MARC LAIDLAW

 

 

Kalifornia

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

KALIFORNIA 

 

Vorschau 

 

TEILS EINS 

1. Geburt live 

2. Meereskratzer Mega-Party 

3. Ein altes Weib in einer Kutsche ohne Holzverkleidung 

 

TEIL ZWEI 

4. Aufstand der Sklaven 

5. Okkultschleimer 

6. Mohn macht schläfrig 

7. Trauma in der Glitzerstadt 

8. Kalifornia - here I come  

 

TEIL DREI 

9. Die menschliche Marionette als Meister 

10. Ba-ha-ha 

11. Wer passt auf den Babysitter auf? 

12. Peng! rissen die Schnüre 

13. Serien-Sucht 

 

 

Das Buch

 

Im Jahr 2050 hat das interaktive Fernsehen seinen Höhepunkt erreicht: Eine permanente Verbindung zum Hauptdarsteller einer Lieblingsserie ist Realität geworden. Millionen Menschen können dessen Schicksal rund um die Uhr mit ihm teilen, seine Gefühle live miterleben, mit ihm leiden und lachen und glücklich sein. Und der Deal mit dem Publikum bringt den Darstellern ein Vermögen ein.

Doch Sandy Figueroa aus der beliebten Figueroa-Familie hat dieses Geschäft gründlich satt. Im Gegensatz zu seiner Schwester Poppy, die sogar ihr ungeborenes Baby im Mutterleib schon für Reality-TV präparieren lässt, möchte er aus dem Medien-Rummel aussteigen. Doch das ist für einen Verdrahteten nicht eben einfach – insbesondere dann, wenn aus dem Reality-TV durch die verrückten Anhänger einer blutrünstigen Sekte grauenvolle Realität wird...

 

Marc Laidlaws dritter Roman, erstmals im Jahr 1993 erschienen, ist eine brillante, düstere Satire über die Macht und Absurdität der Medien und über die Sensationsgier eines auf die niedrigsten Instinkte reduzierten Publikums. Überdies gilt KALIFORNIA als Klassiker der zweiten Generation von Cyberpunk-Romanen.

 

Der Autor

 

Marc Laidlaw, Jahrgang 1960.

Marc Laidlaw (geb. 1960) ist ein amerikanischer Schriftsteller von Cyberpunk-, Science-Fiction- und Horror-Literatur sowie ein ehemaliger Skript-Autor beim Videospiel-Entwickler Valve Corporation.

Zu seinen populärsten Arbeiten zählen - neben der beliebten Ego-Shooter-Serie Half-Life von Valve - die Romane Dad's Nuke (1985, dt.: Papis Bombe, 1987) und The 37th Mandala (1996); letzter wurde 1997 für den World Fantasy-Award nominiert und wurde 1996 mit dem International Horror Guild Award ausgezeichnet. Überdies wurde sein Roman Neon Lotus (1988, dt. Neon Lotus, 1995) im Jahr seiner Veröffentlichung für den Philip K. Dick-Award nominiert.

Laidlaw wurde 1960 geboren und wuchs auf in Laguna Beach, Kalifornien. Dort besuchte er die University of Oregon, wo er die Programmierung von Computer-Lochkarten studierte, dies jedoch bald entmutigt aufgab.

Anschließend schrieb er diverse Kurzgeschichten - darunter die Erzählung Nutrimancer (1987), eine herrliche Parodie auf William Gibsons Roman Neuromancer (1984). Laidlaws erster Roman, Dad's Nuke, wurde 1985 veröffentlicht. Darauf folgten einige weitere Romane im Verlauf der (19)90er Jahre – u.a. Kalifornia (1993, dt.: Kalifornia, 1995) -, dennoch arbeitete er weiterhin als Rechtssekretär in San Francisco.

Gelegentlich spielte Marc Laidlaw Computer- und Arcade-Spiele, war keines davon vermochte ihn auf Dauer zu faszinieren. Erst das Adventure-Spiel Myst (1993) veränderte schließlich seine Wahrnehmung dieser Spiele. Eigens dafür, um Myst in seinem Haus in San Francisco spielen zu können, kaufte er einen modernen Computer. Mit seinem neu gefundenen Interesse schrieb er The Third Force (1996), einen Roman, der auf dem Gadget-Computerspiel basiert. Sein Lieblings-PC-Spiel ist Thief: The Dark Project.

Die Zusammenarbeit mit Spieldesignern führte schließlich dazu, dass er seine Unterstützung anbot, um ein aktuelles Spiel zu entwerfen. Er trat der Valve Corporation bei, während sie Half-Life (1998) entwickelten und an der Story sowie dem Level-Design des Spiels arbeiteten. Bei Valve arbeitete er später an Half-Life-Erweiterungen und Half-Life 2. Er beendete seine Mitarbeit bei Valve im Januar 2016 mit dem Hinweis darauf, dass der Hauptgrund hierfür sein fortschreitendes Alter sei und dass er stattdessen plane, zum Schreiben seiner eigenen Originalgeschichten zurückzukehren.

Im August 2017 veröffentlichte Laidlaw ein Werk mit dem Titel Epistle 3, dem die Handlung von Half-Life 2: Episode 3, die er während seiner Zeit bei Valve erdacht hatte (wenn auch mit veränderten Charakternamen und Orten), zugrunde liegt.

  KALIFORNIA

 

 

 

 

 

 

»Es ist keineswegs unvernünftig,

nahezu jede Art von Unregelmäßigkeiten

in einem ebenso entfernten wie vernachlässigten Bundesstaat

wie Kalifornien zu erwarten.«

 

- California Reporter 582 (1906)

 

 

 

 

 

 

  Vorschau

 

 

Feedback.

»Alles Gute zum Geburtstag, Kalifornien.«

»Ich wünsche dir einen schönen Tod...«

Du wirst es mir mit Küssen und Kredit danken.

Der Wald glitschiger Missbildungen erhob sich wie etwas, das vom Boden des Meers ausgekotzt worden war.

»In deiner Wurzel-Chakra ist ein Haarknäuel.«

»Sonnenbräune, Mann! Alles Bräune!«

Kali-Kali-Kalifornia !

»Er möchte die Drähte entfernt haben.«

»Die Leute wollen in sie rein. Sie wollen fühlen, was sie fühlt.«

- frei von ihrem trüben Ektoplasma.

»Viel zu knallig...«

»Du fühlst, wie du scheibchenweise aufgeschnitten wirst, während du gleichzeitig selbst die Scheibchen schneidest.«

»Jetzt würde ich gern Sushi essen.«  

- heiße Schokolade und gebratene Zwiebeln.  

»Bloß weil dir Vergnügen Angst einjagt.«

Meine Tochter...

»Willkommen in Libidopolis!«  

Feedback.    

- glitzerte im dunklen Eingang, als Kerzenschein die schlanken Stäbe und Drähte auf und abwanderte.  

