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Nr. 3016

 

In den Augen des Riesen

 

In Icho Tolots Festung – ein unheimlicher Gegner schlägt zu

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Schöne Aussichten

2. Schlechte Aussichten

3. Konferenzsaal Eins-Drei

4. Krikkit und Hornring

5. Das Parlament

6. Jäger und Gejagter

7. Die Begegnung

8. In den Augen des Riesen

9. Vorbereitungen

10. Offenbarungen

11. Der Kampf

12. Zuallerletzt

13. Nachbesprechung

Leseprobe PR Mission SOL – Kai Hirdt – Das Raumschiffgrab

Vorwort

Prolog: 28. August 1552

1. Sechs Tage früher, 22. August 1552 NGZ

2. 22. August 1552 NGZ

3. Vielleicht der 22. August 1552 NGZ

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Die Rückkehr von seiner letzten Mission hat ihn rund 500 Jahre weiter in der Zeit katapultiert. Eine Datensintflut hat fast alle historischen Dokumente entwertet, sodass nur noch die Speicher der RAS TSCHUBAI gesichertes Wissen enthalten.

Was sich seitdem ereignet hat, ist Perry Rhodan bisher nahezu unbekannt, da es zu fast allem mehrere unterschiedliche Aussagen und Quellen gibt. Nach einigen Abenteuern hat er nun das gegenwärtige Zentrum der Liga Freier Galaktiker erreicht: das Ephelegonsystem. Dort begegnet er alten Freunden IN DEN AUGEN DES RIESEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Resident der Liga Freier Galaktiker nutzt die Gunst des Augenblicks.

Perry Rhodan – Der Terraner hält die Augen offen.

Icho Tolot – Der Haluter öffnet seine Augen für einen alten Freund.

Thosen Musay – Der Informationsmediator kann sich auf seine Augen nicht immer verlassen.

1.

Schöne Aussichten

 

Das war also die Stadt: Neu-Terrania.

Perry Rhodan blickte durch das Frontfenster in Richtung der aufgehenden Sonne Ephelegon. Dunstiger Nebel lag über manchen Teilen des städtischen Konglomerats. Höhere Gebäude glänzten und glitzerten bereits im Sonnenglast. Ein neuer Tag begann, der ein weiteres Kapitel seiner persönlichen Geschichte aufschlug.

Rhodan kostete vorsichtig vom brühwarmen Kaffee, den ihm ein leise sirrender Roboter mit langen Tentakelhänden überreicht hatte. Der Roboter, auf dessen Körper eine Art Logo oder Namensschild mit der Aufschrift Olio prangte, und der sich auch so anreden ließ, war menschenähnlich, mit bauchigem Leib und etwa so groß wie ein Sechsjähriger. Er verschränkte nun seine vier Hände und blieb abwartend neben Rhodan stehen.

Der Kaffee schmeckte anders als der, den er seit Jahrhunderten gewöhnt war. Er war bitter und fruchtig zugleich, und er hatte eine hölzerne Beinote.

»Machen wir bitte noch eine Runde«, verlangte Rhodan.

»Dein Gedächtnis ist nicht sonderlich gut«, sagte Olio respektlos. Die metallenen Kiefer klapperten mit jedem Wort leise aufeinander. »Ich habe dir die wichtigsten Strukturen und Stadtteile von Neu-Terrania bereits zweimal beschrieben.«

»Ich bin ein alter Mann«, erwiderte Rhodan und lächelte.

»Du bist ein Unsterblicher!«

»Aber ich habe kein eidetisches Gedächtnis. Du hast mir während der letzten Minuten geschätzte dreihundert Begriffe an den Kopf geworfen.«

Olio seufzte theatralisch. »Warum tue ich ausgerechnet in der Solaren Residenz Dienst? Ich hätte mich für die Augen des Riesen melden sollen ...«

»Du kennst Icho Tolots Festung?«, hakte Rhodan ein und betrachtete die Maschine überrascht.

»Ja«, antwortete Olio. »Lass uns aber jetzt den Rundgang machen.«

Rhodan drang nicht weiter in die Maschine. Der Roboter hatte wohl Anweisung, nicht mehr über die Augen des Riesen zu verraten als unbedingt notwendig.

