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Nr. 3012

 

Totenschiff

 

Sie sind unbarmherzige Jäger – geboren auf einer Welt des Elends

 

Liza Grimm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Ghabar, 25. April 2003 NGZ

2. Ghabar, 1. September 2013 NGZ

3. Ghabar, 12. Juni 2018 NGZ

4. Ghabar, 16. Mai 2020 NGZ

5. Totenschiff, 24. Mai 2020 NGZ

6. Pasaul, 9. Juni 2020 NGZ

7. Totenschiff, 10. Juni 2020 NGZ

8. Tanikjom, 18. August 2020 NGZ

9. Tanikjom, 15. September 2020 NGZ

10. Gongolis, 23. September 2020 NGZ

11. Totenschiff, 25. September 2020 NGZ

12. Totenschiff, 24. Dezember 2026 NGZ

13. Totenschiff, 1. Januar 2027 NGZ

14. HORB XXI, 12. Oktober 2045 NGZ

15. Gongolis, 14. Oktober 2045 NGZ

Leseprobe PR NEO 200 – Rüdiger Schäfer & Rainer Schorm – Mann aus Glas

Vorwort

Prolog: Der Schrei der Geminga

1. 17. November 2088, 7.23 Uhr

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Die Rückkehr von seiner letzten Mission hat ihn rund 500 Jahre weiter in der Zeit katapultiert. Eine Datensintflut hat fast alle historischen Dokumente entwertet, sodass nur noch die Speicher der RAS TSCHUBAI gesichertes Wissen enthalten.

Was sich seitdem ereignet hat, ist Perry Rhodan bisher nahezu unbekannt, da es zu beinahe allem mehrere unterschiedliche Aussagen und Quellen gibt. Die Geschichte eines Geschwisterpaares kann dazu mehr verraten. Erstaunlicherweise ist aber ihr Leben eng verknüpft mit dem Tod, insbesondere dem TOTENSCHIFF ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Dva und Odin – Die Geschwister wachsen auf einer Welt des Sterbens heran.

Dancer und Schlafner – Zwei Kopfgeldjäger sind auf besondere Beute aus.

Gaivhari Gaishanc – Der Cairaner experimentiert mit Kräften des Geistes und des Lebens.

Horbitan – Der Überschwere handelt nicht nur zum eigenen Wohl.

1.

Ghabar

25. April 2003 NGZ

 

Fünfundneunzig.

Sechsundneunzig.

Sie öffnete die Augen. Über ihr blinkte ein hellblaues Licht in regelmäßigen Abständen.

Siebenundneunzig.

Ihre Atemzüge waren tief und langsam, aber ihr Puls wollte sich dennoch nicht beruhigen. Es war, als wüsste ihr Körper etwas, das ihr Verstand bislang nicht registriert hatte. Eine innere Unruhe, ein Ziehen in der Magengegend, ein Jucken am Hinterkopf.

Yerina Bouknadel zählte ihren nächsten Atemzug.

Achtundneunzig.

Das Zählen war für sie so lebensnotwendig wie die staubige Luft, die sie in ihre Lungen sog.

Neunundneunzig.

Zahlen logen nicht. Ihre Kontinuität hielt Yerina bei Verstand. Sie boten ihr Sicherheit. Ziffern wurden überall verstanden. Nummern waren beständig.

Es war das Jahr 2003 NGZ. Seit 23 Tagen lebte sie auf Ghabar. Wenn man auf diesem Planeten von Tagen sprechen konnte. Der einzige Zeitmesser, auf den sie Zugriff hatte, war die blinkende blaue Anzeigetafel über ihrem Bett.

Einhundert.

Ein letztes Mal sah sie das Aufblinken der kleinen Lampe über sich, dann schloss sie die Augen wieder. Sie brauchte Schlaf. Sie wollte Schlaf. Jeden Tag wollte sie ihn ein bisschen mehr. Ein bisschen länger. Eines Tages würde sie ihn für ewig wollen. Auch, wenn der Stoff der Decke rau und das Bett nicht mehr als ein Steinblock war.

Einhunderteins.

Ghabar war ein staubiges Grab. Ein Planet, der sich so langsam drehte, als hätte er sich der Lethargie seiner Bewohner angepasst. Die Cairaner hatten den Ort für Yerinas Deportation weise gewählt. Selbst ohne Vital-Suppressor würde sie ihren Lebenswillen verlieren.

