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Margret Greiner

MARGARET
STONBOROUGH-
WITTGENSTEIN

Grande Dame der Wiener Moderne

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01121-1

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus

Unter Verwendung eines Fotos von IMAGNO/Austrian Archives (00120366)

Lektorat: Paul Maercker

Satz und typografische Gestaltung: Sophie Gudenus

für David

Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpferischen Natur, Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selbst hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft.

HUGO VON HOFMANNSTHAL

INHALT

Prolog

Musik weht durch alle Räume

Die verkörperte Auflehnung

Schöner Götterfunken

Jerome taucht auf

Was nicht alles von dir bleibt

Das Klimt-Porträt

Eheliches Glück, oder: A Sunny Disposition

Millionen wert

Schwer gemütlich

„… die Frauen sind auch nett, aber viechsdumm“

Mit heißem Bemühn

Das Toscana-Juwel

„Die Sucht, sich und Andere zu vernichten“

Ins Exil

Das strapazierte Herz

Kollaboration mit dem Feind?

Die Milch der frommen Denkart

Wie nach einem Erdbeben

Ihre Unschuld, Madam, rettet Sie!

Die Zastrow-Brüder

Wo du hingehst

Nüchternheit und Verzückung

Die Welt ist alles, was der Fall ist

Die Vollkommenheit des Himmels

Die hausgewordene Logik

Friede auf Erden

Aber der Richtige, wenn’s einen gibt

Der Schwarze Freitag

Eine Art Leuchtturm

Die Zeiten färben sich braun

„Kann man Österreicher und Jude sein oder nur Eines wirklich?“

Freuds Rettung

Selbstmord ist immer eine Schweinerei

Die gemischte Solution

Im zweiten Exil

Die Melange des Heimwehs

Unterhaltungen für die linke Hand

Der Himmel beßrer Zeiten

Lob der Bescheidenheit

Ach, die Söhne!

Bin Freund, und komme nicht, zu strafen

Epilog

Zeittafel

Literaturliste

Danksagung

PROLOG

Pierre Stonborough liebte es, seine Großmutter in der Villa Toscana in Gmunden zu besuchen. Das Leben in dieser Idylle verlief so anders als in New York, dort intonierte das gellende Aufheulen von Polizeisirenen die Melodie der Stadt, hier waren es Schubert-Walzer und von fern die Bootsglocke der Ausflugsdampfer auf dem Traunsee. Seine Mitschüler im Internat beneideten ihn, wenn er jedes Jahr vor den Sommerferien vermeldete: Ich fahre nach Europa. Das klang nach dem Glamour der alten Welt, nach Paris, London, Wien, und Pierre hütete sich, zu erzählen, dass er in ein kleines österreichisches Bauerndorf fuhr. Dabei war Gmunden Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Kleinstadt mit mehreren Tausend Einwohnern, für Pierre aber blieb es „das Dorf“. In der Villa Toscana gab es natürlich nichts Dörfliches, nichts Bäuerisches, außer, dass das Dienstpersonal Milch, Käse, Honig und Eier von heimischen Erzeugern kaufte. Es gab viel Besuch, Familie kam in Scharen, Künstler gaben sich ein Stelldichein, an vielen Abenden klang durch die offenen Fenster Musik in den Park, manchmal saß nur die Dame des Hauses am Klavier, manchmal fand sich spontan unter den Gästen ein Trio oder ein Streichquartett zusammen.

An diesem verregneten Julinachmittag war Pierre ganz allein mit seiner Großmutter Gretl im Haus. „Komm mit in die Bibliothek, junger Mann“, hatte sie befohlen. „Statt in den Regen können wir auch in Bücher schauen.“ Sie nahm ihre Teetasse mit in den ersten Stock, Pierre war frische Buttermilch verordnet worden, damit das New Yorker Stadtkind ein bisschen Farbe annehme. Pierre verabscheute Buttermilch, aber hatte jemals jemand seiner Großmutter zu widersprechen gewagt? Margaret Stonborough-Wittgenstein suchte in den Regalen nach passender Ferienlektüre für ihren Enkel. „Hatten wir nicht jüngst mit Hofmannsthal begonnen?“ „Nicht schon wieder Hofmannsthal“, seufzte Pierre. Er erinnerte sich mit Schaudern, wie ihm seine Großmutter im letzten Jahr den „Jedermann“ vorgelesen hatte: Er hatte nichts verstanden, nicht nur, weil seine Deutschkenntnisse immer noch mangelhaft waren, dieses Drama von Tod und Teufel und Buhlschaft war ihm völlig wirr und dunkel vorgekommen, trotz ausschweifender Erklärungen. Ach, was war es nur ein paar Jahre zuvor in New York schön gewesen, als er Kiplings „Dschungelbuch“ lesen durfte – und das auf Englisch. Aber seine Großmutter Gretl behandelte ihn jetzt als Erwachsenen, was im Prinzip in Ordnung war, aber bei ihrer Auswahl geeigneter Lektüre eine Plage. „Wir könnten es ja vielleicht mit Erzählungen von Arthur Schnitzler versuchen.“ Gretl ging an den Mahagoni-Bücherschränken entlang und zog Bücher heraus, blätterte ein paar Seiten, las die Widmungen in den Erstausgaben, schüttelte den Kopf, stellte sie wieder ins Regal. „Ach nein, nicht Joseph Roth, der ist so furchtbar sentimental, wie alle Alkoholiker. Vielleicht versuchen wir es einmal mit Stefan Zweigs ‚Ungeduld des Herzens‘, oder magst du keine Liebesgeschichten? Musils ‚Törless‘, ja, das wäre auch eine Idee.“

„Und wann darf ich etwas von Großonkel Ludwig lesen?“, fragte Pierre, den der Hafer stach. Er wusste, dass er damit seine Großmutter von Pflichtlektüren für sechzehnjährige Amerikaner mit österreichischem Hintergrund abbringen konnte. „Noch lange nicht“, sagte diese dann auch prompt. „Da musst du noch groß und stark werden, um ein Schwergewicht wie Luki begreifen zu können. Aber du wirst noch einmal stolz sein, Ludwig Wittgenstein zu deinen Großvorderen zu zählen. Zu deinen Verwandten, meine ich.“

Der Nachmittag zog sich hin. Der Regen hatte aufgehört, der Rasen im Park leuchtete unter der durchbrechenden Sonne wie eine Kunstwiese für ein Bühnenbild. Pierre stand an den hohen Fenstern und sehnte sich plötzlich nach einem Football-Match. Oder einer Rafting-Tour in Colorado, wie sie Jeff und Finn, seine Freunde, jetzt gerade unternahmen. Vielleicht kamen ja in den nächsten Tagen Tante Mariechen Stockert und Onkel Fritz mit den gleichaltrigen Cousins und Cousinen, oder die Sjögren-Kinder, mit denen er im Traunsee baden könnte. Das war jedes Mal ein Spaß – oder eine „Hetz“, wenn die Jungen die hübschen Cousinen über den steinernen Steg ins Wasser trieben und diese jedes Mal laut aufkreischten, der See war auch im Juli viel kälter als erwartet.