Wer hat ihm den Auftrag gegeben, mich mit Informationen kurzzuhalten? Etwa Reginald?

Misstrauen, das Rhodan längst überwunden geglaubt hatte, erwachte neu. Durfte er sich denn sicher sein, dass Reginald Bull das Richtige tat? Dass sein ältester Freund auf Rudyn tatsächlich einen Kontrapunkt zu dem Regime der Cairaner aufgebaut hatte? Oder spielte er ein eigenes Spiel, gesteuert vom chaotarchischen Zellaktivator, den er in sich trug?

Rhodan verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Bully hatte sich seit ihrem Wiedersehen herzlich gezeigt. Manchmal aufbrausend, einige Male höchst direkt, aber letztlich immer ehrlich und offen. Es gab nichts, das Anlass zu Argwohn gab.

Die Sonne schob sich als Halbkugel über den Horizont, zum Teil von einem Gebäude verborgen, das aus der Masse hervorstach. Es handelte sich um ein hufeisenförmiges Ding, das mehrere Hundert Meter hoch war und vom aufgehenden Gestirn in gelbe, weiche Farben getunkt wurde.

»Das Homer-G.-Adams-Zentrum«, sagte Rhodan leise. »Ein Gebäude, das einem Transmitterbogen ähnelt. Ein Handelsmarkt. Es hätte Homer gefallen.«

»Richtig«, sagte Olio. »Etwas südlich davon erkennst du die Pyramide des Barnitischen Handelszentrums, nördlich davon Atlans Place.«

»Drei große Kelche, die das arkonidische Viertel kennzeichnen«, sinnierte Rhodan

Er bedauerte, dass Atlan nicht zugegen war. Seinem Freund hätte Neu-Terrania Freude bereitet. Diese bunte Mischung aus unterschiedlichsten Baustilen, gestaltet von Architekten und Stadtplanern mehrerer Hundert Völker, hätte dem Arkoniden das Herz aufgehen lassen.

»Was ist das?«, fragte Rhodan und deutete auf unzählige schwarze Pünktchen, die sich, aus dem Süden kommend, über der Stadt verteilten.

»Die Morgenlieferungen«, antwortete Olio.

»Das heißt?«

»Es handelt sich um mehrere zehntausend selbststeuernde Container, die Frischwaren aus einer riesigen Depotanlage in der Nähe des Hekéner-Sharoun-Raumhafens verteilen. Manche von ihnen docken an Nahversorgungsanlagen an, andere liefern individuell an Kunden aus oder laden die Güter an Transmitter-Verteilungszentren ab. Obst, Gemüse, Fleisch und Fleischersatz ...«

»Gibt es Speierlinge auf Rudyn?«, unterbrach Rhodan den kleinen Roboter. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Speierling mehr gegessen.«

Olio schwieg eine Weile. »Ich finde keine Informationen darüber in meinen Speichern.«

»Der Speierling gehört zu den Rosengewächsen. Er ähnelt äußerlich einem Apfel und ist geschmacklich sehr herb. Aber nur im reifen Zustand. Erntet man ihn zu früh, schmeckt er so, wie er heißt.«

»Warum willst du ausgerechnet einen Speierling? Ich kann dir terranische Äpfel anbieten, Birnen, Maulbeeren, Stachelbeeren, Kiwanen und Erdzwetschgen ...«

»Ich bin mir sicher, dass Neu-Terrania dies alles und viel mehr zu bieten hat.« Rhodan nickte. »Aber Rudyn ist nun mal nicht Terra. Es ist nicht die Heimat.«

Er schloss die Augen und versuchte, diesen plötzlichen Anfall von Wehmut zu unterdrücken. Er hatte viel Zeit weit weg von der Erde verbracht und unzählige Welten sowie Kulturen zu schätzen gelernt. Letztlich war es die Heimat, die ihn geformt und geprägt hatte. Auf Terra war er verwurzelt, dorthin kehrte er immer wieder zurück.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Olio kleinlaut. »Nicht alle Waren sind in meinen Datenspeichern erfasst. Mag sein, dass es irgendwo Züchter gibt, die für den Selbstbedarf seltene Früchte heranziehen.«

»Dann würde ich an deiner Stelle bei Schnapsbrennereien zu suchen beginnen«, sagte Rhodan. »Speierlinge wurden zur geschmacklichen Verfeinerung von edlen Bränden hinzugefügt.«

»Ich kümmere mich darum. – Sollen wir den Rundgang fortsetzen?«

»Ich bitte darum.« Rhodan drehte sich einmal um die eigene Achse. Er hatte beinahe nach allen Richtungen freie Sicht. Der Gästetrakt, der ihm von Bull zur Verfügung gestellt worden war, war in die Solare Residenz integriert. Der kreisrunde Schlafraum maß etwa acht Meter im Durchmesser.

