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Über das Buch

Die junge Wolfsexpertin Carla Gorman hat ihr Leben den Wölfen verschrieben – für Liebe und andere Dinge bleibt ihr nur wenig Zeit. Dennoch kann sie sich ihrer Gefühle nicht erwehren, als sie plötzlich Jason gegenübersteht, einem charmanten jungen Mann, der ihr bei einer Autopanne aushilft. Da wird Carla zu polizeilichen Ermittlungen gerufen, denn ein junges Mädchen wurde mit Bissspuren am Arm aufgefunden. Für die Wolfsgegner und aufgebrachten Farmer steht der Sündenbock bereits fest – die Hetzjagd auf den Wolf beginnt. Carla ist fest entschlossen, das Tier zu beschützen, doch in der Wildnis trifft sie unerwartet Jason wieder, der sich als professioneller Wolfsjäger entpuppt. Schafft es Carla, den Wolf zu retten? Und kann sie ihre Gefühle für Jason einfach so abstellen?

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Nachwort und Danksagung

1

Schon von Weitem erkannte Carla die Gefahr. Ein Schwarzbär trottete über den Highway, ein kräftiger Bursche, der sich eine Fettschicht während des Sommers angefressen hatte und sicher auf der Suche nach einem geeigneten Platz für seine Winterruhe war. Ein gewohnter Anblick für Carla, die in Alaska aufgewachsen war, und eine Attraktion für die Urlauber, die auf der Gegenfahrbahn hielten und aus ihrem Wagen stiegen. Es handelte sich um ein junges Paar – der Mann war mit einem Smartphone bewaffnet, begierig darauf, den Bären zu fotografieren.

Carla fuhr rechts ran und ließ das Fenster runter. »Steigen Sie wieder ein!«, rief sie den beiden zu. »Das ist zu gefährlich! Steigen Sie in den Wagen!«

Die Frau blickte nur kurz zu ihr hinüber, war zu fasziniert von dem mächtigen Tier. Wahrscheinlich hatte sie noch nie einen Bären in freier Wildbahn gesehen. »Der sieht doch ganz harmlos aus«, rief sie zurück. »Sehen Sie nur, wie tollpatschig der sich bewegt. Geh noch ein bisschen näher ran, Kevin!«

Der Bär hatte sie längst gewittert, wandte aber erst jetzt den Kopf. An der Art, wie sich seine Muskeln spannten, erkannte Carla, dass er gleich zum Angriff übergehen würde. Wahrscheinlich nur zu einem Scheinangriff wie die meisten Bären, wenn sie ihre Ruhe haben wollten, der aber meist zu einer gefährlichen Attacke wurde, wenn die Betroffenen sich falsch verhielten.

»In den Wagen!«, rief Carla. »Keine hastige Bewegung!«

Zu spät, der Bär griff bereits an. Schneller, als man es ihm zugetraut hätte, rannte er los und hetzte in weiten Sprüngen auf die Urlauber zu. Ein Bär war schneller als ein Mensch, auch wenn man es dem massigen Tier nicht ansah.

Für einen Augenblick erstarrten die beiden, dann rannten sie in panischer Angst zurück. In seiner Hast ließ der Mann sein Smartphone fallen. Er ließ es liegen und sprang in den Wagen. Noch bevor seine Frau die Tür geschlossen hatte, startete er den Motor und trat das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und prallte gegen einen Begrenzungspfosten. Der Motor verstummte, und man hörte nur noch das hysterische Schluchzen der Frau.

Vor Angst zitternd sank der Mann mit dem Oberkörper aufs Lenkrad. Selbst aus der Ferne erkannte Carla, wie blass er war. Seine Begleiterin schlug beide Hände vors Gesicht. Sie merkten nicht, dass der Bär seinen Angriff abgebrochen hatte und längst verschwunden war, und fuhren schreiend zusammen, als Carla ans Fahrerfenster klopfte. Sie bedeutete ihnen, es zu öffnen, doch der Mann schüttelte den Kopf, und es erforderte einige Überredungskunst und ein aufmunterndes Lächeln, ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern.

»Ist er … ist er weg?«, fragte er noch blasser als schon zuvor.

»Auf und davon«, versicherte Carla ihm. Sie kamen bestimmt aus New York, vermutete sie, aus irgendeiner Stadt, in der man Bären nur aus dem Zoo kannte, wenn überhaupt. »Bären sind unberechenbar, auch wenn sie auf den ersten Blick so friedlich aussehen wie der Bursche gerade eben. Fotografieren Sie wilde Tiere nur aus sicherer Entfernung oder durch das Autofenster.« Sie reichte ihm sein Smartphone zurück. »Nur ein guter Rat. Ich habe beruflich mit wilden Tieren zu tun und weiß, was alles passieren kann, wenn man sich nicht vorsieht.« Sie deutete auf den umgeknickten Begrenzungspfosten. »Weder Sie noch der Wagen haben etwas abbekommen. Sie haben Glück gehabt.«

