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Marie Luise Lehner

Im Blick

Roman

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Inhalt

Im Blick

Danke

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Du sitzt vor mir. Ich lege mein glattes Gesicht an und gebe nichts preis, was mich menschlich macht. So lerne ich dich kennen.

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Ich kaufe einen Kanarienvogel auf Willhaben. Ich treffe mich mit dem Verkäufer vor den großen Toren eines Gemeindebaus im zehnten Bezirk. Der Vogel kostet zehn Euro. Er bringt ihn in einer Kartonschachtel. Der Karton zittert. »Ich hab noch viele«, sagt der Mann, »wollen Sie nicht noch mehr?« Er züchtet die Vögel in seiner Wohnung. »Nein«, sage ich, »aber ich brauche einen Käfig.« Er drückt mir den zitternden Karton in die Hand, sagt: »Warten Sie« und verschwindet im Innenhof der Anlage. Ich warte, bis er mit einem großen Käfig zurückkommt. Er sagt, dem Vogel ist es lieber, wenn er während der Fahrt in der Kartonschachtel bleibt, sonst fürchtet er sich. In der Straßenbahn spricht eine fremde alte Dame die ganze Fahrt über in einer zärtlichen Fantasiesprache mit dem zitternden Karton, der im Käfig liegt.

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Du rufst mich an und sagst am Telefon, dass du unter einem Baum im Volksgarten liegst. Ich fahre also mit dem Rad alle Bäume im Volksgarten ab und entdecke dich, als dich gerade ein Gärtner darauf hinweist, dass man hier nicht liegen darf. Ich spaziere mit dir zum Burggarten. Du machst deine blondierten Haare auf. Du hast einen wippenden Gang. Ich mag deine Hüften, denke ich. Du bemerkst nicht, wie elegant du bist.

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Ich gehe in einem weißen Hemd zwischen Gästen umher. Meine Augen tränen. Im Raucherbereich muss ich sie oft schließen. Heute habe ich ein Tablett voller Gläser auf den Boden fallen lassen, ich habe jemanden angerempelt und mich selbst mit Sekt angeschüttet. Ich bin müde. Die Band spielt. Ich gehe im Takt der Musik. Die Männer tragen Anzüge: Nadelstreifen und blau, dunkelschwarz, grauschwarz, grüne Krawatte, keine Krawatte, Krawattennadel, Gürtel, schwarze Schuhe, braune Schuhe, helle Hemden. Die Frauen tragen Kleider und Kostüme, die nicht aufreizend und unauffällig sind. Ich trage mein Tablett an die Tische. Ich verwende Gesichtsausdrücke und Gesten, von denen ich weiß, dass sie gut ankommen. Ich mache Witze, die ich sofort vergesse, nachdem ich sie ausgesprochen habe. Ich nehme Bestellungen auf, sortiere Teller auf Stapel in der Küche und werfe Reste in den Abfall. Neben einer Frau, die mir gesagt hat, ich bin ihre Lieblingskellnerin, steht ein Mann. Er sieht sympathisch aus. Wahrscheinlich arbeiten sie gemeinsam. »Sind Sie so nett und bringen Sie uns noch etwas?«, fragt der Mann. »Eigentlich bin ich nicht nett, eigentlich ist es einfach mein Beruf, Dinge zu bringen«, sage ich. »Aber es ist nicht Ihr eigentlicher Beruf?«, fragt er. »Nein, es ist nur ein Gelegenheitsberuf«, sage ich, »ich bin nur gelegentlich nett.« »Und Sie, sind Sie nett? Haben Sie auch einen Beruf, in dem Sie nett sind?«, frage ich. Er sagt »Ja« und dass er auch sonst ab und zu nett ist und ich erzähle, dass ich neulich geträumt habe, wie ich einen Gast hier anschreie, »so laut, dass sich alle umdrehen«. Er fragt, ob ich mich traue, laut zu schreien, ob ich mich traue »ihr Wichser« durch den Saal zu schreien. »Nein, noch besser«, sagt er, ich soll »ihr kapitalistischen Wichser« schreien. Ich sehe mich um. Die Leute trinken Bier und Wein und essen Brötchen dazu. Eine Kollegin trägt leere Gläser und zerknüllte Servietten an mir vorbei. Das Büffet ist schon leer. Ich bin froh, dass die Band neben mir spielt, sonst hätte meine Chefin, die gerade in der Küche sein muss, sicher gehört, wie ich »ihr kapitalistischen Wichser!« in den Saal schreie.