»Das ist der Moderator von News 90.«  

»Aber ich habe gefühlt, wie du gestorben bist!«

»Keine Familienshow?«   

»Ich habe vergessen, dass du keine Rolle gespielt hast.«

»Krrrauuu.«

»Madam, es ist nicht nötig, unschuldige Kinder abzuschlachten.«

»Aber das ist sie nicht!«

»Es ist kupferfarben, Baby...«

»Ein Traum, ein Tanz. Maya.«

»Das Kind hat eine Geburtsschuld.«  

» - Fressen für Riesengeier!«

»Und du nennst dich einen Seehund?«

»Kali-ma! Kali-ma!«  

»Stimmt es, dass ihr Hunde ein schlechtes Langzeitgedächtnis habt?«

»Bald werdet ihr so blind und weiß wie Grottenolme sein.«

»Ich ziehe es vor, es für synthetisch zu halten.«

Die Ehrwürdige Tochter erkannte einen Penis, wenn sie einen sah.

»Treiben... dahintreiben mit dem dürren Laub.«

»Ich nehme an, du benutzt keine Berater mehr für  deine Garderobe?«

»So eine Art Eisernes-Kleinkind-Mode.«

»Aber hallo! Jetzt weiß  ich sicher, dass  du in einem Reagenzglas ausgebrütet  wurdest.«  

»Die einzige Mutter, die dieses Kind je kennenlernen wird, ist unsere dunkle Göttin Kali.«  

- gegen das Fenster im Büro gefallen und hat die Nacktschnecken aufgesaugt, die an der Scheibe klebten.

»Sie studieren die Dinge, um die Gott sich nicht kümmert.«

Fleisch ist so... abstoßend! 

»Männer! Köter und Männer!«

Krabben und Reis. Kein Preis!

»Papi, er soll aufhören! Er macht meine Sex-Toys kaputt!«

»Sie hat völlige Kontrolle über das Militär!«

»Kali-Kali-Kali-ma!«

Inzwischen schossen die Nonnen bereits.

»So wenige Seehunde im Publikum.«

»Jetzt... schau mir in die Augen!«

»Elvis lebt!«

Feedback...

WEITER!

 

 

 

 

TEILS EINS

 

 

 

 

 

  1. Geburt live

 

 

Beinahe Mittemacht.  

Poppy lag in der Dunkelheit. Und außerhalb.

Schweiß bedeckte ihr Gesicht wie eine Schönheitsmaske. Ihr Keuchen klang wie die Schreie eines Fremden. Aber das war nur eine Hälfte von ihr.  

Die andere Hälfte glitt in einem sich kräuselnden, muskulösen Schweigen dahin. Mutter und Kind. Sich selbst gebärend.  

Die Gipswände mit den schäbigen Tapeten des alten Hotels erstickten ihre Schreie. Mit den Fingern bohrte sie Löcher in die Schaumgummimatratze. Blutlachen bildeten sich auf der mit Plastik beschichteten Bettwäsche. Warme Flüssigkeit strömte in rhythmischen Stößen aus ihrem Schoß. Sie fühlte sich wie ausgelaugt, aber noch nicht leer. Sie war so erschöpft, dass sie sich nicht vorstellen konnte, weiter durchzuhalten. Aber der schlimmste Teil kam noch.  

Die Fötaldrähte arbeiteten seit dem siebten Monat und hatten auf einer privaten Nabelschnurleitung gesendet, die von allen anderen Empfängern abgeschirmt war. Poppy hatte Zugang zu ihrer Tochter durch diesen Draht, der als Zweiwegkanal diente, bis die Schnur schließlich gekappt wurde. Durch die Säuglingsaugen mit den schweren Lidern blickte sie hinaus in die orangefarbene Dämmerung und hörte in den mit Flüssigkeit gefüllten Ohren den eigenen Herzschlag und den ihrer Mutter. Dieser Teil von Poppy war nicht ausschließlich Poppy. Das kleine Mädchen  - provisorisch Calafia genannt -  hatte ein selbständiges Leben. Ihre Seele war ein heller Fisch, der sich nicht in dem Schlagnetz der Drähte verfing. Von Zeit zu Zeit fragte sich Poppy, ob ihre Tochter ab und zu in die Nabelschnur und die Drähte ihrer Mutter hineinkroch, um durch Poppys Augen zu sehen und durch ihre Ohren zu hören.  

Hier gab es allerdings nichts, was sehenswert gewesen wäre. Nichts, woran sich ein Kind erinnern sollte.

Hässliche  Wände. Eine gelbe Glühbirne in einer antiken Fassung an der Decke. Verbogene Jalousien hingen wie dünne Rippen hinter den verstaubten Gardinen. Es war eine Schande, dass  ihre Tochter diesen hässlichen Anblick als ersten auf der Welt haben sollte - diese Bruchbude, ohne jede Schönheit oder einen Hinweis auf die Wunder der modernen Zeit. Poppys Draht-Ehemann, Clarry Starko, hielt diesen Gegensatz von heruntergekommenem Hotel und neuem Leben für einen grandiosen Regie-Einfall. Sie hatte sich nie von ihm dazu überreden lassen wollen; aber laut Vertrag stand ihm das Recht zu, über so vage Punkte wie kreative Kontrolle zu entscheiden.

Clarry war irgendwo in der Nähe, wie immer unsichtbar. Sie spürte beinahe seine Finger auf ihrer Seele. Er arbeitete im Übertragungswagen des Studios, überwachte alles auf den Monitoren, überprüfte die sensorische Qualität, zeichnete alles auf und schnauzte die Mitarbeiter an. Ein Dutzend Menschen hing an Poppys Wahrnehmungen - Millionen warteten auf die Sendung dieser Nacht, aber niemand half ihr. Sie war hier völlig allein, im Griff einer uralten Macht. Sie spürte, wie sie sich hin und her wälzte und presste, presste.  

Die beiden Wahrnehmungssysteme verschmolzen, überlappten sich und wurden unscharf. Jeder Atemzug schmeckte nach einer warmen salzigen Flüssigkeit. Das Zimmer wurde dunkel und still, während ihr Schoß plötzlich mit Licht und Lärm überschwemmt wurde. Die Glocke schlug in ihrem inneren Ohr. Mittemacht.

Es war der 9. September 2050.

Zweitausendundfünfzig Jahre nach Christus, wer auch immer das gewesen sein mochte. Irgendeiner jener über tausend Götter, die man in Kalifornien verehrte.  

Auf den Straßen wurde Jubelgeschrei laut. Fremde hießen das Kind willkommen, ohne es zu wissen. Heute war Kalifornien zweihundert Jahre alt, und Calafia - zehn Sekunden alt - wurde von derselben unwiderstehlichen Kraft aus der Dunkelheit herausgepresst, die sie eines Tages dorthin zurückzerren würde.  Die Schmerzen ließen etwas nach und verhießen Erlösung. Jetzt war der entscheidende Moment da!

Wie ein Wassermelonenkern flutschte sie heraus. Jetzt war überall Licht. Kein Teil von ihr war mehr im Dunkeln. In ihren Ohren dröhnte es wie Meeresrauschen. Zwei Paar Ohren hörten jetzt die lärmende Menge unten. Eine warme Septembermitternacht in Kalifornien. Die Mitternacht ihrer Geburt.

