Judith Herman

Die Narben der Gewalt

Über dieses Buch

Der Klassiker in aktualisierter Fassung 

Die umfangreiche praktische Arbeit mit Opfern sexueller und häuslicher Gewalt, jahrzehntelange Forschung sowie die kritische Auseinandersetzung mit gängigen Ansätzen in der Psychotraumatologie – all dies findet Eingang in das wegweisende Grundlagenwerk für Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten. 2015 fasste Judith Herman die neuesten Forschungsentwicklungen in diesem Bereich zusammen und ergänzte damit ihren Klassiker, der nie an Aktualität verloren hat. 

Der erste Teil des Buches fokussiert auf das Spektrum menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse. Der zweite Teil thematisiert den Verlauf des Trauma-Heilungsprozesses und stellt ein neu entwickeltes Konzept für die Psychotherapie traumatisierter Patienten vor. 

Durch den persönlich-narrativen Schreibstil der Autorin sowie zahlreiche Fallbeispiele und Aussagen von Opfern werden die Besonderheiten traumatischer Störungen und die Prinzipien der Behandlung äußerst zugänglich. Somit kann das Buch auch für Betroffene und deren Angehörige eine große Hilfe sein, Traumafolgen besser zu verstehen und zu verarbeiten.

Judith Herman ist emeritierte Professorin an der Harvard Medical School und leitet ein Programm über Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sie sich mit Opfern von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und häuslicher Gewalt.

Einleitung

Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint.

Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, dass Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muss ans Tageslicht. Die Erinnerung an furchtbare Ereignisse und das Aussprechen der grässlichen Wahrheit sind Vorbedingungen für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, für die Genesung der Opfer.

Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, dass sie unglaubwürdig wirken. Damit ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, einerseits die Wahrheit sagen und andererseits Stillschweigen wahren zu müssen. Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taugt nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom.

Die Symptome psychischen Leidens bei traumatisierten Menschen weisen auf die Existenz eines unaussprechlichen Geheimnisses hin und lenken gleichzeitig davon ab. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Opfer abwechselnd in Erstarrung verfallen und das Ereignis immer wieder neu erleben. Durch die Dialektik des Traumas entstehen komplexe, manchmal unheimliche Bewusstseinsveränderungen. George Orwell, einer der engagierten Wahrsager des 20. Jahrhunderts, sprach von „Doppeldenk“; Psychiater und Psychologen prägten den sachlich präzisen Begriff „Dissoziation“. Daraus ergeben sich die schillernden, dramatischen und oft bizarren Symptome der Hysterie, in denen Freud vor hundert Jahren versteckte Mitteilungen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit erkannte.

Zeugen unterliegen der Dialektik des Traumas ebenso wie die Opfer. Es gelingt dem Beobachter kaum, ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu bewahren, mehr als einige wenige Bruchstücke des Geschehens gleichzeitig zu erkennen, alle Einzelheiten aufzubewahren und richtig zusammenzusetzen. Noch schwieriger ist es, die richtigen Worte zu finden, um das Beobachtete überzeugend und umfassend zu schildern. Wer versucht, die Gräuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Gräueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet.

Das Wissen, dass schreckliche Dinge passieren, dringt zwar periodisch ins allgemeine Bewusstsein, hält sich dort jedoch selten lange. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation wirken auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene. Auch die Erforschung psychischer Traumata hat eine „untergründige“ Geschichte. Wie unsere traumatisierten Patienten sind auch wir Therapeuten vom Wissen um unsere Vergangenheit abgeschnitten. Wie unsere Patienten müssen auch wir erst die Vergangenheit verstehen, wenn wir Gegenwart und Zukunft zurückerobern wollen. Deshalb geht die Wiederentdeckung der Geschichte der Erklärung des psychischen Traumas voraus.

Therapeuten kennen den sehr besonderen Augenblick der Erkenntnis, wenn unterdrückte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen an die Oberfläche kommen. Solche Augenblicke gibt es in der gesellschaftlichen Geschichte ebenso wie in der individuellen. In den Siebzigerjahren hoben die Manifeste der Frauenbewegung die weitverbreitete Gewalt gegen Frauen ins öffentliche Bewusstsein. Opfer, die man zum Verstummen gebracht hatte, sprachen zum ersten Mal über ihre Geheimnisse. Als Ärztin in der Psychiatrie hörte ich von Patientinnen viele Geschichten über sexuelle und häusliche Gewalt. Aufgrund meines Engagements in der Frauenbewegung konnte ich mich gegen die Verleugnung realer Lebenserfahrungen von Frauen wehren und zu dem stehen, was ich erfahren hatte. Meinen ersten Aufsatz über das Thema Inzest verfasste ich 1976 gemeinsam mit Lisa Hirschman. Bevor er veröffentlicht wurde, zirkulierte er ein Jahr lang als Manuskript im „Untergrund“. Aus allen Teilen des Landes erhielten wir Briefe von Frauen, die nie zuvor über ihre Erlebnisse gesprochen hatten. So erkannten wir, welche Macht darin liegt, das Unsagbare zu benennen, und wir begriffen, welche kreativen Energien freigesetzt werden, wenn die Mauer aus Verleugnung und Verdrängung fällt.

Die Narben der Gewalt ist die Frucht von zwanzig Jahren Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern von sexueller und häuslicher Gewalt. Das Buch spiegelt auch die vielfältigen Erfahrungen mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Opfern von politischem Terror. Es ist ein Buch über die Wiederherstellung von Verbindungen: Verbindungen zwischen öffentlichen und privaten Welten, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Mann und Frau. Es ist ein Buch über Gemeinsamkeiten: zwischen Vergewaltigungsopfern und Kriegsveteranen, zwischen misshandelten Frauen und politischen Gefangenen, zwischen den Überlebenden der riesigen Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über Völker herrschten, und den Überlebenden der kleinen, versteckten Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über ihre Familie herrschen.