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Ich gehe in die Bar meiner Straße, um dich vielleicht zufällig zu sehen und treffe drei Zirkusartisten. Du bist nicht dort.

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Die Zirkusartisten gehören zu einem Zirkus, der nächste Woche am Stadtrand gastiert. Einer hat rumänische Wurzeln, zwei kommen aus Spanien. Sie haben dreckige Finger und lachen mit weit geöffneten Mündern. Der Rumäne fragt mich nach einer Zigarette, so kommen wir ins Gespräch. Er erzählt, dass er einen Autoreifen mit seinen Füßen in rasender Geschwindigkeit drehen kann. Die beiden Spanier sind Akrobaten. Ich warte auf Anja, die ich, weil du nicht hier bist, angerufen habe, um nicht allein zu bleiben.

Der Rumäne erzählt mit getragener Stimme von der Zeit, als es den Bären noch gab. Der Bär hatte kein Gehege, sondern schlief mit einem Slowenen im Wagen. »Sie hatten eine innige Beziehung«, sagt er, »der Bär und der junge Mann, Alexandr, der Mann hat mit dem Bären mehr gesprochen als mit den Menschen.

Der zweite Spanier sagt, er soll nicht so romantisiert von der Beziehung sprechen. Er hat gehört, dass es sexuelle Handlungen zwischen dem Bären und dem Mann gegeben hat.

»Was für ein Blödsinn«, sagt der Rumäne, »das sagen alle, die können es nicht dabei belassen, dass sich die beiden geliebt haben.« Er wendet sich zu mir und sagt: »Platonisch.«

»Alexandr hat sich das Leben genommen«, sagt der Rumäne, »als man die Gesetze geändert hat und der Bär nicht mehr bei uns bleiben durfte.« Er sieht nachdenklich in die Luft. »In den letzten zwei Monaten, die er danach noch da war, hatte er etwas mit der Frau, die in der Pause Zuckerwatte verkauft.«

Als Anja endlich kommt und sich zu uns setzt, beginnt sie ein Gespräch mit einem der beiden Spanier. Er heißt Andrea und will uns den Zirkus zeigen. Ich sehe Anjas zitterndes Knie an seinem. Später fahren wir zusammen mit dem Nachtbus zum Stadtrand. Die Zirkusleute zeigen uns die Tierkäfige. »Ich möchte das Zelt von innen sehen«, sage ich. Es ist stockdunkel und der Rumäne, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, leuchtet uns mit seinem Telefon. Mir ist kalt. Später sitzen wir vor einem Wohnwagen. Der zweite Spanier geht ins Bett. Wir rauchen. Als uns kalt wird, gehen wir nach drinnen. Ich frage mich, warum wir so weit aus der Stadt gefahren sind, ich will nach Hause. Der Wohnwagen sieht von innen aus, als wäre hier die Zeit vor dreißig Jahren stehen geblieben. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Landschaftsfoto, im Vordergrund Pferde. Im hinteren Teil des Wagens befindet sich ein Stockbett. Auf dem unteren Bett liegt eine pinke, zusammengeknüllte Plüschdecke. Wir trinken Bier und der Rumäne schaltet einen kleinen tragbaren CD-Player ein. Er schlägt zweimal dagegen, bevor aus dem kleinen Lautsprecher französische Chansons zu hören sind. Andrea und Anja knutschen. Der Rumäne fragt mich, ob ich mit ihm einen Nachtspaziergang machen möchte. Ich sage »Nein«, weil ich keine Lust habe, schlüpfrige Fragen beantworten zu müssen. Ich glaube, er ist gekränkt, er geht allein. Als Anja und Andrea anfangen, sich gegenseitig auszuziehen, flüstere ich in ihr Ohr: »Anja, ich gehe« und »Gute Nacht«.

Anja und ich sind gemeinsam zehn.

Ich kenne Anja lange.

Ich lerne sie kennen, da pflügen wir mit der Klasse ein Feld. Einige Kinder werden vor den Pflug gespannt, andere müssen das Gerät in die harte Erde drücken. Danach tauschen wir. Anja spielt, dass sie mein Pferd ist.

Ich bin neu in der Klasse und kenne die Kinder noch nicht. Wir unternehmen einen Ausflug, ich habe eine Thermosflasche mit heißer Milch und Honig mitbekommen. Anja darf aus meiner Flasche trinken.

