image

Lob des Realismus

Die Debatte

Rolf Bossart
Heinz Bude
Wolfgang Engler
Jette Gindner
Nicole Gronemeyer
Boris Groys
Jakob Hayner
Alexander Kluge
Simon Kubisch
Peter Laudenbach
André Leipold
Thomas Ostermeier
Armin Petras
Milo Rau
Kathrin Röggla
Eugen Ruge
Enno Stahl
Bernd Stegemann
Wolfgang Streeck

image

Lob des Realismus – Die Debatte

Herausgegeben von Nicole Gronemeyer und

Bernd Stegemann

© 2017 by Autorinnen und Autoren

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

| Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Titelbild und Gestaltung: Kerstin Bigalke

ISBN 978-3-95749-074-2 (print)

ISBN 978-3-95749-131-2 (eBook)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Es geht wieder um Realismus

Wolfgang Engler

Es geht (wieder) um den Realismus

Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung

Eugen Ruge

Die andere Art des Wissens

Ein Plädoyer für das Erzählen

Kathrin Röggla

Negativer Realismus

André Leipold

Hyperreales Theater

Das Zentrum für Politische Schönheit schärft die Konturen der Realität

II. Künstlergespräche über Realismus

Tschukowskis Telefon

Umwege zum Realismus

Alexander Kluge im Gespräch mit Nicole Gronemeyer

Buchenwald, Bukavu, Bochum

Was ist globaler Realismus?

Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossart

Wir Ichlinge

Wie das Theater als vorpolitischer Raum der Vereinzelung im Neoliberalismus entgegenwirken kann

Thomas Ostermeier im Gespräch mit Wolfgang Engler

Wo ist Wir?

Armin Petras im Gespräch mit Nicole Gronemeyer

Das Helsingør-Syndrom

Über den kapitalistischen Realismus und seine möglichen Alternativen

Simon Kubisch im Gespräch mit Jakob Hayner

III. Realistische Kunst

Boris Groys

Für den Neuen Realismus oder Die Rückkehr der Seele

Enno Stahl

Analytischer Realismus im Roman

Peter Laudenbach

Realness ist nicht realistisch

Einige Beobachtungen zum Grenzverkehr zwischen Kunst und Wirklichkeit

Jakob Hayner

Nichts als Schein

Bemerkungen zum Begriff des Realismus

Jette Gindner

Realismus nach 2008

Kunst und die Krise des Kapitalismus

IV. Politischer Realismus

Heinz Bude

Postparadoxer Realismus

Wolfgang Streeck

Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus

Bernd Stegemann

Der Realismus ist tot

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Seit das „Lob des Realismus“ von Bernd Stegemann im Jahr 2015 den Versuch unternommen hat, an die folgenreichen Debatten um die realistischen Künste anzuknüpfen und sie für die Gegenwart fruchtbar zu machen, sind in der Zeitschrift Theater der Zeit mehr als ein Dutzend Beiträge hierzu erschienen. Künstlerinnen und Künstler, Theoretikerinnen und Theoretiker von internationalem Rang und aus den unterschiedlichsten Disziplinen haben Position bezogen und versucht, die Diskussion um einen neuen Realismus für unsere Zeit zu führen. Grund genug, diese wertvollen Beiträge in Buchform zugänglich zu machen und um weitere Statements zu ergänzen.

Alle Beiträge sind in einem Punkt einig: Ihr Verständnis davon, was Realismus bedeutet, bezieht sich nicht auf eine Erkenntnis der Welt „ohne uns“, sondern ringt um eine Haltung zur Welt, in der sich die Widersprüche wieder zuspitzen. Diese Widersprüche hat Wolfgang Streeck in seinem Text klar für unsere Gegenwart analysiert, die er in Anlehnung an Gramsci als Interregnum bezeichnet: eine Zeit von unbestimmter Dauer, in der eine alte Ordnung schon zerbrochen ist, eine neue aber noch nicht entstehen kann, eine Zeit voller Verwerfungen und Unsicherheiten, in der alte Lösungen nicht mehr greifen und neue noch nicht gefunden sind. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Realismus steht also die Frage, wie die Kunst diese Widersprüche erkennbar machen und mit welchen ästhetischen Mitteln sie sie ins Werk setzen kann.