Wer Furchtbares durchlebt hat, leidet unter bestimmten vorhersehbaren psychischen Schäden. Das Spektrum traumatischer Störungen reicht von den Folgen eines einzigen, überwältigenden Ereignisses bis zu den vielschichtigen Folgen lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs. Gängige diagnostische Kategorien, insbesondere die häufig bei Frauen diagnostizierten schweren Persönlichkeitsstörungen, berücksichtigen im Allgemeinen zu wenig, was es bedeutet, wenn ein Mensch zum Opfer geworden ist. Im ersten Teil des Buches wird das Spektrum menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse beschrieben, die psychische Störung, unter der die Opfer lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs leiden, bekommt einen neuen diagnostischen Namen.

Da zwischen traumatischen Syndromen grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen, verläuft auch der Heilungsprozess auf ähnliche Weise. Wichtige Phasen der Genesung sind die Herstellung von Sicherheit, die Rekonstruktion der Geschichte des Traumas und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Opfer und Gemeinschaft. Im zweiten Teil des Buches wird der Verlauf des Heilungsprozesses geschildert und ein neues Konzept für die Psychotherapie von traumatisierten Patienten entwickelt. Aussagen von Opfern und Fallbeispiele aus der umfangreichen Literatur illustrieren die Besonderheiten traumatischer Störungen und die Prinzipien der Behandlung.

Zu den wissenschaftlichen Grundlagen dieses Buches zählen meine früheren Untersuchungen über Inzestopfer und meine neuere Untersuchung zur Bedeutung von Traumatisierungen in der Kindheit für die Herausbildung von sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die klinischen Erfahrungen, auf die sich dieses Buch gründet, konnte ich in zwanzigjähriger Tätigkeit in einer feministisch orientierten psychiatrischen Klinik und in zehnjähriger Tätigkeit als Dozentin und Supervisorin in einem Lehrkrankenhaus der Universität sammeln.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Berichte von traumatisierten Menschen. Um die Vertraulichkeit zu wahren, habe ich die Namen aller meiner Gesprächspartner verändert – mit zwei Ausnahmen: Erstens erscheinen alle Therapeuten und Ärzte, die ich zu ihrer Arbeit interviewt habe, unter ihrem richtigen Namen sowie zweitens alle Opfer, die bereits in die Öffentlichkeit gegangen sind. Die Fallschilderungen sind fiktiv, in jede Schilderung sind die Erfahrungen vieler Patienten eingeflossen, nicht nur die eines einzelnen.

Die Opfer fordern uns auf, Bruchstücke zusammenzusetzen, Geschichten zu rekonstruieren, ihren gegenwärtigen Symptomen im Lichte vergangener Erlebnisse Bedeutung zu verleihen. Ich habe versucht, die medizinischen und gesellschaftlichen Aspekte traumatischer Ereignisse zu verknüpfen, ohne die Komplexität individueller Erfahrungen oder die Vielfalt des politischen Umfelds preiszugeben. Ich habe versucht, Kenntnisse aus scheinbar unterschiedlichen Bereichen zusammenzufügen und Konzepte zu entwickeln, die auf die Erfahrungen von Familien- und Sexualleben, der traditionell weiblichen Sphäre, ebenso anwendbar sind wie auf die Erfahrungen von Krieg und Politik, der traditionell männlichen Sphäre.

Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt[1], an dem die Frauenbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im sexuellen und familiären Leben und die Menschenrechtsbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im politischen Leben ermöglichte. Das Buch wird sicher Diskussionen auslösen; einmal weil es aus feministischer Perspektive geschrieben ist, zum Zweiten weil es gängige diagnostische Kategorien infrage stellt, zum Dritten – und das ist der vielleicht wichtigste Punkt – weil es grauenhafte Dinge beim Namen nennt, Dinge, über die eigentlich niemand etwas hören will. Ich habe versucht, meine Gedanken in eine Sprache zu kleiden, die Verbindungen aufrechterhält, eine Sprache, die sowohl der leidenschaftslosen, vernunftbetonten Haltung meines Berufsstandes Rechnung trägt als auch den leidenschaftlichen Forderungen der verletzten und empörten Menschen. Ich habe versucht, eine Sprache zu finden, die den Versuchungen des „Doppeldenks“ widersteht und es uns allen erlaubt, die Konfrontation mit dem Unsagbaren etwas besser auszuhalten.


[1] Die Erstauflage der englischen Originalausgabe erschien 1992 (Anm. d. Vrl.).

© der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2003
5. aktualisierte Auflage, 2018

Copyright: © 1992, 1997 by Basic Books

Epilogue: © 2015 by Basic Books

First published in the United States by Basic Books, A Subsidiary of Perseus Books L.L.C.

Titel der Originalausgabe: Trauma und Recovery

Übersetzung der Originalausgabe aus dem Amerikanischen: Verena Koch und Renate Weitbrecht

Übersetzung des 1997 geschriebenen Nachwortes und des 2015 erschienenen Epilogs: Renate Weitbrecht

Coverfoto: © SPACEDRONE808 – iStock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-624-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-763-6 (EPUB), 978-3-95571-765-0 (PDF), 978-3-95571-764-3 (MOBI).

Ehe ich mit meiner Erzählung begann, war sie mir als beinahe übertrieben maskulin ausgerichtet erschienen, als eine Saga von sexueller Rivalität, von Ehrgeiz, Macht, Protektion, Betrug, Tod und Rache. Doch die Frauen scheinen die Geschichte an sich gerissen zu haben; sie haben sich vom Rand der Geschichte in ihren Mittelpunkt bewegt und verlangt, dass ihre Tragödien, Erlebnisse und Komödien aufgezeichnet werden, sodass ich mich gezwungen sah, den Verlauf meiner Erzählung in allerhand verschlungene Winkelzüge zu fassen, meine „männliche“ Fabel gewissermaßen durch die Prismen ihrer entgegengesetzten „weiblichen“ Seite wahrzunehmen. Inzwischen will mir scheinen, dass die Frauen genau wussten, worum es ihnen zu tun war – dass ihre Geschichten die der Männer erklären und sogar einbeziehen. Die Repression ist ein nahtloses Gewand; eine Gesellschaft, deren gesellschaftliche und sexuelle Regeln autoritär sind, die ihre Frauen unter der unerträglichen Bürde von Ehre und Schicklichkeit zermalmt, erzeugt auch Repressionen anderer Art. Umgekehrt: Diktatoren sind immer – oder zumindest in der Öffentlichkeit mit Rücksicht auf das Volk – puritanisch. Und so sehen wir, dass meine „männliche“ und meine „weibliche“ Fabel letzten Endes dieselbe Geschichte sind.