Meine Mutter muss in den Ferien arbeiten, also schlägt sie vor, dass ich mit einem Kind aus der neuen Schule in ein Ferienlager fahre. Ich möchte mit Anja fahren. Wir werden in ein großes, graues Haus auf dem Land geschickt. Acht Kindergruppen sind dort in Schlafsälen untergebracht, ausstaffiert mit Stockbetten. Ich habe den ersten Band von Harry Potter dabei, kann aber nicht richtig lesen. Anja kennt das Buch schon. Ich frage sie, ob sie mir das Buch laut vorlesen will. Stundenlang sitzen wir nebeneinander, Anja liest und ich sehe mir die Buchstaben an. Die anderen Kinder lachen mich aus und fragen, ob ich nicht selber lesen kann. Wir essen in einem großen Speisesaal. Die ältesten Kinder sind schon fünfzehn. Dominik ist in Sarah verliebt, das wissen alle. Ein Mädchen hat eine Zwei-Euro-Münze aus Griechenland, auf die sie sehr stolz ist. Als eines Tages alle ins Schwimmbad gehen und ich nicht mitgehen möchte, bleibt Anja mit mir im Zimmer. An einem anderen Tag gibt es ein großes Gewitter und die Mädchen aus unserem Zimmer weinen, nur Anja und ich fürchten uns nicht. Unsere Zimmerkolleginnen studieren eine Tanzchoreografie zu einem Popsong ein. Sie bringen uns die Schritte und Bewegungen bei. Bei einer der Bewegungen müssen wir unsere Haare wie einen Propeller um den Kopf wirbeln, bei einer anderen Bewegung müssen wir unsere Unterkörper wiegen und gleichzeitig in die Hocke gehen. Es ist schwierig, dabei nicht umzufallen. An einem Tag versucht sich ein fünfzehnjähriges Mädchen aus dem Nebenzimmer umzubringen. Wir stehen auf der Treppe, als sie mit der Bahre weggetragen wird. Sie hat viele Tabletten geschluckt, sagt jemand. In unserem Schlafsaal spekulieren die Kinder nachher, ob sie bewusstlos auf der Bahre gelegen ist oder sich noch bewegt hat.

Im Speisesaal sitzt immer ein älteres Mädchen mit blonden Haaren und kleiner Brille am Nebentisch, das ich heimlich beobachte. Ich finde sie schön und erzähle niemandem davon.

Jeden Tag gehen wir zu einem nahe gelegenen Reiterhof. Um die vielen Pferde voneinander unterscheiden zu können, hat man ihnen Nummern ins Fell am Hintern rasiert. Nach dem Reiten müssen wir uns in Gemeinschaftsduschen waschen, aber ich will nicht. Ich schreibe in mein Tagebuch: Ich möchte nach Hause.

Am letzten Abend gibt es eine Kinderdisco, zu der ich einen gelben Wickelrock mit Blumen und ein rückenfreies Seidentop anziehe, das mir meine Tante aus Japan mitgebracht hat. Die Mädchen aus unserer Gruppe schminken sich und ich borge mir Glitzer für die Augen aus, den ich auf meinen Rücken schmiere. Ich tanze den ganzen Abend mit Anja.

Wir liegen unter dem Tisch und lachen und kreischen.

Die Zeit fühlt sich endlos an. In Anjas Augenwinkel hat sich eine Träne gelöst.

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Die Bikekitchen befindet sich in einem Keller. Aus den Lautsprechern tönt Musik von Element of Crime. Steile Treppen führen in einen großen Raum, in dem nur Männer sind. Dort treffe ich dich wieder. An einer Wand steht eine Bar, an der anderen ein Holzofen, in dem Feuer brennt. Hinter der Bar befindet sich ein Kühlschrank, aus dem du mir eine Flasche Bier reichst. Es gibt eine Küche mit einem Herd und einer Spüle. Überall sind Sticker mit linken Sprüchen angebracht. An einer Werkbank arbeitet ein großer Mann, an dessen Hosenbeinen zur Zierde viele Plastikspritzen befestigt sind. In einem Nebenraum, in dem Fahrräder an den Wänden hängen, ziehst du neben mir an deiner Zigarette. Du küsst alle Männer, die hereinkommen, auf den Mund. Einer mit großer Brille reicht einen Joint in die Runde. Auf ihren dunklen Kapuzenpullovern tragen die Männer aufgenähte Patches. Ich sehe dir den ganzen Abend zu, wie du mit allen redest und wie sie nach und nach heimgehen. Es wird spät. Du fragst mich, ob ich Lust habe, mit dir zu schmusen. Ich sage »Ja« und gehe auf dich zu. Du gehst einige Schritte rückwärts, sodass wir in der Küche nebenan stehen, als ich dich küsse. Du drückst deinen Körper an meinen und mich gegen die Anrichte hinter mir. Ich nehme dich mit nach Hause.