Seine Großmutter riss ihn aus seinen Träumen. „Hilf mir mal!“ Sie lotste ihn in den kleinen Abstellraum neben der Bibliothek. „Hier hinter der Chaiselongue liegt seit Langem ein Bild, ich wollte es dir immer schon einmal zeigen, lass es uns an der Wand aufstellen.“ Es war ein großes Bild, nicht leicht durch die enge Tür zu bugsieren. „Wie findest du das?“ Pierre nahm sich Zeit. Das musste er. Wenn seine Großmutter etwas hasste, dann waren es vorschnelle Urteile über Malerei und Literatur. Er ging ein paar Schritte vor, ein paar zur Seite, als müsse er die richtige Beleuchtung für das Bild finden, kniff die Augen fachmännisch zusammen, öffnete sie wieder. Was er sah, war ein ungerahmtes, staubiges Ölbild in verblassten Farben, das lebensgroße Porträt einer Frau mit dunklem, fast schwarzem Haar, markanten Augenbrauen und sehr weißer Haut in einem fließenden hellen Kleid.

„Das bist doch nicht du?“, fragte Pierre.

„Ja, doch, das sollte ich sein. Vor mehr als 40 Jahren. Zu der Zeit, als ich deinen Großvater heiratete.“

„Das hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit dir. Du bist auch gar nicht schön darauf. Es ist zu viel Kleid auf dem Bild. Und du siehst gar nicht jung aus. Also, mir gefällt es nicht.“ Pierre war sich sicher, genau das Richtige gesagt zu haben. Wenn seine Großmama das Bild schätzte, hätte sie es doch nicht so nachlässig hinter dem Sofa herumliegen lassen, Wände zum Aufhängen von Gemälden gab es schließlich in der Villa Toscana genug.

„Das war sicher kein besonders guter Maler, dem du da Modell gestanden hast. Ihr kanntet doch Gott und die Welt, da hättet ihr doch einen erstklassigen Künstler engagieren können. Oder?“

Margaret Stonborough-Wittgenstein lächelte amüsiert. Der Maler hätte die Einschätzung seines Bildes durch einen ahnungslosen amerikanischen Burschen mit Humor ertragen.

Sie müsste das Gemälde dringend rahmen und restaurieren lassen. Aber aufhängen wollte sie es wirklich nicht. Als Sechzigjährige jeden Tag in das Gesicht ihres zwanzigjährigen Selbst zu blicken – dazu gehörte ein gewisses Maß an Selbstverleugnung. Oder eine Eitelkeit, die sich von der Vergangenheit nährte.

Beides ging ihr ab.

„Genug Stubenhockerei für heute, Pierre, ab in den Garten. Die junge Gretl wird wieder eingemottet. Hinter dem Sofa sei ihr ein langer Schlaf gegönnt.“

„Du kannst das Bild natürlich auch verkaufen. Aber viel bringen wird es wohl nicht“, konstatierte selbstbewusst der junge Kunstkritiker im Hinausgehen.

MUSIK WEHT DURCH ALLE RÄUME

Durch das geöffnete Fenster in der Beletage hörte man die sich nähernden Kutschen, das Trappeln der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und das Quietschen der Räder, die langsam zum Stillstand kamen. Die neunjährige Gretl schob den dicken Store einen Spaltbreit auf und rief: „Sie kommen! Sie sind schon da!“ Das Haus Wittgenstein erwartete Gäste zu einer musikalischen Soiree. Joseph Joachim, der berühmte Geiger, der noch ein Schüler Felix Mendelssohns gewesen war, wurde mit seinem Quartett erwartet. Joachim war entfernt mit den Wittgensteins verwandt, ein Cousin von Karls Mutter, und wenn er nach Wien kam, nahm er gerne die Gelegenheit wahr, im Haus in der Alleegasse zu musizieren. Der Anlass an diesem Abend war, wie nicht eben selten, die Generalprobe zu einem Konzert mit seinem Quartett im Großen Saal des Musikvereins. Angekündigt war Schuberts letztes Streichquartett Nr. 15 in G-Dur, erst 23 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht.

Joachim rauschte mit seinen Musikern ins Haus, die Dienerschaft nahm die Mäntel ab, erbot sich, die Instrumente in den Salon zu tragen, aber Joachim gab seine Geigen nie aus der Hand, er besaß, so hieß es, dreizehn Stradivaris, auf die er sehr stolz war. Vielleicht waren es auch nur fünf. Heute Abend hatte er die „Dolphin“ mitgebracht, eine Geige des Meisters aus seiner „Goldenen Zeit“, 1714 in Cremona gebaut. Heinrich de Ahna, der zweite Violinist, stellte seinen Geigenkasten lässig an der Garderobe ab, im Hause Wittgenstein musste man sich nicht um sein Instrument sorgen. Der Bratschist Emanuel Wirth fürchtete, dass die harschen Wintertemperaturen in Wien seinem Instrument zusetzen könnten: Die Temperaturunterschiede zwischen der Kälte draußen und den wohlgeheizten Räumen des Palais waren gewaltig. Robert Hausmann, der Cellist, spielte auch ein Stradivari-Instrument, er war ein Bewunderer von Johannes Brahms, die Freundschaft war gegenseitig, Brahms hatte ihm seine zweite Cellosonate gewidmet.

So war es kein Wunder, dass sich auch Brahms selbst angemeldet hatte, er gehörte zu den Freunden der Familie, seit im Jahr 1882 sein Klarinettenquintett h-Moll, op. 115 durch das renommierte Rosé-Quartett im Hause Wittgenstein aufgeführt worden war. Er wohnte ebenfalls auf der Wieden und hatte mit der Droschke keinen weiten Weg.

Man wärmte sich im Roten Salon auf; der große Murano-Lüster erstrahlte, es gab Kaffee und kleine Törtchen aus der Konditorei Demel. Brahms liebte es, übers Essen zu plaudern, klopfte sich dabei auf seinen schon recht stattlichen Embonpoint. Joachim ereiferte sich über den Wagnerismus, der sich jetzt auch in Paris wie eine Krankheit ausbreite. Selbst empfindsame Lyriker wie Verlaine und Baudelaire hatten den „Meister“ gepriesen. „Seine gedrechselten Stabreime können sie ja wohl nicht meinen“, sagte de Ahna und schon platzten alle im Chor los: „Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala weialaweia!“ Nach den Rheintöchtern kam noch der Zwerg Alberich mit seinem: „Garstig glatter glitschiger Glimmer“ an die Reihe, dann aber gebot Joachim dem Gelächter Einhalt. „Genug Spott versprüht. Ziehen wir uns um und konzentrieren wir uns auf Schubert.“ Die vier Musiker verschwanden im Garderoben-Zimmer, das ihnen im ersten Stock zur Verfügung gestellt worden war. Bald hörte man das Stimmen der Instrumente wie eine ins Disharmonische geratene Engelsmusik ins Erdgeschoß wehen.

