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Stanislav Grof

Psychonautik

Praxis der Bewusstseinsforschung

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Impressum

© 2018 Stanislav Grof

Aus dem Englischen übersetzt von Chris Heidrich und Nina Seiler

Lektorat und Redaktion: Markus Berger

Dieser Band ist eine Vorabauskopplung aus dem Werk „Der Weg des Psychonauten“, erscheint 2019 im Nachtschatten Verlag.

Druck: Druck & Verlag Steinmeier, Deiningen.

eISBN: 978-3-03788-558-1

Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck sind nur mit Genehmigung des Verlags erlaubt.

Inhalt

Die Geschichte der Psychonautik

Antike, indigene und moderne Technologien des Heiligen

Das kosmische Spiel

Erforschung der äußersten Bereiche des menschlichen Bewusstseins

Erfahrung des immanenten Göttlichen und des beseelten Universums

Erfahrung des transzendenten Göttlichen und der Welt der Archetypen

Erfahrung des höchsten kosmischen Prinzips

Der kosmische Urgrund: Suprakosmische und metakosmische Leere

Das innere Jenseits

Worte für das Unaussprechliche

Der Schöpfungsprozess

Quellen und Literaturhinweise

Über den Autor

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Die Geschichte der Psychonautik

Antike, indigene und moderne Technologien des Heiligen

Bevor wir beginnen, möchte ich einige Begriffe klarstellen, die ich in dieser Arbeit verwenden werde. Ich werde auf 60 Jahre meiner Beobachtungen und Erfahrungen in der Erforschung einer großen und wichtigen Untergruppe von nicht alltäglichen Bewusstseinszuständen zurückgreifen, die ein bemerkenswertes heilendes, transformatives, evolutionäres und heuristisches Potenzial haben. Die moderne Psychiatrie hat keinen spezifischen Namen für diese Zustände und betrachtet sie alle als pathologische Verzerrungen („veränderte Zustände“).

Schon früh in meiner Berufslaufbahn erkannte ich das große positive Potenzial dieser Zustände. Ich beschloss, für sie den Begriff „holotrop“ zu prägen, was bedeutet, dass sie sich auf die Ganzheit zubewegen (von griechisch holos = ganz und trepo/trepein = sich auf etwas zu bewegen oder von etwas angezogen werden). Das Wort Holotropie ist ein Neologismus, aber es ist mit dem weit verbreiteten Begriff Heliotropie verwandt – der Eigenschaft von Pflanzen, sich immer in Richtung Sonne zu bewegen.

Der von Mainstream-Klinikern und -Theoretikern häufig verwendete Begriff „veränderte Bewusstseinszustände ist wegen seiner einseitigen Betonung der Verzerrung oder Beeinträchtigung des „richtigen Weges des Erlebens von sich selbst und der Welt nicht angemessen (im umgangssprachlichen Englisch und im Veterinärjargon wird der Begriff „alter“ verwendet, um die Kastration von Familienhunden und- katzen zu bezeichnen). Der etwas bessere Begriff „nicht alltägliche Bewusstseinszustände“ ist zu weit gefasst und zu allgemein gehalten, da er ein breites Spektrum von Zuständen umfasst, die nicht die vorteilhaften Eigenschaften holotroper Zustände besitzen. Dazu gehören triviale Delirien, die durch Infektionskrankheiten, Alkoholmissbrauch oder Kreislauf- und Degenerationskrankheiten des Gehirns hervorgerufen werden. Diese Veränderungen des Bewusstseins sind mit Desorientierung, Beeinträchtigung der intellektuellen Funktionen und nachfolgender Amnesie verbunden; sie sind klinisch bedeutsam, aber ohne therapeutisches und heuristisches Potenzial.

Im Vergleich dazu haben die Zustände, die ich holotrop nenne, eine große theoretische und praktische Bedeutung. Das sind jene Zustände, die Schamanen-Adepten während ihrer Initiationskrisen erleben und später bei ihren Klienten zu therapeutischen Zwecken induzieren. Alte und indigene Kulturen haben diese Zustände bei Übergangsriten und für ihre Heilungszeremonien verwendet. Die Erfahrungen der Eingeweihten in den alten Mysterien von Tod und Wiedergeburt und jene, die von Mystikern aller Zeiten und vieler Länder beschrieben werden, sind weitere Beispiele holotroper Erfahrungen.

Methoden, die diese Zustände induzieren („Technologien des Heiligen“), wurden auch im Kontext der großen Weltreligionen – Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Taoismus, Islam, Judentum und Christentum – entwickelt und angewendet. Sie umfassen Meditation, Bewegungsmeditation, Atemübungen, Gebete, Fasten, Schlafentzug und sogar körperliche Schmerzen. Die wirkungsvollsten Mittel, um holotrope Erfahrungen zu erzeugen, sind psychedelische Pflanzen, reine aktive Alkaloide, die aus ihnen extrahiert werden, und synthetische Entheogene. Es gibt auch mächtige Formen der erlebnisorientierten Psychotherapie, wie Rebirthing, Holotropes Atmen und andere, die diese Zustände ohne den Gebrauch von psychedelischen Medikamenten induzieren können.