So gilt für die meisten der Beiträgerinnen und Beiträger der Realismus Bertolt Brechts als Wegmarke. Sein episches Theater zielte darauf, die Wirklichkeit nicht zu bestätigen, sondern dagegen zu protestieren. Und seine realistische Methode wollte die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung sichtbar werden lassen. Im Verlauf der jüngeren Theatergeschichte haben sich die Verfremdungsmittel von der ihnen zugeschriebenen Rolle entfernt und beanspruchen immer mehr eine ästhetische Autonomie, in der die Eigenrealität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund treten soll. So wurden die Mittel der Verfremdung von einem Instrument dialektischen Denkens zu Mitteln der Dekonstruktion umgebaut. Deren Bescheidenheit, angesichts einer komplexen Wirklichkeit die Unmöglichkeit von Repräsentation zu thematisieren, ist jedoch inzwischen zu einer Herrschaftsgeste geronnen. Alain Badiou brachte die politische Tendenz einer solchen Kunst in einem Interview auf den Punkt: „Ich misstraue dieser Richtung. In diesem Fall zöge das Theater aus der Betrachtung der Welt, wie sie ist, die Schlussfolgerung, es müsse der Welt entsprechen. Darin besteht die gesamte Idee des postdramatischen Theaters, des Theaters, das selbst potenziell zu einer Zirkulation von Gegenständen und Zeichen wird, oder von Körpern und Zeichen, allerdings von in ihren leidenschaftlichen oder zerrissenen, aber gleichzeitig hoffnungs- und ausweglosen Beziehungen beinahe objektivierten Körpern. Wenn das Theater sich nur zum Spiegel der Logik des Fehlens einer Welt macht, betrachte ich es, selbst wenn es sich für avantgardistisch hält, als konservatives Theater. Es ist eine Konzeption des Theaters als Ende des Theaters. Es ist ein Theater, das seine eigene repräsentative Unmöglichkeit in einer Welt darstellt, die es nicht mehr erlaubt, dargestellt zu werden. Und das ist meiner Meinung nach ein nihilistisches Theater. Ein Theater, das in einem neuen Sinn weiterhin lebendiges und dramatisches Theater ist, ist ein Theater, das den Widerspruch zwischen dem Fehlen einer Welt und dem Wunsch nach einer Welt zur Schau trägt. Das Theater ist ein aktives Prinzip.“1

Sich heute die Frage nach dem Realismus zu stellen, führt demnach ins Zentrum einer Kritik der Postmoderne. Denn es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Dekonstruktion von sprachlichen und sozialen Zuschreibungen immer weiter von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt und in ihr Gegenteil verkehrt hat. In Zeiten von alternativen Fakten und Internettribunalen hat die Dekonstruktion immer öfter den Effekt, dass angesichts einer zersplitterten Realität nicht mehr zu erkennen ist, wer tatsächlich in ihr profitiert. Es ist also an der Zeit, den kollektiven Individualismus als „große Erzählung“ eines enthemmten Neoliberalismus zu begreifen, von dem nur wenige profitieren und der ein unfassbares Ausmaß an globaler Ausbeutung und Zerstörung produziert hat. Oder wie Milo Rau sagte: „Denn das ist für mich die einzige Weise, realistische Kunst zu schaffen: wirklich einzugreifen ins Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte. Trotz der ganzen beschissenen Zweideutigkeit jeder Position.“

Wir möchten allen Autorinnen und Autoren und allen Gesprächspartnern für ihre klugen Diagnosen danken und wir danken dem Verlag Theater der Zeit, dass er einer solchen Debatte den Raum gegeben hat, den sie in unserer Zeit nicht selbstverständlich erwarten durfte.

Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann Berlin, September 2017

1Alain Badiou im Gespräch mit Florian Borchmeyer im Spielzeitheft der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 2015.

I.

Es geht wieder um den Realismus

Wolfgang Engler

Es geht (wieder) um den Realismus

Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung

1

„Am Ufer eines breiten Stromes, oder vielleicht auch am Abhang eines steilen Berges, steht eine Reihe von Statuen. Sie sind aus Marmor. Sie können ihre Glieder nicht bewegen. Aber sie haben Augen und können sehen. Vielleicht auch Ohren, die hören. Und sie können denken. Sie haben ‚Verstand‘. Man kann annehmen, daß sie einander nicht sehen, auch wenn sie wohl wissen, daß andere existieren. Jede steht für sich. Ganz für sich und allein nimmt jede der Statuen wahr, daß etwas auf der anderen Seite des Stromes, oder des Abgrunds, vor sich geht; sie bildet sich Vorstellungen von dem, was da vor sich geht, und grübelt darüber nach, wieweit diese Vorstellungen dem, was vor sich geht, entsprechen. Manche denken, solche Ideen spiegeln einfach die Vorgänge auf der anderen Seite wider. Andere denken, vieles an ihnen ist eine Zutat des eigenen Verstandes; letzten Endes kann man nicht wissen, was wirklich drüben vor sich geht. Der Abgrund ist zu tief. Die Kluft ist unüberbrückbar.“1

2

Was, wenn die Statuen außer Augen und Ohren noch Münder besäßen und sprechen könnten, laut genug, um sich mit den Nachbarn und weiteren in der Reihe zu verständigen? Dann ließe sich herausfinden, was andere sehen und hören. Skulptur für Skulptur würde zusammengetragen, was sich aus den jeweiligen Standorten an Eindrücken aufdrängt und zu diesen oder jenen Mutmaßungen führt. Die Ungewissheit über das, was in der Ferne letztlich vor sich geht, wiche allein dadurch nicht. Um die „Wahrheit“ zu erfahren, müssten die Statuen aufhören, Statuen zu sein, ihre Starrheit überwinden, zum anderen Ufer übersetzen oder den Abhang hinuntersteigen. Womöglich aber wiche das beklemmende Gefühl, in der eigenen Wahrnehmung, dem eigenen Urteil wie in einem Käfig eingesperrt zu sein. Dort ging tatsächlich etwas vonstatten, sagte sich jede der Statuen, und einen Zipfel davon hatte ich, wie verschwommen und vage auch immer, vermutlich erhascht.