»Danke … vielen Dank, Miss.«

Die beiden fuhren weiter nach Norden, und Carla stieg kopfschüttelnd in ihren Wagen, einen japanischen oder koreanischen SUV, genau wusste sie das noch immer nicht. Hauptsache, die Räder griffen auf Schnee und die Heizung funktionierte. Von dem elektronischen Schnickschnack interessierte sie lediglich der Anschluss für ihr iPhone, der ihr das Telefonieren und Emailen während einer Tour erleichterte. Als angehende Biologin und Expertin bei »Wolf Aid« war sie oft tagelang unterwegs, hielt Vorträge an Schulen, beriet Behörden im Umgang mit Wölfen und überwachte den Abtransport von verletzten Tieren, die in den Gehegen der Hilfsorganisation eine neue Heimat fanden.

Nachdenklich fuhr sie weiter. Sie hatte die letzten Tage an der Universität in Fairbanks verbracht und an mehreren Vorlesungen über die Lebensweise von wilden Tieren in Nationalparks teilgenommen und dort auch über das leichtsinnige Verhalten von Urlaubern diskutiert. Die Begegnung mit dem jungen Paar war das beste Beispiel dafür, wie unvorsichtig manche Besucher waren und wie leicht es zu einer bedrohlichen Situation kommen konnte. Noch auf dem schmalen Highway nach Copperville schüttelte sie ungläubig den Kopf.

Die Straße war einigermaßen geräumt, doch zu beiden Seiten bogen sich die Fichten unter dem Schnee, der während der letzten Tage gefallen war und dem Land seinen Frieden zurückgebracht hatte. So empfand es Carla, wenn der kurze Sommer zu Ende ging und sich der Winter mit Schneestürmen und eisigen Temperaturen zurückmeldete. Der Schnee schien die alltägliche Hektik zu dämpfen und den Rhythmus zu verlangsamen. Alles wirkte ruhiger und aufgeräumter, als würde der Schnee auch die Sorgen und Probleme der Menschen verschwinden lassen. Ein Irrglaube, wie nicht nur Carla längst wusste.

Copperville lag südlich von Paxson am Gulkana River, eine winzige Siedlung abseits des Richardson Highway, die ihren Namen den riesigen Kupferfunden im 20. Jahrhundert verdankte. Inzwischen profitierte die Stadt vor allem von abenteuerlustigen Urlaubern, die in Schlauchbooten durch die nahen Stromschnellen fahren wollten, den Outdoor-Läden am Stadtrand und den Gehegen von »Wolf Aid«, in denen man Wölfe aus allernächster Nähe bestaunen konnte.

»Wolf Aid« stand auch auf dem Schild über dem Eingang des zweistöckigen Blockhauses, das vor den Gehegen an der Hauptstraße lag und ein Besucherzentrum, die Büros der Mitarbeiter, ein kleines Museum und einen Filmraum beheimatete. Auch im Winter hatte das Wolfcenter fast jeden Tag geöffnet.

Carla parkte auf einem der Parkplätze, die für Mitarbeiter reserviert waren, und winkte C.J. Fletcher zu, dem schlaksigen Tierarzt, der gerade mit einem Eimer aus der Gittertür neben dem Gebäude trat. Ganz gegen seine Art zeigte er einen besorgten Gesichtsausdruck.

»Hey, C.J. Was ist denn los?«

»Hey, Carla.« C.J. trug einen Overall, Gummistiefel und eine rote Wollmütze mit dem Logo der San Francisco 49ers, obwohl er mit Football nichts am Hut hatte. »Cody hat sich den Magen verdorben. Er liegt schon seit gestern Abend flach. Muss sich einen Virus oder so was eingefangen haben.«

»Kriegst du ihn wieder hin?«

»Was denkst du denn?« Er grinste. »Wie war’s an der Uni?«

»Das Übliche. Wir sehen uns, okay?«

Cody war ein junger Wolf, der sein Rudel verlassen hatte, um eine Gefährtin zu finden und ein eigenes Rudel zu gründen, aber unterwegs in eine Falle getreten war. Seitdem humpelte er so stark, dass er nicht mehr jagen und sich nicht mehr selbst ernähren konnte. Ein Wanderer hatte ihn gefunden und die State Troopers alarmiert, die wiederum »Wolf Aid« um Hilfe gebeten hatten.

Carla betrat das Gebäude und winkte Amy Morton zu. Amy Morton war eine ehemalige Sportlerin, die als »Mädchen für alles« für »Wolf Aid« arbeitete und gerade damit beschäftigt war, einige Besucher abzukassieren und sie in den Filmraum zu führen. Bevor die Besucher einen Blick in die Gehege werfen durften, stand ein Dokumentarfilm des Discovery Channel auf dem Programm, in dem mit Klischees aufgeräumt wurde, die Wölfe leider auch heute noch umgaben.

