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Rhea Krčmářová

Böhmen
ist der Ozean

Erzählungen

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Die Autorin dankt dem Bundeskanzleramt Österreich für die Unterstützung ihrer literarischen Arbeit.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01116-7

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Inhalt

INSELHÜPFEN

LEBENSSTRICHE

MÜNDUNGEN

ÜBERGÄNGE

AM TIEFEN HIMMEL

HUSÁKS STILLE

ORTE AUS SAND

ANEŽKAS ASCHE

NORMALNULL

INSELHÜPFEN

49° 11 N, 14° 42 O Auf den Grund gehen

Man erzählt sich, meine Großmutter sei im Stauteich von Konopiště ertrunken. Manche sagen, es war im Winter und sie habe mit ihren Schlittschuhen pirouettengroße Löcher ins Eis getanzt. Andere sprachen vom Sommer und davon, dass sie nackt unter dem Schilf getrieben sei. Ihre Leiche hätte man unterhalb der Wehr aus dem Wasser gezogen, mit bläulichen Lippen und mit Gräsern im Haar, eine Ophelia, überreif ins Wasser gegangen. Seitdem erscheint sie den guten Leuten von Benešov, die bekreuzigen sich dann und huschen weiter, manche halten sie auch für die Mittagshexe, oder für ein Dunstgespenst.

Ich sehe ihr Spiegelbild vor mir, im Wasser der Regentonne, wie es zwischen Blättern über dämmerungsdunklem Grün schwebt. Babičko, Großmutter, hast du den hastrman gesehen? Sie schaut mich an, versenkt dann die Gießkanne in der Tiefe, der Garten durstet nach den Regenüberresten. Wenn du wochenlang nicht da bist, sagt sie, spinnen die Leute sich seltsame Gedanken zurecht. Wenn du nach Monaten des Wartens einmal den Passierschein hast, die Kröten des Passamts hinter dir lassen kannst, musst du auf eine lange Reise gehen. Schiffspassagen dauern nun mal ihre Zeit.

Ich helfe ihr, die Gießkanne aus dem Wasser zu heben, und frage nicht mehr nach. Ertrinken hat in meiner Familie Tradition.

48° 58 N, 15° 8 O Ans Meer, ans Meer

Badetasche packen. Sonnencreme nicht vergessen. Das Schiff besteigen, am Franz-Josefs-Bahnhof. Mit der Bordkarte zwischen den Zähnen ins Abteil zwängen, Tür und Vorhang zu, andere Passagiere sind nicht erwünscht. Aus dem Fenster schauen, während das Schiff durch die Vororte tuckert, durch Auwälder schwimmt, vorbei an Kleingartensiedlungen und Weizenfeldern. Telefon abdrehen, auf hoher See gibt es keinen Empfang mehr. Auf das Kapitänsdinner wird traditionell verzichtet, tschechische Chips und Kofola-Limonade helfen nicht, wenn man seekrank wird.

Noch treiben wir im Fluss, gleich nähern wir uns der Mündung, nehmen wir heute den Weg über die Sümpfe von České Velenice oder die mährische Meerenge bei Břeclav? Mitten im Delta dann nichts zu verzollen. Milder Wellengang heute, sagt der Schaffner, Sie sind grün um die Nase, soll ich Becherovka holen, Kräuterschnaps aus der Schiffsapotheke? Dann macht er eine Durchsage, zweisprachig: Nächste Anlegestelle: Veselí nad Lužnicí.

Meine Bücher sagen, Böhmen liege am Meer. Aber nur deshalb, weil weder William noch Ingeborg sich je vom Rande Mitteleuropas aus an Bohemia herangetastet haben. Sonst hätten sie die Wahrheit geschrieben: Böhmen ist das Meer. Ist der Ozean, inklusive des Mariannengrabens, der liegt meiner Schätzung nach so in der Gegend des böhmisch-mährischen Hochplateaus. Nördlich von Gmünd und Hohenau nur Wasser und einzelne Inseln, wenige davon habe ich je betreten. Ich nenne sie Benešov, Mikulov oder Brno. Die anderen Inseln kenne ich nur vom Vorbeitreiben, Tábor zum Beispiel oder Česká Třebová, vom Fenster der Fähre, unterwegs zur Haupt(stadt)insel.