Als Poppy erschöpft zusammensank, spürte sie dennoch, wie Stärke in ihr aufstieg. Sie schloss die Augen für einen Moment...

Ein zweites Paar Augen zitterte und öffnete sich. Es starrte auf die unscharfe gelbe Helligkeit. Sie fröstelte in der trockenen Luft, die so kalt war verglichen mit dem Ort, von dem sie gekommen war.

Sie öffnete den Mund und schrie kläglich.

Poppy setzte sich auf. Ihre Tochter lag zwischen ihren Beinen und blickte zur Decke hinauf. Einen Augenblick lang sah sie ganz deutlich, was ihre Tochter sah: Verschwommene Lichter und Farben. Irgendwie schön, trotz der Hässlichkeit des Zimmers. Dann eine warme, duftende Gestalt. Ihre eigenen Hände nahmen sie liebevoll hoch, um ihr ins eigene Gesicht zu schauen.

Als sich die Augen von Mutter und Tochter trafen, schoss ein grauenvoller Schmerz durch beide. Rückkopplung! Beinahe hätte Poppy Calafia fallen lassen.

Der Schmerz ging durch und durch und bedrohte die Seelen von beiden, auch die neugeborene.

Poppy legte ihre Tochter ab. Ein durchsichtiges, schimmerndes koaxiales Kabel mit dünnen und bunten und zusammengedrehten Drähten lief von Calafias Leiste in Poppys Vulva. Poppy zog noch ein Stück Kabel aus ihrem Schoß. Ein kleiner schwarzer Ring kam zum Vorschein. Sie drehte den Verbindungsring und zertrennte so feinsäuberlich die Nabelschnur. Dabei spürte sie ein dumpfes Zwicken.

Dann fühlte sie sich... verkleinert.

Wieder nur zwei Augen, zwei Ohren. Sie war wieder sie selbst, allein, niemand anderer mehr. Nichts extra.

Poppy zog an dem Kabel, das aus ihr heraushing, und spürte die entsprechenden Rucke im Innern. Sie biss die Zähne zusammen und riss noch einmal mit aller Kraft. Ein kurzer Schmerz - und die Nachgeburt kam heraus. Ein vom Blut glitschiges Netz glitt aufs Bett. Es sah aus wie die Wurzel irgendeiner exotischen Schlingpflanze. Bis auf die allmählich schwächer werdenden Erinnerungen an die Wehen hatte Poppy keine Schmerzen. Nachdem ihr Schaltkreis von dem des Kindes getrennt worden war, bestand auch nicht mehr die Gefahr einer Rückkopplung. Bis einige Einstellungen von Hand bei Calafias System gemacht waren, konnte niemand ihre Drähte über einen Monitor anzapfen. Das Kind hatte jetzt eine Privatsphäre, die Poppy verwehrt war.

Schmerzen und Erschöpfung machten Freude Platz.

Mein Baby, dachte Poppy. Meine Tochter.

Das Mädchen lag still da und reckte die Ärmchen und Beinchen in die Höhe. Mund und Augen waren geschlossen. Poppy hob es hoch. Da gingen die Augen wieder auf.

Orangefarbene, strahlende Flammen. Lebhafte Augen.

Figueroa-Augen.

Poppys Augen waren ebenso orange wie die ihrer Brüder Sandy und Ferdinand und ihrer Schwester Miranda. Aber am meisten ähnelte das Baby ihrem Vater Alfredo. Wie er hatte Calafia ein faltiges Gesicht und kaum Haare. Sogar der mürrische Ausdruck war ganz Alfredo!

Das war auch kein Wunder.

Calafia war schließlich seine Idee gewesen.

Nur die neueste und beste Technologie für den jüngsten Neuzugang zum Figueroa-Clan.

Calafia war das erste Kind, das mit Drähten geboren worden war.

Und sie war bereits jetzt ein Star.

Poppy seufzte und hielt den Säugling an die Brust. Sie war dankbar für diese wenigen ruhigen Augenblicke. Der Preis, ein Star zu sein, war eine anstrengende Geschichte. Clarry Starko hielt sich nie lange mit zarten Augenblicken auf. Pausen in seinen Sendungen wurden immer durch einen Schrei oder eine Explosion unterbrochen.

Manchmal fragte sich Poppy, ob Clarry tatsächlich der geeignete Regisseur für jemand mit ihrer Ausdrucksfähigkeit war. Als er ihr die Idee für die Serie zum ersten Mal vorgetragen hatte - zu einem Zeitpunkt, als sie verzweifelt Arbeit gesucht und nicht mehr geglaubt hatte, dass sie eine Karriere über die Drähte hatte - war sie für seine Begeisterung dankbar gewesen. Wie hätte sie ihm absagen können? Und bis jetzt war es für sie super gelaufen. Aber irgendetwas kollidierte bei dem hektischen Tempo des Programms mit ihren natürlichen Neigungen. In der alten Show, der Familienshow, war sie stets das Sensibelchen gewesen. Oft hatte sie sich um die Geschwister kümmern müssen, wenn die zunehmend analytisch denkende Mutter eigene Ziele verfolgte. Oft hatten die Geschwister bei Poppy nach der Zärtlichkeit gesucht, die sie brauchten, was allerdings nicht häufig vorkam. Poppy sehnte sich oft nach ruhigen Zeiten, wo Gefühle herrschten oder man sich zumindest sinnvoll unterhielt. Aber für Clarry gab es nur das halsbrecherische Tempo, Drehbücher mit Intrigen, unvorhersehbarer Gewalt, Verdrehung der Realität und einen möglichst verkorksten Schluss. Sie passten eigentlich nicht zusammen - und waren daher ein genauso hybrides Paar, für die Hollywood berühmt war. Verkrampft. Unberechenbar.

Manchmal musste Poppy zugeben, dass sie den Job hasste. Aber es war alles, was sie hatte. Ihre Show.

Und jetzt ihre Tochter.

»Komm, wir machen dich sauber und wickeln dich ein«, flüsterte sie zärtlich.

Handtücher und Babysachen lagen auf dem Nachttisch. Sie wischte Calafia vorsichtig ab, wobei sie besonders auf die Genitalien - so wie diese waren - achtete. Ein Kabel mit einem silbrig glänzenden Adapter hing aus der Leiste des Babys. Poppy zog die Nabelschnur heraus und ließ sie neben das Bett fallen. Dann wickelte sie die Kleine in ein weiches Baumwolltuch und danach in eine feste Decke mit stoßdämpfender Auflage. (An den Zweck dieser Decke wollte sie nicht denken.) Schließlich noch eine weitere Decke. Dabei flüsterte sie ständig mit ihrer kleinen Tochter.