Einhundertzwei.

Yerina wiederholte zwischen zwei Atemzügen das abscheuliche Wort in Gedanken: Vital-Suppressor. Sie dachte jeden Tag an dieses Ding.

In ihrer Vorstellung war es eine gigantische Maschine voller Schläuche, Anzeigetafeln und Rauch. Es war unwahrscheinlich, dass die Cairaner etwas erschaffen hatten, das Rauch ausstieß, das wusste Yerina. Aber Rauch gehörte für sie zum Tod. Deswegen erschien ihr der Vital-Suppressor in ihren Albträumen stets wie ein metallisches Ungetüm in einer dunklen Wolke Rauch.

Einhundertdrei.

Es spielte keine Rolle, wie das Monstrum aussah, das ihr die Lebensfreude raubte. Die Maschinen waren entworfen worden, um Gegner der Cairaner effektiv zu vernichten. Cairaner mussten nicht morden. Sie installierten ihre Wunderwaffe auf einem Planeten und sahen zu, wie das Leben langsam erlosch. Denn Vital-Suppressoren raubten das Einzige, was alle Wesen im Universum einte: den Drang zum Überleben.

Einhundertvier.

Ohne diese Kraft wollte sich niemand fortpflanzen, und auf diese Weise löschte sich innerhalb weniger Generationen ein ganzes Volk selbst aus.

Der Planet Ghabar, auf dem Yerina sich nun befand, war so gut wie ausgestorben.

Einhundertfünf.

Sie hätte sich eben nicht mit den Cairanern anlegen dürfen. Sie war eine einfache Historikerin. Eine Objektivistin, die an die Existenz von Terra glaubte, aber nie negativ in Erscheinung getreten war. Bis sie von den Vital-Suppressoren gehört und ihren Einsatz angezweifelt hatte. Bis sie den falschen Cairanern die falschen Fragen gestellt hatte.

Das hätte ich nicht tun dürfen, dachte sie zum dreihundertneunundzwanzigsten Mal, und dann: einhundertsechs.

Ein leises Schmatzen. Ein Geräusch, das für jeden, der nie einen Fuß auf Ghabar gesetzt hatte, harmlos wirkte. Für Yerina war dieses Geräusch gleichbedeutend mit einem qualvollen Tod. Sie setzte sich auf und legte instinktiv eine Hand auf den runden Bauch. Sie spürte die panischen Tritte, als wüssten die Kinder bereits, was das Schmatzen bedeutete.

Yerina zögerte nicht lange. Mit einer Hand betätigte sie den Lichtschalter, mit der anderen griff sie nach dem Glas Säure, das ihre Gastgeber ihr als Willkommensgeschenk gemeinsam mit einem Haufen lebensnotwendiger Hinweise gegeben hatten.

Sie waren es gewesen, die Yerina nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft vor einer Fraßmatte gerettet und ihr dieses Zimmer überlassen hatten. Großzügige Gastgeber. Yerina vertraute ihnen nicht.

Das grelle Licht durchflutete den kleinen Raum. Yerinas Blick fiel sofort auf das weiß-grünliche flauschige Etwas, das sich über den steinernen Boden in ihre Richtung schob. Die Fraßmatte sah aus wie eine Schaumkrone, auf deren Rücken grünbraune Pilze wuchsen. Dieses Exemplar war ungefähr so groß wie Yerinas Oberkörper.

Klein und schnell zu vernichten. Wahrscheinlich ist es durch eine undichte Stelle ins Haus gelangt.

Die Kolonie aus Pilzen und Bakterien ließ sich von dem Licht nicht irritieren. Unaufhaltsam schob sie sich näher an das Bett heran.

Sobald eine solche Fraßmatte ein Lebewesen berührte, sonderte sie ein Gift ab, das ihre Beute bewegungslos machte. Anschließend verleibte sich die Fraßmatte ihr Opfer ein.

Yerina zögerte nicht lange. Sie zielte und schüttete die Säure auf den Eindringling. Ein Zischen erklang, gefolgt von einem hohen Laut, der Yerinas Haare zu Berge stehen ließ. Von der Fraßmatte blieb nicht mehr als eine modrig riechende Pfütze.

Der Geruch stieg ihr in die Nase und drehte ihr den Magen um. Sie lehnte sich zur Seite und übergab sich.

Schlimmer kann diese Nacht nicht werden, dachte sie und lehnte sich zitternd zurück.

Dann setzten die Wehen ein.

2.

Ghabar

1. September 2013 NGZ

 

»Den Letzten kriegen die Atemdiebe!«, schrie Dva und flitzte los. Sie sprang über einen Felsbrocken, quetschte sich zwischen zwei senkrecht verkeilten Steinen hindurch und setzte zum Sprint an. Hinter sich hörte sie Schritte, die unaufhaltsam näher kamen.

Ich verliere nicht schon wieder, dachte sie und schickte alle Kraft in ihre Beine.

Ihr Mitstreiter überholte sie und war ihr sofort wenige Schritte voraus, sein dunkles Haar wehte hinter ihm her. Er drehte sich um und schnitt ihr im Lauf eine Grimasse. Seine dunkelblauen Augen leuchteten geradezu.

Dva spürte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper, sie kannte jede Bewegung, und sie wusste, wie sie schneller werden konnte. Trotzdem verlor sie.

Ihr Bruder Odin blieb kurz stehen, um zu demonstrieren, wie viel Vorsprung er gewonnen hatte, dann streckte er die Hand aus und berührte den Felsen, den sie als Ziel auserkoren hatten.

»Schon wieder verloren, Kleine.« In Odins Gesicht stand ein breites Grinsen.

Sie streckte ihm die Zunge raus.

15 Minuten, schoss es ihr durch den Kopf. Nur eine verdammte Viertelstunde!

Wäre sie nur 16 Minuten früher geboren werden, wäre sie der ältere Zwilling. So musste sie sich seine herablassenden Kommentare anhören, seit sie sprechen konnten.

Wäre sie nur einmal schneller gewesen! Einmal nicht die Nummer Zwei. Als ihr Name nicht genügte, um ihren Platz im Leben zu definieren. Angeblich entstammten ihre Namen einer alten terranischen Sprache und bedeuteten Eins und Zwei. Als ob ihre Mutter geahnt hätte, dass Dva stets an zweiter Stelle stehen würde. Manchmal glaubte Dva, dass ihr Name ein Fluch war.

»Du hast geschummelt.« Sie strich sich ihre ebenfalls dunklen Haare aus der schweißnassen Stirn.

»Das behauptest du jedes Mal.« Odin ließ sich auf den Boden fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen. Die Sonne kroch tief am Horizont entlang, wie immer. Sie schickte ihr dämmriges Licht über die karge Landschaft und färbte den staubigen Himmel rot. »Dabei bist du diejenige, die ohne Vorwarnung losrennt. Eines Tages wird dich wirklich ein Atemdieb fangen. Oder du wirst in den Schlund einer Fraßmatte stolpern.«

Dva verdrehte die Augen. »Lass uns zurückgehen«, schlug sie vor und streckte sich demonstrativ. »Ich werde langsam müde.«

Sofort sprang Odin auf und sah besorgt auf sie herunter. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie, aber er benahm sich, als würde er Dva um zwei Köpfe überragen. Sie hasste das.

»Müde wie Mama?«

»Müde wie müde«, antwortete Dva gereizt. Sie drehte sich um und wollte sich auf den Heimweg machen, aber Odin hielt sie an einem Arm fest. Dva wollte gerade aufbegehren, da hörte sie es: ein Schmatzen. Ihre Muskeln spannten sich an.

»Hörst du das?«, flüsterte sie und sah zu ihrem Bruder, der einen Zeigefinger vor die Lippen legte und nickte.

Sie befanden sich nahe an der Siedlung. Zu nahe, als dass sie mit einer wirklich gefährlichen Fraßmatte gerechnet hätten. Die Ungetüme, die sich in die Nähe der Häuser wagten, wurden zerstört und erhielten keine Gelegenheit, zu ihrer vollen Größe zu wachsen. Die meisten Fraßmatten hatten das gelernt. Soweit diese lebendigen Teppiche aus Bakterien und Pilzen lernen konnten.

Doch das Exemplar, das sich vor Dva und Odin in einer für die Spezies beeindruckenden Geschwindigkeit über den Boden schob, schien diese Lektion nicht gelernt zu haben oder schlichtweg zu ignorieren. Vielleicht hatte sie auch einen Plan, wie sie der tödlichen Säure entkommen konnte.

Dva hätte sich darüber nicht gewundert. Auf Ghabar geschahen oft unvorhersehbare Dinge. Eine denkende Fraßmatte wäre nicht das Seltsamste, das die Zehnjährigen in ihrem bisherigen Leben gesehen hatten.

»Hast du sie dabei?«, fragte Odin und musterte Dva.

Sie trug ebenso dünne Kleidung wie er. Keine Taschen. Keine rettende Säure. Sie hatte nicht mit einem Angriff gerechnet, so wenig wie er. Hinter ihnen erstreckte sich die Felswand, vor ihnen kam die Fraßmatte rasch auf sie zu.

Die Blicke der Zwillinge begegneten sich. »Wir haben keine Säure und schon gar keinen Desintegrator«, sagte Odin wütend.

Dva nickte nur. »Dann bleibt uns nur eines.«

Sie rannten los, blieben dabei so dicht wie möglich an der Felswand und so schnell sie konnten. Die Fraßmatte verfolgte sie und kam gleichzeitig näher. Sie war schneller als die beiden Kinder.

Dva sah zwischen den Felsen und dem Ungetüm hin und her.

Wir schaffen es nicht rechtzeitig, dachte sie. Panik kroch durch ihre Eingeweide. Ihr wurde übel.

Plötzlich blieb Odin stehen, und sie stolperte in ihn hinein. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte ihr, dass er zum gleichen Schluss gekommen war. Er sah die Felswand hinauf.

»Stütz mich!« Seine Stimme ließ keine Widerworte zu. Sie hatten das schon oft getan.

Dva stellte ein Knie nach vorne, verschränkte ihre Hände ineinander und Odin trat mit einem Fuß darauf. Innerhalb weniger Atemzüge hatte er sich über die Felskante gezogen und hielt Dva seine Hände hin.

Das Schmatzen kam näher und wurde lauter. Dva drehte sich nicht zu der Fraßmatte um, sondern griff nach Odin und ließ sich nach oben ziehen.

Ihre Finger bekamen die harte Felskante zu fassen, sie hievte sich nach oben. Atemlos drehte sie sich auf den Rücken und starrte in den roten Himmel.

Die Fraßmatte schmatzte lauter.

Odin spähte über die Felskante und fluchte. »Sie kommt hier hoch.«

Sofort war Dva auf den Beinen und sah ebenfalls nach unten. Die Fraßmatte bedeckte den rötlichen Boden vollständig. Eine einzige, flauschig weiße Fläche, deren vordere Kante sich senkrecht an der Wand nach oben schob.

Dva zögerte nicht lange. Sie drehte sich um, packte ihren Bruder an der Hand und rannte mit ihm Richtung Siedlung. Kleine quadratische Steinhäuser drückten sich in den roten Staub. Dicke schwarze Kabel schwangen sich von Dach zu Dach, und ein einzelner hoher Aussichtsturm erhob sich in der Mitte.

Als sich die Zwillinge näherten, sahen sie einige Terraner, die sich auf dem runden Platz vor dem Turm versammelt hatten und gelangweilt vor sich hinstarrten. Die meisten Bewohner hielten sich in ihren Häusern auf und schliefen. Auf Ghabar schlief der Großteil der Bevölkerung.

»Fraßmatte!«, brüllte Odin.

Einige Köpfe drehten sich langsam in ihre Richtung. Sonst taten die Menschen nichts. Als wären ihre Muskeln erstarrt. Dva hasste diese Bewegungslosigkeit. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Die Fraßmatte kam näher.

»Odin«, flüsterte Dva verzweifelt. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie schluckte.

Ihr Bruder stand nicht mehr neben ihr. Langsam wich sie vor der Fraßmatte zurück und kramte verzweifelt in ihrem Gedächtnis nach einer Lösung. Keiner der Erwachsenen kam ihr zur Hilfe.

Plötzlich war ihr Zwillingsbruder wieder neben ihr.

»Nimm das!« Er drückte ihr ein Glas mit Säure in die Hand.

Verzweifelt sah Dva zwischen dem Glas und der gigantischen Fraßmatte hin und her. Sie zweifelte daran, dass diese geringe Menge Flüssigkeit etwas gegen solch ein Ungeheuer ausrichten konnte. Ihr Griff um das kühle Glas verstärkte sich.

Ihre Mutter hatte diese Situation oft mit ihnen geübt. Sie fürchtete sich sehr vor den Fraßmatten. Eine Berührung mit dem flauschig aussehenden Teppich, und man fiel bewegungsunfähig um. Wurde bei vollem Bewusstsein von den Bakterien zersetzt. Zu Nahrung verflüssigt. Aufgesaugt.

Die Vorstellung, ihre Muskeln nicht mehr bewegen zu können, versetzte Dva in Panik. Sie starrte ihrem persönlichen Albtraum entgegen, während Odin hinter ihr Befehle schrie. Dva nahm seine Worte nur dumpf wahr und verstand ihre Bedeutung nicht.

Schließlich hatte die Fraßmatte sie fast erreicht. Dva holte aus. Die Tropfen flogen durch die Luft, funkelten, trafen auf die grünbraunen Pilze und den weißen Schimmel. Ein Zischen. Ein Schrei. Die Fraßmatte bewegte sich weiterhin auf sie zu. Das Loch, das die Säure gefressen hatte, füllte sich langsam mit neuen Pilzen. Entsetzt stolperte Dva zurück.

Es gab kein Entkommen. Sobald eine Fraßmatte ihr Opfer gewählt hatte, verfolgte sie es, bis es erschöpft zusammenbrach. Erschöpfung überkam die Bewohner Ghabars schnell.

»Jetzt!« Odins Ruf klingelte in ihren Ohren. Unzählige Tropfen flogen durch die Luft. Die Fraßmatte zischte. Bläschen stiegen auf. Fauliger Gestank. Das Monster bewegte sich nicht mehr.

Dva blinzelte und sah zu Odin, der sie stolz angrinste.

»Ich habe die Säure aller Häuser eingesammelt und verteilt«, erklärte er. Die Terraner um sie starrten mit glasigen Augen auf die grünbraune Pfütze, die sie fast alle verschlungen hätte.

Mit einem lauten Schluchzer fiel Dva ihrem Bruder um den Hals. Sie zitterte.

Zum Glück hatten sie einen wachen Tag. So bezeichnete Odin es, wenn sie klar dachten und Probleme direkt bekämpften. Das war nicht immer möglich.

Manchmal waren sie beide so erschöpft, dass ihnen sogar einfache Dinge schwerfielen. Dann waren sie wie alle anderen auf Ghabar. Langsam, kraftlos, müde.

Doch diesmal waren sie wach. Und das hatte ihnen allen das Leben gerettet.

Dva sah sich mit Tränen der Erleichterung in den Augen um. Es wirkte nicht so, als wäre jemand außer ihnen beiden dankbar, dass sie alle noch lebten.

Ihr Blick fiel auf eine hohe Gestalt, die sie aus gelben Augen mit waagrechten Pupillen musterte.

3.

Ghabar

12. Juni 2018 NGZ

 

»Du hast es versprochen«, erinnerte Dva. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Odin legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Sie ließ es geschehen, ohne sich darüber zu ärgern, dass er wieder einmal den älteren Bruder spielte.

»Die Testphase ist nicht beendet«, antwortete Gaivhari Gaishanc. Seine goldene Haut wirkte im Licht der hellen Lampen fahl, was die dunklen Flecken betonte, die seinen Körper bedeckten. Der Cairaner stand hinter einer Glasscheibe und sah emotionslos auf Dva und Odin hinab, die sich in einem abgesenkten Metallraum befanden.

Dva erinnerte sich noch genau daran, wie sich seine verhornten Lippen zu einem Lächeln krümmten, als ihre Mutter den Vertrag unterschrieb, der sie an dieses Labor kettete. Sie erinnerte sich, wie sein rauchiger Gestank in ihre Nase kroch und sie instinktiv mehrere Schritte zurückwich, als er auf sie zukam, um sie näher zu betrachten. Doch am meisten war ihr der hoffnungsvolle Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung geblieben.

»Fünf Jahre!« Dva spuckte gegen die Scheibe.

Gaivhari blinzelte nicht einmal.

Dva unterdrückte den Drang, ihre Kräfte einzusetzen. Es wäre eine leichte Arbeit, seine Muskeln in Bewegung zu versetzen. Dabei war es ihr egal, ob er dadurch fallen oder sich selbst eine verpassen würde. Genau genommen würde es ihr sogar genügen, wenn er sich kurz vor sich selbst erschreckte.