Aber vielleicht wäre auch das Gegenteil der Fall, um sich greifende Verwirrung und Verunsicherung infolge eines unschlichtbaren Widerstreits der Deutungen. Dann wüchsen die Zweifel in die Tauglichkeit des eigenen Verstandes, erschiene dieser als Quelle aller Täuschungen und Missverständnisse, als Betrüger, und die Statuen mutierten zu postmodernen Philosophen: Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen ohne Wahrheitsanspruch. Ihr Bild von sich gliche dem Bild, das diese Philosophen vom Menschen als einer „gescheiterten Spezies“ zeichnen. Gerade weil Menschen sich Weltzusammenhänge nur als die Wesen anzueignen vermögen, die sie sind, denkend, begrifflich, Modelle bildend, entginge ihnen, wie diese Zusammenhänge an und für sich, unabhängig von diesen Konstrukten beschaffen sind. Die Verfasstheit von Lebewesen, die Conditio humana in diesem Fall, zur Ursache ihrer Weltentfremdung umzudeuten, ist wahrlich bizarr. Tatsächlich ist das vermeintliche Paradox Wort für Wort ein Argument für und nicht gegen die (mögliche) Realitätsnähe menschlicher Vorstellungen. „Es ist unbestreitbar, dass wir die Welt ‚vom Standpunkt‘ eines Menschen sehen, wie Kant gesagt hat. Doch bedeutet dies nicht, dass wir sie damit nicht erkennen können. Wir erkennen eben vom Standpunkt eines Menschen, wie die Welt an sich ist.“2

3

Nur sind dieser Menschen und folglich auch ihrer Standpunkte viele, unvorstellbar viele, wenn man auf die Menschheit blickt. Wie gelangt man da zu einem überindividuellen, gemeinschaftlichen Realitätsverständnis? Was verbürgt dessen Stichhaltigkeit? Wie entkommt man dem Käfig, den Idolen des Stammes, der Höhle, des Marktes, des Theaters aus Francis Bacons „Novum Organum“? Das ist weder möglich noch nötig, lautet der Bescheid der Postmoderne. Nicht möglich aus Gründen, die die postmoderne (poststrukturalistische, konstruktivistische) Philosophie vor Augen führt, nicht nötig aufgrund der Arrangements der postmodernen Konstellation. Der Käfig wird zur Heimat, zum Hort der Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung. Die Parabel der denkenden, sprechenden Statuen lanciert das Bild des Menschen als eines Homo clausus, eines von allen anderen Menschen abgetrennten, in seine eigene Welt gebannten Individuums. Die Postmoderne verklärt die Trauer, die dieses Bild hervorruft, zur Melancholie. Etwas ging verloren, aber was genau, ist schwer zu sagen; das Verlorene wiederzugewinnen ist offenkundig aussichtslos. „Man muss die Hoffnungslosigkeit als solche hinnehmen, von ihr im Denken ausgehen und sich leiten lassen“, beschrieb Jean-François Lyotard diese postmoderne Mentalität, und: „Was machen wir, wenn wir keinen Horizont der Emanzipation haben, wo bieten wir Widerstand?“ „Im Hinterfragen der Regeln von Kunst“, lautete die Antwort.3 Das „Hinterfragen der Regeln von Gesellschaft“ steht seither nicht mehr auf dem Programm postmoderner Theoretiker.

4

Diesen Regeln auf die Spur zu kommen, verlangt unter den obwaltenden Verhältnissen gehörige Anstrengung. Sie zu entmutigen, geschieht so gut wie alles. „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen und Familien“, der Ausspruch stammt von Margaret Thatcher, und die musste es wissen. Die Gesellschaft in eine Ansammlung isolierter Einzelner zu verwandeln, die jenseits von Stand und Klasse lebten (und dachten), war schließlich ihr Projekt. Die systematische Schwächung und gewaltsame Zerschlagung von Organisationen der Arbeiterschaft, begleitet von einer Schockwelle der Privatisierung, bereitete den Boden für die Pflugscharen des neoliberalen Unternehmertums. Die Arbeit selbst wurde in eine kaum mehr überschaubare Vielfalt von Arbeitssituationen, Arbeiterlagen aufgespalten. Wo immer diese Methode zum Einsatz kam, entstanden Risse, Spaltungen zwischen Zentrum und Peripherie, Stammbelegschaften einerseits, Leih-, Zeit-, Hilfsarbeitern, Beschäftigten mit Werkverträgen, illegal in Dienst Gestellten ohne alle Rechte andererseits. Jede neue Kategorie abhängig Beschäftigter verschleierte zusätzlich die ungeheure Kluft, die sich zwischen Arbeitsvolk und Arbeitsherren weltweit auftat. Das Gemeinsame all dieser Formen, Erwerbsarbeit unter dem Kommando des Kapitals zu sein, trat in den Hintergrund. Die soziale Realität per se, Arbeit, löste sich mehr und mehr in scheinbar inkommensurable Realitäten auf. Unter den einzelnen Gruppen machte sich jener „kollektive Individualismus“ breit, den Alexis de Tocqueville zum Kennzeichen der fragmentierten spätabsolutistischen Gesellschaften erhoben hatte. Die Zersplitterung des Realen bildet den objektiven Vorwurf für jeden zeitgemäßen Realismus.