Es trafen neue Gäste ein, Tante Clara aus Laxenburg, die Großmutter Maria Kallmus, der Maler Rudolf von Alt, der Architekt und Künstler der Secession Josef Hoffmann, der gefürchtete Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“ Eduard Hanslick, einige Sängerinnen der Hofoper; die Herren im Frack, die Damen in großer Abendgarderobe. Man schritt die ausladende Stiege zum ersten Stock hinauf: Die Flügeltüren zum Musiksalon wurden geöffnet, und obwohl die meisten Gäste den Raum kannten, erhob sich ein bewunderndes Raunen. Der Raum wurde immer im Dunkeln gehalten und nur bei Konzerten von zehn bronzenen Stehleuchtern illuminiert. Warm reflektierte die Kassettendecke aus vergoldetem, stuckiertem Holz das Licht. Die Wände waren mit wertvollen Tapisserien mit Jagdmotiven ausgekleidet, an der Stirnseite stand eine zweimanualige Orgel, die die ganze Wand einnahm, reich verziert mit Malereien im präraffaelitischen Stil. An einer der Längsseiten standen sich zwei Bösendorfer-Flügel gegenüber, an der Seite vis-à-vis gruppierten sich Sitzmöbel, eher zierliche Biedermeierschemel als opulente Fauteuils. Unmittelbar bevor das Quartett den Raum betrat, huschten sechs der acht Wittgenstein-Kinder in den Salon und verdrückten sich geräuschlos in eine Ecke, nur die Jüngsten, der vierjährige Paul und der zweijährige Ludwig, lagen schon im Schlaf. Karl Wittgenstein begrüßte die Gäste. So entschlossen und eindringlich er mit seinen Untergebenen reden konnte, mit Arbeitern wie Prokuristen, mit Direktoren wie Bankiers, so zurückhaltend und kurz angebunden entpuppte er sich bei gesellschaftlichen Anlässen. Dabei war er es gewohnt, bei den musikalischen Soireen in seinem Hause so namhafte Künstler wie Gustav Mahler, Clara Schumann, Pablo Casals, Bruno Walter, aber auch Sänger und Literaten willkommen zu heißen. Geschätzter Musiker im Haus war auch der blinde Josef Labor, Klavier- und Kompositionslehrer der jungen Alma Schindler, der späteren Alma Mahler, bei dem auch Paul Wittgenstein einmal das Klavierspiel erlernen sollte.

Ein leiser Akkord in G-Dur erklang, der zu einem lauten g-Moll-Akkord anschwoll, der Dur-Moll-Wechsel setzte sich fort wie ein Spiel zwischen Licht und Schatten. Das Andante in e-Moll beschwor eine Traurigkeit, wie sie sonst nur die „Winterreise“ kannte. G-Moll- und d-Moll-Passagen ließen Angst und Auflehnung gegen ein Schicksal erahnen, an dessen Ende zwingend der Tod stand. Das Scherzo breitete eine Leichtigkeit aus, die – wie immer bei Schubert – eine Täuschung war, es entfaltete eine Art Innehalten, Verzögern, Atemholen, bevor im letzten Satz das Finale hereinbrach: als ein Suchen ohne Finden.

Selbst die Kinder wagten nicht zu klatschen, sondern sahen vor sich hin, als wären sie in einem fremden Land ausgesetzt worden. Nur eines der Kinder, Hans, klemmte, unbeeindruckt von der allgemeinen Ergriffenheit, die Noten des Streichquartetts, mit denen er die Aufführung verfolgt hatte, unter den Arm. Musik sollte nach seiner frühreifen Überzeugung nichts mit Stimmungen zu tun haben. Dann brach der Jubel los, die Musiker wurden mit Lob überschüttet, selbst Brahms, der oft genug grantelte, nickte anerkennend: „Damit könnt ihr euch morgen in die Höhle des Löwen wagen.“ Der zehnjährige Rudi flüsterte seiner ein Jahr jüngeren Schwester Gretl zu: „Spielen die denn morgen im Tiergarten in Schönbrunn?“ Die puffte ihn in die Seite: „Im Musikverein, aber da sind die Zuhörer so bissig wie die Löwen im Zoo.“ Rudi war immer so nervös und wurlert, und manchmal verstand er nicht alles, was gesprochen wurde.

Man wechselte wieder ins Erdgeschoß in das große Speisezimmer. Champagner wurde entkorkt, auf einem Buffet standen edle Pasteten und Terrinen und geräucherter Saibling. Die Kinder wurden von ihrem Vater vorgestellt, ja vorgeführt: alle wohlgeraten, alle musikliebend, manche sogar leidenschaftlich der Musik ergeben.

Brahms hatte seinen jovialen Tag, tätschelte der kleinen Gretl über das kurzgeschnittenen Kraushaar und sagte: „Na, dieses Mädchen ist ja noch ein richtiger Junge. Aber das wird sich ändern.“ Leopoldine erklärte, die Kinderfrau habe zu dem Haarschnitt geraten, weil dann die Haare kräftiger nachwüchsen. Brahms strich sich durch seinen üppigen Rauschebart und sein Haupthaar, das zwar Geheimratsecken aufwies, aber immer noch als Künstlermähne in den Nacken fiel. „Da gibt es doch ein viel probateres Mittel“, brummte er vergnügt: „Champagner ist das beste Haarwuchsmittel der Welt. Das sollten wir jetzt an dem kleinen Fräulein Wittgenstein ausprobieren.“ Karl Wittgenstein nickte dem Diener zu, Gretl stand ratlos in der Mitte des Raums, der Champagner kam, alle erwarteten, dass Brahms das Kind mit ein paar symbolischen Tropfen betupfte. Aber nein: Zuerst ließ er sich ein Glas füllen, kostete, schnalzte anerkennend mit der Zunge, fuhr dann mit der Hand ins Glas und bespritzte mit drei kräftigen Schwüngen das Mädchen, als wolle er es mit Weihwasser segnen. Gretl ließ es unbewegt über sich ergehen, verließ erhobenen Hauptes und gemessenen Schrittes den Salon, eine klebrige Tropfspur hinter sich herziehend. Alle fanden Brahms’ „Taufe“ einen köstlichen Spaß, Gretl ausgenommen. Die erklärte am späteren Abend ihrer Mutter: „Dieser Dodl kommt uns nicht mehr ins Haus.“ Leopoldine rang nach Atem: „Gretl, wie kannst du denn so etwas sagen! Dein Vater und ich sind stolz darauf, dass Johannes Brahms unser Haus schätzt. Wenn du keinen Humor hast und seinen liebevollen Spaß nicht verstehst, so ist das deine Sache. Jetzt gehst du sofort auf dein Zimmer.“ Gretl tat wie geheißen, aber die Wut auf den Deppen verrauchte lange nicht.