Wir stehen an meiner verschlossenen Zimmertür gelehnt. Die Couchsurferin im Gästebett auf der anderen Seite der Tür kann uns hören. Deine Finger sind in mir. Ich stütze meine Hände gegen den Türrahmen. Wir sehen uns an. Ich sehe dein erschrockenes Gesicht, als ein Schwall Sekret aus mir an deinen Fingern vorbei auf den Boden stürzt. Ich bin nicht ganz hier. Wir sehen uns wie durch eine Glasscheibe. Wir sind beide verwundert. Du musterst mein Gesicht und lächelst. Wie schön, denke ich.

Ich will dich treffen. Du kannst nicht, musst arbeiten, sagst du und kommst dann doch, mitten in der Nacht. Wir trinken Kaffee, obwohl es zu spät dafür ist und halten einander in den Armen. Ich liebe es, dich zu riechen und fühle mich geborgen. In der Früh klingelt dein Wecker. Wir halten uns immer fester aneinander und tun so, als ob wir nichts hören könnten.

Am nächsten Abend liegt dein Körper nicht bei mir. Du arbeitest bis spät in die Nacht am Schnitt eines Films und schläfst in deinem Schlafsack im Atelier.

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Danach sehe ich dich lange nicht. Der Vogel, den ich gekauft habe, sitzt jeden Abend am Fenster und schaut hinaus. Mein Mitbewohner sagt, dass wir einen zweiten Vogel kaufen sollen. »Man darf Kanarienvögel nicht allein halten«, sagt er. Ich möchte keinen zweiten. Schon um diesen kümmert sich niemand ordentlich. Sein Käfig ist ständig dreckig. Wir lassen die Gittertür offen, damit er in der Wohnung herumfliegen kann. Ich schirme die Essensreste meines Mitbewohners mit einem Deckel ab und lege ein Sieb über den Topf mit kochendem Wasser, damit der Vogel nicht hineinfliegt. Wir nennen sie Alexandra. Ich weiß nicht, wer herausgefunden hat, dass der Vogel eine Sie ist.

Ich komme heim und sehe, dass das Fenster offen steht. Angeblich hat es niemand geöffnet, ich schließe es. Alexandra ist noch da. Immer wieder steht jetzt das Fenster offen. »Sie fliegt nicht raus«, wird behauptet. Als sie eines Tages weg ist, ist mein Mitbewohner sehr traurig.

Ich träume, Alexandra fliegt durch die Stadt.

Ich träume, Alexandra trinkt aus einer Pfütze am Ende unserer Straße.

Ich träume, Alexandra fliegt in einen Topf mit kochendem Wasser.

Vor zwei Wochen wollte ich dich näher kennenlernen und habe bemerkt, wie sich meine Lust steigern kann.

Als ich am Abend einem alten Mann eine Flasche Wein an den Tisch bringe, fasst er mir an die Hüfte. Seine Hand liegt knapp über meinem Po. »Nehmen Sie Ihre Hand weg!«, sage ich. Er steht zwischen seinen Kollegen und lacht.

Am achten März treffe ich eine Freundin am Urban- Loritz-Platz. Kurz darauf tragen wir ein silbern glitzerndes Banner mit der Aufschrift »Smash Sexism« vor einer großen Kolonne Demonstrantinnen her. Aus den Boxen ist die Stimme von Sookee zu hören. Es wird dunkel. Mit dem Banner vor unseren Gesichtern ziehen wir über den Gürtel die Burggasse hinunter bis zum Museumsquartier.

Ich beobachte Körper auf der Straße, mit vielen von ihnen würde ich gerne intime Momente verbringen. Ein Po, den ich mustere, fährt vor mir eine weite Strecke Fahrrad. Seit wir uns vor zwei Wochen voneinander verabschiedet haben, hast du mir nicht mehr geschrieben.

Ich wäre gerne nicht verletzlich. Ich übe das zu Hause. Beim Zähneputzen nicke ich so selbstsicher ich kann meinem Spiegelbild zu und denke: Was für eine Verschwendung von dir.

Ich verbringe viele und lange Abende mit Freundinnen in Bars.

Ich sehe so schön aus, wie ich kann.