Salman Rushdie, Scham und Schande

TEIL 1: TRAUMATISCHE STÖRUNGEN

6. Eine neue Diagnose

Die wenigsten Menschen haben eine Vorstellung davon, welche psychischen Veränderungen Gefangenschaft bewirken kann, und die Betroffenen finden selten Verständnis. Die Gesellschaft fällt meist ein strenges Urteil über chronisch Traumatisierte. Chronisch misshandelte Menschen wirken hilflos und passiv, sind gefangen von ihrer Vergangenheit, leiden unter hartnäckigen Depressionen und somatischen Beschwerden und haben häufig Wutausbrüche. All das macht den Umgang für ihre nächsten Angehörigen schwierig. Mussten Traumatisierte überdies Beziehungen, moralische Normen oder ihre Loyalität zur Gemeinschaft verraten, werden sie noch strenger verurteilt.

Außenstehende, die lang anhaltenden Terror und brutale Unterdrückungsmethoden nicht aus eigener Erfahrung kennen, glauben oft, sie selbst hätten unter vergleichbaren Umständen mutiger Widerstand geleistet als das Opfer. Demzufolge sucht man das Verhalten des Opfers durch Fehler und Defekte in seiner Persönlichkeit oder seinem Charakter zu erklären. Kriegsgefangene, die unter „Gehirnwäsche“ zusammenbrechen, werden als Verräter behandelt.348 Geiseln, die sich den Geiselnehmern unterwerfen, werden in der Öffentlichkeit oft vernichtend kritisiert. Manchmal geht man mit den Opfern härter ins Gericht als mit den Tätern. Ein besonders berüchtigtes Beispiel ist der Fall der Patricia Hearst: Sie, die Geisel, wurde für Verbrechen angeklagt, zu denen sie gezwungen worden war, und zu einer längeren Haftstrafe verurteilt als die Geiselnehmer.349 Auch Frauen, die sich aus der Beziehung zu misshandelnden Männern nicht befreien können, die sich prostituieren oder unter Zwang ihre Kinder verraten, können kaum mit Verständnis rechnen.350

Die Neigung, die Schuld im Charakter der Opfer zu suchen, tritt sogar bei politisch organisiertem Massenmord zutage. Nach dem Holocaust gab es eine lange Debatte über die „Passivität“ und „Mittäterschaft“ der Juden. Die Historikerin Lucy Dawidowicz hat darauf hingewiesen, dass die Begriffe „Mittäterschaft“ und „Kooperation“ nur in Situationen anwendbar sind, in denen Menschen frei wählen können. In der Gefangenschaft haben sie eine andere Bedeutung.351

6.1 Fehldiagnosen

Die Neigung, das Opfer zu beschuldigen, hat auch die psychologische Forschung stark beeinflusst. Forscher und Therapeuten versuchten die Verbrechen des Täters vom Charakter des Opfers her zu erklären. Die zahlreichen Bemühungen, bei Geiseln und Kriegsgefangenen bestimmte Persönlichkeitsdefekte zu finden, die auf eine besondere Anfälligkeit für „Gehirnwäsche“ schließen ließen, erbrachten jedoch kaum aufschlussreiche Ergebnisse. Daher liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass auch normale, psychisch gesunde Menschen gezwungen werden können, sich feige zu verhalten.352 Bei häuslicher Misshandlung, wo die Opfer meist durch Überreden und nicht durch Fesseln gefangen gehalten werden, hat sich die Forschung ebenfalls auf die Frage konzentriert, aufgrund welcher Persönlichkeitsmerkmale eine Frau besonders gefährdet sein könnte, eine gewalttätige Beziehung einzugehen. Auch hier kam kein klares Profil einer Risikogruppe zustande. Zwar haben viele misshandelte Frauen eindeutig große psychische Probleme und sind deshalb leicht verwundbar, doch bei der Mehrheit ergaben sich keine Anhaltspunkte für ernsthafte psychopathologische Erkrankungen vor Beginn der verhängnisvollen Beziehung. Viele lernen die Männer, die sie später misshandeln, im Verlauf einer vorübergehenden Lebenskrise kennen, nach einem schweren Verlust oder zu einer Zeit, in der sie sich unglücklich, heimatlos oder einsam fühlen.353 In einer Zusammenfassung der Studien zu misshandelten Frauen heißt es: „Die Suche nach weiblichen Charaktermerkmalen, die dazu beitragen, dass eine Frau zum Opfer wird, ist unergiebig ... Bisweilen vergisst man, dass männliche Gewalt als männliches Verhalten gilt. Das erklärt, warum die Studien fruchtbarer waren, die sich zur Erklärung solchen Verhaltens auf männliche Charaktermerkmale konzentrierten. Verblüffend ist allerdings, mit welch enormem Aufwand man versuchte, männliches Verhalten durch die Untersuchung weiblicher Charakterzüge zu erklären.“354

Auch wenn zweifellos normale, gesunde Menschen über längere Zeit in Misshandlungssituationen geraten können, so sind sie natürlich nach der Flucht nicht mehr normal und gesund. Chronische Misshandlung führt zu ernsthaften psychischen Schäden. Die Neigung, dem Opfer die Schuld zuzuschieben, hat das psychologische Verständnis und die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung beeinträchtigt. Statt die Psychopathologie des Opfers als Reaktion auf die Misshandlungssituation zu begreifen, haben Psychiater und Psychologen häufig die Misshandlungssituation auf die mutmaßlich verborgene Psychopathologie des Opfers zurückgeführt.