Der fünfzehnjährige Hans aber heftete sich an Joseph Joachims Fersen, wartete geduldig, bis alle Gratulanten von dem Maestro abgelassen hatten und entrollte dann seine Noten: „Mit Verlaub, aber das Andante hier hätte ich nicht so langsam gegeben. Ich glaube, Schubert hat das nicht so wehmütig gemeint, wie Sie es gespielt haben. Man könnte das ganz anders interpretieren.“ Joachim war belustigt. „Bist du eines der Wittgenstein-Kinder? Na, Respekt, junger Mann. Du traust dir ja was zu!“ Dabei wollte er es bewenden lassen, aber das Bürschchen ließ nicht locker. „Dürfte ich einmal Ihre Geige nehmen und Ihnen zeigen, wie ich es meine?“ Das war jetzt schon ein bisschen nassforsch, aber durfte man einem Wittgenstein-Sohn eine Bitte abschlagen, ohne den Vater zu düpieren? Hans legte die Noten auf einen Schemel, nahm die Dolphin-Stradivari in die Hand und fühlte sich für einige Augenblicke im siebten Himmel aller Violinisten, glaubte auch, das „Flackern“ der Töne zu verspüren, für das die Stradivaris berühmt waren. Er trug die fraglichen Takte des Andante vor, nicht melancholisch, sondern heiter-bewegt. „Du wirst es noch zu etwas bringen“, sagte Joachim, aber Hans sah ihm an, dass er gar nicht zuhörte, sich stattdessen ins Gespräch mit einer jungen Dame vertiefte, die Perlenschnüre in ihre hochgesteckten Haare gewunden hatte. Er legte die Stradivari sorgsam in das rote Samtfutteral des Kastens und verschwand auf sein Zimmer. Auch der große Joseph Joachim hatte im Grunde keine Ahnung!

Die Musikliebhaberei war von den Eltern auf die Kinder vererbt worden. Karl Wittgenstein, der als technisches und wirtschaftliches Genie zu Macht und Reichtum gekommen war, hätte kaum jemand zugetraut, dass er ein begabter Violinist war. Aber tatsächlich hatte er schon, als er die Schule abgebrochen und als 17-Jähriger mit einem falschen Pass – den er einem Studenten abgekauft hatte – in die USA gefahren war, nichts außer seiner Geige mitgenommen: Er hatte sie immer wieder versetzt und immer wieder ausgelöst, hatte sich in New York neben vielen anderen Jobs in Gaststätten als Musiker verdingt. In Leopoldine Kallmus, einer virtuosen Pianistin, hatte er eine – musikalisch – ebenbürtige Frau gefunden. Die Musik war der Liebe Nahrung, die Verlobten fanden im eifrigen Duo-Spiel zu Gemeinsamkeiten, die es außerhalb der Musik nicht allzu reichlich gab.

Die Kinder nahmen schon mit der Muttermilch die Musik als Wasser des Lebens auf. Alle Kinder lernten Instrumente zu spielen, Kurt Cello und Klavier, Hans Geige und Orgel, Rudi und Paul Klavier. Nur Ludwig erlernte erst ein Instrument, als er als angehender Volkschullehrer dazu verpflichtet war, und wählte dann die Klarinette. Aber schon als Kind konnte er zu aller Begeisterung ganze Symphonien pfeifen. Hermine und Margaret, die sich beide mehr auf die Kunst warfen, erlernten moderat das Klavierspiel. Im Palais in der Alleegasse standen neben den zwei Bösendorfern im Musikzimmer noch fünf weitere Flügel. Musik wehte den ganzen Tag durch alle Räume. Hans und Paul entpuppten sich als musikalische Hochbegabungen, die aus ihrer Leidenschaft einen Beruf zu machen trachteten, was Vater Karl schlichtweg ablehnte. Musik war etwas Persönliches, Privates, Intimes, nichts jedenfalls, woraus man in seiner Familie einen Broterwerb gewann. So selbstverständlich professionelle Musiker im Hause Wittgenstein ein- und ausgingen und sich großer Wertschätzung erfreuten, so unumstößlich galt das väterliche Verdikt: Seine Kinder mussten etwas Anständiges lernen, die Jungen am besten etwas Technisches und Kaufmännisches, damit sie eines Tages sein Wirtschaftsimperium übernehmen konnten. Die Tasten schlagen und die Saiten streichen, daran konnte man sich – wie es die Eltern hielten – am Sonntagmorgen gütlich tun.

Aber Karl hatte die Leidenschaften seiner Söhne unterschätzt – und die Folgen seiner autoritären Gebote und Verbote. Am verhängnisvollsten erwies sich das bei seinem Sohn Hans. Hans hatte […] nichts als Musik im Kopf, und zwar seit seiner frühesten Kindheit. Seine Schwester Hermine erinnerte sich: Ich sehe uns jetzt als kleine Kinder in unserer alten Wohnung am Schwarzenbergplatz […]: Hans als dreijährigen Buben mit großem Ernst auf zwei Holzstücken Geige spielend und mich, die Fünfjährige sehe ich vor einem Schemel knieen und auf diesem herumklimpern, denn ich wollte Hans ja ‚auf dem Klavier begleiten‘.

Schon als Vierjähriger erkannte Hans das Signal der Feuerwehr als „Quart“. Er blätterte in Notenbüchern wie andere Kinder in Bilderbüchern. Bei einer Fronleichnamsprozession, die am Haus vorbeizog, rief der Sechsjährige laut aus dem Fenster: „Falsch, falsch!“ Er hatte recht: denn es vermischten sich im Gesang des andächtigen Volks zwei Tonarten eines Marschs, der von verschiedenen Kapellen – eine am Anfang, eine am Ende der Prozession – geblasen wurde.

Aber Hans durfte nicht Musik studieren, als junger Mann wurde er in verschiedene Fabriken nach Deutschland, England und Böhmen geschickt, damit er etwas lerne, wozu er nicht die geringste Neigung hatte: Maschinenbau und Betriebswirtschaft.

Paul war die zweite musikalische Koryphäe in der Familie. Er wollte Pianist werden. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereitelte – zunächst einmal – seinen Plan. Der Vater aber konnte keine Einwände mehr erheben: er starb im Jahr zuvor, 1913.