Sie durchdringt, dank der Finessen des „aktivierenden Sozialstaats“, auch die heutige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Die penible Prüfung von Qualifikation, Ersparnissen, Wohnverhältnissen, Partnerschaften etc. erzeugt Abertausende von Sonderfällen. Die Norm verflüchtigt sich in ihre Abweichungen, und in den Sozialgerichten stapeln sich die Klagen, weil keiner mehr durchsieht. Aber lieber das als Klarsicht der Betroffenen hinsichtlich der Gründe ihrer Lage und Behandlung.

Gleich dem Lohnarbeiter und dem Arbeitslosen wurde auch der Schuldner zur Sozialfigur mit endlos vielen Gesichtern. „Pleite gehen ist etwas Höchstpersönliches“, war kürzlich in der Online-Ausgabe der FAZ zu lesen. Gut so, da bleibt den Schuldnern bei ihrem verständlichen Bemühen, den je eigenen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, die Mühe erspart, die gesellschaftliche Logik der Verschuldung aufzuspüren.

5

Diese Logik bliebe dem Bewusstsein auch dann verschlossen, wenn „empathische“ Theaterschaffende eine Produktion unter dieses Thema stellten und Menschen aus dem „wirklichen Leben“ auf eine Bühne bäten, um in einem wie immer gearteten Arrangement über ihre Erfahrungen zu berichten. Die Realität der postmodernen Realitätsverleugnung lebt genau von diesem Zugleich, diesem Nebeneinander, von diesem großen Und, dem Verknüpfungsmodus der Nachrichten. Mit der Methode von Jägern und Sammlern, die nach „Experten aus dem Alltag“ fischen, kommt man dem Hintergrund dieser Erfahrungen nicht bei.

Hoch mobil gemachte Individuen, auf Trab gebrachte Statuen, sind auf getrennten Bahnen unterwegs, in voneinander separierten Räumen von Wahrnehmung, Denken, Handeln. Sie bilden verselbständigte Momente eines verborgenen Prozesses, der sich als „geschlossener Zusammenhang“, als „ein Ganzes“, so wie Georg Lukács das vorschwebte, ebenso wenig rekonstruieren lässt wie unter Ausklammerung des Bewusstseins der Akteure.4 – Das den Blicken Verborgene postmodern-neoliberaler Gesellschaften existiert als Pool von Strategien, als Produktionsstätte immer neuer Kniffe, Klassifizierungen, Vorstöße, Frontverschiebungen, vermittels derer soziale Trennungen erprobt, durchgesetzt, verfeinert werden. Was hier tobt, ist ein Kampf um die Köpfe, die, der herrschenden Absicht gemäß, weder nach links noch nach rechts schauen sollen, um Gemeinsamkeiten mit ihresgleichen zu entdecken, die tiefer reichen als die offen zutage tretenden Differenzen. Die Fragerichtung zu verändern, von: „Was trennt mich von den anderen?“ zu: „Was verbindet mich mit ihnen?“, ist der erste Schritt auf dem langen Weg zur Entthronung der neoliberalen Ideologie, der einzig verbliebenen „großen Erzählung“ aus dem 20. Jahrhundert. Realisten im Zeitalter der Postmoderne arbeiten zuerst und vor allem an der Wiederherstellung des sozialen Sinns.

Inmitten ihres Kampfs gegen die britischen Arbeiter nahm Margaret Thatcher eine kleine Auszeit und reiste zu einem Kurzurlaub in die Schweiz. Aber sie kam nicht recht zur Ruhe. Aus London wurden ihr die jeweils neuesten Zahlen zu Festnahmen und Verurteilungen aufmüpfiger Gewerkschaftler gemeldet. Und dann sieht sie Gespenster: „Zuweilen glaubte ich am Ende eines Tages, ich müßte nur aus dem Fenster blicken, dann würde ich Bergleute aus Yorkshire durch die Schweizer Alpen marschieren sehen. Und weder die wunderbare Szenerie der Berglandschaft noch meine Lieblingslektüre – Thriller von Frederick Forsyth und John le Carré – verschafften mir Ablenkung.“5

Meryl Streep als Margaret Thatcher in „The Iron Lady“ in Situationen wie diesen – ein Gespenst des Kapitals, das Gespenster sieht –, das hätte den aufdringlichen Naturalismus dieses Films vielleicht gekillt.