Ein ungeheuerliches Beispiel derartigen Denkens ist eine Studie über Misshandelte Frauen, die 1964 unter dem Titel „Die Frau des Mannes, der Frauen schlägt“ (The Wife-Beater’s Wife) erschien. Die Forscher wollten ursprünglich den misshandelnden Mann untersuchen, doch die Männer weigerten sich, mit ihnen zu sprechen. So widmeten sie sich nun den geschlagenen Frauen, die eher zur Kooperation bereit waren. Die Frauen, so ihre Ergebnisse, seien „kastrierend“, „frigide“, „aggressiv“, „unentschlossen“ und „passiv“. Eheliche Gewalt, so ihre Schlussfolgerung, erfülle die „masochistischen Wünsche“ der Frauen. Nachdem die Ärzte in den Persönlichkeitsstörungen der Frauen die Wurzel des Problems erkannt hatten, machten sie sich daran, die Frauen zu „behandeln“. In einem Fall redeten sie einer Frau ein, sie selbst provoziere die Gewalt, und zeigten ihr, wie sie sich bessern solle. Als sie schließlich nicht mehr bei ihrem halbwüchsigen Sohn Schutz vor Schlägen suchte und den sexuellen Forderungen des Mannes widerstandslos nachgab – selbst wenn der Mann aggressiv und betrunken war –, betrachteten sie die Behandlung als Erfolg.355

Solch unverfroren offenen Sexismus findet man heute zwar kaum noch in der psychiatrischen Literatur, doch irrige Vorstellungen voller Vorurteile und Verachtung sind nach wie vor weitverbreitet. Das klinische Bild eines Menschen, für den nur noch elementare Überlebensfragen zählen, gilt fälschlicherweise immer noch häufig als Beschreibung des eigentlichen Charakters. Strukturvorstellungen zur Persönlichkeitsentwicklung unter Normalbedingungen werden ohne Berücksichtigung der Zerstörungen, die über einen langen Zeitraum ausgeübter Terror anrichtet, auf die Persönlichkeit des Opfers angewandt. So laufen Patienten, die unter den komplexen Nachwirkungen eines chronischen Traumas leiden, immer noch häufig Gefahr, dass man bei ihnen fälschlicherweise Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert. Man beschreibt sie als von Natur „dependent“, „masochistisch“ oder „selbstschädigend“. Nach einer neueren Studie über die Praktiken in der Notaufnahme eines großen städtischen Krankenhauses bezeichneten die Ärzte misshandelte Frauen routinemäßig als „Hysterikerinnen“, „Masochistinnen“, „Hypochonder“ oder schlicht als „Flittchen“.356

Die häufige Fehldiagnose bei Opfern stand im Mittelpunkt einer Kontroverse Mitte der achtziger Jahre, als das Diagnosehandbuch der American Psychiatric Association für eine Neuauflage überarbeitet werden sollte. Eine Gruppe männlicher Psychoanalytiker schlug vor, die Diagnose „masochistische Persönlichkeitsstörung“ in den Kanon aufzunehmen. Diese hypothetische Diagnose sollte auf alle diejenigen angewendet werden, die „Beziehungen aufrechterhalten, in denen er oder sie ausgebeutet, misshandelt oder übervorteilt wird, obwohl es möglich wäre, die Situation zu verändern“. Zahlreiche Frauengruppen waren empört, und es kam zu einer hitzigen öffentlichen Debatte. Die Frauen forderten, den Diagnosekanon, den bislang immer eine kleine Gruppe von Männern festgelegt hatte, im Verlauf einer offenen Debatte neu zu fassen, und beteiligten sich zum ersten Mal an der Benennung psychischer Realitäten.

Auch ich habe dabei mitgearbeitet. Am meisten verblüffte mich damals die Beobachtung, dass rationale Argumente so gut wie keine Rolle spielten. Die Vertreterinnen der Frauengruppen gingen mit sorgfältig formulierten und ausführlich dokumentierten Stellungnahmen in die Diskussionen. Die vorgeschlagene diagnostische Kategorie, so führten sie aus, stehe auf schwachem wissenschaftlichem Fundament, ignoriere neuere Fortschritte im psychologischen Verständnis des Prozesses, in dem Menschen zu Opfern werden, und sei gesellschaftlich ein Rückschritt, weil damit hilfebedürftige Menschen stigmatisiert und diskriminiert würden.357 Die anerkannten männlichen Größen der Psychiatrie blieben beharrlich bei ihrer kühlen Ablehnung. Sie gaben offen zu, dass sie die vielfältigen Arbeiten zu psychischen Traumata aus den letzten zehn Jahren nicht kannten, sahen jedoch nicht ein, warum das ein Problem darstellen sollte. Ein Vorstandsmitglied der American Psychiatric Society befand die Diskussion über misshandelte Frauen für „irrelevant“. Ein anderer meinte schlicht: „Ich kenne keine Opfer.“358

Am Ende erzwangen der lautstarke Protest der Frauenorganisationen und das Aufsehen, das die Kontroverse in weiten Teilen der Öffentlichkeit erregt hatte, eine Art Kompromiss.359 Man taufte die vorgesehene Kategorie um in „selbstschädigende Persönlichkeitsstörung“. Die diagnostischen Kriterien wurden so verändert, dass die Diagnose nicht auf physisch, sexuell oder psychisch missbrauchte Menschen angewendet werden konnte. Überdies wurde diese Störung nicht in den Hauptteil, sondern nur in einen Appendix des Buches aufgenommen. Die „selbstschädigende Persönlichkeitsstörung“ war damit in die Apokryphen des Kanons verwiesen und ist bis heute dort verblieben.