»Calafia ist doch ein hübscher Name, oder etwa nicht? Du hast am selben Tag Geburtstag wie Kalifornien. Heute vor zweihundert Jahren wurde es ein Staat. Ist das nicht ein schöner Zufall?«

Es war kein Zufall. Sie sagte dies nur, weil es sich in der Show gut machte. Alles, was sie dachte, wurde übertragen. Sie fügte manchmal ein paar eigene Sätze ein, damit es für das Publikum, das später die Show sah, keine Lücken gab. Alle Stars - bis auf einige ganz verschrobene Typen - führten permanent Selbstgespräche, um das Publikum ja auf dem Laufenden zu halten. Es war das goldene Zeitalter der Monologe.

Dabei gab es heute Nacht wirklich jede Menge zu hören. Der Lärm auf den Straßen der Stadt, das Feiern, wurde von Minute zu Minute zu lauter.

Jetzt jeden Augenblick...

Irgendwo in der Nähe klirrte Glas. Poppy wusste nicht, ob es im Hotel gewesen war oder nicht.

Sie nahm das Kind auf den Arm und lief zum Fenster. Schnell zog sie die Jalousien hoch und blickte auf die Straße.

Die Welt zehn Stockwerke tiefer lag in weiter Ferne. Sie hatte das Gefühl, als blicke sie in einen Abgrund.

Auf dem Gang vor dem Zimmer flüsterte jemand.

Man hatte sie gefunden. Die Gestalten in Clarrys kompliziertem Drehbuch sollten seinem Spezial zur Zweihundertjahrfeier noch zusätzliche Spannung verleihen. Sie hörte beinahe die Vorschau: »Poppy und ihr neugeborenes Baby in großen Schwierigkeiten. Alles in der nächsten Episode von Poppy auf der Flucht

Sie lauschte atemlos. War das eine raue Stimme? Keuchen? Schritte?

Ein Hund bellte.

Es klang grauenvoll.

Aber es gab noch Hoffnung. Das Gebäude war so alt, dass es noch eine Feuerleiter hatte. Straßenlichter, Neonreklamen, die Scheinwerfer der vielen Autos, schimmerten durch die Eisensprossen und versprachen ihr einen momentanen Vorteil. Besser als nichts.

»Wir müssen da raus«, flüsterte sie. »Mein armes Baby. Sie haben uns gefunden. Sie finden uns immer.«

Sie suchte auf der Fensterbank nach einem elektrischen Schalter, fand aber nur Staub und tote Spinnen. Das Hotel war zu alt für bequeme Automaten. Farbe verklebte das alte Fensterschloss. Die konnte sie nie wegkratzen. Sie lehnte sich gegen die Scheibe und fühlte die Leere der Nacht dahinter. Das Glas war wie ein trüber Wasserschleier, der alles dahinter verzerrte. Wenn Poppy die Scheibe einschlug, würde sie der Krach verraten.

Ihre alten Instinkte wurden wach und fingen sie ein. Sie hörte auf, die Situation als Show zu sehen, als eine Aufführung. Sie musste jetzt ihre Tochter retten und empfand die Gefahr für beide ganz real.

So wenige Plätze zum Verstecken. So viele Verfolger. Poppy war immer auf der Flucht.

Poppy zog die Gardinen vor. Das Kind war still. Es wog fast nichts. Sie legte es aufs Bett und zog die oberste Decke über das kleine Gesicht, um die neugeborenen Augen vor Glassplittern zu schützen. Dann sah sie sich im Zimmer um. Ihre Augen fielen auf einen verrosteten Klappstuhl aus Metall, der an der Wand lehnte.

Im Gang hörte sie lautes Knurren.

Keine Zeit mehr für weitere Vorsichtsmaßnahmen. Sie packte den zusammengeklappten Stuhl und schlug mit den Beinen wie mit einem Rammbock gegen die Scheibe. Die Gardinen dämpften das Klirren nur leicht.

Auf dem Gang wurden Schritte laut. Sie näherten sich dem Zimmer.

Schnell nahm sie Calafia hoch. »Komm, nichts wie raus hier!«

Die verstaubte Gardine schützte sie vor den spitzen, scharfen Scherben, als sie durchs Fenster hinausstieg.

Beim Anblick des endlosen, langsamen Verkehrsstroms auf der Straße, zehn Stockwerke tiefer, wurde ihr schwindlig. Die Menschen schwenkten Laternen auf und ab und verschwanden damit in den Häusern. Feuerwerk explodierte. Tiefe Schatten glitten langsam an den Wänden empor, während die Funken in allen Farben des Regenbogens herabrieselten. Poppy blickte zum Nachthimmel empor, um dort Hilfe zu finden. Der Vollmond hing wie das Pendel eines Hypnotiseurs mitten in der Bewegung erstarrt da. Vor ihr stiegen sämtliche Hypnosesitzungen auf, die sie mitgemacht hatte, um ihre Tropen zu verbessern, um in die Handlung ganz eintauchen zu können und die Glaubwürdigkeit von Momenten zu verstärken und Bilder wie diese zu vermitteln.

Sie starrte den Mond an. Den widerlichen Mond. Den Mond, wo alles zur Hölle gegangen war.

Dann explodierte etwas...

Feuerwerk!

Calafia riss Mund und Augen auf. Als das Kind die goldenen Flammen der Pyrotechnik am Himmel sah, fing es an zu schreien. Die Augen des Babys und die Flammen hatten die gleiche Farbe.

Die nächsten Knallkörper ließen die Feuerleiter erzittern. Poppy bot ein perfektes Ziel, indem sie sich wie ein betäubtes Opfer benahm. Nach einigen Augenblicken erfasste ihr Verstand einige Komponenten dieser chaotischen Zweihundertjahrfeier. Jemand schlug die Tür im Zimmer hinter ihr ein.

Sie kletterte schnell über die Zickzackleiter zur nächsten Plattform. Bis auf eins waren alle Fenster entlang der Feuerleiter erleuchtet. Sie lief zu dem dunklen Fenster. Es war offen. Sie hörte lustvolles Stöhnen. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Sie stieß gegen eine Schnapsflasche auf dem Fensterbrett. Als sie umfiel und auslief, gluckerte sie so leise wie Calafia, die unfassbar ruhig blieb.

Auf dem halben Weg zur siebten Etage, schaute Poppy nach oben und sah einen Schatten, der sich durch die Gardine ihres kaputten Fensters schlängelte. Wie ein Tintenfleck lief er über die Fensterbank und landete auf der Feuerleiter.

Poppys Schritte brachten die Eisenleiter ins Schwanken. Das Gestänge hing bereits seit über hundert Jahren an der bröckelnden Hausmauer. Inzwischen waren alle Gesetze zur Sicherheit dieser Einrichtungen längst in Vergessenheit geraten. Jetzt schwankte die Leiter, als marschiere eine Armee darauf.

Poppy erreichte das sechste Stockwerk. Hier war die Maximalhöhe, aus der sie sich eine Überlebenschance ausrechnete, falls sie springen musste.

Fünfter Stock. Die Chancen waren nur geringfügig besser. Gebrochene Beine und Wirbelsäule für sie... und für das Kind? Keine Ahnung.