6

Realitäts-, Authentizitätseffekte zu produzieren, ohne das Zugrundeliegende darin aufscheinen zu lassen, verrät keine realistische Haltung. Die im Gegenwartstheater so beliebten Stadtrundgänge, Wohnungsbesuche, bei denen das Publikum von Station zu Station eilt, Arbeitslosen, Asylanten, Prostituierten etc. begegnet, die ihre „wahre“ Geschichte aus ihrem Milieu heraus erzählen, reformuliert das Echtheitsdogma der Postmoderne mit pseudokünstlerischen Mitteln. Eine bloße Zusammenschau der Phänomene in der Hoffnung, dass diese sich wechselseitig kommentieren, einen Assoziationsraum bilden, in dem jeder sich seinen Teil denkt, ist eine Kapitulation vor der Beliebigkeit, Ausdruck von Denkfaulheit zudem. „Dürfen sich die ‚Edelsten der Nation‘ nur auf Kultivierung ihrer Gefühle beschränken und im übrigen ahnungslose Kerle sein, ohne Kenntnisse und Erkenntnisse?“, mokierte sich George Grosz im Jahr 1925, und fuhr fort: „Wenn ja, dann haben die Künstler recht, die glauben, um revolutionär zu sein, genüge es, jahraus, jahrein zu pinseln und auf eine bessere Zukunft zu hoffen.“ – Pinseln und hoffen, installieren und hoffen, arrangieren und hoffen – samt und sonders Fluchten vor der Realität, vor dem, was „dahintersteckt“, im Namen derselben.

Das Steckenbleiben in der Unmittelbarkeit, das Genüsslich-in-ihr-sich-Ausbreiten, spielt den Doxa der Postmoderne bewusstlos in die Hände. Desgleichen die Auffassung, der zufolge diese Doxa (Sei du flexibel, kreativ, allzeit konsumbereit!) vollständig vom Denken der Individuen zumindest der westlichen Hemisphäre Besitz ergriffen hätten. Träfe das zu, hätte der neoliberale Kapitalismus über alle Gegenkräfte geistiger wie praktischer Art triumphiert, was könnte die Kritik an ihm überhaupt noch anderes leisten, als genau das vorzuführen? Endspiele einer Gesellschaftsform, die keine Totengräber findet6 und die Menschen zu ebenso ohnmächtigen wie geschwätzigen Zuschauern dieses Selbstmords auf Raten degradiert – Literatur und Dramatik unserer Tage beziehen daraus nur allzu oft ihre Raison d’Être. Jelinekeske Textflächen, die kein Atemschöpfen lassen, endloses Geriesel der Worte, hilfloses Gestammel, das als Manifestation kaputten Denkens zu keinem Beschluss mehr kommt. So unterzeichnet man – indes man sich ihnen überlegen wähnt – seine höchstpersönliche Unterwerfung unter die Mächte der Welt.

7

Tatsächlich stehen die Dinge anders. Der Kreis aus sozialen Strukturen, den Positionen, die die Einzelnen darin einnehmen, sowie den Dispositionen, vermöge derer sie diese Positionen ausfüllen und die Strukturen reproduzieren, ist nicht geschlossen. Mitunter dämmert sogar eilfertigen (Mit-)Tätern der neoliberalen Weltordnung, dass und wie sie zu Tätern wurden, die Opfer produzieren. – Bald nach dem Ausbruch der jüngsten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise nahm eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern Kontakt zu Akteuren der Finanzwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf. Die Recherche7 förderte bekannte Ausflüchte zutage, die die Schwäche der menschlichen Natur, die Gier des Menschen für den Crash verantwortlich machten. Dazwischen flackert jedoch immer wieder die Erkenntnis auf, dass der Crash systemischer Natur war, dass die ihn auslösenden Verhaltensweisen treibhausmäßig gezüchtet wurden. „Wenn einer nicht extrem ethisch veranlagt ist, dann macht er bei falsch gesetzten Anreizen fast alles […]. Egal, was für ein Produkt es ist.“ „Es gibt ja auch einen heftigen Wettbewerb unter den Beteiligten. Wer das meiste Geld verdient, der ist der Tollste und Beste. Und so sind auch die Anreizsysteme ausgelegt. Das Kriterium für Güte ist einfach: Es geht tatsächlich nur um das Geld.“ Man liest glasklare Analysen des Zusammenbruchsszenarios wie die folgende: „Da ist eine gigantische Zahlengläubigkeit, eine gigantische Formelgläubigkeit, eine gigantische Modellgläubigkeit. Ich hab manchmal den Eindruck, wir haben da so eine Art neue Kirche, so eine Art Finanzkirche, eine Finanzreligion erfunden, in der alle gläubig sind und keiner mehr was weiß.“

Auch Skrupel melden sich zu Wort: „Ich glaube, wir müssen uns dafür entschuldigen, dass wir zu viel wollten und zu wenig nachhaltig arbeiteten.“ „Ich muss das ganz persönlich hinterfragen: Wie habe ich durch mein persönliches Tun oder Nichtstun dazu beigetragen? Habe ich für mich persönlich auch eine Lektion abzuleiten, ja?“ „Wie kriegt man es hin, dass wir verantwortlich mit unseren Geschäften umgehen?“, fragt einer und weiß es nicht.