6.2 Die Notwendigkeit einer neuen Kategorie

Die falsche Anwendung der Kategorie der masochistischen Persönlichkeitsstörung ist wahrscheinlich ein besonders stigmatisierender, doch keinesfalls der einzige diagnostische Fehler. Die Kategorien des bestehenden psychiatrischen Diagnosekanons sind durchweg nicht auf Menschen zugeschnitten, die Extremsituationen durchgemacht haben, und daher nur schlecht auf sie anwendbar. Die anhaltenden Ängste, Phobien und Panikgefühle der Opfer sind nicht mit gewöhnlichen Angststörungen vergleichbar. Ihre somatischen Symptome sind keine gewöhnlichen psychosomatischen Störungen. Ihre Depressionen sind keine gewöhnlichen Depressionen. Der Zerfall von Persönlichkeit und Beziehungen ist nicht mit gewöhnlichen Persönlichkeitsstörungen vergleichbar.

Das Fehlen einer exakten und umfassenden diagnostischen Kategorie ist für die Behandlung sehr nachteilig, weil häufig der Zusammenhang zwischen den akuten Symptomen des Patienten und seiner traumatischen Erfahrung nicht mehr gesehen wird. Versuche, den Patienten in eine der bestehenden diagnostischen Kategorien zu pressen, führen bestenfalls zu einem teilweisen Verständnis des Problems und zu einem unvollständigen Therapieansatz. Viel zu viele chronisch Traumatisierte leiden im Stillen, und die, die Hilfe suchen, stoßen oft auf wenig Verständnis. Manche gehen schließlich vielleicht mit einem Koffer voller Medikamente: gegen Kopfschmerzen, gegen Schlaflosigkeit, gegen Angstzustände und gegen Depressionen. Meist hilft keines dieser Mittel wirklich, weil das zugrunde liegende Trauma davon unberührt bleibt. Früher oder später fallen diese chronisch unglücklichen Menschen, bei denen keine Besserung sichtbar ist, den Ärzten zu stark zur Last, und die Ärzte erliegen der Versuchung, eine negative Diagnose zu stellen.

Selbst die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ ist in ihrer gültigen Definition nicht ganz zutreffend. Die derzeitigen diagnostischen Kriterien für diese Störung zielen hauptsächlich auf Opfer von eng umschriebenen traumatischen Ereignissen wie Krieg, Katastrophen und Vergewaltigung. Opfer eines lang andauernden, wiederholten Traumas zeigen häufig eine sehr viel komplexere Symptomatik. Wenn Menschen über lange Zeit missbraucht werden, verändert sich die Persönlichkeit in bestimmter Weise, dazu gehören auch Störungen des Beziehungslebens und der Identität. Opfer von Missbrauch in der Kindheit haben ähnliche Probleme mit Beziehungen und Identität; zudem sind sie noch besonders anfällig für erneute körperliche Angriffe und fügen sich häufig selbst Verletzungen zu. In ihrer derzeitigen Formulierung umfasst die Posttraumatische Belastungsstörung weder die vielgestaltige Symptomatik nach langem, wiederholtem Trauma noch die tief greifenden Persönlichkeitsveränderungen, die Gefangenschaft bewirken kann.

Das Syndrom, das nach lang anhaltendem, wiederholtem Trauma auftritt, braucht einen eigenen Namen. Ich schlage die Bezeichnung „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ vor. Die Reaktionen auf ein Trauma müssen als Spektrum verschiedener Zustände beschrieben werden und nicht als eine einzelne Störung. Sie reichen von einer kurzen Stressreaktion, die sich von allein bessert und keiner eigenen Diagnose bedarf, über die klassische oder einfache Posttraumatische Belastungsstörung bis zu dem komplexen Syndrom nach lang andauerndem, wiederholtem Trauma.

Das komplexe Traumasyndrom wurde zwar noch nie systematisch beschrieben, doch viele Experten haben – fast nebenbei – die Vorstellung von einem Spektrum posttraumatischer Störungen entwickelt. Lawrence Kolb spricht von der „Heterogenität“ der Posttraumatischen Belastungsstörung, die „für die Psychiatrie das ist, was in der Medizin die Syphilis war. Im Laufe der Zeit kann [das Krankheitsbild] fast alle Formen von Persönlichkeitsstörungen annehmen [...]. Wer über lange Zeit hinweg bedroht war, leidet besonders unter lang anhaltender, tief greifender Desintegration der Persönlichkeit.“360 Andere haben ebenfalls auf die Persönlichkeitsveränderungen durch lang anhaltendes, wiederholtes Trauma hingewiesen. Der Psychiater Emmanuel Tanay, der Überlebende des NS-Holocaust behandelt, stellt fest: „Die Psychopathologie kann hinter Charakterveränderungen verborgen sein, die sich vor allem in gestörten Objektbeziehungen und der Haltung zu Arbeit, Umwelt, Mensch und Gott äußern.“361

Viele erfahrene Mediziner haben die Notwendigkeit einer Diagnosekategorie beschworen, die über die einfache Posttraumatische Belastungsstörung hinausgeht. „Das Konzept einer traumatischen Neurose“, so William Niederland, „erfasst offensichtlich nicht die Vielfalt und Schwere der klinischen Symptome des Syndroms, das man bei Überlebenden des NS-Holocausts beobachtet.“362 Auch Psychiater, die Flüchtlinge aus Südostasien behandelten, erkannten die Notwendigkeit eines „erweiterten Konzepts“ der Posttraumatischen Belastungsstörung, das die schwerwiegenden Folgen lang andauernder, massiver Traumata mit einbezieht.363 Ein anerkannter Mediziner schlug vor, eine „posttraumatische Charakterstörung“ einzuführen.364 Andere sprechen von einer Posttraumatischen Belastungsstörung „mit zusätzlichen Komplikationen“.365

Auch Ärzte, die Opfer von Missbrauch in der Kindheit behandeln, haben die Notwendigkeit einer erweiterten diagnostischen Kategorie erkannt. Lenore Terr unterscheidet zwischen den Folgen eines einmaligen traumatischen Erlebnisses, dem „Typ-I-Trauma“, und den Folgen lang anhaltenden, wiederholten Traumas, dem Typ-II-Trauma. Das Typ-II-Trauma umfasst nach ihrer Beschreibung Verdrängung und psychische Erstarrung, Selbsthypnose und Dissoziation sowie ein zwischen extremer Passivität und plötzlichen Wutausbrüchen alternierendes Verhalten.366 Die Psychiaterin Jean Goodwin hat die Akronyme FEARS („Ängste“) für die einfache Posttraumatische Belastungsstörung und BAD FEARS („schlimme Ängste“) für die schwere Posttraumatische Belastungsstörung, wie man sie bei den Opfern von Kindesmissbrauch beobachtet, vorgeschlagen.367