Manchmal frage ich mich, warum ich nicht einfach aussteige, zwischendurch, irgendwo, sagen wir einmal Pardubice. Vielleicht fürchte ich mich davor zu ertrinken. Im Ozean. Im Gedankenfluss. In der Regentonne.

50° 5 N, 14° 25 O Wassermann

Es ist dunkel, ich bin vier, und sie heben den Vorhang na nebi hlubokém, am tiefen Himmel. Ich hänge über der Logenbrüstung des Nationaltheaters, und meine Märchenbücher erwachen zum Leben. Ich erkenne die Musik, die mich jetzt in sich eintauchen lässt, die Eltern lassen nicht nur Kinderlieder durch meine Ohren fließen. Feuchte Feen singen sich über die Bühne. Mein Vater flüstert, die unter dem größten Scheinwerfer heiße Rusalka. Sie ist schön und ein wenig schlammig und endet als Irrlicht über dem Wasser. Ich bin traurig. Aber ich weiß, die Musik werde ich mitnehmen, werde sie in den nächsten Tagen und Monaten in meinem Kopf hin und her schwappen hören.

Dann taucht der Wassermann auf, und ich fürchte mich nur ein bisschen. Der grün bemalte Opernsänger scheint fast väterlich. Seine Brüder da draußen sind es nicht. In Böhmen und Mähren hat jeder Fluss, See und Fischteich seinen vodník. In den Büchern von Josef Lada sieht die Wohnung des Wassermanns am Teichgrund aus wie eine Bauernküche aus der »Verkauften Braut«, Esstisch aus dunklem Holz, Stühle mit Herzloch in der Lehne, eine Kredenz mit bemalten Tontöpfen, nur die Fische, die durchs Zimmer schwimmen, zeigen, wer da zu Hause ist. In den Töpfchen, das hat man mir vorgelesen, bewahrt er die Seelen der Ertrunkenen auf. Manchmal sitzt er auf einer Weide, in der Nacht, und raucht Seegras in seiner Pfeife. Bös kann er sein, der vodník, der hastrman, Menschen unter die Wasseroberfläche locken, wieder eine dušička, eine arme Seele mehr, die in eine dieser glasierten Zuckerdosen gesperrt wird.

Im Sommer darauf holt der Wassermann beinahe meinen kleinen Bruder. Ein letztes Mal noch, sagt meine Mutter, will sie in dem kleinen Waldteich in der Nähe von Benešov schwimmen. Sie bittet uns, am Ufer zu bleiben, und betritt das Wasser. Der Wassermann lockt meinen bratrícek, und meine nixenbleiche Mutter sieht von der Teichmitte aus zu, wie der Kleine in der Dunkelheit versinkt. Ich kann seinen Kopf nur mit Mühe an der Oberfläche halten, etwas scheint ihn nach unten zu ziehen. Irgendwann erreicht Mama das Ufer, zieht uns aus dem Wasser, weint. Dem vodník will sie keine Schuld geben. Sie sei abgelenkt gewesen, in Gedanken. Warum, will sie nicht sagen.

Einige Monate später nehmen uns die Kröten vom Innenministerium die Pässe weg, stellen uns Passierscheine aus. Drücken uns Bordkarten in die Hand, Vermerk: Rückfahrt nicht erwünscht. Es schwemmt es uns ins Trockene, andere Länder, andere Sagen. Das Wasser im Strandbad Klosterneuburg ist genauso grün und undurchsichtig wie im Schlossteich von Konopiště, aber der Bademeister lacht und sagt, Wassermänner habe es hier nie gegeben, und ich denke an die Worte meiner Mutter, die sagte, das Fürchten sei vorbei. Einem Wassermann begegne ich nur noch einmal, in der Volksschule in Weidling. Angeblich, sagt die Lehrerin, gebe es im Westen Wiens einen, im Wienfluss. Um ihm zu entkommen, müsse man die Spuren der Ochsenwagen überqueren. Von Töpfen oder Kredenzen ist nicht die Rede, und nachdem ich bei einem Ausflug sehe, wie der Wienfluss nur ein braunes Rinnsal ist, das im Betonbett verloren geht, mag ich gar nicht mehr an ihn glauben.