8

Die Äußerungen kommen aus dem Epizentrum des Bebens. Man kann sie als Hilferufe lesen, als Rufe an eine abwesende Instanz, die Politik, doch endlich einzuschreiten. Aber es schritt niemand ein. Das Material wirft unausgesprochen die Schuldfrage auf. Nicht alle sind gleichermaßen verantwortlich für das Desaster, das sich jederzeit wiederholen kann. Einige tragen mehr Verantwortung als die anderen, erheblich mehr. Sie weigern sich, das anzuerkennen, und deshalb gehören sie zu ihrem Schutzpatron verjagt, zum Teufel. Mehr noch als eine Methode oder einen bestimmten Stil zu umschreiben, meint Realismus eine Haltung der sozialen Welt gegenüber. Der Realist nimmt soziale Tatsachen nicht einfach zur Kenntnis und bildet sie schon gar nicht ab. Er begreift diese vielmehr in ihrem originären Sinn, als Tat sachen, als von Menschen produzierte und legitimierte Verhältnisse, und schürt den Zorn auf jene, die sich im Namen von Sachzwängen gegen den Geist der Gesellschaft verschwören. In diesem letzthin politischen Sinn geht es heute – wieder – um den Realismus.

1Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt am Main 1987, S. 157.

2 Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, S. 125. Im selben Sinn: Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt am Main 2014, S. 32.

3Jean-François Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 38 f. und S. 69.

4Für Lukács lautete die Kardinalfrage, „ob der ‚geschlossene Zusammenhang‘, die ‚Totalität‘ des kapitalistischen Systems, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Einheit von Wirtschaft und Ideologie objektiv, unabhängig vom Bewußtsein, in der Wirklichkeit ein Ganzes bildet“. Zitiert nach: Georg Lukács: „Es geht um den Realismus“ (1938), in: ders.: Essays über Realismus, Berlin 1948, S. 132.

5Margaret Thatcher: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 515.

6„Es sieht so aus, als desorganisiere der desorganisierte Kapitalismus nicht nur sich selbst, sondern gleichzeitig auch seine Gegenkräfte, wodurch er diese der Fähigkeit beraubt, ihn entweder zu überwinden oder, alternativ, zu retten. Damit der Kapitalismus sein Ende findet, muss er deshalb selbst für seine Zerstörung sorgen – und genau das erleben wir heute.“ Wolfgang Streeck: „Wie wird der Kapitalismus enden?“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2015.

7Claudia Honegger/Sighard Neckel/Chantal Magnin (Hg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Berlin 2010. Diefolgenden Zitate sind dem Kapitel „Anstandsbühne“ entnommen.

Eugen Ruge

Die andere Art des Wissens

Ein Plädoyer für das Erzählen

1

Mein erster Nennen-wir-es-Roman – etwa 100 Seiten, die ich Mitte der Achtziger schrieb – hieß „Heimweh“ und war, so würde ich rückblickend sagen, ein postmodernes Stück Literatur. Er entlarvte sich auf Schritt und Tritt als Konstruktion, führte Handlungen aus, die er wieder zurücknahm, und kultivierte den Sprachekel im Angesicht der Realität. Damals, nach indoktrinierenden Marxismuslektionen und im gefühlten Stillstand der Zeit, war mir alles recht, was irgendwie dem Ganzen zuwiderlief; was der festgefügten Welt, die mich umgab, gedanklichen Schaden zufügte. Die Zeit schrie danach, Gewissheiten zu zertrümmern, und es war wunderbar, in der Krise zu sein – inmitten von so viel Optimismus. Veröffentlicht wurde der Text selbstverständlich nicht. Obwohl er keineswegs vordergründig politisch war, konnte der Lektor des Mitteldeutschen Verlages nur den Kopf schütteln …