Aber wenn sie seine Kräfte gegen ihn einsetzte, würde sie den Vertrag brechen, der ihr einziger Ausweg war. Dann wären sie für immer seine Gefangenen.

»Die Testphase ist noch nicht beendet«, wiederholte Gaivhari und faltete seine behandschuhten Hände ineinander. Er hatte vier, und diesen Umstand betonte er zu jeder sich bietenden Gelegenheit, indem er seine Arme entsprechend positionierte.

Die Cairaner waren stolz auf ihre Gespürhände; soweit Dva wusste, galt das für alle Angehörigen dieses Volkes. Um diese feingliedrigen Hände wurden sie von vielen Angehörigen anderer galaktischer Völker beneidet. Vier Finger hatten sie plus zwei außen liegende Daumen.

Dva hatte Gaivhari bisher nie seine Gespürhände benutzen sehen. Er verwendete stets die kräftigen Außenhände, um seinen Alltag zu bewältigen.

Oft fragte Dva sich, ob die Gespürhände vielleicht nicht mehr als ausgestopfte Handschuhe waren.

»Wenn du uns nur einen ungefähren Zeitraum nennen könntest ...«, versuchte es Odin auf höfliche Weise. »Seit du uns mit dem Paragewebe ausgestattet hast, haben wir viel gelernt. Wir können unsere Kräfte besser einsetzen, und wir haben jeden Test über uns ergehen lassen. Wir wollen nicht undankbar erscheinen. Wir sind dankbar dafür, diese Chance bekommen zu haben, und vor allem dafür, dass du uns so vor dem Vital-Suppressor und seinem Einfluss bewahrt hast.«

Dvas Nacken juckte, und sie widerstand dem Drang, sich zu kratzen. Stattdessen knirschte sie mit den Zähnen. Sie hasste es, wenn Odin vor diesem Cairaner im Staub kroch.

»Aber es reicht«, fügte sie hinzu.

Wir wissen genug, dachte sie wütend. Und wir haben genug gegeben.

»Beginnen wir mit dem nächsten Test«, sagte Gaivhari. Wie immer tat er so, als hätte er ihr Flehen nicht gehört.

Dva biss sich auf die Unterlippe.

»Kämpft dieses Mal, ohne eure Psi-Kräfte zu benutzen.«

Er senkte die Hände, und Dva wusste, dass sich nun die Klappe in der hinteren Ecke des Raumes öffnete. Sie hörte das verhasste Rattern und das leise Piepen ihres Halsbandes, das so seine Bereitschaft signalisierte. Das warme Metall schmiegte sich an ihren Hals, und vor allem nachts fühlte es sich an, als würde es ihr die Luft abdrücken. Es maß ihre Vitalfunktionen und übermittelte alle Daten direkt an Gaivhari, der ihren Kampf stets unbeeindruckt durch die Glasscheibe beobachtete.

Dva warf Odin einen Blick zu. Ihr Zwillingsbruder hatte sich bereits in Kampfstellung begeben. Ganz gleich, wer diesmal ihr Gegner sein würde: Dva verließ sich darauf, dass sie es gemeinsam mit Odin schaffen würde.

Nur noch ein Kampf, log sie sich selbst vor. Dann dürfen wir diese verdammte Welt verlassen.

Aus der Klappe trat ein drahtiger Terraner in ihrem Alter. Er hatte dunkle Haare und mehrere Narben im Gesicht. In seinen Augen erkannte Dva aber etwas, das die Zwillinge auf Ghabar bisher nur beieinander gesehen hatten: Lebenswille.

 

*

 

»Diva.«

Sie liebte, dass er ihr einen eigenen Namen gegeben hatte. Einen Namen, der nicht für Nummer Zwei stand. Etwas Eigenes. Trotzdem starrte sie weiterhin an die Decke.

»Bitte, red mit mir!«, flüsterte Odin.

Aber sie wollte nicht. Nicht, nachdem er den Kampf allein bestritten und sie dazu in eine Ecke verbannt hatte, als wäre sie ein Kleinkind.

Wieso habe ich auf ihn gehört?, schalt sie sich selbst. Ich hätte gemeinsam mit ihm kämpfen sollen.

»Gaivhari hätte uns auch nicht gehen lassen, wenn du gekämpft hättest«, fuhr Odin fort. »Das weißt du. Es ist nur eine Ausrede, um uns hier zu behalten. Ich wollte nicht, dass du dich verletzt. Der Kerl sah kampferprobt aus.«

Dva drehte sich demonstrativ zur Seite, sodass sie an die Metallwand starrte, die sie seit Jahren von der Freiheit trennte. Nicht, dass die Freiheit auf Ghabar besonders erstrebenswert gewesen wäre. Diese Welt war hassenswert. Ein Haufen Staub und Dreck, der sich langsam drehte. Darauf ein Vital-Suppressor, was immer das genau sein mochte, der den Bewohnern Ghabars jegliche Energie aussaugte.

Im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Dva bitter.

Dank Gaivhari und dem Paragewebe, das er ihnen eingesetzt hatte, hatten sie viel gewonnen. Sie waren nicht nur gegen die Vital-Suppressoren immun, sondern hatten auch einzigartige Fähigkeiten entwickelt. Fähigkeiten, deretwegen Gaivhari sie nun festhielt, da war Dva sich sicher.

»Bitte ...« Sie bemerkte Odins Hand an ihrer Schulter.

Unwillkürlich griff ihr Verstand in seine Muskeln, drückte auf das empfindliche Gewebe. Sofort zuckte Odin zurück.

»Na schön«, murmelte er. Es klang wie eine Drohung.

Sofort spürte sie, wie sich eine bleierne Müdigkeit in ihre Glieder schlich. Ihre Augenlider wurden schwer.

»Du...«, setzte sie noch an, dann schlief sie ein.

 

*

 

Als sie wieder erwachte, registrierte sie als Erstes das Gewicht, das ihre Matratze am Fußende nach unten drückte. Sie blinzelte, setzte sich auf und sah Odin wütend an.

»... sollst deine Kraft nicht gegen mich verwenden«, vollendete sie den Satz, der durch seinen Müdigkeitsangriff unterbrochen worden war. »Ich hasse das.«

»Du hast angefangen«, sagte er kühl und verschränkte die trainierten Arme vor der Brust. »Grundlos, wenn ich dich erinnern darf.«

Schritte erklangen. Müde Füße auf kaltem Metall. Sofort schwang Dva die Beine über die Bettkante und fixierte mit ihrem Blick die Tür aus Gitterstäben.

»Odin! Dva!« Mutter klang erschöpft. Wie immer. Sie stand vor den Gitterstäben, klammerte sich mit ihren schlanken Fingern an ihnen fest. Die Augen waren ebenso auffallend hellblau wie die ihrer Tochter, die schwarzen Haare wirkten glanzlos.

Dva sprang auf und eilte zu ihr. Am liebsten hätte sie Yerina umarmt, aber das Gitter ließ es nicht zu. Abwartend blieb sie stehen.

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Illustration: Swen Papenbrock

»Gaivhari hat mir erzählt, was passiert ist.« Yerina schüttelte leicht den Kopf. »Er bat mich, euch Vernunft beizubringen.«

Sie griff durch die Lücken zwischen den Gitterstäben und nahm Dvas Gesicht in beide Hände. Dva ließ es geschehen. Am liebsten hätte sie geweint, aber sie unterdrückte die Regung.

»Dank Gaivhari habt ihr Lebenswillen«, flüsterte Yerina.

Dva antwortete mit einem Schnauben.

»Er hat uns ausgewählt, weil wir Lebenswillen hatten«, widersprach Odin und trat neben seine Schwester.

»Das stimmt«, sagte Yerina. »Aber je älter ihr wurdet, desto häufiger merkte ich euch die Auswirkungen des Vital-Suppressors an. Deshalb habe ich dem Experiment zugestimmt. Bitte, tut, was Gaivhari sagt. Er hat mir versprochen, dass er uns bald gehen lassen wird. Nur noch wenige Tests.«

Wütend ging Dva einen Schritt zurück und ballte die Hände zu Fäusten. »Das verspricht er seit Jahren! Nur noch wenige Tests. Immer und immer wieder. Seit Ewigkeiten.«

Sie musterte Yerina sorgenvoll. Je länger ihre Mutter sich auf Ghabar aufhielt, desto blasser wurde sie. Es war nicht nur die Haut, die an Farbe verlor. Alles an Yerina wurde lebloser. Lippen, Haare, selbst der Blick.

Dva spürte einen Stich im Herzen. Eines Tages wird sie einfach nicht mehr aufstehen, dachte sie. Wie so viele.