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Petra und Uli Mattfeldt (Hrsg.)

Stille Nacht, tödliche Nacht

24 mörderische
Adventsgeschichten

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieser Geschichten sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von den Autoren nicht beabsichtigt.

Copyright © 2018 by Edition 211, ein Imprint vom Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2018

Lektorat: Annette Lunau

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-119-5

www.bookspot.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Schöne, friedvolle Weihnacht

von Michael Böhm

Ein schönes Geschenk

von Christine Bonvin

Dass alles Volk geschätzet werde

von Reimer Boy Eilers

Es begab sich aber zu der Zeit

von David Frogier de Ponlevoy

Das süße Grab

von Heike Gellert

Büroabfälle

von Sylvia Grünberger

Die Kundin

von Rainer Güllich

Auf Teufel komm raus

von Dieter Hentzschel

Schutzmantelmadonna

von Christiane Höhmann

Sherlock Holmes und das Weihnachtsdesaster von Worcester

von Wolfgang Kemmer

Schöne Bescherung

von Arnold Küsters

Die Axt im Haus

von Roland Lange

Doppelmord an Bord

von Nicola Lux

Am Ende ist Weihnachten

von Heidi Möhker

Das Versprechen

von Astrid Plötner

Fest der Liebe

von Jennifer Rendla

Durchgeknallt

von Andrea Z. Rhein

Frohe Weihnachten, Tilda

von Maria Rhein

Morbidus und das Fest der Liebe

von Nina Röttger

Gerners Schuld

von Connie Roters

Kipferlroulette

von Claudia Schmid

Fest der Lichter

von Thomas Schrage

Grenzland

von Petra Tessendorf

Teilen

von Cécile Ziemons

Weitere Titel im Verlag

Vorwort

Oh, du süße Vorweihnachtszeit. Der Kamin knistert, das Haus riecht nach Tannen, Zimt, Mandeln, Plätzchen und Orangenscheiben. Diese ganz besondere Stimmung liegt in der Luft, die Vorfreude auf das Fest der Feste scheint zum Greifen. Was gibt es da Schöneres, als seine lieben oder eben auch nicht so geliebten Verwandten auf einfallsreiche Art um die Ecke zu bringen, um dann wirklich frohe und ruhige Weihnachten verleben zu können?

Mit einem Augenzwinkern und viel schwarzem Humor präsentiert der Bookspot Verlag die Gewinnergeschichten zum Wettbewerb unserer Anthologie »Stille Nacht, tödliche Nacht – 24 mörderische Adventsgeschichten«.

Wir wünschen Ihnen wunderbare Unterhaltung und ein frohes Fest!

Herzlichst

Petra und Uli Mattfeldt

Herausgeber

Schöne, friedvolle Weihnacht

von Michael Böhm

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Einem Mantra gleich pocht der Gedanke in meinem Kopf: Ich bringe dich um, Mona. Doch – habe ich das tatsächlich getan? Trotz aller Zweifel werde ich für den Rest meines Daseins mit dieser vermeintlichen Schuld leben müssen.

Heute stehe ich an deinem Grab, Mona, todunglücklich. Zum ersten Mal löse ich das Versprechen ein, das ich mir gegeben habe, nämlich dich am Tag vor dem Heiligen Abend, deinem Todestag, zu besuchen. Ein Hauch von Frühling schwebt in der Luft. Vor einem Jahr war die gleiche Landschaft tief verschneit.

Plötzlich spüre ich, wie mir eisig kalt wird. Ich vermag mich nicht mehr gegen die Gewissheit auflehnen, dass das, was da zwischen uns gewesen ist, vielleicht doch eine Liebe war, eben eine besondere Art von Liebe. Du bist eine anima candida gewesen, Mona. Und es ist mir schließlich unerträglich geworden, mit einer reinen Seele zusammen zu sein.

Ich lebe mit dem Widerspruch, mich als Mörder zu empfinden und gleichzeitig ernsthaft daran zu zweifeln. Es ist einfach so, dass ich nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, ob ich es war, der dich als Tote in den Schnee vor die Kapelle Lamm Gottes setzte.

Vor meinem Laptop am Schreibtisch brütend, fast verzweifelt, bin ich nicht in der Lage, auch nur einen vernünftigen Satz zu denken, ergo auch nicht niederzuschreiben. Wieder springe ich auf, laufe durch das Zimmer, immer hin und her, als ein hilfloser Gefangener in einer unwirklichen Wirklichkeit, stehe am Fenster, schaue auf die ruhige Straße vor meinem Haus. Meine Zeit ist ein einziger Missklang. Ich bin total durcheinander, stehe nicht nur einmal neben mir, ich vervielfältige mich in meiner zügellosen Hysterie. Ist das, was ich wahrnehme um mich herum, denke oder mir vorstelle, überhaupt real, oder doch eher das wirre Spiegelbild meines total durcheinandergeratenen Geistes?

Mit einem leichten Schwindelgefühl fing es an, dachte ich an dich, Mona. Zunächst nahm ich das gar nicht richtig wahr, danach nicht ernst. Heimtückisch leise griff diese Verwirrung auf Samtpfötchen an. Ich hatte Angst, diese Unordnung im Kopf könne so stark werden, dass sie mich irgendwann über die Grenze der Vernunft schieben würde.