Will sagen: Bei aller Schwäche der poststrukturalistischen und postmodernistischen Theorie, bei all ihrer Ungenauigkeit und Geschwätzigkeit (die sich gewissermaßen als „Methode“ versteht), darf man weder vergessen noch übersehen, dass ihr Ursprung subversiv und emanzipatorisch ist. Die Postmoderne bedeutet die „feierliche Aufkündigung aller Totalität“ (Umberto Eco), sie ist eine Hinwendung zum Einzelnen und Besonderen, zu Vielfalt und Fragmentalität (wiewohl diese Hinwendung, soweit ich sehe, schon von Walter Benjamin aus über die Frankfurter Schule ihre Traditionslinien zieht). Lyotard hat die Hoffnungslosigkeit nicht erfunden, sondern einen Ausweg gesucht. Derrida entdeckte die unterschwelligen Schichten von Sprache und Text (auch wenn man sagen muss, dass schon Gregory Bateson dasselbe tat, nur klarer und – interessant! – ohne „totalitären“ Anspruch). Foucault mag mit seinen waghalsigen Analogien und seinen Epochenmarkierungen danebenliegen, trotzdem wird, was er uns etwa in „Die Ordnung der Dinge“ zu sagen versucht, wohl zu Recht als Befreiungsschlag gegen den Macht- und Objektivitätsanspruch etablierter Wissenssysteme empfunden: dass nämlich bestimmte Erkenntnisweisen bestimmte Erkenntnisse evozieren (und andere ausblenden); dass innerhalb bestimmter Muster nur bestimmte Dinge als wahr gedacht werden können (und andere nicht); dass wir also – so würde der Naturwissenschaftler schlichter und nüchterner (und unter bewusster Vermeidung des unscharfen Begriffes „Repräsentation“) formulieren – in Modellen denken, ob wir uns dessen immer bewusst sind oder nicht.

Die im Hinblick auf unser Verhältnis zur Realität entscheidende Frage ist nun, ob unsere Modelle grundsätzlich imstande sind, bestimmte wesentliche Aspekte der Realität zu beschreiben. Selbstverständlich sind unsere Modelle (unsere Wahrheiten) Konstruktionen – ob wir Einzelne uns darüber bewusst sind oder nicht. Aber was heißt das? Dass wir die Wirklichkeit konstruieren?

Im Relativismus der Postmoderne verschwimmt die Antwort. Im Bemühen, verschiedene Perspektiven gleichberechtigt nebeneinanderzustellen, sie sozusagen gleich „stark“ zu machen, passiert es, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, zwischen Modell und Realität, verwischt. „Im 17. und 18. Jahrhundert gab es kein Leben“, schreibt Foucault am Anfang des 6. Kapitels von „Die Ordnung der Dinge“ – und es handelt sich keineswegs um einen Versprecher oder ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat. Das Leben habe nicht existiert, heißt es, weil es die Anatomie noch nicht gab, weil man keine Vorstellung von den Organen gehabt habe, weil das Leben, kurz gesagt, nicht gedacht werden konnte. Es existiert, was gedacht wird. Das wäre die fatale (und letztlich affirmative) Konsequenz des Poststrukturalismus, wie sie Wolfgang Engler hier beschreibt – aber keineswegs die notwendige, die einzige oder die erschöpfende Ausbeute der Postmoderne.

2

Aus meinem ersten Nennen-wir-es-Roman wurde später, in den frühen Neunzigern – neu geordnet, entschlackt und von Peinlichkeiten gesäubert –, ein Theaterstück. „Vom Umtausch ausgeschlossen“ beginnt damit, dass sich zwei Menschen – eine Frau, ein Mann – in einem Supermarkt begegnen, und schildert zunächst in langen Doppelmonologen und in einer, wenn man so will, dekonstruktivistisch-mikroskopischen Weise, wie diese beiden aneinander vorbeigehen. Nachdem sie einander verfehlt haben, hält das Stück an, und die beiden versuchen, sich an einem anderen Ort zu begegnen. Da sie jedoch „in Wirklichkeit“ noch im Supermarkt sind (und ihre Chance auf Begegnung eigentlich verpatzt haben), müssen sie sich die Wirklichkeit ihrer Begegnung im Geist „konstruieren“. Sie verheddern sich, von Realitätseinbrüchen gestört, in Raum und Zeit und enden im Nirgendwo – wo sie plötzlich Sehnsucht nach dem Wirklichen empfinden.

Ich kann nicht sagen, dass das Stück erfolglos war. Aber abgesehen vielleicht von einer einzigen Aufführung (ich verrate nicht, wo) blieben alle Inszenierungen, einschließlich der lustlosen Uraufführung durch Anselm Weber (1990), merkwürdig harmlos. Keiner der Vertreter jener subversiven, postmodernen Ästhetik nahm sich des Stückes an. Die Mikroskopie des Textes verharrte im Sprechakt. Die Konstruktion von Wirklichkeiten, in der Prosa ein spektakulärer Akt, ging folgenlos in der Natur des Theaterspiels auf. Aber das entscheidende „Manko“, das dem Text anhaftete, war, glaube ich, ein anderes: Er erzählte eine Geschichte.

Das blieb, glaube ich, das Manko aller meiner Texte (womit ich andere Mankos nicht ausschließen will). Auch wenn „Akte Böhme“ ausschließlich aus Stasiakten-Zitaten besteht, auch wenn „Der General schreibt einen Brief und erschießt seine Freundin“ in einem Gehirnraum zwischen erster und dritter Person changiert, oder wenn in dem Lewinsky-Stück „American Football“ eine Liebesgeschichte zu Juristenkauderwelsch verwurstet wird – es bleiben Geschichten, Darstellungen eines Geschehens, das zwischen mehr oder weniger konsistenten Figuren passiert. Das sogenannte postdramatische Theater blieb auf diesem Weg unerreichbar. Irgendwann habe ich es aufgegeben und einen Roman geschrieben – der prompt den Deutschen Buchpreis erhielt und, seltsame Ironie, zugleich ein großer Bühnenerfolg wurde.