50° 23 11 N, 14° 17 18 O Noah

Babička setzt sich an mein Bettchen, schlägt ihr Sagenbuch auf und liest:

Und Urvater Čech parkte sein Schiff auf halber Höhe des Berges Říp, Archetyp, der er war, und stieg auf den Gipfel. Weit und breit nichts zu sehen, befand er, nur Meer und sonst niemand. Seine Mitreisenden seufzten erleichtert, ihnen ging der gepökelte Fisch schon wahnsinnig auf die Nerven. Seit Wochen waren sie unterwegs auf dem Ozean, mit drei Schiffen losgesegelt, Urvater Čech auf der Niña, Urvater Rus auf der Pinta, Urvater Lech auf der Santa Maria und so weiter.

Die Urbrüder aber waren kurz nach den Karpaten abgebogen, um woanders zu ankern. Wie gut, sagte babička, sonst hieße unser Land Lechská Republika, schlimm genug, dass unser Urvater sich nicht entscheiden konnte, ob er sich jetzt Čech nennt oder Boemus. Dass wir uns den Wortstamm teilen mit dem Stamm der Bayern, wenn unser Bier doch wesentlich besser ist. Aber Hauptsache Land in Sicht, und sei es auch noch so feucht.

Natürlich war der Ozean bewohnt, las sie weiter, von hier bis Baile Átha Cliath, mit Nixen aus einer anderen Zeit, mit rothaarigen, sommersprossigen Rohlingen, die ihren Wäldern und Dörfern Namen wie Gabréta und Sudéta gaben, die nachts aus dem Wasser stiegen, um sich mit dem neuangekommenen Boemusstamm zu paaren und danach auf dem Trockenen zu bleiben. Die Tschechen und die Alten gründeten Städte und Gasthäuser, krčmas, und schenkten Bier aus.

Urvater Čechs Tochter Libuše aber war Hexe, nicht Nixe. Sie konnte in die Zukunft schauen, und was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Ich sehe Feuer, sagte sie und stellte sich auf den Berg Vyšehrad, ich sehe Scheiterhaufen am Bodensee brennen, Hussiten, die ihr eigenes Land in Brand setzen, ich sehe Studenten, die sich Fackel Nummer eins nennen, sich vor Tanks in Flammen auflösen. Ich sehe ein Meer aus Schlüsseln, Kerzen auf dem Wenzelsplatz, ich sehe, wie der Dichterpräsident seine Lungen zu Asche raucht, und all das Wasser unseres binnenböhmischen Ozeans kann diese Brände nicht löschen. Ich sehe Familien, die auseinandergespült werden, sehe alte Leute allein auf dem Trockenen sitzen, auf Inselchen im roten Ozean, und selbst wenn die Fluten gewichen sein werden, kehren die Familien nie wieder auf das Festland zurück und die uralten Meerjungfrauen werden einsam sterben.

Dann heiratete Libuše aus lauter Verzweiflung einen Mann. Ende der Geschichte.

48° 12 N, 16° 22 O Heimatliche Gewässer

Ich bin elf oder zwölf, als ich an die Moldau zurückgespült werde, besuchsweise. Nichts hat sich verändert, an jeder Ecke Golems und Geister, überall glaube ich den vodník zu sehen. Du erkennst den Wassermann, Kind, sagen meine Märchenbücher, an seinen nassen Rockschößen. Also schaue ich in der Prager Straßenbahn allen Menschen auf die Füße, suche nach nassen Flecken. Der Wassermann geht sicher auch mit der Zeit, denke ich, und fährt Straßenbahn, aber ich kann ihn nicht finden. Alle sind nass vom Osterregen.