Jetzt hörte sie oben einen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Noch mehr dunkle Schemen waren auf die Feuerleiter geklettert. Einige sprangen direkt von einem Stock auf die Plattform des nächsten, ohne die Stufen zu benutzen.

Vierter Stock. Die Straße unten wirkte wie die in einer Spielzeugstadt, wie ein Modell, das auf ihre Hand wartete. Fahrräder, Tretautos und andere Wagen kurvten wild um die Fußgänger herum, die die Wege verstopften und auf Zementsäulen balancierten, wo sonst nur Blumentöpfe standen. Lamas und Kühe brüllten als Reaktion auf die frustrierten Schreie ihrer Besitzer. Am lautesten war das Freudengeschrei über die Feier. Jede Bar war voll, Menschentrauben standen an den Theken. Privathäuser dienten als Kneipen. Menschen drängten sich auf den Balkons der Häuser und quollen aus den Wohnsupermärkten. Poppy wünschte, dass auch auf ihrer Feuerleiter Menschen wären, zwischen denen sie sich verstecken könnte.

Als sie den dritten Stock erreichte, hörte sie über sich Metall quietschen. Eine Gestalt fiel neben ihr in die Tiefe, gefolgt von Rostwolken und Eisenstücken. Sie landete in einem Abfallhaufen. Eines der vielen Opfer dieser Nacht.

Poppy zögerte. Die Plattform im zweiten Stock war ziemlich kaputt und hatte viele gefährliche Löcher, wie Zahnlücken.

Und im ersten Stock gab es schon lange keine Plattform mehr.

Flüstern. Gummi quietschte. Eine heisere Stimme rief: »Poppy!«

Sie musste runter. Auch wenn es aussichtslos war. Die Fenster im zweiten Stock waren mit Brettern vernagelt oder zugemauert. Die Plattform senkte sich unter ihrem Gewicht langsam auf die Straße hinab. Die verrosteten Halterungen brachen stellenweise aus dem Mauerwerk. Ziegelstaub und Rostflocken rieselten wie Konfetti der Armen auf die Menge unten. Niemand bemerkte es. Die Leute wischten den Dreck ab und liefen fröhlich weiter.

Poppy stieg vorsichtig über die breiteste Lücke. Dabei hielt sie sich mit einer Hand am Geländer fest. Die ganze Feuerleiter ächzte. Jetzt war sie auf gleicher Höhe mit den Straßenlaternen - immer noch schwindelerregend hoch. Als sie das Gewicht auf die andere Seite des Lochs verlagerte, sprangen zwei Verfolger vor ihr auf die Plattform.

Schnell warf sie sich über die Lücke zurück.

Die Feuerleiter zerbrach laut in zwei Teile.

Poppy fand direkt an der Abbruchkante Halt. Die beiden Verfolger betrachteten sie von der anderen Seite aus. Sie standen vollkommen still. Poppy sah die feuchten, dunklen Augen und die heraushängenden rosa Zungen.

»Du kannst nicht entkommen«, sagte der eine und streckte eine dicht behaarte Hand aus. »Das Kind gehört uns.«

Es war die heisere Stimme vom Korridor.

»Sagt dem Präsidenten, er soll sich zum Teufel scheren!«, schrie Poppy.

Die beiden schauten sich an und schnupperten in der Nachtluft. Sie waren Teges, Lassies, die noch aus den ersten Tagen der Tier-Mensch-Hybrisation stammten. Die Tierschützer hatten vergeblich gegen die Züchtung dieser unglücklichen transgenetischen Geschöpfe protestiert, allerdings mit wenig Erfolg. Militante Tierschützer hatten erklärt, dass es absolut grausam sei, hilflose Hunde mit menschlichen Charaktereigenschaften auszustatten. Es sei furchtbar, diesen glücklichen Tieren Schuld, Reue, Ehrgeiz und Entschlusslosigkeit einzupflanzen. Es gab Fälle, in denen Tiere von dem Humanimalismus profitierten, nicht aber Hunde. Die Veränderung zerstörte sie und machte auch die sanftmütigste Rasse zu Killern.

Allerdings loyale Killer. Sie waren hervorragende Meuchelmörder und riskierten alles, um ihren rein menschlichen Herren zufriedenzustellen. In diesem Fall Präsident McBeth.

Ganz vorsichtig kletterten die Lassies nach oben. Poppy erkannte, dass sie zum dritten Stock hinauf wollten. Von dort konnten sie neben sie springen. Dabei würden die Biester womöglich die ganze Leiter herausreißen. Sie würde fallen... sie würde wahrscheinlich sterben oder zu betäubt oder zu verletzt sein, um wegzulaufen.

Sie blickte auf die Straße hinab, auf die Menschenmenge. »Schaut mich an«, sagte sie leise. »Warum sieht mich denn keiner?«

In dem Verkehrslärm und dem Geschrei der Leute hatte niemand das Ächzen und Brechen der Feuerleiter gehört.

Über ihr schlichen Füße auf Gummisohlen.

Sie schob sich ein Stück zur Seite. Die Feuerleiter schwankte bedrohlich. Noch ein Stück. Das Baby wimmerte und öffnete die goldenen Augen. Es war jedes Risiko wert, das Kind vor dem Präsidenten in Sicherheit zu bringen.

»Das hast du nicht verdient, Baby. Du hast keinen Steuerbetrug begangen.«

Clarry Starko liebte es, Präsident McBeth als schurkischen Geizhals zu schildern.

»Sie hat die Geburtsschuld!«, rief ein Hund von oben. Poppy schaute hinauf und wollte sich mit ihm streiten. Doch da merkte sie, dass er sie nur ablenken wollte. »Gib uns das Kind!«

Die Feuerleiter protestiert lautstark gegen das Gewicht eines zweiten Hundes.

Poppy beugte sich über das Geländer, über die Straße mit Licht und Schatten, über das Gewimmel aus Menschen und Fahrzeugen. Dann hielt sie sich mit einer Hand fest, mit der anderen streckte sie das Baby in die Luft.

Noch nicht... noch nicht.

Die Plattform senkte sich unter dem zu großen Gewicht. Im nächsten Moment würde sie es vermindern. Der Hund auf ihrer Höhe schlich vorsichtig, aber nicht ängstlich, näher.

Noch nicht...

Ein alter mit Benzin betriebener Kombiwagen tauchte direkt unter ihr auf. Das Dach war abgesägt. Der Fahrer hupte wild, um eine Gruppe Sänger mit Tieren vom Gehsteig zu verjagen. Stoffbündel und Körbe waren im offenen Wagen. Der Fahrer fluchte und trat auf die Bremse. Das Fahrzeug stand.

Jetzt!

Poppy ließ los und sah Calafia fallen. Ihre Tochter landete einigermaßen weich auf einem Stoffballen und rutschte dann zwischen Körbe und Bündel, als der Wagen anfuhr und durch eine Lücke in der Menge verschwand.

Der Schock über das, was sie getan hatte, zerriss beinahe ihre Tropen-Trance. Sie hatte ihre neugeborene Tochter fallen lassen. Sie empfand die Tat wie eine echte Bedrohung, nicht als die Drahtshow, die es ja war.