Westlich der Residenz lag Genzez, lange Zeit die Hauptstadt von Rudyn. Mittlerweile hatte ihr aber Neu-Terrania den Rang abgelaufen. Weiter im Süden wusste Rhodan irgendwo den Finsteren Ozean, unmittelbar im Norden faltete sich das Charistargebirge auf über fünftausend Meter auf.

Wohin Rhodan auch blickte – er bekam neue und oftmals ungewöhnliche Eindrücke vermittelt. Sensationelle städtische Strukturen und bizarre Naturschönheiten. Weitläufige Parkanlagen und Seen wie den Lake Tethys, über dem die Solare Residenz schwebte. Ungezähmte Natur.

Reizvoll erschienen Rhodan vor allem die Steppen im Norden, in denen sich heimische Tierarten tummelten.

Neu-Terrania wies filigrane Bauten auf, die die Architektur des 21. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung offenkundig prägten. Die Häuser und Anlagen von Genzez wirkten wuchtiger. Die alteingesessenen Rudyner bauten erdiger.

Rhodan war oft genug in der deutlich älteren Stadt Genzez gewesen. Neu-Terrania hingegen war ihm völlig fremd.

»Gibt es Animositäten zwischen den Bewohnern der beiden Teilstädte?«, fragte er Olio.

»Wie man's nimmt. Es kommt immer wieder mal zu Reibereien«, antwortete der Roboter. »Aber die Urban-Psychologen haben alles unter Kontrolle. Man hat akzeptiert, dass mehr als vierzig Millionen Terranischstämmige nach dem Verlust ihrer Heimat hier ihr neues Zuhause gefunden haben. Dazu kommen noch einmal so viele Zuwanderer von anderen Welten der Milchstraße. Letztlich ist man auf Rudyn stolz auf seine Unabhängigkeit und auf seine Ausnahmestellung in einer Galaxis, die von den Cairanern beherrscht wird.«

Sie bewegten sich mit langsamen Schritten im Kreis, immer an der Glasfront des Raumes entlang. Olio deutete auf die weithin leuchtende Kugel des Terraneums im nördlichen Teil des Residenzparks. In Richtung des noch weiter nördlich gelegenen Anuupi-Turms, der von Tausenden der Leuchttierchen umwabert wurde und der für einen besonderen Lichtpunkt im Stadtgefüge sorgte.

Olio erzählte vom hinter dem Turm versteckten Raumhafen, der nach einer alten Admiralin benannt worden war, die Rhodan noch in guter – und in frischer – Erinnerung war: der Patoman Spaceport. Es war nicht lange her, dass Rhodan Anna Patoman zuletzt getroffen hatte – und doch schon fünfhundert Jahre.

Die Conchal-Akadamie war in der diesigen, salzhaltigen Küstenluft kaum auszumachen, ebenso wenig wie das OPRAL im Westen. Das sechsteilige Set muschelförmiger Gebäude gruppierte sich um einen eintausend Meter hohen Spitzkegel. Dort hatten bereits vor Jahrtausenden die Kalfaktoren der Zentralgalaktischen Union Politik betrieben, dort war bis in die Gegenwart die planetare Regierung angesiedelt.

Rhodan rieb sich über das rechte Handgelenk. Bis vor wenigen Stunden hatte er einen Vitalenergie-Tarner getragen. Ein Gerät, das Bully ihm zur Verfügung gestellt hatte und das ihn vor den Nachforschungen der Cairaner schützte, indem es die Impulse seines Zellaktivators neutralisierte.