Auf dem Weg von Prag nach Benešov werden wir am Abend von Piraten der staatlichen Sicherheitskräfte gekapert, ein Saab mit Wiener Kennzeichen ist eine leichte Beute. Sie zwingen uns, auf einem Parkplatz zu ankern, nehmen uns die neuen österreichischen Pässe ab, verschwinden in irgendeinem Gebäude, in ihrer Freibeuterfestung auf dieser Insel inmitten der Nacht. Meine Mutter marschiert ihnen nach, so wütend habe ich sie selten gesehen. Die Türen schließen sich, mir fällt die Stube unter der Wasseroberfläche ein, die irdenen Töpfchen mit den Seelen der Ertrunkenen. Ich will weinen, sie werden meine Mutter unter das Wasser ziehen, und dann bleiben meine Geschwister, meine Großmutter und ich für immer auf dieser Insel im Nirgendwo. Die Tür geht auf, meine Mutter kommt mit den Pässen zurück, die Grüngekleideten trotten hinter ihr her, können nicht glauben, dass sie diese Seele verloren haben. Ich versuche zu erkennen, ob von den Säumen ihrer Uniformen Wasser tropft, aber es ist zu dunkel.

49° 52 N, 14° 54 O Dobrá voda

Als es dunkel wurde, hat er, der einmal mein Vater sein wird, sein Kanu aus dem Wasser gezogen. Hier, haben er und seine Freunde sich gesagt, ist ein guter Lagerplatz für die Nacht. Sie haben ihre Zelte aufgebaut, Feuer gemacht. Jetzt sitzt er im Gras, trinkt Bier, raucht, vor ihm das Dunkel des Waldes, in seinem Rücken rauscht die Sázava. Er fühlt sich müde vom Kampf mit dem Ruder und dem Wasser, müde und gut. Das Böhmen, das er mag, ist das Wasser unter seinem Boot. Und in der Flasche in seiner Hand, Slavia Pivovar Braník, von der moldaunahen Prager Brauerei, die seinen Wassersportclub unterstützt.

Es ist Mitte der Fünfzigerjahre, er ist Anfang zwanzig, lebt erst seit ein paar Jahren wieder in Prag. Geboren wurde er in Köln, den Großteil seines Lebens hat er in England und Wales verbracht. Ins Land seines Vaters ist er erst vor der Matura gekommen. Schon damals war er ein Feind der Nation, ein Schwein, ein Bourgeois. Seine Wut darüber, dass man ihm vor einigen Tagen zum zweiten und letzten Mal das Studieren verboten hat, hat er sich aus dem Leib gerudert. Jetzt sitzt er da, grillt seine buřty über dem Feuer und hört der Nacht zu.

Die Glasharfenstimmchen hört er kaum, nur leise dringen sie durch Flussmurmeln und Feuerflüstern zu ihm durch. Komm zu uns, spiel mit uns, tatícku hastrmánku, Papa Wassermann. Er steht auf, geht zum Ufer. Wieder und wieder hört er das Kinderwispern, aber im Flussbett sieht er nur den Fluss, der sich weigert zu schlafen.

Zurück am Feuer fragt er sich, ob die anderen etwas gehört haben, aber in den biermüden Gesichtern der Freunde liegt nichts als Zufriedenheit.

In dieser Nacht träumt er zum ersten Mal von drei Töchtern mit Namen Vltava, Sázava, Otava. Mit Haaren wie Schlingalgen und Augen wie Flüssen, grau und tief wie die seinen. Sieht sie, seine Mädchen, seine Kinder, wie sie unter seinem Kanu schwimmen, am Paddel vorbei, durch sein Abbild auf der Wasseroberfläche hindurch. Komm zu uns, hört er sie sagen, wir wissen, was an Land auf dich wartet. Es wird dir nicht gefallen.

Er wacht auf. Um sich Flussstille, Nacht. Er weiß, dass der Schweiß auf seinem Körper nicht von der Zelthitze kommt. Er braucht lange, um wieder einzuschlafen, und passt am nächsten Tag besonders auf, nicht ins Wasser zu fallen. Er wird Wassertöchter ab nun jedes Mal emporträumen, wenn er zum Straßenbauen und zur Arbeit am Fließband und am Hochofen gezwungen wird, nachdem er alle Netze, die man nach ihm ausgeworfen hat, umschwommen oder zerrissen hat. Die Flüsse wird er weiterhin befahren. Mehr und mehr werden sie zum einzigen Teil Böhmens, mit dem er nicht zu kämpfen hat.