Viele Beobachter haben somit erkannt, dass die Symptome des komplexen traumatischen Syndroms zusammengehören, und sie haben unterschiedliche Bezeichnungen dafür gefunden. Nun muss diese Störung einen offiziellen, allgemein anerkannten Namen bekommen. Momentan wird diskutiert, die komplexe traumatische Belastungsstörung auf der Grundlage von sieben diagnostischen Kriterien (siehe Kasten unten) in die vierte Auflage des Diagnosehandbuchs der American Psychiatric Association aufzunehmen. Mittels empirischer Feldstudien versucht man derzeit festzustellen, ob ein solches Syndrom bei chronisch Traumatisierten zuverlässig zu diagnostizieren ist. Die derzeitige Diskussion ist durch sehr viel größere wissenschaftliche Redlichkeit und intellektuelle Schärfe gekennzeichnet als der erbärmliche Streit um die „masochistische Persönlichkeitsstörung“.

Das komplexe traumatische Syndrom, das nun weithin anerkannt ist, hat inzwischen auch weitere Namen bekommen. Die Gruppe, die am Diagnosehandbuch der American Psychiatric Association arbeitet, hat die Bezeichnung „extreme Belastungsstörung, die andernorts nicht klassifiziert ist“ gewählt. Die International Classification of Diseases (ICD) enthält eine ähnliche Kategorie unter der Bezeichnung „Persönlichkeitsveränderung durch katastrophische Erfahrung“. Diese Namen mögen umständlich und schwerfällig wirken, doch jeder Name für das Syndrom ist besser als nichts.

Sobald das Syndrom der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung einen Namen hat, ist ein wichtiger Schritt für die Menschen getan, die lang anhaltenden Missbrauch erdulden mussten, denn ihr damit einhergehendes Leid wird dadurch anerkannt. Die Namensgebung ist der Versuch, eine Sprache zu finden, die einerseits im Einklang mit der Tradition genauer psychologischer Beobachtung steht und andererseits die moralischen Bedürfnisse traumatisierter Menschen berücksichtigt. Es ist der Versuch, von den Opfern zu lernen, die besser als alle Forscher wissen, welche Auswirkungen Gefangenschaft haben kann.

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

  1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familien-angehörigen geschlagen, als Kinder physisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.
  2. Störungen der Affektregulation, darunter
    • anhaltende Dysphorie
    • chronische Suizidgedanken
    • Selbstverstümmelung
    • aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
    • zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend)
  3. Bewusstseinsveränderungen, darunter
    • Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt
    • zeitweilig dissoziative Phasen
    • Depersonalisation/Derealisation
    • Wiederholungen des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäf-tigung
  4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter
    • Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
    • Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung
    • Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
    • Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen, oder nimmt eine nicht menschliche Identität an)
  5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter
    • ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
    • unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht: Das Opfer schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als der Arzt)
    • Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
    • Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
    • Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Täters
  6. Beziehungsprobleme, darunter
    • Isolation und Rückzug
    • gestörte Intimbeziehungen
    • wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug----)
    • anhaltendes Misstrauen
    • wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
  7. Veränderung des Wertesystems, darunter
    • Verlust fester Glaubensinhalte
    • Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung

6.3 Die Opfer als Patienten in der Psychotherapie

In den Institutionen des Gesundheitswesens trifft man zahlreiche Opfer lang anhaltenden, wiederholten Kindheitstraumas, obwohl die meisten Menschen, die in der Kindheit missbraucht wurden, nie psychiatrisch auffällig werden. Soweit sie ihr Schicksal bewältigen, tun sie dies allein.368 Zwar kommen nur die wenigsten Opfer – meist die, die schlimmste Missbrauchserfahrungen hinter sich haben – irgendwann in die Psychiatrie, doch viele, möglicherweise die meisten Patienten in der Psychiatrie, wurden in der Kindheit missbraucht.369 Die Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache. Bei einer eingehenden Befragung gaben 50 bis 60 Prozent der stationär aufgenommenen Patienten und 40 bis 60 Prozent der ambulant behandelten Patienten an, sie seien in der Kindheit misshandelt und/oder sexuell missbraucht worden.370 70 Prozent der Patienten, die im Rahmen einer anderen Untersuchung in der Notaufnahme einer psychiatrischen Klinik befragt wurden, berichteten von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.371 Somit ist Missbrauch in der Kindheit offensichtlich einer der Hauptfaktoren bei den Menschen, die als Erwachsene psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen müssen.

Die Opfer von Missbrauch in der Kindheit, die psychiatrisch behandelt werden, kommen mit einer verwirrenden Vielfalt von Symptomen. Sie sind im Allgemeinen sehr viel schwerer krank als andere Patienten. Eindrucksvoll ist allein schon der schiere Umfang der Symptome, die im Zusammenhang mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit auftreten können.372 Nach einem Bericht des Psychologen Jeffrey Bryer und seiner Kollegen erreichen Frauen, die als Kinder misshandelt oder sexuell missbraucht wurden, bei standardisierten Messungen signifikant höhere Werte als andere Patienten bei Somatisierung, Depression, allgemeinen Erregungszuständen, Phobien, Sensibilität für andere Menschen, Paranoia und „psychotischen Erscheinungen“ (wahrscheinlich dissoziative Symptome).373 Der Psychologe John Briere berichtet, dass Opfer von Kindesmissbrauch signifikant häufiger unter Schlaflosigkeit, sexuellen Störungen, Dissoziation, Autoaggressivität und Reizbarkeit leiden, stärker selbstmordgefährdet und häufiger drogen- oder alkoholabhängig sind als andere Patienten.374 Diese Liste von Symptomen ließe sich fast beliebig verlängern.

Opfer von Kindesmissbrauch, die Hilfe suchen, zeigen oft, was die Psychologin Denise Gelinas ein „verschleiertes Bild“ nennt. Sie kommen wegen ihrer vielen Symptome oder wegen Beziehungsschwierigkeiten: Parnterschaftsprobleme, übertriebene Sensibilität für die Bedürfnisse anderer und wiederholte Missbrauchserfahrungen. Allzu häufig erkennen weder Patientin noch Therapeut den Zusammenhang zwischen dem akuten Problem und den chronischen Traumata der Vergangenheit.375

Wie andere Traumatisierte erleben Missbrauchsopfer in den Institutionen des Gesundheitswesens häufig falsche Diagnosen und Therapien. Ihre zahlreichen, komplexen Symptome werden oft nur bruchstückhaft und unvollständig behandelt. Durch ihre charakteristischen Schwierigkeiten mit engen Beziehungen sind sie besonders anfällig für erneuten Missbrauch durch die Therapeuten. Manchmal kommt es langfristig zu einer destruktiven Interaktion, bei der allgemein medizinische oder psychiatrische Institutionen das Verhalten der misshandelnden Familie wiederholen.

Opfer von Missbrauch in der Kindheit hören oft viele unterschiedliche Diagnosen, bevor das zugrunde liegende Problem eines komplexen posttraumatischen Syndroms erkannt wird. Viele Diagnosen haben stark negative Konnotationen. Drei sehr unangenehme Diagnosen werden besonders häufig auf Opfer von Missbrauch in der Kindheit angewendet: Somatisierung, Borderline-Störung und multiple Persönlichkeitsstörung. Alle drei Diagnosen waren früher unter der heute obsoleten Bezeichnung Hysterie zusammengefasst.376 Patienten, zumeist Frauen, bei denen diese Störungen diagnostiziert wurden, lösen bei Ärzten und Pflegepersonal oft ungewöhnlich heftige Reaktionen aus. Man zweifelt an ihrer Glaubwürdigkeit und beschuldigt sie der Manipulation und Simulation. Sie stehen häufig im Mittelpunkt heftiger, eindeutig parteilicher Auseinandersetzungen. Manchmal erfahren sie offenen Hass.

Alle drei Diagnosen sind stark negativ besetzt. Besonders berüchtigt ist die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Bezeichnung bedeutet in vielen psychiatrischen Einrichtungen eine wohlformulierte Beleidigung. So gab ein Psychiater freimütig zu: „Als Assistenzarzt fragte ich einmal meinen Vorgesetzten, wie man bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgeht. Er antwortete hämisch: ‚Man überweist sie.‘“377 Die Bezeichnung „Borderline“, so der Psychiater Irvin Yalom, „ist ein Wort, das den ruhebedürftigen Psychiater mittleren Alters in Angst und Schrecken versetzt.“378 Laut einiger Ärzte ist der Begriff Borderline inzwischen mit so vielen Vorurteilen belastet, dass man auf diese Bezeichnung ganz und gar verzichten sollte – so wie beim einstigen Diagnosebegriff „Hysterie“, der aus selbigen Gründen fallen gelassen werden musste.

Die drei Diagnosen haben viele Gemeinsamkeiten, oft hängen sie zusammen oder überschneiden sich. Patienten mit einer der drei Diagnosen kommen gewöhnlich für verschiedene andere Diagnosen ebenfalls in Betracht. So leiden Patienten mit der Neigung zur Somatisierung häufig auch unter schwerer Depression, Agoraphobie, Panikanfällen und zahlreichen physischen Beschwerden.379 Bei der Mehrzahl wird zusätzlich eine „histrionische“, „antisoziale“ oder „Borderline“-Persönlichkeit“ diagnostiziert.380 Auch Patienten mit der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ leiden häufig unter schweren Depressionen, Drogenmissbrauch, Agoraphobie, Panik und Somatisierungen.381 Die meisten Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung sind zusätzlich schwer depressiv.382 Sehr häufig treffen auf sie auch die diagnostischen Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu.383 Außerdem klagen sie meist über zahlreiche psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, unerklärliche diffuse Schmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und hysterische Konversionssymptome. Diese Patienten erhalten im Durchschnitt drei weitere psychiatrische oder neurologische Diagnosen, bevor das zugrunde liegende Problem einer multiplen Persönlichkeitsstörung endlich erkannt wird.384

Zwar tritt bei allen drei Störungen eine erhöhte Hypnotisierbarkeit oder verstärkte Dissoziation auf, doch bei der multiplen Persönlichkeitsstörung ist diese besonders ausgeprägt. Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung verfügen über erstaunliche dissoziative Fähigkeiten. Manche ihrer besonders bizarren Symptome werden häufig fälschlicherweise als Symptome einer Schizophrenie klassifiziert.385 Sie können sich etwa durch „passiven Einfluss“ von anderen Personen beherrscht fühlen oder haben Halluzinationen von Streitgesprächen zwischen anderen Personen. Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung besitzen zwar selten solche virtuosen dissoziativen Fähigkeiten, zeigen aber auch in außergewöhnlich starkem Maße dissoziative Symptome.386 Patienten mit der Neigung zur Somatisierung sind offensichtlich ebenfalls besonders leicht hypnotisierbar und anfällig für psychogene Amnesien.“387