Bully war als Resident und damit im höchsten politischen Amt des Weltenbundes tätig. Als Freund und Beschützer des terranischen Erbes. Als derjenige, der gemeinsam mit Icho Tolot die Erinnerung an Erde und Mond frisch hielt, und das in einer Zeit, da viele Informationen verschwunden, ja, ausgelöscht worden waren.

Ein leises Zischen verriet ihm, dass sich der Antigravlift im Zentrum seiner Wohnung aktivierte. Nur wenige Sekunden später trat Bully aus der Öffnung.

»Du wirkst übernächtigt«, sagte Rhodan.

»Empfängt man so einen guten Freund?« Bully gab einen grummelnden Ton von sich und rieb sich über den Bartschatten. »Ich hatte nicht sonderlich viel Schlaf. Es gibt viel zu tun, viel vorzubereiten.«

»Warum hast du mich nicht mit einbezogen? Ich hätte dir Arbeit abnehmen können.«

»Du kennst die politischen Abläufe auf Rudyn noch nicht. Ich wollte dich nicht mit irgendwelchem Kleinkram belasten. Du wirst früh genug damit konfrontiert werden. Und genau deswegen bin ich hier.«

»Das heißt?«

»Wir frühstücken in aller Ruhe und lassen uns anschließend im innersten Kreis meiner Berater und Mitarbeiter blicken. Einigen Leuten steht ein gehöriger Schock bevor. Viele wissen zwar schon, dass du aufgetaucht bist, aber sie können es nicht so recht glauben. Du bist bloß ein Schatten, Perry. Eine vage Erinnerung, von der man irgendwann einmal gehört hat. Du wirst sie überzeugen müssen.« Bully seufzte und drehte sich Olio zu. »Machst du uns bitte ein Frühstück? Eier, Käse, frisches Brot, ein paar Früchte ...«

»Speierlinge, wenn's geht«, sagte Rhodan und musste grinsen, als Olio seine Arme wirr ineinanderschlang.

»Wie bitte?«, fragte Bully.

»Ach, ich wollte unseren kleinen Freund hier mal testen. Er scheint mich enttäuschen zu wollen.«

»Olio ist eine rechte Nervensäge, aber er hat Charakter. Ich mag das.« Der Resident ließ sich auf einem der Sitze nieder und streckte entspannt die Beine aus, während Olio aus Rhodans Blickfeld verschwand und im Küchenbereich nahe des Antigravlifts wirbelte.

Perry Rhodan setzte sich zu seinem Freund. Sie blickten einander an. Lange. Und dann lachten sie gleichzeitig los, wie auf Kommando.

Rhodan spürte ein wohliges Gefühl in seinem Magen. Es tat gut, den alten Gefährten zu sehen.

Bully atmete tief durch. »Du warst beinahe fünfhundert Jahre verschollen, Perry«, sagte er leise. »Drei Generationen an Terranern wurden während dieser Zeit geboren und starben. So lange habe ich dich und deine Ratschläge vermisst. Tausende Male wollte ich die Verantwortung ablegen und mich auf einen einsamen Planeten zurückziehen. Ich wusste nicht, ob du jemals wiederkehren würdest. Ich war lange Zeit wütend auf dich, Perry. Ich fühlte mich im Stich gelassen.«

Rhodan wusste nicht, was er sagen sollte. Für ihn waren bloß Monate vergangen, seit er an Bord der RAS TSCHUBAI eine Reise ins Unbekannte angetreten hatte – und erst 493 Jahre später wieder angekommen war.

Olio kam mit einem Tablett auf dem Kopf herangerollt. In Windeseile deckte er den Tisch, sodass Bully und Rhodan bald darauf in aller Ruhe essen konnten.

»Rudyn ist nicht Terra«, sagte Bully, nachdem er ein erstes Marmeladebrötchen gegessen hatte. »Ich vermisse die Gerüche. Den stetigen Wind, der durch die Straßen von Terrania City blies. Den Duft der Wildkirschen im Frühjahr und den Hauch von Frische, den der Goshun-See über der Stadt verteilte, wenn der Sommer mal wieder zu heiß zu werden drohte.«

Er trank einen Schluck vom Tee und stellte die Tasse klirrend ab. »Aber diese Welt ist die beste Alternative, die man sich vorstellen kann. Wir wurden freundlich aufgenommen, wir haben ein gutes Auskommen mit den Rudynern. Wir sind als Gäste gekommen und zu permanenten Bewohnern dieser Welt geworden. Ich mag Neu-Terrania. Die Stadt, die Vielfalt, das urbane Durcheinander. Was du hier siehst«, Bully machte eine Handbewegung, die Genzez und Neu-Terrania gleichermaßen umfassen sollte, »ist mir Heimat geworden.«

»Dennoch müssen wir uns auf die Suche nach der Erde machen.«

»Ich weiß, Perry. Aber erwarte keine hundertprozentige Zustimmung von den politischen Entscheidungsträgern, wenn du heute und morgen um Unterstützung bittest. Du wirst Widerstände überwinden und meine Leute überzeugen müssen.«

»Ich denke, das kann ich.« Rhodan lächelte. »Aber lass uns erst einmal das Frühstück genießen.«

Einige Fenster dunkelten ein wenig ab. Die Sonne stand mittlerweile eine Handbreit über dem Horizont und sandte ihre Strahlen über große Teile der Stadt. Gleiterkorridore füllten sich im Frühmorgenverkehr, weit im Süden war ein mächtiger Kugelraumer beim Landeanflug auf den Hekéner Sharoun-Spaceport zu erahnen.

Über den Gipfeln des Charistargebirges sah Rhodan ein dreigeteiltes Etwas in Mondgröße. Die roten, kugelförmigen Sphären, die einander teilweise überlagerten, wirkten bedrohlich.

So bedrohlich, wie Icho Tolot bei seiner ersten Begegnung mit ihm gewirkt hatte. Dort oben saß der Haluter, einer der ältesten Freunde der Menschheit.

Er saß in einem der drei Augen des Riesen, wie die fliegende Festung genannt wurde, und wachte von dort über Rudyn.

2.

Schlechte Aussichten

 

Es war die Riesen-Angst, die ihn aufweckte. Die ihn aus dem Bett hochschrecken ließ.

Thosen Musay hörte sich selbst schreien. Sein Oberkörper war schweißbedeckt, sein Puls raste. Er fuchtelte wie wild um sich, suchte nach einem Halt, nach irgendetwas, das ihm Sicherheit gab ... Er tastete den Hals entlang, fand sein Amulett und presste es, so fest es ging.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte eine tiefe und sonore Stimme. »Du hast schlecht geträumt. Du bist zu Hause, im Fillims-Hof.«

Musay hörte sanfte Musik. Sie wirkte beruhigend auf sein Gemüt.

Die dritte Bassbratschen-Sonate von Emmerich, dachte er. In einer uralten Aufnahme aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Der dritte Satz ist angedeutet, das Scherzo geht übergangslos ins Finale über.

Musays Lebensgeister erwachten.

»Ich habe geträumt«, echote er die Worte der psychotherapeutisch geschulten Wohnungspositronik.

»So ist es gut, Thosen. Tief durchatmen. Lass uns nachdenken. Wer bist du? Was bist du?«

»Ich bin Thosen Musay. Selbstständiger Informationsmediator. Jedermann, der mich engagiert, bekommt Wissen geliefert, das nicht allgemein bekannt oder öffentlich zugänglich ist.«

»Richtig. Wovon träumst du, wovor hast du Angst?«

»Es sind die Augen des Riesen. Ich fürchte mich vor ihnen, so wie viele andere Bewohner Rudyns.«

»Du leidest an einer Phobie, die weitgehend unerforscht ist. So, wie mehrere Hunderttausend andere Bürger. Ihr alle fürchtet euch vor den drei Sphären, die über Rudyn kreisen.«

Es war nicht nur diese Riesen-Angst. Musay war psychotisch, hatte Wahrnehmungsprobleme und manchmal Wahnvorstellungen.

Die Hauspositronik setzte ihren Monolog fort und stellte Musay dieselben Fragen wie immer. Sie ließ ihn jene Routinen durchgehen, die ihm halfen, den Schock zu verarbeiten und seinen Kreislauf zu stabilisieren. Er schluckte ein Protazolan und wartete geduldig, bis die dämpfende Wirkung einsetzte.

Musay schleppte sich in die Saunadusche und ließ minutenlang heißes Wasser über seinen Körper rinnen. Dampf aus feinsten Düsen bestrahlte ihn hinterher, die Hautporen wurden gereinigt.

Die Hauspositronik nahm winzige Blutproben. Sie überprüfte die bakterielle Ausgewogenheit, forschte nach Vitamin- und Mineralmängeln. Sie würde das Frühstück entsprechend gestalten.

Die Sonate von Emmerich endete mit einem finale furioso. Sie wurde von einem Klavierkonzert abgelöst, das vermutlich um die Jahrhundertwende aufgezeichnet worden war. Musay hätte nicht zu sagen gewusst, wer da so meisterhaft spielte. Vermutlich war es einer jener Posbi-Interpreten gewesen, die in jenen Tagen das Musikgeschehen beherrscht hatten.

Er ließ sich Zeit unter der Saunadusche und genoss das Gefühl der Hitze. Im Oktober konnte es in Neu-Terrania bereits recht frisch werden. Über dem Charistar stauten sich zu dieser Jahreszeit die Schneewolken, sie puderten die Gipfel weiß.

»Wie sieht mein Tagesplan aus?«, fragte Musay die Hauspositronik, sobald er die Saunadusche verlassen hatte.

»Ich möchte zuvor einige Aspekte deiner Träume besprechen und ...«

»Abgelehnt. Nochmals: Was gibt es heute zu tun?«

»Die alborganische Handelsvertretung hat um neun Uhr morgens zu einem Gespräch geladen. Es geht um Verhandlungen, die sie mit der rudynischen Regierung führen möchte. Die Alborganer sind heillos überfordert und fürchten, über den Tisch gezogen zu werden.«

Musay erinnerte sich. Die Alborganer waren Neomyceten. Die pilzähnlichen Geschöpfe waren auf Hilfe anderer angewiesen, um sich ausbreiten und auf fremden Welten Fuß fassen zu können, im wahrsten Sinne des Wortes. Händler aus dem Volk der Mehandor hatten sie nach Rudyn gebracht. Nun wurzelten sie in Ringkloos, einem nördlichen Bezirk von Neu-Terrania, und fanden sich im kunterbunten Völkergemisch der Stadt nicht sonderlich gut zurecht.

Musay witterte ein gutes Geschäft. Diese naiven Wesen benötigten seine Hilfe, wollten sie nicht untergehen. Er würde sie mit Informationen versorgen, ihnen das Zusammenleben mit den wichtigsten Völkern erklären und dafür sorgen, dass sie während der nächsten Jahre keinen anderen Infomedi engagierten.

So war das Geschäft nun mal, hart und nicht immer sauber. In Neu-Terrania tummelten sich Tausende Informationsmediatoren. Alle waren darauf aus, ausreichend Kunden zu requirieren.

Musay ließ einen anschließenden Termin von der Hauspositronik stornieren. Er hätte ihn in eines der vornehmen Innenstadtviertel geführt. Zu einem frustrierten Hausmann, der seine Frau einer Affäre mit einem epsalischen Kampfsportprofi verdächtigte.

Er benötigte Freiraum, um das Geschäft mit den Alborganern ins Rollen zu bringen. Erst, wenn er die Neomyceten an der Angel hatte, würde er sich um andere Dinge kümmern.

Musay betrat die Gartenküche, das Geplapper der Positronik verstummte abrupt. Er setzte sich an den Tisch. Das Naturholz der Tischplatte trieb seit einigen Monaten aus. Äste reckten sich an den Kanten in die Höhe. Nächstes Frühjahr würde Musay erstmals Kirschen und Zwetschgen ernten können.

Alles war so, wie er es sich gewünscht hatte, als er zwei viel zu teure Appartements im viel zu luxuriösen Fillims-Hof angemietet hatte. Doch der Reiz seiner Bleibe war längst verflogen. Er hätte viel lieber eine langweilige Wohnung mit langweiligen Möbeln und in einer langweiligen Umgebung besessen. Stattdessen hockte er in diesem Gebäude, das einer rostigen Röhre ähnelte und hauptsächlich von überspannten Künstlern, Gelegenheitsphilosophen ohne Lebensziel und Angehörigen einer sonderbaren Sekte bewohnt wurde, die sich die meiste Zeit des Tages in einer Antischwerkraftburg aufhielten und beteten.

Musay blickte bedauernd auf sein Frühstück. Es bot viel zu wenig Wurst und viel zu viel Gemüse. Er entdeckte unter anderem einige Bissen gekochten Wurzelwerks, blubbernde Humussuppe und Vollkornflakes, die in Mohrrübenpaste getunkt worden waren. Was ihm die Hauspositronik zusammengestellt hatte, wirkte derart gesund, dass ihm allein vom Anblick schlecht wurde.

»Du siehst nicht sonderlich begeistert aus«, hörte er eine bekannte Stimme.

Musay blickte seinen Gast an. Der saß ihm gegenüber und lächelte. Saessbekker war wieder mal aufgetaucht, eine seiner häufigsten Halluzinationen.

»Du kannst gerne mein Frühstück essen, Kleiner«, sagte Musay. »Ich bin nicht hungrig.«

»Du solltest auf deine Hauspositronik hören, Thosen. Du setzt Fett an, wenn ich das so offen sagen darf. Mehr Bewegung würde dir guttun.«

Musay betrachtete Saessbekker von oben bis unten. Der Kleine trug eine anständige Wampe vor sich her. Er war etwa einen Meter groß und wirkte langsam, behäbig. Mit seinem Geweih und den hufartigen Füßen ähnelte er in gewissem Sinne einem Cheborparner. Saessbekkers Geweih war allerdings deutlich stärker ausgeprägt – und seine Haut knallrot.

Er zeigte davon allerdings für Musays Geschmack viel zu viel. Der Kleine trug einen breiten Lendenschurz, in den Taschen eingenäht waren. Einige davon waren anständig gefüllt, andere leer. Den Rest seines haarigen Körpers stellte Saessbekker offen zur Schau.

»Was willst du von mir?«, fragte Musay.

»Ich dachte, dass du Lust auf Gesellschaft hättest. Du bekommst nur selten Besuch, nicht wahr? Wann hast du dich das letzte Mal mit einem Freund unterhalten, wann hattest du eine Frau in deiner Wohnung?«

»Das geht dich nichts an.«

»Oh doch, das tut es. Weil ich mich um dich sorge. Weil ich möchte, dass es dir gut geht.«

Musay blinzelte mehrmals hintereinander und hoffte, dass er Saessbekker wegzwinkern könnte. Nichts geschah. Der kleine, dicke Faun blieb, wo er war.

»Wer oder was bist du, Saessbekker?«

»Ein guter Bekannter, der sich um dich kümmert.«

»Du bist eine Phantasiegestalt! Die Hauspositronik erkennt dich nicht. Sie meint bloß, dass ich mich auf dich konzentrieren soll, um all die anderen Wahnvorstellungen beiseitedrängen zu können.«

»Begreifst du nun, wie wichtig ich bin?« Saessbekker grinste. »Ich bin ausschließlich für dich da.«

Musay aß. Lustlos schob er sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Saessbekker beobachtete ihn, er beobachtete Saessbekker.

Wie lange kannte er den Kleinen schon? Seit wie vielen Monaten oder gar Jahren verfolgte er Musay?

Musay wusste es nicht zu sagen. Er hatte sich niemandem anvertraut. Weder einem der wenigen Kollegen, mit denen er zwischendurch zusammenarbeitete, noch seinen Eltern.

Man könnte glauben, dass sich unsere Unterhaltungen bloß in meinem Kopf abspielten, dachte Musay. Aber ich weiß, dass Saessbekker real ist. Er hinterlässt Spuren und Gerüche.

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Illustration: Dirk Schulz

»Werde ich langsam verrückt?«, fragte Musay.

»Deine Ängste sind manchmal beunruhigend«, antwortete Saessbekker. Er streckte die Ärmchen weit in die Höhe und gähnte ausgiebig.

»Mich stört viel mehr deine Anwesenheit.«

»Da mach dir keine Sorgen. Ich bin hier, weil ich hier bin. – Möchtest du Ratschläge zu deinen Verhandlungen mit den Alborganern haben?«

»Eigentlich nicht. Aber ich werde dich nicht daran hindern können.«

»Betrüg die Pilzlinge! Sie haben es verdient.«

»Wie bitte?«