3

Seit dem Aufbruch des Postmodernismus ist viel passiert. Nach dem Untergang des Sozialismus hat der Kapitalismus einen verheerenden Siegeszug angetreten. Ich will den Leser nicht langweilen, die uns umgebenden Vorgänge sind offenbar. Wer sie nicht sieht, ist auch mit Argumenten nicht zu überzeugen. Denn das Nicht-Sehen – auch das ließe sich etwa bei Foucault lernen – beruht nicht auf Unkenntnis oder Dummheit. So laufen die gutwilligsten Vertreter der europäischen Mittelklasse gerade Sturm gegen das sogenannte TTIP, ohne zu bemerken, dass dieses Freihandelsabkommen die folgerichtige und vielleicht notwendige Konsequenz eines anderen Freihandelsabkommens ist – auch wenn Letzteres sich, böse gesagt, mit ein bisschen Firlefanz und grünem Anstrich zur Völker- und zur Friedensgemeinschaft verklärt: der Europäischen Union nämlich.

Das erklärte Ziel der allmählich die Welt erobernden Freihandelsabkommen heißt Wachstum (in Wirklichkeit: Wachstum des Wachstums). Und ihre Methode ist – sehr verkürzt, aber die Langfassung wäre schlimmer – die Massenproduktion von Konsumplunder auf Kosten der Armen und Ärmsten und auf die Gefahr hin, dass die sogenannte Umwelt (in Wirklichkeit: die Welt) daran zugrunde geht. Die Frage nach der Existenz der Realität bekommt angesichts dessen eine vollkommen neue Bedeutung.

Nein, ich glaube nicht, dass wir die Welt retten werden durch die Rückkehr zu traditionellen Theaterformen. Auch bin ich angesichts der realen und sich wiederholenden Ohnmachts- und Vergeblichkeitserfahrungen (Erfahrungen, die ich vermutlich mit einer großen Anzahl von Menschen teile) nicht imstande, ohne weiteres an das Realismuskonzept etwa eines Bert Brecht anzuknüpfen, der nicht nur wusste, dass die Welt veränderbar ist, sondern sogar, wie.

Andererseits habe ich aber auch keine Lust mehr, mir von Theaterleuten in stundenlanger Sitzung erklären zu lassen, dass das Blut am Kopf der Schauspieler bloß angemalt sei (oder, um das strapazierte Magritte-Beispiel zu benutzen: dass das Bild einer Pfeife keine Pfeife sei, sondern – wer hätte das gedacht? – bloß das Bild einer Pfeife!); und schon gar keine Lust auf die Art von Performance, die darin kulminiert, dass jemandem, pardon, ein Möhrchen ins Arschloch gesteckt wird, oder auf kleine Filmchen, in denen zwei als Stalin und Hitler verkleidete Blödmänner in eine Torte onanieren. Avantgarde? Tabubruch? Ach Gott.

Allerdings – und ich bitte, die umständlichen Mäander zu entschuldigen, durch die ich mich meinem Thema nähere – wäre es ungerecht, das heutige postdramatische Theater dermaßen abzuurteilen. Denn erstens haben performative Elemente längst das breite Theater erreicht und – bereichert. Kaum irgendwo im deutschen Theater findet man noch ein psychologisch-realistisches Setting. Kaum jemand interessiert sich noch für jene Illusionsästhetik, die so gern zum Feindbild stilisiert wird. Und zweitens scheint mir, dass sich auch die sogenannte Postdramatik verändert, dass sie sich politisiert hat. Mehr noch: Zumindest einige postdramatische Konzepte interessieren sich auf einmal brennendfür die Realität, und nicht nur für Reality (das auch), sondern offenbar auch ernsthaft für die Frage, wie die Wirklichkeit in ihrer Komplexität (oder Totalität?) dargestellt werden kann.

Das ist verrückt: Ist das postdramatische Theater plötzlich zum realistischen Theater geworden? Ersetzen „soziale Schnittflächen“ die Narration? Ist das Vorzeigen rohen Materials möglicherweise wahrer als die Bearbeitung dessen? Ist das Dokumentarische möglicherweise objektiver als die Fiktion?

Aber auch das könnte man von den Theoretikern des Postmodernismus lernen: dass der Anspruch auf Objektivität eben nur ein Anspruch ist; dass man auch durch Wissenschaftlichkeit seinen Realitätsbedingungen nicht entkommt. Jede Auswahl, jede Zusammenstellung, jede Ordnung offenbart selbstverständlich eine bestimmte Haltung, eine Perspektive, eine Subjektivität, oft sogar – bewusst oder nicht – eine Absicht. Insofern wäre der Anspruch auf Objektivität nicht nur vergeblich, sondern die Erweckung ihres Anscheins sogar falsch. Mit anderen Worten: Es käme darauf an, die Realitätsbedingungen