Irgendwann wird er selbst eine Meerjungfrau heiraten, drei Kinder zeugen, zwei Töchter mit Wassernamen und einen Honza, und mit seiner Familie neues Festland finden, auch wenn er sich schon daran gewöhnt hat, der Fisch außerhalb des Wassers zu sein. Die beiden jüngeren Kinder werden ihm ähnlich sein. Werden für ein Auslandssemester bei der tschechischen Handelsmarine anheuern, werden den Ozean befahren, heimkommen mit Nachkommen der Nixen und Hexen, sich auf der Prager Insel ansiedeln, wenn auch nur als Touristen. Die Älteste wird nie wirklich schwimmen lernen. Wird wasserscheu an der Reling stehen. Und Inseln anschauen. Sie nennt sich Panta Rhei, die Flüssige. Alles, sagt sie, will geflutet sein.

49° 47 N, 14° 41 O Kuchlböhmisch

Es war Scham, die mich an den tschechischen Stammtisch gespült hat. Unbehagen über die Sprache, die ich, obwohl schon Mitte zwanzig, nie richtig gelernt habe. Bestürzung darüber, dass die Háčeks nicht nur auf meiner Tastatur verschwimmen, sondern auch in meinem Hirn. Jetzt sitze ich zwischen pensionierten Lehrern und Slawistikstudentinnen und fische nach Worten zu Themen, die mich nicht interessieren. Ich bin für diese in Wien gestrandeten Matrosen weder im Hier noch im Drüben. Den Akzent finden sie spannend, meine Grammatikfehler lästig bis entzückend, die Pausen, in denen ich nach Wörtern tauche, bestenfalls charmant. Sprichst ja eh ganz gut, murmeln die meisten und sind froh, wenn sie meine Niemandsinsel dann wieder verlassen dürfen.

Vis-à-vis von mir fragen sich zwei andere Nixenkinder, was sie hier eigentlich machen. Dein Wortschatz ist jedenfalls besser als unserer, sagen sie mir später, wie hast du das gemacht, wenn auch eure Insel die Küche war? Sie können auf Tschechisch kaum mehr als über Hausaufgaben und Speisepläne reden. Mein Wortbestand ist zumindest kurios, bunt zusammengefischt. Wenn ich in tschechische Zeitschriften oder Webseiten eintauche, fehlt mir die Hälfte der Modeverben, ich muss sie aus dem Zusammenhang erraten. Dafür fließen Bildbesprechungen und politische Streitgespräche ohne Dämme durch mich durch, wir hatten viel Besuch auf unserer kleinen Insel. Journalistinnen und Schauspieler, Chartisten und Malerinnen brachten als Geschenk Bühnensprache mit und Schatztruhen aus der Kunstgeschichte. Babička tröpfelte ihr Südböhmisch dazu, das es heute nicht mehr gibt. Wir haben unsere eigenen Worte erschaffen in dieser Robinsonade – tauchác, schwimmovat, potapieren – und Sätze wie aus Dvořákopern mit Grammatikfehlern versenkt. Ich wundere mich nicht, dass die Durchschnittsmatrosen am Stammtisch mit mir nicht viel anfangen können. Ein eh ganz gut und ein Kopfnicken. Das ist alles, was bleibt, wenn das Wasser sich verzogen hat.

Am Heimweg überquere ich die Wienzeile, der Wienfluss fällt schwarzbraun und regenvoll in Richtung Donaumündung. Auch dieses Mal sehe ich keinen Wassermann im Betonbecken, aber die Schaumkrönchen scheinen aus lauter winzigen Háčeks und Strichen zu bestehen, aus all denen, die ich von meinem Namen geschnitten und weggeworfen habe. Ich könnte hinuntergehen und eine Handvoll aus dem Wasser fischen, sie wie Pflaster über all die amputierten Unterschriften und auf die Formulare mit Löchern in der Haut über das C und R kleben. Ich könnte mir eine Bordkarte daraus basteln. Sie in Porzellantöpfchen sperren und mich an ihrem Leuchten wärmen.