Die Landung hatte aber sicher ausgesehen. Die stoßsichere dicke Decke würde Calafia auch schützen. Und dennoch...

Fluchen hinter ihr.

Poppy drehte sich um. Jetzt musste sie sich den Lassies stellen.

Sie griff mit der freien Hand in die Tasche und holte eine Waffe heraus. Der Hund auf der Plattform vor ihr knurrte, als er die Pistole sah, und zog die Lefzen über den gefährlich scharfen Zähnen hoch. Sie wusste, dass er nicht um Gnade bitten würde. Nicht jetzt. Nichts konnte sie abhalten zu schießen.

Nichts außer dem Gewicht, das von oben auf sie herabsprang.

Der zweite Hund überraschte sie und umschlang Poppy mit ihren Fellarmen. Sie ließ das Geländer los. Beide stürzten in die Tiefe. Menschen schrien und genossen den Höhepunkt der Show. Im nächsten Augenblick prallten Poppy und der Hund auf Beton.

Poppy lag benommen unter dem Hund und fragte sich, woher sie die Kraft nehmen sollte, den Köter abzuschütteln und zu fliehen. Lassie knurrte und drückte Poppy die Kehle zu. Die Welt wurde schwarz. Sie konnte nicht atmen, sich nicht bewegen. Der Hund würgte sie richtig, er war in die Tropen so vertieft, dass er in der Rolle des Hundeschauspielers aufging, der von seiner hündischen Wildheit übermannt war und die Menschen hasste.

Sie hätten einen Mann im Hundekostüm einsetzen sollen, dachte Poppy. Er würgt mich tatsächlich.

Die schwächere Hälfte der Feuerleiter brach aus der Hauswand. Clarry hatte beabsichtigt, ein überzeugendes Ende für ihren Angreifer zu bringen. Doch als sie in die Dunkelheit stürzten, war es zu spät dafür.

»Kai«, wollte sie sagen. »Kai, ich bin's. Poppy!«

Offenbar erkannte der Tege sie aber nicht. Sie konnte kaum sprechen. Jetzt war er nur noch der Hund des Präsidenten. Und sie war auf der Flucht. Seine legale Beute.

Schwärze. Nirgends Licht.

»Kai!«

Calafia...

»Mein Gott!«, rief ein Gaffer. »Das ist so realistisch!«

»Schnitt! Es reicht, Kai. Lass sie los, du Scheißköter!«

 

Poppy hatte das Gefühl, als hätte eine Welle sie auf ein Riff gespült. Sie war völlig erschöpft. Clarry Starko und ein paar Helfer zerrten Lassie weg. Kai blickte jetzt eingeschüchtert und verstört drein. Er hatte den

Schwanz zwischen die weiten Hosenbeine geklemmt. Die Helfer führten ihn weg. Clarry half Poppy auf die Beine.

»Na, alles in Ordnung?«

»Mir ist schwindlig.« Poppy klammerte sich kurz an ihn und blickte umher. Die Menschen merkten langsam, dass sie eine Live-Drahtshow miterlebt hatten.

Mehrere Männer zogen die Feuerleiter auf die Seite. Sie war hohl und wog fast nichts. Sie hätte keinen Welpen erschlagen können. Der Gehsteig war dick gepolstert, um Poppys Fall aufzufangen. Allerdings hatte sie ihn beim Aufprall so hart wie Beton empfunden, so sehr war sie in den Tropen der Verfolgung aufgegangen. So viel Irrealität ließ das Hotel unecht aussehen. Die Ziegelmauern schienen aufzuweichen und im feuchten Nachtwind zu schwanken. Die ganze Straße, samt Lichtem und Menschen, hätte eine Kulisse sein können.

»Du siehst ziemlich schlimm aus«, sagte Clarry. »Furchtbar blass. Hier nimm einen Twist und werde wieder braun. Ist übrigens gratis. Du warst hervorragend als Mamma.«

Er gab ihr eine kalte Silberphiole. Poppy wollte sie beiseiteschieben, aber er drückte sie ihr in die Hand. Seine große, schwarze Hand ließ ihre rosige zwergenhaft aussehen. »Los. Du hast eine Pause verdient. Ich kümmere mich ums Saubermachen.«

»Ich will keinen Twist, Clarry. Ich will mein Baby.«

»Alles klar. Ich hole sie. Rühr dich nicht von der Stelle.«

Er ging am Übertragungswagen vorbei. Die Straße war noch belebter als bei der Aufzeichnung; aber hier unten, inmitten der Menge kam Poppy alles zweidimensional vor, als seien die Menschen aus Pappe geschnitten, die auf verschiedenen Ebenen aneinander vorbeiglitten. Sie fühlte sich selbst etwas flach. Gemalte Augen folgten ihr. Erkennen. Alle kannten Poppy. Ihre Show erzielte immer höhere Einschaltquoten, obwohl sie nie so populär wie die Figueroa-Show werden würde, in der ihre ganze Familie verdrahtet war und immer live kam. Sie sollte sich freuen, weil die Leute sie erkannten, und nicht davor zurückschrecken. Aber an diesem Abend brachte der Ruhm keine Zufriedenheit. War das das richtige Leben für ein Kind? Poppy war für die Drähte erzogen worden, aber nicht in ihnen geboren worden. Ihre Jugend war unversehrt gewesen. Sie war weder Sender noch Empfänger. Die Medienoperation, bei der man durch Nervenkitzel Polynerven zum Wachsen brachte, war an ihrem siebzehnten Geburtstag (mehr oder weniger) freiwillig erfolgt. Damals war sie älter als die meisten Kinder gewesen, wenn diese ihre Drähte bekamen. Aber die meisten Kinder war NE - Nur Empfänger - und sie war auch ein Sender.

Aber Calafia hatte nie die Wahl gehabt.

Poppy ging in eine Seitenstraße zwischen einer Drogerie und einem Sushi-Taco-Stand. Dann drehte sie die Hälften der Silberphiole. Clarry hatte Recht. Ein Twist würde ihr helfen, die Gedanken zu ordnen. Sie warf einen Blick zurück auf das Hotel auf der anderen Straßenseite. Sie suchte das kaputte Fenster des Zimmers, in dem Calafia geboren worden war. Vielleicht sollte sie im Hotel ein Zimmer nehmen und mit dem Baby heute Nacht dort schlafen. Sie wollte nicht wieder mit den Kollegen Zusammensein. Das Baby verdiente etwas Besseres.

Clarry fand sie, als sie gerade die beiden Hälften des Twists an die Schläfe setzen wollte. Er schlug ihr einen Arm herab, ehe der Strom die Drähte erreichte.

»He, was soll das, Clarry?«, fragte sie verärgert. Dann sah sie sein Gesicht. »Was ist passiert?«

Clarry war ein Lächler. Er lächelte eigentlich immer, es sei denn, etwas Furchtbares war geschehen. Jetzt sah sein Gesicht so grau wie ein alter Lappen aus. Er kaute wie ein Verrückter auf der mit Vitaminen angereicherten Tabaklakritzenschlange. Aus der tiefen Westentasche wickelte er unentwegt Nachschub ab.