DIE VERKÖRPERTE AUFLEHNUNG

„Gretl, Rudolf, wo seid ihr denn wieder?“ Die Rufe der Kinderfrau durchbrachen die mittägliche Ruhe im Wittgenstein-Palais in der Alleegasse 16. Das Jungvolk war wieder einmal wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich hatte es sich versteckt, um sich vor dem Nachmittagsunterricht in Latein zu drücken. Da entwickelten die beiden Geschwister, die immer wie Kletten aneinanderhingen, eine innovative Energie: wickelten sich in die langen Brokatstores vor den Fenstern ein, verschwanden in den großen eichenen Schlafzimmerschränken, den schmächtigen Rudolf hatte Elis, die Kinderfrau, auch schon zusammengekrümmt im Flügel gefunden, bei geschlossenem Deckel! Die älteren Geschwister wurden ja langsam vernünftig: Hermine, die Älteste, war schon kein Kind mehr, Hans und Kurt waren beide begeisterte Musiker, das Spiel auf der Geige und auf dem Klavier trieb die Flausen aus dem Kopf, Helene war ein munteres, aber ausgeglichenes Kind – nur die jüngeren Geschwister schlugen über die Stränge. Die Allerjüngsten, Paul und Ludwig, waren noch im Kleinkindalter und hatten weniger Möglichkeiten, sich gegen das strenge Regiment der Kinderfrau zu wehren.

Die Mutter Leopoldine war offensichtlich überfordert: Die vielen Geburten hatten sie körperlich angegriffen, alles wurde ihr zu viel – außer dem Klavierspiel, zu dem sie sich viele Stunden am Tag zurückzog. Aber die Erziehung der Kinder überließ sie anderen. Sie war leicht erregbar, neigte dazu, bei Kleinigkeiten gereizt zu reagieren, obgleich sie sich immer wieder den Zwang zu freundlicher Ruhe auferlegte. Margaret urteilte im Rückblick bündig: Meine Mutter litt an einer unaufhörlichen Überlastung der Nerven […] ihr erregtes Wesen war mir unerträglich.

Die Tochter Hermine pries die ungeheure Güte und Selbstlosigkeit der Mutter, erklärte sich ihr Versagen als das einer ausgesprochen zum Dulden geborenen Frau mit einem ausgesprochen zum energischen Handeln geborenen Mann. […] Wir [Kinder] begriffen unter anderem nicht, dass sie so wenig eigenen Willen und eigene Meinung hatte, und bedachten nicht, wie unmöglich es war, neben meinem Vater eigene Meinung und Willen zu bewahren. Wir standen ihr eigentlich verständnislos gegenüber, aber auch sie hatte kein wirkliches Verständnis für die acht sonderbaren Kinder, die sie geboren hatte, ja, bei aller ihrer Menschenliebe hatte sie merkwürdigerweise kein wirkliches Verständnis für Menschen überhaupt.

Hermine führt dieses Unverständnis ihrer Mutter darauf zurück, dass sie die Welt und die Menschen hinnahm, sich nie fragte, warum ein Mensch so handelte und nicht anders. Sie konnte einzig und allein die grösste Nachsicht mit den Fehlern und Schwächen ihrer Mitmenschen haben und klaglos unter denselben leiden, nie aber den Versuch machen, die Ursachen zu verstehen oder die daraus resultierenden Situationen zu beeinflussen.

Der übermächtige Vater hingegen kannte derlei Nachsicht nicht. Er war ein Mann der Entscheidungen, und die setzte er im unternehmerischen wie im häuslichen Bereich durch: auch die, dass alle Kinder von Hauslehrern unterrichtet wurden – und zwar ausschließlich in Mathematik und Latein, die „weichen“ Fächer wie Geografie, Geschichte, Biologie sollten sie sich mit Hilfe von Büchern selbst aneignen, oder die Kenntnisse würden ihnen einfach zufliegen. Es herrschte zwar Unterrichtspflicht in Österreich-Ungarn, die aber nicht in öffentlichen Schulen abgeleistet werden musste. Hauslehrer waren zudem in gewissen Kreisen, zu denen die Wittgensteins sich zählten, ein Ausweis gehobenen Lebensstils. Außerdem vertraute er darauf, dass Kinder sich selbständig zum Leben befähigen und Geschwister sich gegenseitig fördern.

Statt Zeit in dumpfen Schulräumen zu vertun, sollten die Kinder lieber alle Arten von Sport erlernen und sich körperlich ertüchtigen. So wurde der Reitknecht Johann abgestellt, die größeren Kinder jeden Tag auf ausführlichen Spaziergängen durch den Stadtpark zu begleiten. Frische Luft tat schließlich auch dem Hirn gut. An Wochenenden oder im Sommer beraumte Karl Wittgenstein aus heiterem Himmel Bergwanderungen an, die zumeist so strapaziös ausfielen, dass die jüngeren Kinder Schwächeanfälle erlitten. Das hielt den Vater aber nicht davon ab, sie kurz darauf zur nächsten Tour zu verdonnern, die noch anstrengender ausfiel. Schließlich wusste er, wie man sich gegen die Härten des Lebens wappnete.

Die Wittgenstein-Kinder hatten alles, was andere sich nur wünschen konnten: Reichtum im Überfluss, eine luxuriöse Umgebung, alle Privilegien der Oberschicht, Hauslehrer, Musiklehrer, Zeichenlehrer, gebildete Eltern, viele Geschwister. Aber wenn einige Kinder immer wieder auszubüchsen versuchten, so hatten sie ihre Gründe. Elis war als Kinderfrau lieblos und tyrannisch, in Hermines Worten gänzlich unfähig, alt und grantig, sie sorgte nicht einmal dafür, dass die Kinder körperlich gut gepflegt waren und ausreichend zu essen hatten. Leopoldine war nicht in der Lage, die Kinderfrau zu überwachen – oder sie zu entlassen. Die Hauslehrer erwiesen sich als unfähig und wenig motiviert. Zwar wurden sie gut bezahlt, waren keine verkrachten Studenten, sondern ausgebildete Pädagogen, denen das Salär bei der Familie Wittgenstein besser konvenierte als das staatliche Gehalt. Aber sie erfuhren nie Anerkennung, nie Kontrolle, niemand kümmerte sich um sie und den Erfolg ihrer Arbeit, und so ließen sie bald ihr Unterrichten schleifen, ihre Mühen versickern.

Gretl, die lebhafteste unter den Geschwistern, geriet am heftigsten mit den häuslichen Autoritäten über Kreuz. Es waren Lappalien, mit denen sie Unmut erregte, ungebürstetes Haar, dreckige Schürze, schmutzige Schuhe, freche Antworten. Der Streit darüber war wie ein tägliches Gift, das in die kindliche Seele sickerte. Wenn sie als erwachsene Frau an ihre Kindheit dachte, milderte der zeitliche Abstand ihr harsches Urteil keineswegs: Zärtlichkeit, Wärme und Gemütlichkeit und vor allem dauerhafte Friedenszustände […] derlei gab es bei uns nicht. […] Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, so überwältigt mich einmal der Gedanke wieviel an uns gesündigt worden ist. So schlecht ist kaum jemand erzogen worden. Lieblos ohne die geringste Unterstützung an Guten oder Förderung der Begabung und gleich darauf überwältigt mich wieder der Gedanke wieviel Gutes wir von zu Hause mitbekommen haben. Ja, so schlecht ist kaum je ein Mensch erzogen worden. Ja, so reich ist kaum jemand ausgestattet worden.