Nachdem Amy den Film gestartet hatte, kehrte sie zurück. Sie war um die sechzig, sah aber zehn Jahre jünger aus und war wesentlich fitter als die meisten Besucher ihres Alters, die das Wolfcenter betraten. Ihre dunklen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Carla! Du kommst gerade richtig.«

»Haben wir so viel Andrang?«

»Nein, aber Linda braucht ein wenig Zuspruch. Ich hab’s schon versucht, aber wer hört schon auf eine alte Jungfer, der kein Mann gut genug war?« Sie trat grinsend hinter ihren Tresen. »Auf dich hört sie eher, wenn es um Männer geht. Sie ist drüben bei Ma Barker und ertränkt ihren Kummer in Caffè Latte.«

»Einer ihrer beiden Ex-Männer?«

»Beide, soviel ich weiß.«

Carla hatte ihren Anorak geöffnet und die Handschuhe ausgezogen. Selbst mit der einfachen Wollmütze, die nur ihren blonden Pferdeschwanz hervorblitzen ließ, und mit nur wenig Make-up wirkte sie attraktiv. Das lag vor allem an ihren leuchtend blauen Augen und ihrer sportlichen Figur. Als sie Schülerin an der Highschool gewesen war, hatte sie mehrere Hundeschlittenrennen gewonnen, damals noch mit den Hunden ihrer Eltern. Und bei einem Snowmobil-Rennen hatte sie sogar etliche Jungen hinter sich gelassen. Inzwischen versuchte sie sich auch im Skifahren und Snowboarden, obwohl ihr wenig Freizeit blieb.

»Und du meinst, ich bin die Richtige dafür?«, fragte sie. Es klang sarkastisch »Eigentlich bräuchte ich selber jemanden, der mir bei Männern auf die Sprünge hilft. Entweder erwische ich einen Kontrollfreak wie Robin, der mich schon schräg ansieht, wenn meine Mütze schief sitzt, oder einen Traumtänzer wie Benjy, der mir jeden Tag rote Rosen oder Schokolade schickt und mich wie eine Prinzessin verehrt. Ich hab selbst kein Händchen für Männer.«

»Oder man könnte sagen, du hast den Blick für das Besondere«, antwortete Amy lachend.

»Okay«, gab Carla nach, »dann werde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen. Ich wollte mir sowieso noch einen Cheeseburger gönnen, bevor ich mich an die Arbeit mache. Ich nehme mal an, du hast dein Grünzeug dabei.«

»Dinkelbrot mit Sprossen, Tomaten und Avocado.«

»Nie mehr Cheeseburger?«

»Nie mehr Cheeseburger.«

Carla grinste. »Wenigstens bei Fisch solltest du eine Ausnahme machen. Frisch geangelt, über einem Lagerfeuer gebraten … es gibt nichts Besseres.«

»Fische sind für Bären.«

»Ich sehe schon, dich kann man nicht mehr überzeugen«, erwiderte Carla. »Wir sehen uns nach der Mittagspause. Ruf mich an, falls du dir’s anders überlegst und doch was Anständiges essen willst. Eine Tafel Schokolade?«

»Zu viele Kalorien.«

»Manchmal mache ich mir echte Sorgen um dich«, erwiderte Carla. »Hast du denn gar keine Laster? Kein Fleisch, keine Männer, keine Süßigkeiten …«

»Mir geht’s gut, Carla. Das weißt du doch.«

Carla verließ das Wolfcenter und überquerte die Straße. Kalter Wind blies ihr entgegen, wirbelte den Neuschnee von der kaum geräumten Straße auf und trieb ihr eisige Flocken ins Gesicht. Sie bewunderte Amy. Sie stammte aus Wasilla nördlich von Anchorage und hatte eine beeindruckende Karriere als Musherin hinter sich. Beim Iditarod-Rennen hatte sie es zweimal unter die Top Ten geschafft und war auch als Leichtathletin erfolgreich gewesen. Ihren gesunden Lebensstil hatte sie beibehalten, auch zum Krafttraining ging sie noch. Hundert Jahre wolle sie schaffen, und das ginge nur auf diese Weise.

Warum sie niemals geheiratet hatte, tat sie mit müden Scherzen ab. Carla nahm an, dass die Scheidung ihrer Eltern und ihre Karriere als Leistungssportlerin damit zu tun hatten. Es gab vermutlich Wichtigeres für Amy, und als Familie waren ihr die beiden Huskys Romeo und Juliet und ihre Kollegen bei »Wolf Aid« genug.

Carla ließ einen Pick-up vorbei, winkte dem Fahrer zu, als sie den Besitzer einer Autowerkstatt erkannte, und betrat das Roadhouse, eines der besten Lokale am Richardson Highway, wenn man das Hinweisschild am Straßenrand beachtete und sich in die Ausläufer der Berge wagte. Das Äußere des verwitterten Blockhauses täuschte. Innen wartete eine rustikale, aber sehr gemütliche Atmosphäre auf die Besucher. Es gab runde Tische mit rot-weiß karierten Plastikdecken, einen langen Tresen wie in einem Saloon, und an den Wänden hingen historische Schneeschuhe, Bärenfallen, eine Axt und Hundegeschirre.