»Poppy, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Es... es hat da eine Pleite gegeben.«

»Oh, mein Gott! Das Baby!« Sie wollte loslaufen, aber er hielt sie am Ellbogen zurück.

»Wohin willst du?«

Sie funkelte ihn wütend an. »Was meinst du? Wo ist sie? Ich will sie sofort sehen.«

Clarry schüttelte den Kopf. »Poppy, als du sie fallen gelassen hast... wo ist sie da gelandet?«

Poppy hatte das Gefühl, innerlich zusammenzubrechen. Alles zerbrach. Sie war allein. Die Drähte erfassten das alles nicht. Niemand konnte die Angst teilen, die sie fühlte, die wachsende Panik. Was geschah?

»Warum?«, fragte sie. »Ich ließ sie in den offenen Kombi fallen, direkt auf die Stoffballen.«

Clarry schüttelte den Kopf. »Es war nicht unser Wagen, Poppy. Ich habe dir doch gesagt, dass wir bei der Menschenmenge Probleme mit der Koordination haben würden. Unser Kombi blieb eine halben Block entfernt stecken. Niemand weiß, woher der andere gekommen ist - oder wohin er gefahren ist.«

Clarry fing sie gerade noch auf.

»Bleib ruhig, Baby. Alles wird braun, total braun. Wir finden sie schon.«

»Du hast sie verloren!«, flüsterte Poppy.

Er seufzte und zog sie auf die Straße zum Übertragungswagen. Ein Rudel räudiger Lassies - Straßenköter, macho canes - trottete vorbei und schnüffelte ekelhaft in ihre Richtung.

»Erinnerst du dich, was für ein Wagen es war?«, fragte Clarry. »Was war drin? Wer saß am Steuer?«

»Es war alles genauso, wie wir es geprobt hatten. Du hast doch alles aufgezeichnet! Spiel es ab!«

»Beruhige dich! Ich wollte nur wissen, ob du etwas Außergewöhnliches bemerkt hast. Es tut mir leid. Niemand hatte eine Ahnung, bis unser Wagen leer aufgetaucht ist.«

»Ich rate dir, sie zu finden, Clarry!«

Er kaute wild auf der Tabakritze und spuckte die braune Soße aus. Dann schluckte er.

»Mit ihren Augen ist es bestimmt leicht. Wenn wir den Wagen heute Nacht nicht mehr finden, senden wir eine Suchmeldung - wir senden global. Sie kann nicht durch das Netz schlüpfen, Poppy. Wir setzen eine Belohnung aus, was meinst du?«

Poppy nickte, hatte aber kaum zugehört. Lösegeld war das richtige Wort.

»Ich wollte nie, dass sie hineingezogen wird.«

»Komm, Poppy, das haben wir doch ewig durchgekaut. Es besteht keine Gefahr für das Kind. Es ist in Sicherheit, das schwöre ich.«

»Ich wollte sie nicht bei den Aufnahmen. Ich habe das Zeug, aus eigener Kraft das Publikum zu fesseln. Aber du musstest ja wieder einen deiner ekelhaften Knüller einbringen. Du musstest mein Baby haben!«

»Hör zu. Wir kriegen sie. In weniger als einer Stunde.«

»Wenn du sie verlierst, Clarry... geh zur Hölle!« Poppy blieb mitten auf der Straße stehen und bedeckte ihr Gesicht. »Ich will mein Baby wiederhaben!«

»Ruhig, Baby. Du machst dich ganz blass. He, Poppy, schau mal, wer da kommt! Das ist doch Cornelius. Der Seehund aus deiner alten Show.«

Poppy drehte sich um und suchte in der Menge nach dem vertrauten Gesicht.

Ja, da kam er. Wie immer in seinem gestreiften Anzug und der glänzenden Krawatte. Der übliche Duft von Sushi und Old Spice umwehte ihn.

»Guten Abend, Miss Figueroa.«

»Cornelius«, flüsterte sie und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Was machst du denn hier?«

»Ihr Vater hat mich geschickt. Ich soll fragen, ob Sie mit Calafia nicht zu einer Geburtstagsfeier kommen wollen. Er will die Geburt Ihres Töchterchens und den zweihundertsten des Staats feiern.«

»Meine Tochter...« Sie wollte weglaufen; aber Clarry hielt sie fest.

»Hallo«, sagte Clarry. »Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Poppys Drahtmann.«

Cornelius verbeugte sich leicht. »Clarence Starko, ich freue mich. Die Serie hat mir bis jetzt gut gefallen... in den Flachversionen.«

»Du bist nicht verdrahtet? Seehundchen, da verpasst du das meiste der Show!«

»Ich wurde nie verdrahtet, nicht einmal für die Figueroas«, erklärte Cornelius. »Ich nehme an, dass niemand meinen Standpunkt vermisst hat, da so wenig See-hunde im Publikum waren.« Er schaute Poppy an. »Die Entbindung ging problemlos, nehme ich an?«

»Ach, Cornelius...«

»Was ist denn, Miss Poppy? Sie sehen... verängstigt aus.«

»Es geht ihr gut«, sagte Clarry. »Nur etwas ausgebrannt von der vielen Arbeit und...«

»Lass uns in Ruhe, Clarry!«

»Ich sage dir, Poppy, eine Stunde, höchstens zwei. Werde bloß nicht blass!«

»Clarry, würdest du uns jetzt bitte in Ruhe lassen?«

Sie wartete, bis Clarry weg war, dann nahm sie Cornelius am Arm und führte ihn die Straße entlang.

»Das Baby ist weg, Cornelius. Verschwunden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich kann jetzt nirgendwo hingehen. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich muss hierbleiben und nach Calafia suchen. Vielleicht ist sie irgendwo in der Nähe. Vielleicht war alles ein Missverständnis. Ich kann es nicht fassen. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Verschwunden?«, fragte Cornelius.

Sie konnte ihm nicht antworten. Ein Zufall? Was konnte es sonst sein? Warum hatte sie Angst, dass es etwas Schlimmeres sein könnte? Was war, wenn jemand ihr Baby entführt hatte?

»Kann ich irgendetwas für Sie tun? Haben Sie die Polizei benachrichtigt? Ihr Vater wird Ihnen doch bestimmt helfen.«

»Bis jetzt habe ich noch gar nichts unternommen. Ich habe es soeben erst erfahren.«

Lautes Bellen und Knurren unterbrach sie. Cornelius drehte sich schnell um. Ein Lassie rannte mit gefletschten Zähnen auf sie zu. Speichel tropfte auf sein Hemd. Es war Kai, der Hund, der sie beinahe erwürgt hatte.

»Kai, was...«

Der Hund sprang Cornelius an und schnappte nach dem Hals des Seelöwenmanns. Poppy schrie so laut um Hilfe, dass alle Menschen sich ihnen zuwandten. Männer versuchten die Humanimals auseinanderzureißen. Cornelius lag auf der Straße, während kräftige Männer Kai wegschafften. Der Anzug des Seehunds war in Fetzen.