Der Begriff Holotropie deutet auf etwas hin, was für einen durchschnittlichen Westler überraschend sein könnte – dass wir in unserem alltäglichen Bewusstseinszustand nur einen kleinen Teil unseres Erfahrungspotenzials nutzen und uns des vollen Spektrums unseres Seins nicht bewusst sind. Holotrope Bewusstseinszustände haben das Potenzial, uns zu helfen – um die Formulierung des britisch-amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Alan Watts zu verwenden –, das „Tabu zu durchbrechen, zu wissen, wer wir sind und zu erkennen, dass wir keine „in Haut eingekapselten Egos sind und dass wir letztlich mit dem kosmischen Schöpfungsprinzip selbst im Einklang stehen (WATTS 1973). Pierre Teilhard de Chardin, ein französischer Paläontologe, Jesuit und Philosoph, drückte es anders aus: „Wir sind keine Menschen, die spirituelle Erfahrungen machen, wir sind spirituelle Wesen, die die Erfahrungen des Menschseins machen (TEILHARD DE CHARDIN 1975).

Diese erstaunliche Idee ist nicht neu. In der alten indischen Chandogya-Upanishade lautet die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? „Tat tvam asi“. Dieser prägnante Sanskrit-Satz bedeutet wörtlich: Du bist das oder Du bist Gottheit. Er deutet darauf hin, dass wir nicht namarupa sind – Name und Form (Körper/Ego), sondern dass unsere tiefste Identität ein göttlicher Funke kosmischer schöpferischer Energie ist, den wir in unserem innersten Wesen (Atman) tragen, das letztlich identisch ist mit dem höchsten universellen Prinzip, das das Universum erschafft (Brahman). Für die Hindus ist dies kein Glaube – eine unbegründete Überzeugung –, sondern etwas, das durch die Erfahrung bestätigt werden kann, wenn wir bestimmte konsequente spirituelle Praktiken und verschiedene Formen des Yoga befolgen.

Der Hinduismus ist nicht die einzige Religion, die diese Entdeckung gemacht hat. Die Offenbarung über die Identität des Einzelnen mit dem Göttlichen ist das höchste Geheimnis, das im mystischen Kern aller großen spirituellen Traditionen ruht. Der Name für dieses Prinzip könnte also Tao, Buddha, Shiva (im Kaschmir-Shivaismus), Kosmischer Christus, Pleroma, Allah und viele andere sein. Dies kann durch Zitate aus verschiedenen spirituellen Traditionen verdeutlicht werden.

Wir haben bereits gesehen, dass die Hindus an die essentielle Identität von Atman mit Brahman glauben und dass die Upanishaden unsere göttliche Natur durch ihr Tat tvam asi offenbaren. Swami Muktananda, der Leiter der Siddha Yoga Tradition, pflegte zu sagen: „Gott wohnt in dir als Du. In den buddhistischen Schriften können wir lesen: Schau nach innen, du bist der Buddha. Die Absicht während der buddhistischen Praxis ist nicht, etwas zu erreichen oder etwas anderes zu werden als das, was wir sind, sondern zu erkennen, wer wir bereits sind.

Im mystischen Christentum sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Der Vater, du und ich sind eins und „Das Himmelreich kommt nicht durch Erwartung; das Himmelreich ist hier und die Menschen sehen es nicht. Nach dem heiligen Gregorius Palamas: „Das Himmelreich, nein, der König des Himmels ist in uns. Der Kabbalist Avraham ben Shemu’el Abulafia verkündete: „Er und wir sind eins. In den konfuzianischen Texten lesen wir: „Himmel, Erde und Menschen sind gleich. Laut Mohammed: „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn. Und der persische Dichter Sufi Mansur Al-Hallaj, der seine eigene Göttlichkeit erkannt und den Mut hatte, sie öffentlich zu verkünden: „Ana’l Haqq – Ich bin Gott, die absolute Wahrheit, musste dafür einen hohen Preis zahlen – er wurde getötet und sein Körper wurde verbrannt.

Holotrope Erfahrungen haben das Potenzial, uns dabei zu helfen, unsere wahre Identität und unseren kosmischen Status zu entdecken; sie bieten auch tiefe Einblicke in die Natur der Realität, weit über das hinaus, was im alltäglichen Bewusstseinszustand verfügbar ist (GROF 1998). Manchmal geschieht dies in kleinen Schritten, manchmal in Form von großen Durchbrüchen. Psychonautik kann definiert werden als systematische Erforschung und Nutzung holotroper Bewusstseinszustände für Heilung, Selbsterforschung, spirituelle, philosophische und wissenschaftliche Suche, rituelle Aktivität und künstlerische Inspiration. Es ist eine Antwort auf ein tiefes Verlangen nach transzendentalen Erfahrungen, das Andrew Weil in seinem Buch Drogen und höheres Bewusstsein, als den tiefsten Antrieb in der menschlichen Psyche beschrieben hat, mächtiger als Sex (WEIL 2000).