Hinter dem Tresen regierte Ma Barker, die rothaarige Besitzerin aus Russland, die schon vor vielen Jahren nach Amerika gekommen war, aber immer noch mit starkem Akzent sprach. Sie hatte einen komplizierteren Namen, der kaum für Amerikaner auszusprechen war, deshalb hatte sie sich nach einer bekannten Kriminellen aus den 1930ern genannt, einer älteren Dame, die mit ihrer Bande zahlreiche Raubüberfälle unternommen hatte. Sie hatte eine Doku im Fernsehen über Ma Barker gesehen und war begeistert von der kriminellen Lady gewesen: »Endlich mal ’ne Frau, die sich durchzusetzen weiß.«

Die neue Ma Barker war alles andere als kriminell und als hervorragende Köchin bekannt. Ihre Eintöpfe, mit russischem Einschlag, wie sie jedes Mal betonte, waren ebenso beliebt wie ihre »Wolfburger«, schmackhafte Doppelcheeseburger mit dicken Speckscheiben.

»Privjet, Carla!«, begrüßte die Wirtin sie wie immer mit einem russischen »Hallo«. »Eintopf oder Wolfburger?«

»Wolfburger«, erwiderte Carla. »Ohne Pommes, mit Diet Coke.«

»Schon unterwegs.«

Wie immer um diese Zeit war das Roadhouse gut besucht. Aus den Lautsprechern tönte schräge Musik aus den 1930er-Jahren, die mit den teilweise lauten Unterhaltungen der Gäste konkurrierte. Es roch nach nasser Kleidung und Schweiß, der typische Wintergeruch in dem meist überheizten Lokal.

Linda saß allein am Tresen und löffelte gedankenverloren ihren Eintopf. Sie war um die fünfzig, hatte ihre Haare blond gefärbt und trug auch heute wieder zu viel Make-up. Beruflich lag sie als studierte Biologin weit vorn, sie hatte sogar ein Buch über das Verhalten arktischer Wölfe geschrieben und war damit mehrmals im Fernsehen gewesen, doch wenn es um ihre beiden ExMänner ging, benahm sie sich wie ein enttäuschter Teenager, dem gerade sein Highschool-Sweetheart weggelaufen war. Beide Ex-Männer hatten sie verlassen, aus Angst vor ihren beruflichen Erfolgen, wie Carla vermutete.

»Hey, Linda.« Carla deutete auf den Platz neben ihr. »Darf ich?«

Linda hob den Kopf. »Sicher. Alles klar bei dir?«

»Alles gut. Amy sagt, du hättest wieder Kummer?«

»Eric«, antwortete Linda. So hieß der Professor, den sie gleich nach der Uni geheiratet hatte. Viel zu alt für sie und in seiner Ehre gekränkt, als sie mit ihrem Buch im Fernsehen aufgetreten war. Ein eingebildeter Angeber, wenn man Carla fragte. »Stell dir vor, er hat wieder geheiratet. Die Besitzerin einer Boutique in Fairbanks.«

»Eric?«, staunte Carla. »Der muss doch schon über …«

»Achtundsechzig«, ließ Linda sie nicht zu Wort kommen, »aber er ist immer noch ein stattlicher Mann.« Sie klang wehmütig, aber auch trotzig, als müsste sie ihn verteidigen. »Seine Braut ist dreißig. Stand in der Zeitung.«

»Er kann’s nicht lassen.«

»Du kennst ihn nicht«, sagte Linda. »Er ist kein Sugar Daddy, der unbedingt eine Jüngere im Bett haben will. Im Gegenteil, er ist ein intelligenter und verständnisvoller Mann, dem es auch um die inneren Werte einer Frau geht.« Sie blickte in ihren Kaffeebecher und betrachtete wohl ihr Spiegelbild. »Ich hätte mehr auf ihn zugehen sollen, dann wären wir vielleicht noch zusammen. So einen Mann findet man nur einmal … manchmal auch zweimal.«

»Larry?«

Linda begann lautlos zu weinen. Carla legte ihr einen Arm um die Schultern und wartete geduldig, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Wenn Linda um ihre ExMänner trauerte, reichte es, wenn man ihr zuhörte. Linda hatte das Gefühl, ihr ganzes Leben ruiniert zu haben, und wollte sich an der Schulter einer Freundin ausweinen. Zu Carla hatte sie am meisten Vertrauen. Obwohl Linda fast doppelt so alt wie sie war, kam es Carla manchmal vor, eine wesentlich jüngere Frau vor sich zu haben, wenn es um ihre Ex-Männer ging.