»Ich wollte doch nur ein Autogramm«, beschwerte sich der Hund. »Er ist mein Fell-Lieblingsstar.«

Clarry Starko tauchte in der Menge auf. »Scheiße! Dieser Kai ist verrückt. Der Köter hat vollkommen den Verstand verloren!«

Alle sahen fasziniert zu, wie der transgenetische Lassie weggeführt wurde. Er knurrte immer noch empört. Blutspritzer waren auf den Gesichter und Händen der Männer, die ihn an die Leine genommen hatten. Poppy kniete neben Cornelius. Seine Schnauze war übel zugerichtet, seine Kleidung ruiniert. Trotzdem setzte er sich auf und lächelte.

»Hunde jagen mich ständig«, sagte er.

Clarry pfiff. »Vielleicht müssen wir den Tege absetzen.«

Cornelius sprang auf. »Er hat nicht um das Leben gebeten, das Sie ihm gegeben haben. Und jetzt wollen Sie es ihm wieder nehmen?«

»Moment mal! Es war nicht meine Idee, Tiere in Menschen zu verwandeln. Ich will dich nicht beleidigen - und ich bin auch sehr für die Rechte der Tiere - aber meiner Meinung nach war es für beide Teile nicht gut.«

Cornelius musterte Starko kühl. Dann wurde sein Blick wärmer, als er sich wieder an Poppy wandte. »Ich sage Ihrem Vater, dass Sie nicht kommen können. Bitte, rufen Sie ihn doch an.«

»Das mache ich.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste seine Schnauze. »Tu da etwas Heilmittel drauf. Salbe.«

Der Seehund verabschiedete sich mit einer Verbeugung und verschwand in der Menge. Mehrere Menschen baten ihn schüchtern um ein Autogramm, aber er ging wortlos weiter.

»Mach dir wegen des Babys keine Sorgen«, sagte Clarry. »Wir haben es bald wieder. Heil und gesund.«

»Meine Tochter wird nie wieder in einer Show auftreten.«

Clarry wollte widersprechen, aber die Ereignisse dieser Nacht hatten Poppys Befürchtungen bestätigt. Daher zuckte er nur die Achseln.

»Du hast mich«, erklärte Poppy. »Es ist meine Show und das sollte reichen. Ich setze mein Baby nicht diesem Leben aus.«

Er breitete die Hände aus. »Braun, Poppy, total braun. Es war nur eine so unwiderstehliche Idee, verstehst du? Die Zweihundertjahrfeier. Die Geburt. Eine Verfolgungsjagd...«

»Eine Entführung.«

»He, Moment mal! Was war das? Rede doch nicht so einen Blödsinn! Es war doch kein Verbrechen. Nur ein bisschen Pech.«

»Willst du etwa behaupten, dass rein zufällig ein absolut identischer Kombi anstelle des Studiowagens gekommen ist? Und dass es Zufall war, dass er direkt unter der Feuerleiter hielt, als ich mein Baby fallen ließ? Das war schlimm und zwar erheblich mehr als ein bisschen Pech.«

Er schaute sie verlegen an. »Na ja...«

»Ich glaube nicht, dass es Zufall war, Clarry. Aber falls doch, dann suche gefälligst weiter! Ich rufe inzwischen die Polizei.«

»Noch nicht, Poppy. Was ist, wenn sie von allein zurückkommt?«

Poppy lächelte, obwohl sie schwarzsah. »Sie ist zwanzig Minuten alt, Clarry. Glaubst du etwa, dass sie uns entgegenläuft? Nein, ich verständige die Polizei. Du solltest dich eigentlich darüber freuen. Kostenlose Reklame!«

 

 

 

 

 

  2. Meereskratzer Mega-Party

 

 

Sandy Figueroa lag auf seinem warmen, elastischen Geleefuton und füllte die Lungen mit schmackhaftem, harzigem Redwood-Primo. Er inhalierte immer wieder, bis die Lungen sich wie bei einem Perlentaucher blähten, ehe er einen besonders tiefen und schwierigen Tauchgang wagen wollte. Dann ließ er langsam das Mundstück der Wasserpfeife aus dem Mund gleiten, schloss die Augen und überließ es seinem Körper, wahllos durch die Kanäle zu zappen.

Im Haus war es seine Lieblingsbeschäftigung, zugedröhnt durch die Kanäle zu flitzen, die Live-Drahtfrequenzen modulierten im Gleichklang mit seinen Gedanken, die nach tiefen Zügen am Rauschkraut völlig chaotisch wurden. In einer halben Sekunde durchraste er an die fünfhundert Kanäle, keiner völlig synchron mit seiner jeweiligen Stimmung. Er wartete darauf, dass ihn etwas wirklich fesselte.

Die meisten Sendungen waren Müll, der Äther war verdreckt mit Werbung und Quiz-Shows. Schlechte Medien lauerten in seinen Polynerven wie ein Alzheimer Prion, das nur darauf wartete, sich zu kristallisieren. Er verlor wenig Kontrolle, aber viel Unterscheidungsvermögen, wenn er zugedröhnt war. Das war Teil des Spaßes, aber auch ein happiger Trip. Das Redwood schärfte seine Stimmung und machte es den Horrorshows leicht, ihn zu packen. Jetzt - zum Beispiel - hatten Käfer ihn erwischt.

Jessie Christo! Sie krochen aus seinen Poren, kitzelten ihn an den Füßen und drückten seine Fußnägel wie Kanaldeckel auf. Dann krabbelten sie zu seinem Gesicht und gleichzeitig zu den Genitalien. Er wusste nicht, was er zuerst zudecken sollte: Gesicht oder Gemächt. In Panik versuchte er auf einen anderen Kanal umzuschalten, aber aus Angst verhedderte er sich im Signal und konnte keine anderen Sender bekommen. Er konnte erst aus diesem Alptraum aufwachen, wenn die Show zu Ende war.

Es war keine richtige Horrorshow. Die packte nicht so erbarmungslos zu. Es war ein Werbespot.

Plötzlich besprühte ihn ein kühler Film von Kopf bis Fuß. Eine purpurrotbraune Wolke aus Flieder und Schokolade löste die flinken kleinen Monster auf, ehe sie sein Gesicht oder die Genitalien erreichten. Schillernde Flügel, Schuppenpanzer, Facettenaugen und zitternde Fühler - alles verschwand. Froh und erleichtert lag er da und war dankbar für das Spray, ganz gleich, was das Zeug gewesen war.

»Doktor McNguyens Linderndes Anti-Psychotikum«, flüsterte eine sexy Stimme seltsamerweise nur in ein Ohr. »Jetzt in Sprühdosen!« 

Sandy war zu erschöpft, um einen anderen Kanal einzustellen. Er blieb auf diesem und ließ das friedliche Gefühl und den angenehmen Duft langsam abklingen. Die Drähte brachten ihn direkt in eine reguläre Drahtshow.

»Schaut euch Sandy an!«