Patienten mit diesen drei Störungen haben auch die gleichen charakteristischen Beziehungsprobleme. Schwierigkeiten in Beziehungen wurden vor allem bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ausführlich beschrieben. Stürmische, instabile Beziehungen sind ein wichtiges Kriterium bei dieser Diagnose. Borderline-Patienten können nicht gut allein sein, halten aber gleichzeitig die Gesellschaft anderer nur schwer aus. Sie fürchten sich einerseits davor, verlassen zu werden, andererseits haben sie Angst, beherrscht zu werden. Sie schwanken zwischen zwei Extremen hin und her, zwischen Anklammern und Rückzug, zwischen unterwürfigem Gehorsam und wütender Rebellion.388 Sie gehen häufig „besondere“ Beziehungen zu idealisierten Bezugspersonen ein, in denen normale Grenzen nicht beachtet werden.389 In der psychoanalytischen Literatur wird diese Labilität auf eine psychische Fehlentwicklung in der prägenden Phase der frühen Kindheit zurückgeführt. In erster Linie, so ein bekannter Vertreter dieser Richtung, mangelt es Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung an der Fähigkeit, „Objektkonstanz herzustellen“, das heißt, sie können keine zuverlässigen und gut integrierten inneren Bilder von vertrauten Menschen ausbilden.390 Ein anderer Fachmann spricht von ihrem „relativen Scheitern in der Entwicklung bei der Herausbildung von Introjekten, die für das Selbst die Funktion einer haltenden und tröstenden Sicherheit ausfüllen könnten“, das heißt, Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung können sich nicht beruhigen oder trösten, indem sie das innere Bild einer sicheren Beziehung zu einer Bezugsperson aufrufen.391

Bei Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung findet man oft ähnlich stürmische und labile Beziehungsmuster. Da für diese Störung eine extreme Fragmentierung der Funktionen typisch ist, übernehmen oft dissoziierte „Alteregos“ die verschiedenen Rollen der hochgradig widersprüchlichen Beziehungsmuster. Auch Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung entwickeln häufig intensive, in hohem Maße „besondere“ Beziehungen, die von Grenzverletzungen, Konflikten und potenziell ausbeuterischen Tendenzen geprägt sind.392 Patienten mit der Neigung zur Somatisierung haben ebenfalls Probleme mit engen Beziehungen, darunter sexuelle Schwierigkeiten, Eheprobleme und Probleme mit der Elternrolle.393

Eine gestörte Identitätsentwicklung ist auch für Patienten mit Borderline- und multipler Persönlichkeitsstörung typisch (für die Somatisierung ist dies nicht systematisch untersucht). Die Aufspaltung des Ich in dissoziierte Persönlichkeiten ist das zentrale Merkmal der multiplen Persönlichkeitsstörung. Unter den vielen Persönlichkeitsfragmenten ist meist mindestens eine „abscheuliche“ oder „böse“ Persönlichkeit und eine sozial angepasste, unterwürfige oder „gute“ Persönlichkeit.394 Patienten mit Borderline-Störung können zwar nicht so weit dissoziieren, dass sie Persönlichkeiten abspalten, doch haben sie ebenfalls große Probleme bei der Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit. Die inneren Selbstbilder sind in extrem gute und extrem schlechte Anteile aufgespalten. Labiles Selbstwertgefühl ist ein wichtiges diagnostisches Kriterium der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die „Gespaltenheit“ innerer Selbst- und Fremdbilder gilt manchen Forschern als wichtigstes pathologisches Kennzeichen dieser Störung.395

Die drei Störungen haben eines gemeinsam: Ihr Ursprung liegt in der Geschichte eines Kindheitstraumas. Für diesen Zusammenhang gibt es teilweise eindeutige, teilweise nur schemenhaft erkennbare Hinweise. Bei der multiplen Persönlichkeitsstörung ist die ursächliche Bedeutung des schweren Kindheitstraumas inzwischen allgemein anerkannt.396 Der Psychiater Frank Putnam stellte bei der Untersuchung von 100 Patienten mit dieser Störung fest, dass 97 in der Kindheit schwere Traumata erlitten hatten, die meisten waren sexuell missbraucht und/oder körperlich misshandelt worden. In diesen furchtbaren Geschichten waren Erfahrungen mit extremem Sadismus und mörderischer Brutalität eher die Regel als die Ausnahme. Fast die Hälfte der Patienten hatte den gewaltsamen Tod eines ihnen nahestehenden Menschen mit ansehen müssen.397

Bei meinen Forschungen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung stieß ich in der Mehrheit der Fälle (81 Prozent) ebenfalls auf schwere Traumata in der Kindheit. Der Missbrauch begann meist in der frühen Kindheit, war schwerwiegend und dauerte über lange Zeit an, allerdings kam es nur selten zu so fatalen Extremen, wie sie von Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung beschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer Symptome der Borderline-Störung entwickelte, stieg mit einem frühen Beginn und besonderer Schwere des Missbrauchs.398 Der spezielle Zusammenhang zwischen Symptomen der Borderline-Störung und traumatischen Erlebnissen in der Kindheit ist inzwischen durch zahlreiche andere Studien bestätigt.399

Der Zusammenhang von Kindheitstrauma und Somatisierung ist bislang noch nicht umfassend belegt. Die Neigung zur Somatisierung wird manchmal auch als Briquet-Syndrom bezeichnet, nach dem französischen Arzt Paul Briquet, einem Vorläufer Charcots im 19. Jahrhundert. In Briquets Schilderungen von Patienten mit dieser Störung tauchen immer wieder anekdotische Hinweise auf familiäre Gewalt, Kindheitstrauma und Missbrauch auf. In einer Untersuchung über 87 Kinder unter zwölf Jahren erwähnt Briquet, ein Drittel der Kinder sei „regelmäßig misshandelt, von den Eltern streng überwacht oder in ständiger Angst gehalten worden“. Bei weiteren zehn Prozent führte er die Symptome auf andere traumatische Erfahrungen als elterlichen Mißbrauch zurück.400 Nach der Jahrhundertwende wurde der Zusammenhang zwischen Somatisierung und Missbrauch in der Kindheit lange nicht weiter erforscht, erst kürzlich wurden die Forschungen wieder aufgenommen. Eine neuere Studie über Frauen mit der Neigung zur Somatisierung kommt zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent der Patientinnen in der Kindheit sexuell belästigt wurden, und zwar meist von Verwandten. Die Studie konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf frühe sexuelle Erfahrungen; die Patientinnen wurden nicht zu körperlichen Misshandlungen oder einem insgesamt gewalttätigen Familienklima befragt.401 Eine systematische Untersuchung der Kindheitsgeschichten von Patienten mit Somatisierungsneigung steht bisher noch aus.