»Ich hab mit ihm gesprochen«, sagte Linda. »Gestern Abend.« Während sie wieder zu weinen begann und mühsam um Haltung rang, brachte die Kellnerin Carlas Wolfburger und die Cola, aber Carla wartete noch mit dem Essen. »Er zieht nach Chicago.«

Zwei Nackenschläge von zwei Ex-Männern, die sich längst anderweitig orientiert hatten, waren offensichtlich zu viel für Linda. Sie stellte den Becher auf den Tresen und begann, leise zu schniefen. »Ich hab ihn angerufen«, gestand sie, »er hatte Geburtstag, und ich gratuliere ihm jedes Jahr, das weißt du doch. Man kann auch nach einer Scheidung befreundet sein, oder nicht?« Wieder klang Trotz durch. »Er sagt, er hätte ein tolles Angebot aus Chicago bekommen und würde noch vor Weihnachten umziehen. Ist das nicht furchtbar?«

»Wieso denn?«, hielt es Carla nicht länger aus. Aus ihrer Absicht, Linda nur zuhören zu wollen, wurde nichts. »Du musst dich langsam daran gewöhnen, dass diese Männer ihr eigenes Leben führen. Ich weiß, ich bin ein paar Jährchen jünger als du, hab aber genug erlebt, um zu wissen, dass es keinen Zweck hat, jemandem hinterherzuweinen. Wie heißt es so schön? Andere Mütter haben auch schöne Söhne. Klingt ein bisschen abgedroschen, aber so ist es nun mal. Du bist noch jung genug, um dir jemand anderen zu suchen.«

»Achtundvierzig!«

»Sag ich doch! Such dir einen Jüngeren, wenn’s gar nicht anders geht.«

»Leichter gesagt, als getan.«

»Das wird schon«, sagte Carla mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Sie winkte Ma Barker heran. »Einen Wodka für meine Freundin, Ma!«

»Einen Wodka? Um zwölf Uhr mittags?«, erschrak Linda.

»Der bringt dich wieder auf Kurs. Stimmt’s, Ma?«

Ma Barker schenkte ein. »Millionen Russen können nicht irren.«

Linda stürzte den Wodka hinunter und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Sie schnappte nach Luft. »Und danach soll man sich besser fühlen, Ma?«

»Und ob. Sa Sdarowje!« Ma Barker hatte sich selbst einen Wodka eingeschenkt und trank ihn genüsslich. »Du glaubst nicht, wie schnell das Zeug wirkt.« Sie verschraubte die Flasche. »Aber nicht mehr als ein Glas. Sonst werden die Probleme schlimmer, und du bist erst recht am Ende. Besser?«

»Viel besser«, räumte Linda ein.

Carla biss in ihren Wolfburger und kaute zufrieden, spülte den ersten Bissen mit Diet Coke hinunter und konnte ebenfalls nicht klagen. Lediglich aus den Augenwinkeln beobachtete sie eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen um die achtzehn, die betrübt und auch trotzig wie eben noch Linda ihren Eintopf löffelte, sich öfter umdrehte und nach jemandem zu suchen schien.

Muss wohl am Wetter liegen, dachte Carla.

2

»Leider schmeckt ein Wolfburger ohne Fleisch nicht, sonst hätte ich dir einen mitgebracht«, rief Carla, als sie das Wolfcenter betrat und Amy hinter dem Tresen stehen sah, »die Dinger sind einfach großartig. Hast du wenigstens Mayo auf deinen Sandwiches?«

»Ein bisschen. Ovo-Lacto-Vegetarier dürfen das.«

»Ovo-Lacto?«

»Milch und Eier sind okay.«

Carla stellte sich absichtlich dumm. Sie hatte genug über Vegetarier gelesen, um zu wissen, dass es unterschiedliche Arten gab, und wollte Amy nur aus der Reserve locken. Ihre Diskussionen über gesunde Ernährung waren mehr Spaß als Auseinandersetzung und gehörten zu ihren täglichen Ritualen.

Tatsächlich achtete auch Carla sehr auf gesunde Ernährung, nur war sie dabei nicht ganz so streng. Auch ein Wolfburger oder ein Schokoriegel durften mal sein. Sie aß jedoch weniger Fleisch als früher, verzichtete auf Pommes und stark frittierte Speisen und trank Alkohol nur, wenn es unbedingt sein musste.

»Linda ist wieder einigermaßen okay«, beruhigte sie die Kollegin. »Ma Barker hat ihr ein Gläschen von ihrer Spezialmedizin spendiert.« Sie öffnete die Glastür neben dem Museumseingang und drehte sich noch einmal zu Amy um. »Ich bin draußen bei C.J. Linda soll sich melden, falls sie Hilfe braucht.«

Amy hatte den Mund voll und nickte nur.

Neben dem Gebäude schlängelte sich ein schmaler Weg zu den Gehegen, die sich bis in den nahen Wald hineinzogen und durch stabile Zäune gesichert waren. In zwei Arealen tummelten sich dreizehn Wölfe, die sich zu kleinen Rudeln zusammengeschlossen hatten und sich in den weitläufigen Gehegen beinahe wie zu Hause in der Wildnis fühlen durften. Sieben Wölfe waren verletzt aufgegriffen worden und wurden von »Wolf Aid« gesund gepflegt, die restlichen sechs waren im Wolfcenter aufgewachsen. Zutrauliche Tiere, die sich an die Menschen gewöhnt hatten und in jeder Hinsicht von ihnen abhängig waren.