Ich sage mir, meine Erlebnisse sind viel spannender als deine.

Ich weiß, du siehst mir nicht zu. Aber ich sehe mir zu und versuche, daran zu glauben.

Ich beginne, mich einsam zu fühlen.

In einem Traum verliere ich meine Zähne.

Dann vergesse ich dich.

Ich weiß nicht einmal mehr, wie du dich anfühlst.

Ich weiß, dass es sehr angenehm war, dich bei mir zu haben.

Auf Anhieb hab ich dich sehr gemocht.

Anja und ich sind gemeinsam elf.

Anja und ich dürfen nicht mehr in den Schulhort gehen, weil der nur für jüngere Kinder gedacht ist. Wir sitzen jetzt oft im leeren Klassenzimmer.

Wir sind in den gleichen Jungen aus unserer Klasse verliebt, weil alle in ihn verliebt sind. Das Verliebtsein bedeutet, dass wir nach der Schule über ihn reden. Das verbindet uns. Es ist schön, mit Anja von ihm zu schwärmen.

Wenn uns im Schulgebäude langweilig wird, streifen wir durch die Straßen. Oft sitzen wir auf dem Boden des verglasten Aufzugs im Einkaufszentrum und spielen mit Magic-Karten. Wenn Leute einsteigen, unterhalten wir uns während der Fahrt mit ihnen. Manchmal schicken wir Leute, die nach unten fahren wollen, mit dem Lift ins Dachgeschoss und beobachten sie durch die Glasscheibe. Nach einigen Monaten stehen Securitymänner in schwarzen Anzügen vor dem Lift, die uns immer wieder darauf hinweisen, dass wir auf den Rolltreppen nicht gegen die Fahrtrichtung laufen dürfen und uns so oft aus dem Lift vertreiben, bis wir nicht mehr kommen.

Anja kauft regelmäßig die Bravo. Sie sitzt in der Schule neben mir und ich darf blättern. Ich kenne die berühmten Leute aus der Zeitung nicht und frage Anja, wie sie heißen und wofür sie berühmt sind. Britney Spears, eine berühmte Sängerin, hat sich die Haare abrasiert. Es ist ein großer Skandal. Ich weiß nicht, warum es so schlimm ist, dass eine Frau abrasierte Haare trägt. Anja hat zu Hause einen Fernseher, darum kennt sie sich mit Prominenten aus, oft verliert sie die Geduld mit mir.

Anja muss ein Gedicht von Schiller und ich eines von Goethe auswendig lernen. Schnell ist es langweilig, die Gedichte aufzusagen. Wir rappen sie also so herablassend und selbstbewusst, wie wir können. Eine von uns kugelt meistens vor Lachen auf dem Boden. Wir lachen, bis uns die Tränen kommen oder ein nasser Tropfen in die Unterhose sickert. Als wir die Gedichte am nächsten Tag aufsagen müssen, können wir zwar beide das eigene und das der jeweils anderen, aber wir müssen jedes Mal, wenn wir versuchen, es aufzusagen, so sehr lachen, dass wir kein Wort herausbringen. Niemand versteht, was wir lustig finden, und je länger wir lachen, desto weniger können wir verraten, was so lustig ist.

Die Mädchen aus der Klasse, Anja und ich verkleiden uns oft und spielen Modenschau. Immer darf eine von uns im Takt der Musik nach vorn gehen, posieren, sich elegant umdrehen und wieder zurückstolzieren. Dazu tragen wir Stöckelschuhe, die wir in den Schuhkästen von großen Schwestern und Müttern finden. Manchmal müssen wir dicke Socken tragen, um nicht herauszurutschen. Die Mädchen, die gerade nicht gehen, stehen in einer Reihe und begutachten den Gang des Models. Sie sind die Jury und verkünden nacheinander ihre Kritik und geben Tipps, was das Model besser machen könnte. Wenn alle einmal gegangen sind, beginnen wir wieder von vorn und halten fest, was für Fortschritte die Mädchen gemacht haben.

Anja und ich sehen Harry Potter im Kino. Während die Titelmelodie erklingt und die Kamera auf Schloss Hogwarts zufliegt, habe ich Gänsehaut. Unsere Lieblingsfigur ist Hermine. Sie ist sehr klug und muss mehr als alle anderen kämpfen, um akzeptiert zu werden und zu erreichen, was den anderen in die Wiege gelegt worden ist.

Anja und ich wollen Schauspielerinnen werden, weil fast alle Mädchen in der Klasse Schauspielerinnen werden wollen, oder Model oder Tierpflegerin.