Dabei war gerade sie begierig zu erfahren, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Sie kannte schon das Fragewort „Warum“, bevor sie sprechen lernte, und biss in den Apfel der Erkenntnis, bevor sie Zähne hatte. Mit ihren Fragen nervte sie die älteren Geschwister und wurde wütend, wenn die keine Antworten wussten. Mathematik wurde zum Lieblingsfach. In allen Erscheinungen suchte sie erst einmal das Logische, Gesetzmäßige, Bestimmbare, statt sich mit überhöhenden oder metaphorisch schillernden Sinngebungen abspeisen zu lassen. Die Mathematik war eine strenge Disziplin, aber auch eine gute Lehrmeisterin. Sie erzog zum Denken.

Daneben warf sie sich selbständig und leidenschaftlich auf alle Bücher, aus denen sie etwas über Biologie und Physik erfahren konnte: das waren die Felder, wo gegen Ende dieses Jahrhunderts die wahren Entdeckungen gemacht wurden, hier bewegte sich die Welt – und keinesfalls zwischen den Sticknadeln der typischen Mädchenerziehung.

Wobei Gretl sich auch dem Sticken nicht versagte. Die Großmutter Maria Kallmus war bass erstaunt, als sie eines Tages Gretl mit Stramin, Wolle und Nadeln entdeckte: „Gretl, du stickst? Das bin ich gar nicht von dir gewohnt. Wie schön! Zeig mal her!“ Die Großmutter nahm den Stramin aus Gretls Händen und betrachtete das weitgehend fertige Bild. „Aber was ist denn das für ein Motiv?“

„Ein Herz.“

„Aber das ist doch kein Herz. Das ist“, die Großmutter rang nach Worten, während sie das hässliche Objekt betrachtete, das Gretl offensichtlich ohne Vorlage in blassroten und braunen Farben gestickt hatte, „… das ist ein Pumpwerk, mit all diesen Röhren und Schläuchen!“

„Das Herz ist ein Pumpwerk, Großmama.“

„Aber Gretl!“

„Du bist einfach zu romantisch, Großmama!“

Sonderbares Mädchen, dachte Großmutter Maria. Auch die acht Jahre ältere Schwester Hermine, von allen nur Mining genannt, erkannte mit einer Mischung aus Missbilligung und Faszination, dass Gretl anders war als alle Mädchen ihres Alters. Man musste sich doch nur ihr Zimmer anschauen: Schon in ihrer Jugend war ihr Zimmer die verkörperte Auflehnung gegen alles Hergebrachte und das Gegenteil eines sogenannten Jungmädchenzimmers […]. Gott weiss woher sie alle die interessanten Gegenstände nahm, mit denen sie es schmückte. Sie strotzte vor Ideen und vor allem konnte sie was sie wollte und wusste, was sie wollte. […] Alle Gegenstände in ihrem Zimmer wurden übrigens unter ihren Händen interessant und trugen schliesslich den Stempel ihrer Persönlichkeit, oft allein durch die Art des Aufstellens, durch die unerwarteten Kombinationen, die ihr so natürlich waren.

Die Naturwissenschaften gehörten zu den interessanten Gegenständen, mit denen sie ihren Kopf schmückte. Aber natürlich passte da noch viel mehr hinein. Rudi zog sie eines Tages auf: „Gretl, ich weiß, dass du den Pythagoras, den Euklid und weiß der Teufel was noch für Sätze herleiten kannst, aber jetzt erklär mir mal den Satz: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Oder: Ein jeder ist ein andrer und er selbst.“ Da stürzte sich Gretl mit der ihr eigenen Inbrunst auf die Literatur, konnte bald jedes Goethe- und Grillparzer-Zitat retournieren, schärfte ihr Wissen und ihre Rhetorik an den alten Meistern und den modernen Geistern.

Schon als Sechzehnjährige verwandelte sie sich alles an, türmte mannigfaltige Literatur und Philosophie in sich auf, Tolstoi und Dostojewski, Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche, und suchte in deren Werken Antworten auf eigene Fragen zu finden. Mit Rudi und den Freunden Willy und Harry Zitkovsky bildete sie eine Art philosophischen Zirkel, der Gott und die Welt in Frage stellte. Nur eines nicht: dass immer und ewig nur Gretl als einziges Mädchen Zugang zu diesem Kreis haben würde. Sie lehnte Mädchen als Freundinnen ab, mit deren üblichen Interessen hatte sie nichts am Hut. Bei den regelmäßigen Treffen bestand sie darauf, dass nicht einfach geplaudert und unverbindlich „conversiert“ wurde, es sollte ordentlich in philosophischen Gründen geschürft werden, und wenn sich Abgründe auftaten: umso besser. Gerne brachte sie Texte mit, die den Köpfen Hitze versprachen. Ganz besonders hatte es ihr Kierkegaard angetan. So warf sie an einem Sonntagnachmittag einen Auszug aus dessen Werk „Die Wiederholung“ in die Diskussionsrunde:

Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man sich befindet, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was will das besagen: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in das Ganze hineingenarrt und lässt mich nun da stehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen: warum bin ich nicht gefragt worden, sondern ins Glied gesteckt, als sei ich von einem Seelenverkäufer gekauft? Wie bin ich Interessent in jener großen Enterprise geworden, die man Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Interessent sein? Ist das nicht freigestellt?

Rudi traten bei den Worten „als sei ich von einem Seelenverkäufer gekauft“ Tränen in die Augen, was einen Moment peinlicher Stille erzeugte. Willy rettete die Situation und wich ins Allgemeine aus: „Das klingt jetzt alles furchtbar nihilistisch, aber es ist doch nichts anderes als die verzweifelte Suche nach Identität, nach einem Leben, in dem man seinen Platz findet.“

„Bist du dir da sicher? Steckt im letzten Satz nicht eine Art Verweigerung?“, gab Harry zu bedenken. „So etwa: ich muss mich nicht auf diese Welt einlassen. Sie interessiert sich ja auch nicht für mich.“

Gretl als fleißigste Leserin des Quartetts trumpfte mit dem großen Überblick auf: „Es geht bei Kierkegaard doch immer um den Gegensatz von Ästhetik und Ethik: Der Ästhet feiert den Lebensgenuss, die sinnliche Liebe, die Ausschweifung, den Augenblick. Der Ethiker aber verurteilt die ‚Unmittelbarkeit‘ des Flüchtigen, er findet in einem guten Leben die Teilhabe am Ewigen, am Göttlichen.“

„Wie du wieder redest“, sagte Willy. Er hätte es gern weniger abgehoben gehabt. Aber Gretl sprach und zitierte unbeirrt weiter: „…denn im Ethischen bin ich gerade über den Augenblick erhaben, bin ich in der Freiheit.“

Harry schüttelte nachdenklich den Kopf, eine Haartolle fiel ihm ins Gesicht und gab ihm für einen kurzen Moment das Aussehen eines Bohemiens. „Mir kommt dieser Gegensatz ziemlich künstlich vor, aber das gehört ja wohl zum philosophischen Verfahren, aus Widersprüchen Erkenntnis abzufiltern.“

„Was mich irritiert“, wandte die achtzehnjährige Gretl ein und klang dabei, als habe die Weisheit des Alters ihre Einsichten geformt, „ist, dass Kierkegaard seine Lehre unbedingt an Liebe und Ehe binden muss. Hört euch das an: …die Ehe aber ist eben jene Unmittelbarkeit, welche die Mittelbarkeit in sich hat, jene Unendlichkeit, die die Endlichkeit in sich hat, jene Ewigkeit, welche die Zeitlichkeit in sich hat.“

Da prusteten alle laut los. Und auch Rudi schien sich wieder gefangen zu haben, wenngleich er weiterhin schwieg. Als Willy ihn aufmunterte, etwas beizutragen, schüttelte er nur den Kopf: „Ich ringe mit dem, der mich nicht gefragt hat, auf die Welt zu kommen und der jetzt meine Seele verkauft.“

Gretl stand auf und stellte Tassen auf den Tisch. Das Mädchen im Hause Wittgenstein brachte pünktlich um fünf Uhr Tee und Apfelstrudel. Man konnte auch mit vollem Mund denken.

Zu den interessanten Objekten, mit denen Gretl ihre intellektuellen Räume tapezierte, gehörte Karl Kraus’ „Fackel“. Sie war geradezu süchtig nach der Zeitschrift. Der Tag, an dem eine neue Ausgabe erschien, dreimal im Monat, wurde freigehalten; da traf sie sich nicht mit Freunden, machte keine Besuche, verlor sich nicht in Familiengesprächen, da las sie die „Fackel“ von der ersten bis zur letzten Zeile und delektierte sich höchlich an Kraus’ satirischen Rundumschlägen gegen die Wiener Gesellschaft. Niemand war vor ihm sicher. Politiker, Intellektuelle, Theaterleute, Künstler, Industrielle, Adelige, Bankiers, Journalisten, die der „Neuen Freien Presse“ im Besonderen, sie alle nahm er ins Visier – und seine Kugeln trafen. Wo gemauschelt wurde, und in Österreich wurde immer und überall gemauschelt, trat der strenge (und selbstgerechte) Zensor auf den Plan. Auch ihr Vater wurde nicht verschont. 1901 geißelte Karl Kraus in mehreren Ausgaben die Machenschaften des Kapitalisten Wittgenstein, der Absprachen zwischen der „Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft“ mit der „Böhmischen Escompte-Bank“ vorangetrieben und damit erhebliche Spekulationsgewinne gemacht hatte, vor der Öffentlichkeit aber seine Hände in Unschuld wusch und behauptete, erst aus den Zeitungen von dem Deal erfahren zu haben. Die Farbe der neugeborenen Unschuld kann man Ihnen nicht glauben, wies Kraus ihn zurecht. Er schlug sich auf die Seite der Arbeiter und wetterte gegen einen Mann, der in verbrecherischer Ausbeutung von tausenden Menschen Capitalsprofit über Menschenwohl stelle.

Die Tochter des so an den Pranger Gestellten aber hielt weiterhin heimlich ihr „Fackel“-Abonnement aufrecht, und als Ludwig, der Spätgeborene, ein bisschen zu Verstand gekommen war – und er kam sehr früh zu mehr als einem bisschen Verstand –, gab sie ihm jede Ausgabe zu lesen, damit er sich mit ihr über Karl Kraus’ geistreiche Hiebe gegen die verkrustete und korrupte österreichische Gesellschaft freute. Am meisten ergötzten Rudi, Gretl und Ludwig sich an Rezensionen und Kritiken aus der Welt der Literatur, des Theaters, der Konzerte. Da kannten sie sich aus, da konnten sie mitreden, da konnten sie sich zerkugeln, als Kraus im Dezember 1900 über die Uraufführung einer Operette im Theater an der Wien herzog: „Schmetterling“ hieß das Werk eines gewissen Charles Weinberger, eine Nichtigkeit, die aber in der „Neuen Freien Presse“ enthusiastisch bejubelt wurde. Kraus wusste auch warum: Der Komponist war der Ziehsohn des Herausgebers der Zeitung. Honi soit qui mal y pense. Kraus griff den letzten Satz der Zeitungskritik auf und verwandelte ihn in ein vernichtendes Antitheton: „‚Der Vorhang mußte sich immer wieder heben‘. Der Magen der Leser ebenso oft.“

Rudi war ein leidenschaftlicher Theaterfreund, und auch Willy und Harry Zitkovsky waren begabte Schauspieler. Natürlich ging das Quartett in das Hofburgtheater am Ring und sah vieles, was auf dem Spielplan stand. Alles wäre kaum möglich gewesen, denn in den ersten Jahren des neuen Burgtheaters umfasste das Repertoire oft über hundert Inszenierungen. Die deutschen und österreichischen Klassiker wurden rauf- und runtergespielt, oft mehr deklamiert als gespielt, in jenem hochmögenden Bühnendeutsch, für welches das Burgtheater von allem Anfang an berühmt war. Manchmal fand Gretl die Aufführungen ziemlich langweilig. „Rudi, da könnten wir beide mehr draus machen“, sagte sie. Zu Geburtstagen oder anderen Familienfesten wurden im Hause Wittgenstein ohnehin gerne Theaterstücke aufgeführt wie zum Beispiel Grillparzers gespenstisches „Schicksalsdrama“ Die Ahnfrau, in der die sechzehnjährige Gretl als Berta stürmisch gefeiert wurde. Auch Vater Karl liebte es, als Schauspieler zu agieren, er war ein Naturtalent, eine „Knallcharge“, wie er selbst von sich sagte. Seine bevorzugte Rolle war der Titus Feuerfuchs aus Nestroys Talisman. Angetan mit einer knallroten Perücke huldigte er mit rollenden Augen seiner Haarfarbe: Rot ist doch g’wiß a schöne Farb’, die schönsten Blumen sein die Rosen, und die Rosen sein rot. Das Schönste in der Natur ist der Morgen, und der kündigt sich an durch das prächtigste Rot. Die Wolken sind doch g’wiß keine schöne Erfindung, und sogar die Wolken sein schön, wann s’ in der Abendsonn’ brennrot dastehn au’m Himmel; drum sag’ ich: wer gegen die rote Farb’ was hat, der weiß nit, was schön is. Die Kinder applaudierten, aber solange sie klein waren, hatten alle auch ein bisschen Angst vor dem Vater, der ihnen in seiner Lustigkeit nicht geheuer war. Ludwig fing regelmäßig an zu heulen und beruhigte sich erst wieder, wenn der Vater die Perücke abgelegt hatte und aus seiner Rolle herausgetreten war.

Rudi und Gretl wollten den Vater an seinem 53. Geburtstag mit einer Darbietung ehren. Sie suchten nach einem Zweipersonenstück, es dürfte auch für Gretl eine Hosenrolle bereithalten: groß und schlank wie sie war, konnte sie jeden Mann verkörpern. Sie suchten lange, verwarfen jede Liebespaar-Konstellation, auch wenn Rudi sagte: „Romeo und Julia ginge schon, wenn ich die Julia wär und du den Romeo spieltest.“ Dabei sah er merkwürdig ernst aus, was Gretl irritierte. Aber Tragödien waren ohnehin nicht der passende Stoff für ein ausgelassenes Fest. Schließlich kamen sie auf „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche, ein Stück für zwei Männer, in dem die Nebenrollen (Ehefrau, Cousin, Diener) gestrichen oder zusätzlich von Gretl übernommen wurden. Rudi spielte Monsieur Lenglumé, der nach einer durchzechten Nacht ziemlich benebelt und mit erheblichen Gedächtnislücken neben seinem früheren Schulkameraden Mistingue, gespielt von Gretl, aufwacht. Aus der Zeitung erfahren die beiden von einem brutalen Mord in der vergangenen Nacht. Alle Indizien deuten auf sie als Mörder hin, auch wenn sie sich an nichts erinnern. Die Herren stürzen sich in immer groteskere Versuche, ihre Ehre als unbescholtene Bürger zu retten. Daraus ergibt sich deftige Situationskomik, eine Vertuschungsakrobatik, die Rudi und Gretl zum Entzücken der Zuschauer weidlich ausspielten. Heftige Lacher, gerade auch bei Vater Karl, erzielten sie in der Anfangsszene, als Norine, Lenglumés Ehefrau, ins Schlafgemach des Gatten tritt und vor dessen Bett eine blonde Haarsträhne findet.

Norine: Erklären Sie sich, Monsieur.

Lenglumé: Die Locke ist für dich … ein Geschenk.

Norine: Aber ich habe doch Haare!

Lenglumé: Jaa … aber sie werden ausfallen … es ist für die Zukunft!

Die Aufklärung und Ehrenrettung der zwei „Mörder“ geschieht am Ende durch eine einfache Pointe: Sie haben sich im Zeitungsdatum geirrt. Mit einem Couplet lässt Labiche das Happy End besingen:

Ist’s vorüber, lacht man drüber,

Lachen ist gesund!

Kommt man mit dem Schreck davon,

Hat man einen Grund!

Gretl wäre nicht Gretl gewesen, hätte sie sich mit so einem billigen Schluss zufriedengegeben. Sie brachte noch eine moralische Nutzanwendung ins Spiel: Es gehe schließlich darum, die Moral des Spießbürgers zu entlarven. Rudi war damit einverstanden, und so komponierten sie ein Couplet, das moralische Fragwürdigkeiten aufeinandertürmte und immer mit dem Refrain endete: „Hauptsache, die Fassade bröckelt nicht.“

Eine Strophe holperte so vor sich hin:

Sie geh’n in die Kirch, wie sich’s gehört

Und spenden reichlich und edel,

und beten, dass sich ihr Reichtum vermehrt,

und lieben die süßen Mädel.

Hauptsache, die Fassade bröckelt nicht …

Es war eine Mordsgaudi – und niemand im Hause Wittgenstein fühlte sich im Geringsten angesprochen.

SCHÖNER GÖTTERFUNKEN

Sie protestierte. „Immer Hermine, das ist nicht gerecht!“

„Hermine ist eben die Kunstministerin im Hause Wittgenstein. Studier’ du eifrig Kunst und Künstler, dann darfst du in ein, zwei Jahren ebenfalls deinen Vater bei seinen Ankäufen beraten! Es hindert dich doch niemand, in den nächsten Tagen in die Secession zu gehen und dir die Ausstellung anzusehen.“ Er suchte nach weiteren Argumenten, denn Gretl war schwer zu überzeugen. „Schließlich habe ich acht Kinder. Was glaubst du, was Josef Hoffmann sagen würde, wenn ihr alle im Gänsemarsch hinter mir beim Einlass antanzt?“ Damit war das Thema für Karl Wittgenstein beendet.

Nicht aber für Gretl. Sie protestierte noch heftiger: „Hans ist in Amerika, Kurt interessiert sich nur für Musik, Paul ebenso, Rudi ist in Berlin, Helene hat ihren Salzer-Max im Kopf und nicht Max Klinger, Luki ist noch ein Baby. Also wer bleibt übrig?“

Sie wollte unbedingt mit zur Eröffnungsfeier. Die XIV. Kunstausstellung der Secession im Jahr 1902 war als glanzvolles Fest in Verehrung Ludwig van Beethovens angekündigt. Die „Neue Freie Presse“ hatte schon im Vorfeld in einer Art Hofberichterstattung das Ereignis gefeiert, wie sonst nur, wenn der Kaiser in Ischl auf die Jagd ging und die Strecke des erlegten Rotwildes nach Wien depeschiert wurde.

Am Abend zuvor hatte es im Grand Hotel an der Ringstraße eine Gala zu Ehren Max Klingers gegeben, der – so hieß es – fünfzehn Jahre an der Beethoven-Skulptur gearbeitet und sie nun rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung fertiggestellt hatte. Sie würde der strahlende Mittelpunkt sein, um sie würden sich die Werke einundzwanzig weiterer Künstler scharen, unter ihnen Gustav Klimts, der einen mehrteiligen Fries geschaffen hatte.

Karl Wittgenstein war natürlich zu allen Veranstaltungen eingeladen. Schließlich hatte er 50.000 Gulden gespendet, damit das neue Secessions-Gebäude neben dem Karlsplatz überhaupt gebaut werden konnte. Und jetzt, an diesem heiteren Apriltag, wollte er zur Eröffnung Hermine, seine älteste Tochter, mitnehmen. Seine Frau Leopoldine liebte solch öffentliche Auftritte überhaupt nicht, sie begleitete ihn allenfalls in Konzerte.

Gretl kam ziemlich undamenhaft in den Salon gestürmt, wo sich Karl und Hermine einen Tee genehmigten: „Ich habe mich einfach zurechtgemacht“, lachte sie. „Sagt bloß nicht, dass man sich mit mir nicht sehen lassen kann.“

Sie sah bezaubernd aus in ihrem Kleid aus hellblauem Chiffon mit breiter Schärpe um die Taille, am Rücken zu einer frechen Masche gebunden. Die Haare hatte sie hochgesteckt; langhängende Ohrringe betonten ihren Schwanenhals. Karl Wittgenstein seufzte vergnügt: „Erpresserinnen gehören bestraft und nicht belohnt. Aber es wär’ natürlich ewig schad’, dich jetzt wegzusperren. Nur aufpassen musst: Vielleicht schickt dich ja der Kontrolleur am Eingang fort, weil auch die Ehrengäste nur mit einer Dame antanzen dürfen, nicht mit zweien.“

Hermine lächelte etwas säuerlich.