C.J. war im Gehege und kümmerte sich um Cody, der entkräftet auf einem Strohlager vor seiner Unterkunft lag und die Augen geschlossen hatte. Ein stattliches Tier mit weichem Fell, das gräulich silbern im winterlichen Zwielicht glänzte. Nur wenn er lief, erkannte man, dass sein linker Hinterlauf nach einem Bruch schlecht verheilt war.

»Nicht so schlimm«, sagte C.J. zuversichtlich, als Carla ihn erreicht hatte, »er hat sich nur den Magen verdorben. Irgendjemand muss ihn mit Brot gefüttert haben. Wir müssen bei den Führungen noch besser aufpassen.«

»Bitte nicht füttern!«, erwiderte Carla. »Das sind die ersten Worte, die ich den Besuchern vor einer Führung einbläue. Ich sage ihnen auch, dass sich Wölfe stärker von Hunden unterscheiden, als die meisten denken. Manche wollen mir nicht glauben, dass sie Getreideprodukte nur schlecht verdauen können. Keine Ahnung, wie einige Leute es schaffen, ihnen heimlich was zuzustecken.« Sie betrat das Gehege und kniete neben Cody nieder. Er gehörte zu ihren Lieblingswölfen, weil er niemals aufgegeben hatte, schon vor einigen Monaten in den Bergen nicht, als ihn der Wanderer gefunden hatte. Sie war bei der Bergung dabei gewesen, hatte geholfen, ihn in die Transportkiste zu verladen und ins Wolfcenter zu bringen. »Das ist ein zäher Bursche«, hatte C.J. schon damals erkannt, »der gibt erst auf, wenn es gar nicht mehr geht.«

»Das wird schon wieder, Cody«, ermunterte sie den Wolf.

»In zwei, drei Tagen ist er wieder fit«, sagte C.J.

Die Tür zum Blockhaus ging auf, und Amy streckte ihren Kopf heraus. »Da ist jemand für dich, Carla«, rief sie. »Eine Reporterin … sie will dich sprechen.«

»Eine Reporterin? Ich komme.«

Carla kehrte ins Blockhaus zurück und sah die Besucherin auf einem der Stühle neben dem Eingang sitzen. Das Mädchen aus dem Roadhouse, erkannte sie überrascht. Ungewöhnlich jung für eine Reporterin. Ihr Gesicht mit den braunen Augen und der leichten Stupsnase war leicht gerötet, wahrscheinlich von dem eisigen Wind, der ihr auf der Hauptstraße ins Gesicht geblasen hatte, und ihre dunklen Haare waren lang genug, um unter der weißen Pudelmütze hervorzuragen. Sie trug einen weinroten Anorak und dunkle Hosen und wirkte in dieser Aufmachung eher wie ein angehendes College Girl.

Was sie auch bald sein würde, wie sich gleich darauf herausstellte. Sie stand auf und kam Carla einige Schritte entgegen. »Miss Carla Gorman?«

»Ja«, erwiderte Carla verwundert. »Sie sind Reporterin?«

Die Besucherin lächelte schüchtern. »Angehende Reporterin«, stellte sie richtig. »Mein Name ist Sophia Kinney. Ich habe gerade meinen Highschool-Abschluss gemacht und volontiere ein Jahr bei der Canterbury Gazette. Mein Vater ist dort Chefredakteur. Danach gehe ich aufs College.« Sie drehte sich zur Tür um, als einige Besucher hereinkamen, und betrachtete sie neugierig. Sie brauchte erstaunlich lange, um sich wieder auf Carla zu konzentrieren.

»Und wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Carla.

»Oh Entschuldigung!«, antwortete sie rasch. »Ich habe Ihren Namen aus dem Fairbanks News-Miner. Ein Bericht über Ihren Vortrag an der Highschool in Delta Junction.« Sie legte wieder eine kurze Pause ein und schien sich ihre Worte genau überlegen zu müssen. »In Canterbury, wo ich herkomme, sind die meisten Leute gegen Wölfe eingestellt. Wegen der Kälber und Schafe, die sie im Sommer gerissen haben, wissen Sie. Mein Vater möchte, dass ich einen Bericht schreibe. Dass die Wölfe zu einer Plage geworden sind, dass sie einem Farmer wie Roger Halterman unermesslichen Schaden zufügen … Nun ja, ich war gerade zwei Wochen in San Francisco bei meiner Tante und meinem Onkel und habe im San Francisco Chronicle über die Wölfe im amerikanischen Westen gelesen, vor allem in Montana. Dort ist es zu hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Tierschützern und solchen Leuten gekommen ist, die am liebsten alle Wölfe erschießen würden. Ich würde gern neutral berichten und dachte, Sie könnten mir vielleicht mehr dazu sagen.«

Man sah ihr an, wie schwer ihr diese Worte gefallen waren. Anscheinend hinterfragte sie die Meinung ihres Vaters, der wahrscheinlich annahm, sie würde nur mit dem Farmer sprechen, sich gegen die Wölfe wenden und der Öffentlichkeit mit ihrem Artikel nach dem Mund reden.

»Aber es ist nicht garantiert, ob Ihr Vater unser Interview auch drucken wird, habe ich recht?«

»Das stimmt leider«, räumte sie ein. »Er ist der Chefredakteur und hat das letzte Wort. Und ich muss leider zugeben, dass er nicht besonders gut auf Wölfe zu sprechen ist, obwohl er noch nie einen gesehen hat. Vielleicht will er auch vermeiden, dass aufgebrachte Leser die Zeitung abbestellen. Wir sind nicht die Washington Post oder die New York Times. Wir brauchen jeden einzelnen Leser. Ich möchte dennoch versuchen, fair zu berichten. Wären Sie bereit, mir einiges über Wölfe zu erzählen? Ob sie wirklich so grausam sind?«

Carla konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie Wölfe wirklich waren, hatten sich alle Mitarbeiter von »Wolf Aid« auf die Fahnen geschrieben. C.J. hatte sogar einige Monate unter Wölfen gelebt und wusste mehr über diese Tiere als die meisten anderen Wissenschaftler. Von seinem Wissen profitierten alle Mitarbeiter von »Wolf Aid«, auch Carla, die immer noch überrascht war, wie schlecht das Image von Wölfen war.

»Dann komm mal mit«, sagte sie, »und nenn mich Carla, okay?«

»Sophia«, antwortete sie erfreut.

Carla führte die junge Reporterin zu den Gehegen und deutete auf einen Wolf, der zögernd näher kam und in einiger Entfernung stehen blieb. Er war ungefähr zwei Jahre alt und wirkte besonders muskulös und kräftig.

»Das ist Ghost«, erklärte sie. »Er bewegt sich so leise wie ein Geist und taucht immer dann auf, wenn man ihn am wenigsten erwartet. Ein geborener Anführer, aber er kam schon als Welpe zu uns und würde in der Wildnis nicht überleben.«

»Ihr schickt die Wölfe nicht in die Wälder zurück?«

»Dort hätten sie keine Chance. Die bei uns geboren werden, sowieso nicht, und die Tiere, die mit einer Verletzung zu uns kommen, sind nach ihrer Genesung auch nicht mehr fähig, in freier Wildbahn zu bestehen. Aber sollen wir sie deshalb sterben lassen? Wir sind so eine Art Waisenhaus für Wölfe.«

Ghost war Zweibeiner gewöhnt und kam noch etwas näher. Jetzt sah man auch seine gelben Augen, die in diesem Augenblick gar nicht so streng wirkten, wie es in Märchen und Romanen immer hieß. Sein graues, auf dem Rücken weißes Fell glänzte im fahlen Nachmittagslicht. Als wartete er darauf, dass Sophia ihre Kamera hervorzog und ihn fotografierte. Man sah ihm nicht an, dass er vor und auch während seiner Rettung beinahe gestorben wäre.

»Ghost hatte schwere innere Verletzungen, als er zu uns kam«, erinnerte sich Carla. »Ohne C.J., unseren Tierarzt, hätte er nicht überlebt. C.J. Fletcher.« Carla wartete, bis Sophia mit ihren Notizen nachkam. »Wir haben den Verdacht, dass sich jemand den Welpen als Haustier zulegen wollte und es sich dann anders überlegte und das arme Tiere vergiftete und im Wald entsorgte. Wann kapieren die Leute endlich, dass Wölfe keine Haustiere sind?«

»Roger Halterman hält sie für wilde Bestien, die man ausrotten sollte«, berichtete Sophia. »Er besitzt eine große Schaffarm in unserer Gegend und sagt, dass ihn die Wölfe ruinieren, und ich kenne kaum jemanden, der ihm widerspricht. Auch kleine Farmer haben unter Verlusten zu leiden. Mein Vater hat darüber geschrieben. Die Verluste sind tatsächlich ein wenig erschreckend.«

»Und dennoch kommst du zu mir.«

Sophia blickte den Wolf an, der sie noch immer neugierig betrachtete und keine Anstalten machte, sich zurückzuziehen. Er schien ihr mitteilen zu wollen, dass er nicht die grausame Bestie war, für die ihn viele hielten.

»Ich mag Tiere und kann mir nicht vorstellen, dass Wölfe nur darauf aus sind, Kälber und Schafe zu reißen und uns Menschen auf den Leib zu rücken. Von erfahrenen Journalisten habe ich gelernt, dass man gerade bei einem so heiklen Thema immer über beide Seiten berichten soll. Ich bin keine militante Tierschützerin. Mein Vater sagt, in einer Kleinstadt wie Canterbury bliebe einem manchmal gar nichts anderes übrig, als mit den Wölfen zu heulen.« Sie lachte über den Vergleich. »Sonst würden der Zeitung die Abonnenten abspringen, und er könnte zumachen. Mag sein, aber ich will trotzdem wissen, wie Wölfe wirklich sind, auch wenn mir Dad dann die Hälfte meines Artikels streicht.«

Carla führte sie langsam an dem Gehege entlang. Der Wind hatte nachgelassen, aber es schneite jetzt in dicken Flocken.