In der Schule sagen die Mädchen zu mir: »Heb mal die Hände über den Kopf!« Sie sehen mir zu, dann sagen sie: »Und jetzt, klatsch!« Ich klatsche und alle lachen. Ich verstehe zuerst nicht, worüber sie lachen. Ich schaue sie verwundert an, bevor mir bewusst wird, dass sie über die Haare lachen, die in meinen Achselhöhlen wachsen.

Ich bitte meine Mutter, mir zu zeigen, wie ich mir die Scham- und Achselhaare rasieren kann. Sie versteht, dass ich das möchte, sagt sie. Als sie ein Mädchen war, hatte sie ein unangenehmes Erlebnis im Schwimmbad. Ein erwachsener Mann hat ihr im Vorbeigehen über die Haare, die an den Seiten ihres Bikinihöschens herausgesehen haben, gestrichen. Seitdem rasiert meine Mutter alle Haare ab, die nicht von ihrem Bikinihöschen bedeckt sind.

In den Duschen im Hallenbad beobachte ich die Vulven der erwachsenen Frauen. Manche sind völlig rasiert. Einige Frauen haben sehr dichtes Schamhaar, andere tragen ein kleines Dreieck, das über dem Anfang ihrer Schamlippen endet. Manche drehen sich mit dem Gesicht zur Wand, wenn sie ganz nackt sind und schlüpfen, nachdem sie das Wasser abgedreht haben, schnell unter ihre Handtücher. Andere scheinen zu genießen, ihren Körper auszustellen. Die Frauen haben Bräunungs- und Schwangerschaftsstreifen. Sie haben Brüste, die auf ihren Bäuchen liegen und Brüste, die mit spitzen Nippeln gerade nach vorne stehen.

Ich sehe mir meinen Körper an, wenn ich allein in der Badewanne liege. Zwischen dem Schaum liegen meine Körperteile verstreut. Von einigen weiß ich die Namen nicht. Ich halte meine Schamlippen auseinander und frage mich, wo da Kinder herauskommen sollen. Ich weiß, dass das meine Scheide ist. Dieses Wort vergesse ich, als ich älter werde. Ich lerne immer wieder neue Namen dafür.

Wenn ich mein rückenfreies Top ohne BH anziehe, sehen mir alle Menschen auf der Straße nach. Meine Mama sagt, dass ich damit wie eine richtige Frau aussehe. Erst nach und nach bemerke ich den Zusammenhang zwischen den Blicken, dem Top und den Nippeln, die sich unter dem Stoff abzeichnen.

»Du kriegst ja schon Busen«, sagt mein Großvater. Er findet es nicht gut, dass ich das Dirndlkleid ohne etwas darunter trage, »weil man hineinsehen kann«.

Auch in der Klasse bekommen die ersten Mädchen Brüste. Wenn wir Turnunterricht haben, beobachten sich alle beim Umziehen sehr genau. Einige haben auffällige BHs mit Spitzen und Rüschen. Wenn eine einen BH trägt, aber noch nicht genug Busen dafür hat, finden das die anderen Mädchen peinlich und sprechen hinter ihrem Rücken darüber. Wir zeigen einander unsere BHs. Manche sind mit Watte ausgestopft. Sehr beliebt sind BHs mit Hello Kitty- oder Snoopy-Motiven, die aber trotzdem nicht mehr wie Kinderunterwäsche, sondern wie die BHs einer erwachsenen Frau aussehen.

Anja und ich wünschen uns dieselben Plateauschuhe aus dem Schuhgeschäft. Anja bekommt sie und geht damit täglich zur Schule. Ich beharre so lange darauf, bis auch ich sie haben darf. Ich kann mit den Schuhen sehr schlecht gehen, ziehe sie deshalb nur gelegentlich an und stolpere dann auf den hohen Absätzen neben den anderen her.

Ich schreibe ein Gedicht in Fantasiesprache und schreibe die Bedeutung der Wörter daneben.

Para tüpe worantee.

Hüntolite tolit lot.

Ralpanape kanadula.

Rühn potalu molente.

Mansunanda.

In den Ferien setze ich mich mit einem Stuhl vor unser rotes Telefon. Ich weiß die Nummer, die ich wähle, auswendig. Ich zähle leise mit, wie oft es klingelt. Wenn sich jemand meldet, sage ich: »Hallo, ist Anja zu Hause?«

Was wir uns erzählen: