bewegtbild«. Diesen von der »Bereicherung« des Musikalischen durch die elektronischen Bildwelten durchdrungenen Essays vorgeschaltet sind grundsätzliche Überlegungen des Komponisten Johannes Kreidler zu den Strömungsgeschwindigkeiten des Fortschritts auf den Terrains der Bildenden Kunst und der Musik seit dem 19. Jahrhundert. Kreidler gelangt zur banal klingenden, gegenüber der Mehrzahl seiner KomponistInnen-KollegInnen aber zumindest leicht provokativen Feststellung: »Man muss mit den Medien der Zeit arbeiten«. Dass und wie weit die Regisseure des Musiktheaters dies offensiv oder en passant tun, ist Gegenstand der Streiflichter zum Videoeinsatz im Opernsektor in den zurückliegenden Jahrzehnten. Den Musikvisualisierungen im Kontext der Ars Electronica widmet sich das Interview mit dessen künstlerischem Leiter Gerfried Stocker. Und da es nicht zuletzt um neue Synthesen geht, wird mit Samson Young einer der professionellen »Grenzüberschreiter« porträtiert und die Frage aufgeworfen, wie »sich Musik und Sound in die variable Ereignisstruktur digitaler Spiele einfügen«. Lothar Knessl wagt schließlich einen kritischen Blick auf die scheinbar ubiquitäre »Mode« der Visualisierung von Musik.

Präsentiert wird mit dem vorliegenden Heft ausgesprochen Vielfältiges zum Zusammenhang von Hören und Sehen. Um es kurz und knapp und mit Karl Farkas zu sagen: »Schaun Sie sich das an.« // Die Redaktion

INHALT

DYNAMIK UND DOMINANZ
MUSIK IN NEUEN BILDWELTEN

Die Fotokraft Eine kleine Geschichte des technischen Vorsprungs der Bildenden Kunst zur Musik // Johannes Kreidler

Die Ausstellung als Performance Nam June Paik macht Musik // Reinhard Ermen

Ein Fest des Staunens Charlotte Moorman und die Avantgarde 1960–1980 // Reinhard Ermen

Bewegte Musik // Bernd Künzig

Musik jenseits des Klangs // Marko Ciciliani

Video – zappelige Zutat oder zentrales Modernisierungsmittel der Oper? // Frieder Reininghaus

Visueller Vormarsch // Lothar Knessl

Im Gestrüpp der Referenzen Samson Young, »Grenzüberschreiter« und Flaneur neuen Typs // Regine Müller

Bilder im Kopf // Bernhard Günther

In und jenseits der Steinzeit Historisierende Klanglichkeit im rezenten Videospiel // Marcus Erbe

Vom Filmprojektor zum Algorithmus Hundert Jahre Musikvisualisierung // Gerfried Stocker im Gespräch mit Judith Kemp

EXTRA

Der Blockflötenbau in Österreich 1930–1960 // Peter Thalheimer

FOKUS WISSENSCHAFT

Expedition Mittelalter // Christine Glaßner und Johannes Prominczel //

NEUE MUSIK IM DISKURS

»Im Cage’schen Sinn ist sowieso alles Musik« // Hannes Raffaseder im Gespräch mit Christian Heindl

RESPONSE

Ein Kaiser ohne Sinn, aber mit Verstand? Detlev Glanerts Caligula // Heidrun Eberl

BERICHTE
WIENER FESTWOCHEN

Langs/Meeses Mondparsifal Alpha 1–8 // Frieder Reininghaus

Chens Isvahara, Gintersdorfers/Klaßens Les Robots ne connaissent pas le Blues und Traiskirchen von Die Schweigende Mehrheit // Philip Röggla

KONZERTE, OPERN UND EIN JUBILÄUM IN WIEN

Henzes Elegie und Campras Idoménée // Frieder Reininghaus

Salieris Schule der Eifersucht // Konstantin Hirschmann

Kolonovits Vivaldi // Johannes Prominczel

Boulez kombiniert // Juri Giannini

200 Jahre MDW // Frieder Reininghaus und Judith Kemp

SYMPOSIEN UND VORTRÄGE

Kolloquium The Visual Dimension im Konzerthaus // David Wedenig

Übergabe des Teil-Nachlasses Karl Steiner im Arnold Schönberg Center

AUS DEM AUSLAND

Tour d’Allemagne // Frieder Reininghaus

Sanis Falcone in Berlin // Fabian Schwinger

Giro d’Italia // Daniele Corbani Verzeletti und Johannes Streicher

Ginasteras Bomarzo in Madrid // Bernd Feuchtner

REZENSIONEN

Bücher, CDs

DAS ANDERE LEXIKON

… Killed the Radio Star« // Stefan Schmidl

NEWS

Sommerfrische

ZU GUTER LETZT

Rindt, amerikanische Rindviecher, ihr Zaun und der Vogelschutz // Frieder Reininghaus

Vorschau

THEMA

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Im Fotostudio, Bild: www.apug.org

Die Fotokraft

Eine kleine Geschichte des technischen Vorsprungs der Bildenden Kunst zur Musik

Mit der Erfindung der Fotografie beschreitet die visuelle Kunst im 19. Jahrhundert neue Wege, in der sich die tiefgreifenden Umwandlungen einer zunehmend technisierten Gesellschaft widerspiegeln. In der Musik setzt dieser Prozess erst sehr viel später ein. Johannes Kreidler

Die Fotografie kam eigentlich zu früh. Das 19. Jahrhundert war noch gar nicht reif für diese Erfindung, die im wahrsten Sinne des Wortes 1829 das Licht der Welt erblickte. Mitten in das Biedermeier, in diese Zeit der Einkehr ins Häusliche, nachidealistisch Innerliche, in die Natur, in schwärmerische Leidenschaft und haube-/zylindertragendes Eheglück, platzte die genuin moderne Erfindung hinein, deren auditives Korrelat, die Schallaufzeichnung, erst fünfzig Jahre später (1878) Realität wurde. Niemand lächelt auf Fotos im 19. Jahrhundert. In den abgelichteten Gesichtern spiegelt sich das Fremdeln mit dem avantgardistischen Medium, welches die Menschen von ihrem Jahrhundert entfremdete. Die Fotografie hob sie aus der Zeit – fünf Minuten musste man Mitte des 19. Jahrhunderts absolut stillhalten, bis das Arrangement auf die empfängliche Silberplatte gebannt ward.

Das war zwar anstrengend, aber dennoch viel einfacher, billiger und originalgetreuer als stundenlange Sitzungen mit einem Maler, bei denen man dafür plaudern konnte. Technik siegte über Handwerk; die Fotografie machte die Porträtisten für immer arbeitslos. Genuin sich als Künstler verstehende Maler musste das nicht direkt betreffen, aber dennoch stellte die Technologie ein Faktum dar, auf das man zu reagieren hatte. Eine These beispielsweise sagt, dass der Impressionismus jene Nische aufsuchte, die die Fotografie (noch) nicht zu besetzen vermochte: den flüchtigen Moment. Wenn klobige Apparate die Menschen zu minutenlanger peinlicher Starre im Atelier zwangen, verschrieb sich Monet eben dem Augenblick, dem kurzen Aufschimmern draußen am Wasser, quasi ohne Ausdehnung, mehr Idee als reale Situation. Oder der Expressionist avant la lettre van Gogh zeichnete sich darin aus, dass seine impulsive Pinselschrift weithin sichtbar war, kein Illusionismus mit der Netzhaut (und eben mit der Fotoplatte) konkurrieren konnte und wollte.1 Kunst sollte nicht das Sichtbare wiedergeben, wie der Fotoapparat, sondern Unsichtbares sichtbar machen.

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Das Unsichtbare sichtbar machen: Vincent van Gogh auf einem Selbstporträt aus dem Jahr 1889. Bild: Musée d’Orsay, Paris/wikimedia.org

Neue Wege der Musik

Zweifellos hat der technische Fortschritt des 19. Jahrhunderts auch die Musik tangiert – vom modernen Konzertflügel mit gusseisernem Rahmen, der Liszts donnernd-virtuose Kaskaden erst ermöglichte, über Berlioz’ Experimente mit elektrisch synchronisierten Fernorchestern bis zu Wagners unsichtbarem Orchester im Graben, dem die heutigen »Black Boxes« (Lautsprecher, Laptop, Handy) entsprechen. Chopins Revolutionsetüde ist eigentlich die Etüde der Industriellen Revolution – sie erzählt von der sagenhaft technisch-meisterhaften Beherrschung des Klaviers, vom erforderlichen Übepensum vergleichbar mit Produktionsvorgaben der Betriebe, von der Wunderhaftigkeit der Hervorbringung, ähnlich wie Marx und Engels zu Beginn des Kommunistischen Manifests durchaus Bewunderung für die Produktionskraft des Kapitalismus aussprechen. Die Ware des herumreisenden Virtuosen ist die ›geronnene Arbeit‹ seiner heroischen Übeleistung, das Bravourstück. Hier fand sich das aufstrebende Bürgertum ebenso wieder wie der Fabrikarbeiter.

Zur Zeit der Entdeckung fotografischer Technik 1829 beschritt auch die Musik neue Bahnen. Die musikalische Romantik trat auf den Plan, hatte anderes Empfinden und neuen Ausdruck mitzuteilen, ihre Generation der um 1810 geborenen Komponisten (Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt, Wagner) wurde erwachsen und tätig. Beethoven war zwei Jahre davor gestorben. Doch dessen Erbe wog schwer und die Erben hatten ihre liebe Not damit. Das Orchester der Frühromantik war den neuen ästhetischen Anforderungen nicht mehr gewachsen, denn es war noch das Orchester Beethovens. Behäbig und dumpf – so lautet das weithin anerkannte Urteil – tönen die großbesetzten Arbeiten Schumanns, ganz im Gegensatz zu seinen brillanten Klavierkompositionen. Ich würde sogar denken, dass das Problem beim späten Beethoven schon zutage tritt. Der erste Satz seiner Neunten Symphonie steht im klanglichen Resultat jenem wuchtigen Anspruch nach, den die thematisch-formale Anlage erhebt, es wirkt bisweilen eher schwerfällig als gewaltig. Holz, wo Blech sein müsste. (Schlau genug stellt Beethoven gleich dahinter ein flottes Scherzo.) Erst Berlioz und Wagner gaben dem Orchester wieder Kraft und Glanz.

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Berlioz, hier karikiert von Grandville, und Wagner verliehen dem Orchester neue Kraft. Bild: L’Illustration, 1845.

Derweil überzog die Industrialisierung die Landschaften mit Fabrikhallen und Schornsteinen, durchschnitten Eisenbahnschienen und Telegrafenmasten die Flure, die Verstädterung mit ihren Arbeiterheeren spornte Theoretiker wie Marx zu scharfsinnigen Analysen und revolutionären Utopien an. Dieser Zeitgeist musste sich irgendwie auch in den Werken der Musiker wiederfinden. Aber anders als der Bildenden Kunst fehlte der Musik im 19. Jahrhundert der direkte produktive Druck, wie ihn die Fotografie auf die Malerei ausübte. Es ist immer gut, wenn von Kunst etwas überflüssig wird, es muss in ihr ja wirklich ums Notwendige, Unabdingbare gehen. Jede Redundanz muss raus. »Die Fotografie«, schrieb der Fotograf Edward Weston (1886–1958), »hat ein [recte: einen] Gutteil der Malerei für null und nichtig erklärt oder wird es irgendwann tun – ein Umstand, für den der Maler zutiefst dankbar sein sollte.«2

Stagnation in der Idylle

Industrialisierung, Revolution 1848, Darwin und das Aufkommen des Sozialismus haben nicht gerade unmittelbaren Eindruck auf das Komponieren gemacht. Bayreuth war zwar mit einer modernen Bühnenbeleuchtung ausgestattet (Gaslampen statt Kerzenschein), aber gerade diese Verlagerung nach Bayreuth, weitab der industriellen Zentren, die Themen von Liebestod und religiöser Erlösung, entrückt in eine mittelalterliche Märchenwelt – all das sind ur-romantische Motive. So setzte auch der musikalische Impressionismus erst dreißig Jahre nach dem malerischen ein, und Brahms blieb eigentlich sein Leben lang ein weit verlängerter Biedermeier. Derweil malte Degas schon von Fotos ab: Er begründete die Ästhetik des gemalten Schnappschusses, mit mitten im Gesicht abgeschnittenen Figuren und ungestellten Körperhaltungen. Ebenso wüsste man nicht, was seinerzeit in der Musik vergleichbar gewesen wäre mit dem experimentell-physikalischen Pointilismus eines Seurat. Bruckners Symphonien sind dagegen Schlachtengemälde.

Eher vernimmt man in der Musik die Fabrikhallen ex negativo. Schuberts Naturverbundenheit kann man als eine frühe Gegenbewegung zur Industrialisierung lesen. Sein Wanderer wandert nicht, sondern rennt weg vor der Mühle; die Klavierbegleitung des ersten Liedes aus der Schönen Müllerin hämmert schon ganz maschinell, so dass es in der letzten Strophe zum Klassenkampf kommt: »Herr Meister und Frau Meisterin, lasst mich in Frieden weiterziehn und wandern!« Bei Brahms’ Volksliedbearbeitungen wird es dann endgültig irreal; den uralten Weisen gab er eine ganz durchlässige, aquarellartige Klavierbegleitung. Die Hirtenidyllen verblassen im Rauch der Schlote.

Ein direktes musikalisches Pendant zu Menzels berühmtem Gemälde des Eisenwalzwerks ist uns hingegen aus dem 19. Jahrhundert nicht bekannt. Die Musik schien romantische Gegenwelt zu sein oder transzendente innerliche Welt, in der alle Erfahrung eingeschmolzen ist in ein quasi zeitloses Medium. (Der Instrumentenbau der Orchesterinstrumente war im Laufe des 19. Jahrhunderts abgeschlossen, mit wenigen Ausnahmen bis zum heutigen Tag.) Auch die Progammmusik tat sich dahingehend nicht allzu konkret hervor. Die Hämmer Nibelheims sind da eine singuläre Ausnahme.

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Während Fotografie und Malerei die Industrialisierung vielfach thematisierten, wie etwa Adolph Menzel in seinem Ölgemälde Eisenwalzwerk aus dem Jahr 1875 (Ausschnitt), blieb die Musik bis weit ins 19. Jahrhundert in der Welt der Idylle und Innerlichkeit verhaftet. Bild: Alte Nationalgalerie Berlin/ wikimedia.org

Es wäre aber abwegig, zu behaupten, die klingende Kunst des 19. Jahrhunderts habe vergleichsweise minderen Wert. Schumann, Liszt, Wagner oder Bruckner wussten authentischen Ausdruck zu erbringen. Erst in der Folge entwickelte sich der inhaltliche Abstand allmählich zum Rückstand. Es fehlte etwas.

Aufholjagd der Musik?

Um 1910, als alle Künste im Aufbruch waren, legte die Bildende Kunst besonders viele Innovationen vor: Mag Schönbergs Atonalität der Gegenstandslosigkeit Kandinskys entsprochen haben und Strawinskys schnitthafte Polystilistik Picassos Kubismus, stellte Duchamp auch schon die ersten Readymades auf den Sockel und hing Malewitsch sein Schwarzes Quadrat auf – darauf musste die Musik noch bis Cage, La Monte Young und Luc Ferrari warten. Kamen Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Fotografenkünstler (Reijlander, Robinson, Nadar) auf und brauchte der Film von der Invention bis zu den ersten veritablen Kinokunstwerken (Griffith, Caligari) zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, vergingen zwischen den frühesten Klangmitschnitten und Pierre Schaeffers Tonbandkunst siebzig. Von einer Existenzbedrohung oder wenigstens einem produktiven Druck kann man seitens der Komponisten überhaupt nicht sprechen – Bartók wäre bei der Transkription seiner Volksliedaufnahmen nicht auf die Idee gekommen, dass der Vorgang eine eigene Ästhetik generieren könnte. Die Wachsrollen warf er hernach als wertlos fort. Erst die Musique Concrète hat nach dem Zweiten Weltkrieg illusionistische Klangmalerei fortan als altmodisch erscheinen lassen.

In diesen Tagen ist im Diskurs der Neuen Musik öfter davon zu lesen, dass die Bildende Kunst weitaus progressiver, weiter vorne dran sei als die Musik. Peter Ablinger weist notorisch darauf hin, dass der Instrumentalmusik eigentlich die Ölmalerei entspreche, die in der Bildenden Kunst längst ein marginales Dasein inne habe;3 Christian Grüny und Hannes Seidl stellen fest, dass der (post)konzeptuelle Zustand, in dem sich die Bildende Kunst befinde, in der Musik auf sich warten lasse.4 Auch mir geht es so, dass ich mich mit Lautsprecherklang mitunter besser identifizieren kann als mit Oboe und Fagott, oder mir ein Cello im Medium des Videos besser rhythmisiert erscheint. Man muss mit den Medien der Zeit arbeiten; Beethoven hat ja auch nicht für Gambe und Cembalo komponiert.

Über Gründe für diese mediale Rückständigkeit in Neuer Musik habe ich an anderer Stelle geschrieben.5 Was ich dabei noch nicht gesehen habe, ist die zeitliche Weite, in die dieser Umstand zurückreicht. Die Erfindung der Fotografie wurde nicht nur für die Bildende Kunst zum Problem, sondern auch für die Musik. 1829 begann vielleicht schon ein Vorsprung des Bildlichen vor dem Klanglichen, der erst heute, durch die Digitalisierung und Konzeptualisierung aller Kunstpraktiken, wieder eingeholt wird. Als Konzept steht jede Kunstidee hinter der materiellen Manifestation; und im Code werden alle Sparten in dasselbe Medium transformiert, dadurch mindestens technisch angeglichen zur ›Medienkunst‹. Sicherlich kann man die Geschichte auch anders sehen und erzählen, doch mir erscheint der Bogen plausibel: vom Foto zur Synthese. //

www.kreidler-net.de

Johannes Kreidler ist Komponist, Konzeptkünstler und Musikschriftsteller. Er lehrt an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. In seine Arbeiten bezieht er häufig multimediale Verfahren ein.

Anmerkungen

Vgl. Stefan Heidenreich, Was verspricht die Kunst?, Berlin 1998.

Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 1993, S. 140.

Peter Ablinger, »Konventionalität der Musik«, in: Positionen 34 (1998), S. 40.

Christian Grüny, »What’s so special about music?«, in: Dániel Péter Biró u. Kai Johannes Polzhofer (Hg.), Perspectives for Contemporary Music in the 21st Century, Hofheim 2016, S. 110–136; Hannes Seidl, »Wer A sagt, muss auch Kreis drum machen«, in: Musik & Ästhetik 79 (2016), S. 76–80.

Johannes Kreidler, »Der aufgelöste Musikbegriff«, in: Musik & Ästhetik 80 (2016), S. 85–96.

THEMA

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Charlotte Moorman performt Nam June Paiks One for Violin Solo, New York, 1968, Foto: Julie Abeles. Courtesy of Charlotte Moorman Archive, Charles Deering McCormick Library of Special Collections, Northwestern University Library, mit freundlicher Genehmigung des Museums der Moderne, Salzburg

Die Ausstellung als Performance

Nam June Paik macht Musik

Er gilt als Pionier der Medien- und Videokunst, aber eigentlich war er Komponist: der Südkoreaner Nam June Paik (1932–2006). Reinhard Ermen

Die erste Einzelausstellung von Nam June Paik 1963 in Wuppertal, in Rolf Jährlings Galerie Parnass, war ein Paukenschlag. Schon das Entré von Exposition of music – Electronic television fiel aus dem Rahmen, die Besucher mussten sich unter dem Kopf eines frisch geschlachteten Ochsen durchducken. Über das ganze Haus verteilt waren thematische Räume eingerichtet und auch der Garten des großbürgerlichen Anwesens wurde bespielt. Der Schrecken, der mit dem triefenden (und bald auch übel riechenden) Tierkopf begann, wurde in der Ausstellung partiell fortgesetzt. Im Badezimmer unterm Dach ertränkte der Koreaner eine Schaufensterpuppe in der Wanne. Einen Fuß hatte er abmontiert und im Keller an einem Heizungsrohr aufgehängt. Wenn dieser Fuß gegen ein ebenfalls an einem Draht befestigtes Stück Holz schlug, kam etwas von der versprochenen Musik, die sich nicht aufdrängte, zum Vorschein. Silberfolien säuselten anderswo in der Zugluft. Der Schallplattenschaschlik drehte sich. Wer den angehängten Tonarm zur Hand nahm, konnte etwas aus den aufgespießten schwarzen Scheiben herausholen. Die manipulierten Fernseher im Vestibül spielten attraktive Bildstörungen. Die gesamte Ausstellung sei alles in allem gar nicht so laut gewesen, sagte 1992 Manfred Leve, der das Ereignis seinerzeit fotografisch dokumentierte. Was die Lautstärke betrifft, muss es aber eine Ausnahme gegeben haben. Im Zimmer mit vier skulptural erweiterten und präparierten Klavieren kam es fast zum Eklat, als ein Besucher zuschlug. Joseph Beuys bespielte eines der Pianos mit einem eigens dafür mitgebrachten Hammerstil.

Pionier und Grenzgänger

Von dem, was Nam June Paik später berühmt machte, ist die Wuppertaler »Exhibition« noch ziemlich weit entfernt und doch verweist sie schon auf das Kommende, den Medienpionier, den Grenzgänger, der als »Vater der Videokunst« in das kollektive Gedächtnis einging; so jedenfalls lautet die Überschrift des Nachrufs am 30. Jänner 2006 im Spiegel. Bezeichnenderweise hatte der spätere Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie eine entsprechende Hochschule selbst nie besucht. Ein Seiteneinsteiger, ein »Kulturnomade«1 stellte sich vor, ein Musiker auf Abwegen, der aus seinem besonderen Blickwinkel Althergebrachtes neu sah und hörte. Im Falle der TV-Zukunft wagte er Wege, die zu dieser Zeit noch abenteuerlich erschienen. 1932 wurde er in Seoul (Korea) geboren. Er war ein musikalisches Kind und spielte Klavier; mit fünfzehn Jahren entdeckte er Arnold Schönberg für sich. 1950 floh die Familie vor dem Koreakrieg nach Japan. Hier studierte Paik ab 1953 Philosophie, Musik und Ästhetik, die Abschlussarbeit 1956 schrieb er über die Musik Schönbergs. Im gleichen Jahr ging er nach München, wo er bis 1958 bei Thrasybulos Georgiades Musikgeschichte »hörte« (so steht es in der MGG). 1958 war er Kompositionsschüler bei Wolfgang Fortner. Dieses Gastspiel in Freiburg, das in jeder Paik-Biographie gewürdigt wird, muss sehr kurz gewesen sein. Jedenfalls ironisiert Jean-Pierre Wilhelm in seinem witzig zugespitzten Text für die Exposition of music das Studium auf »Zwei Minuten«.2 Immerhin empfahl Fortner ihm das Studio für elektronische Musik des WDR in Köln. Mit dem dort residierenden Karlheinz Stockhausen verband ihn weniger die elektronische Musik als die Zusammenarbeit in dessen ›musikalischem Theater‹ Originale (Köln 1961). Spätestens seit dieser Zeit war er mittendrin in der Fluxus-Szene, wo Kunst, Musik und Theater zusammenkamen. Das eigentliche Schlüsselerlebnis seiner Entwicklung waren freilich 1958 die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt: Nam June Paik begegnete John Cage. Seine erste öffentlich aufgeführte Komposition, bezeichnenderweise eine Hommage à John Cage – Musik für Tonbänder und Klavier erlebte 1959 in der Galerie 22 von Jean-Pierre Wilhelm in Düsseldorf ihre Uraufführung; zur Eröffnung einer Ausstellung von Horst Egon Kalinowski.

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Sprengkraft der Kunst: Nam June Paik mit Bombe, Takehisa Kosugi und Charlotte Moorman 1965 in New York. Foto: © Barbara Moore/Licensed by VAGA, NY, mit freundlicher Genehmigung des Museums der Moderne, Salzburg

Cage?

Der »sonderbare Amerikaner«, wie Paik ihn in seiner Rezension der Ferienkurse 1958 für die koreanische Zeitung Tchayua Shinmun vom 6./7. Jänner 1959 charakterisierte, arbeitete mit Prinzipien, die den jungen Mann (»aber ich war noch kein Künstler«3456