»Wölfe sind keine Bestien«, erklärte sie Sophia. »Ihr schlechter Ruf kommt vor allem daher, dass sie in den Märchen und Legenden immer die Bösewichte waren, sogar in den Comics. ›Der Große Böse Wolf und die drei kleinen Schweinchen‹ kennst du doch, oder?«

Sophia lächelte schwach. »Ich hab immer zu den Schweinchen gehalten.«

»Jeder hat zu den Schweinchen gehalten, so wie sich jeder vor dem bösen Wolf in ›Rotkäppchen‹ fürchtet oder unter die Bettdecke kriecht, wenn ein Werwolf im Fernsehen auftaucht. Was schreiben denn viele Zeitungen über Wölfe? Dass sie blutgierige Bestien sind und alles reißen, was ihnen in den Weg kommt. Dass man sie ausrotten sollte, weil sie mit dem Teufel im Bund sind. Dass sie sich über kurz oder lang auf unsere Kinder stürzen würden.«

Sophias Miene verriet, dass ihr solche Sätze nicht unbekannt waren. Auch die Canterbury Gazette hatte sicher schon solche Behauptungen aufgestellt.

»Natürlich reißen Wölfe auch Nutztiere wie Kälber oder Schafe«, fuhr Carla fort. »Aber sie stürzen sich meist auf schwache oder kranke Tiere, die sowieso nicht überlebt hätten, und auch das nur, wenn sie kein Wild in den Wäldern finden. Weißt du, welchen Anteil Wölfe am vorzeitigen Tod von Schafen haben? Gerade mal ein Prozent! Für mehr als die Hälfte aller toten Schafe sind das Wetter und Kojoten verantwortlich. Kojoten, ganz recht.«

»Das wusste ich nicht.«

»Und du darfst auch nicht vergessen, dass die Rancher und Farmer für jedes von Wölfen getötete Tier eine Entschädigung erhalten. Und manchmal sogar Zuschüsse beim Bau von Zäunen oder anderen Vorsichtsmaßnahmen.«

»Halterman schickt Männer los«, sagte Sophia, »die schießen sofort, wenn sie einen Wolf beim Wildern erwischen. ›Range Riders‹ nennen die sich.«

»Vielleicht sollte ich mal mit Halterman reden.«

Sophia lachte. »Den stimmen Sie nicht um. Der ist wie diese sturen Rancher in den Westernfilmen, die manchmal im Fernsehen kommen. Die glauben, ihnen gehört die Welt, und sie können über Leben und Tod entscheiden.«

»Hat er keine Frau, die ihn ein bisschen … besänftigt?«

»Ella Halterman? Die ist genauso störrisch wie er. Angeblich soll sie sogar besser schießen können als er und schon mal einen Wolf im vollen Lauf erwischt haben. Ich hab mal was über eine Calamity Jane gelesen. Eine Banditin im Wilden Westen, die besser schießen, lauter fluchen und mehr Whiskey trinken konnte als jeder Mann. So eine ist die … bis auf den Whiskey.«

»Hört sich nach einem glücklichen Paar an.«

»Oh, die beiden sind sehr angesehen in Canterbury«, sagte Sophia. »Sie sind in jedem Komitee, das man sich vorstellen kann, unterstützen alle gemeinnützigen Einrichtungen mit großzügigen Spenden und laden alle Kinder der Stadt an Halloween zu einer riesigen Party ein. Sie sind sehr beliebt, und wahrscheinlich wäre Halterman auch zum Bürgermeister gewählt worden, wenn er gewollt hätte. Eigentlich sind sie gute Leute, da kann man nichts sagen. Nur wenn es um ihre Schafe geht, da lassen sie sich nicht dreinreden.«

Carla kannte die Sorte Menschen. Sie war solchen Leuten schon oft begegnet, wenn sie einen Vortrag auf dem Land gehalten hatte. Rancher und Farmer dachten anders über Wölfe, sie betrachteten die vierbeinigen Eindringlinge als erbitterte Feinde, denen man nur mit Gewalt begegnen konnte. Sie hatte sogar Verständnis für diese Haltung. Wenn man von seinen Rindern oder Schafen lebte, musste man sie beschützen, und es interessierte einen kein bisschen, was mit den Wölfen geschah. Auf Tierschützer blickte man spöttisch hinab.

Carla wollte etwas sagen und hielt überrascht inne, als Sophia sich verstohlen zu einem der Besucher umdrehte, die vor wenigen Minuten aus dem Kino gekommen waren, und sich rasch wieder ihr zuwandte. Der Mann, ein unscheinbarer Typ in den Dreißigern, der in seinen Jeans und dem modischen Anorak von L. L. Bean eher in der Masse unterging, stand mit einigen anderen Besuchern am Zaun und ließ sich von Linda erklären, woran Cody erkrankt war.