Ich löse mich vom Fluss, weiß jetzt, was ich zu tun habe: die Fähre besteigen, wieder und wieder, Inseln suchen, durch Überreste der alten Sprache tauchen. Ein letztes Mal drehe ich mich um, zur Wienflussbrücke. Der Gehsteig ist überraschend trocken. Nur dort, wo ich gestanden bin, breitet sich eine kleine, nachtschwarze Lache aus.

LEBENSSTRICHE

I got two strong arms, blessings of Babylon,
time to carry on
.
Nik Kershaw, The Riddle

Schau dir meine Marshügel an, sagt die Frau mit den Steinchen aus Gablonzer Glas über ihrer Seele, oder Venushügel, oder wie nennst du die?

Nein, sage ich, diese Lesart verwende ich nicht. Ich nehme unsere Götter, die alten, die slawischen. Perun und Morena und Lada und Svantovít und die anderen.

Egal, sagt sie, sag mir, ob ich heute noch in die Nacht hinausgehen soll. Sie zwingt sich zu lachen und drückt ihre Hände zwischen meine Finger. Die anderen Frauen bilden einen Kreis um uns.

Also schauen wir einmal, sage ich und streiche mit der Fingerspitze über die Haut ihrer Handfläche. Ihr leichtes Zusammenzucken bemerkt keine der Umstehenden, nur ich spüre es. Sie entschuldigt sich, wirft mir halb im Spaß vor, dass meine Finger kalt und feucht seien und ich das Nieseln von draußen mitgebracht habe. Ob ich denn immer nur im Regen hierherkomme? Ich ignoriere ihr flüchtiges Unwohlsein und ihre Frage, sie wird sich beides bald weggetrunken haben, und beuge mein Gesicht über ihre Hände. Ist ihr und den anderen Frauen jemals aufgefallen, dass das Land, in dem sie existieren, einer Handfläche gleicht, mit Hügeln am Rand und einer Senkung in der Mitte?

Sehen Sie, sage ich, Ihre Handinnenseite ist wie eine Landschaft, wenn sich all das Wasser verflüchtigt. An den Rändern die Berge, die eingesunkene Ebene in der Mitte.

Hügel, fragt sie und zieht die Augenbrauen so hoch, dass ich den dunklen Schatten am Anfang der gebleichten Härchen noch besser sehe. Welche Hügel, welche Berge, Mädchen?

Říp und Radhošt und all die anderen, sage ich. Die Schneekoppe, sehen Sie den Hügel direkt unter Ihrem Zeigefinger, und direkt darunter eingesunken die Quelle Ihrer Herzlinie? Der Lebensfluss entspringt im Südosten, wo die Hohe Tatra ansetzt, verläuft bis zum Nordwesten und verliert sich im Erzgebirge.

Aha, sagt sie, und dazwischen?

Jetzt hört sie mir endlich zu, nach all den Nächten, die wir miteinander in diesem Café verbracht haben. Irgendwann kommen sie alle zu mir, sie ist die Letzte, die mir noch fehlt. Dazwischen, sage ich, in der Binnenlandmulde, die kleinen Linien als Flussbetten, manche ausgetrockneter als andere.

Die Dellen und Narben in den Handflächen sind wohl Fischteiche, sagt sie und lacht wieder, originell bist du zumindest.

Über ihren Brüsten glitzern die Steinchen wie Irrlichter über dem Fluss, wie verfluchte, vom Weg abgekommene Mädchen. Mein Blick und meine Finger gleiten über die krajina, die Landschaft ihrer Handfläche. Ich sehe Störzeichen, vom Leben in die Hand gedrückt, Brüche, Kreuze, Risse, die Narben der Seele, die sich in die Handflächen einzeichnen. Die Linie, die andere Handleserinnen die Via Lasciva nennen, ist besonders ausgefranst. Aus der Sonnenlinie ist eine Mondlinie geworden, aber das behalte ich für mich.