Die Praxis, holotrope Bewusstseinszustände zu induzieren, lässt sich bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. Es ist das wichtigste Merkmal des Schamanismus, das älteste spirituelle System und die Heilkunst der Menschheit. Der Schamanismus ist sehr alt, wahrscheinlich mindestens dreißig- bis vierzigtausend Jahre; seine Wurzeln liegen weit zurück in der Altsteinzeit. Die Wände der berühmten Höhlen in Südfrankreich und Nordspanien, wie Lascaux, Font de Gaume, Les Trois Frères, Altamira und andere, sind mit wunderschönen Tierbildern geschmückt. Die meisten von ihnen repräsentieren Arten, die tatsächlich die steinzeitliche Landschaft durchstreiften – Bisons, Auerochsen, Wildpferde, Hirsche, Steinböcke, Mammuts, Wölfe, Nashörner und Rentiere. Andere sind aber auch Fabelwesen, die eindeutig magische und rituelle Bedeutung haben, wie das „Mythische Tier“ aus der Höhle von Lascaux mit langen parallelen Hörnern („Doppeleinhorn“), die aus seiner Stirn ragen und an Masken der australischen Aborigines erinnern. Und in einigen dieser Höhlen befinden sich Gemälde und Schnitzereien von seltsamen Figuren, die menschliche und tierische Züge vereinen, die zweifellos urtümliche Schamanen darstellen.

Das bekannteste dieser Bilder ist der „Zauberer von Les Trois Frères“, eine geheimnisvolle zusammengesetzte Figur, die verschiedene männliche Symbole kombiniert. Er hat das Geweih eines Hirsches, die Augen einer Eule, den Schwanz eines wilden Pferdes oder Wolfes, einen menschlichen Bart und die Pfoten eines Löwen. Eine weitere berühmte Schnitzerei eines Schamanen im selben Höhlenkomplex ist der „Beast Master“, der über die ewigen Jagdgründe herrscht, in denen es von wunderschönen Tieren nur so wimmelt. Bekannt ist auch die Jagdszene an der Wand in Lascaux. Sie zeigt einen verwundeten, ausgeweideten Bison, der mit einem Speer und einer auf dem Boden liegenden Figur durchbohrt wurde. Ursprünglich wurde sie als Jagdunfall interpretiert, bis man feststellte, dass die Figur einen erigierten Penis hat, ein unwahrscheinliches Ereignis bei einer verwundeten oder sterbenden Person, aber ein sehr häufiges Zeichen schamanischer Trance.

In der Grotte La Gabillou befindet sich die Schnitzerei einer schamanischen Figur in dynamischer Bewegung, die von den Archäologen „The Dancer“ genannt wird. Auf dem Lehmfußboden einer dieser Höhlen, Tuc d’Audoubert, fanden die Entdecker Fußabdrücke in kreisförmiger Anordnung um zwei Bison-Figuren aus Ton, die darauf hindeuten, dass ihre Bewohner Tänze aufführten, ähnlich denen, die noch heute von vielen indigenen Kulturen zur Erzeugung von Trancezuständen praktiziert werden. Die Ursprünge des Schamanismus gehen auf einen noch älteren Höhlenbären-Kult der Neandertaler zurück, wie die Tierschreine aus der Zwischeneiszeit in den Grotten des Schweizer Engadins und Süddeutschlands zeigen (CAMPBELL 1984).

Der Schamanismus ist nicht nur uralt, sondern auch universell; er findet sich in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Europa, Afrika, Asien, Australien, Mikronesien und Polynesien. Die Tatsache, dass so viele verschiedene Kulturen in der gesamten Menschheitsgeschichte schamanische Techniken als nützlich und relevant empfunden haben, legt nahe, dass holotrope Zustände sich auf das beziehen, was die Anthropologen den „Urgeist“ nennen, einen grundlegenden und ursprünglichen Aspekt der menschlichen Psyche, der Rasse, Geschlecht, Kultur und historische Zeit transzendiert. In Kulturen, die dem störenden Einfluss der westlichen Industriekultur entgangen sind, haben schamanische Techniken und Verfahren bis heute überlebt.

Die Laufbahn vieler Schamanen beginnt mit einer spontanen psychospirituellen Krise („schamanische Krankheit“). Es handelt sich um einen machtvollen visionären Zustand, in dem der zukünftige Schamane eine Reise in die Unterwelt, das