Ich muss durchatmen, ruhiger werden, Struktur in mein wirres Gestammel bringen.

Als Schriftsteller habe ich einen Bekanntheitsgrad, der es mir erlaubt von meinem Schreiben zu leben und der mir Gelegenheit gibt, immer wieder kreuz und quer durch unser Land zu reisen, um ein neues Buch dem Publikum vorzustellen. Das ist für mich eine willkommene Möglichkeit, mit meinen Lesern in Kontakt zu treten. Und so habe ich dich, Mona, kennengelernt.

Der Verlag brachte meinen ersten Roman in einer Neuauflage heraus, und darum war ich auf Lese-Tour.

Mona, du bist mir durch deine attraktive Erscheinung und vor allem durch die Modulation und die Klangfarbe deiner Stimme aufgefallen, als du nach der Lesung die intelligentesten Fragen stelltest. Im Vorraum bleiben wir noch so lange stehen und unterhalten uns, du hast mir flüsternd kundgetan, alle meine Bücher gelesen zu haben, bis der Veranstalter drängt, mit dem noch ein Beisammensein vereinbart ist. Spontan lade ich dich ein, mitzukommen. Noch an diesem Abend erfahre ich, du bist Studienrätin am örtlichen Gymnasium. In der kleinen Gruppe am Tisch ist es nicht möglich, mit dir weiter über mein Schreiben zu sprechen. Später in der Nacht begleite ich dich bis zu deinem Haus, das im gleichen Viertel wie deine Schule liegt, die du mir im Vorübergehen gezeigt hast. Auch mein Hotel ist nur ein paar Minuten entfernt. In dieser kleinen Stadt ist kein Weg weit. Erst nachdem wir uns die Hand gereicht haben, bittest du mich um meine E-Mail-Adresse. Natürlich völlig unwissend, was sich daraus entwickeln würde, gebe ich dir meine Karte.

Ich hatte die kurze Begegnung mit dir schon aus meinem Gedächtnis gestrichen, da meldest du dich. Nicht mit einer Mail, du rufst an. Ich erkenne sofort deine Stimme, Mona, noch bevor du deinen Namen nennst. Warum vermag ich mich nicht zusammenzureißen, nur für diese kurzen Momente? Alles wäre anders gekommen. Aber nein, ich muss mir Luft verschaffen, sprudle in schnellen Sätzen meine schlechte Stimmung heraus, die ich wegen Problemen mit meiner neuen Erzählung habe.

Du lachst dein dunkles Lachen, bringst mich dadurch völlig aus dem Takt.

Komm, sagst du, wir gehen wandern. Das hilft immer, pustet nämlich den Kopf durch.

Wo, Mona?

Schon hast du dein Netz ausgeworfen, in dem ich mich verfangen werde.

Nein, du verrätst mir am Telefon nicht, wo wir zusammen wandern werden, nennst mir einen Bahnhof – zwei Stationen von deiner Stadt entfernt – den Tag und die Stunde. Und dann sagst du zum ersten Mal Ernest zu mir.

Ernest?

Dunkles Lachen. Hast ihn doch sicher gelesen, deinen berühmten amerikanischen Kollegen, oder?

Also gut, Mona, wandern wir.

Mir hat unser kurzes Gespräch geholfen, bin nun nicht mehr allein auf mein geistiges Hemmnis fixiert, kann es auf einmal fast mit leichter Hand lösen.

Noch als ich auf der Autobahn unterwegs bin, beschäftigt mich die Frage, ob hinter dem Wort wandern sich unbekanntes Terrain verbergen mag? Weshalb treffen wir uns nicht im oder zumindest vor dem Haus, das du mir in der Nacht als deines gezeigt hast? Lauert da ein Geheimnis, Mona? Bist du verheiratet? Es hat doch sicher seinen Grund, dass ich eine Ausfahrt weiter fahren werde, um zu der Bahnstation jenseits deiner Stadt zu kommen? Wen versteckst du, Mona, dich oder mich, uns beide? Droht da nicht eine Prise Gift bereits im Anfang, der nicht einmal gemacht ist?

Ich lasse meinen Wagen auf den Kurzzeitparkplatz vor dem alten Bahnhofsgebäude rollen. Du wartest schon auf mich, steigst ein, wirfst mir ein luchsäugiges Lächeln zu, das Steine erweichen könnte, streichelst mit der einen Hand kurz über meine. In mir steigt bittersüße Wärme auf und auch die Frage nach dieser Geste, einer Nähe ohne Grundlage.

Wir fahren in Richtung Berge, ins Land hinaus, in dem der Frühling erwacht. Das Wetter präsentiert sich prächtig, ganz für eine Wanderung gemacht: Sonne, nicht zu warm, ein schwacher Wind.

Wir passieren einen ausgedehnten Wald, und vor dessen Ende bereitest du mich auf einen Wanderparkplatz vor, der rechts der Straße liegt.

Ich ziehe meine Wanderschuhe an, setze den leichten Rucksack mit dem Proviant auf, schaue mich um. Weites Hügelland in grünen Abstufungen mit braunen Einsprengseln. Vor dem Horizont wie gemalt die Kette der Berge. Aus einer Bodenwelle schaut die Spitze eines Kirchturms. Zur rechten Seite hin auf einer bewaldeten Höhe die steinernen Reste einer Burg.

Das ist unser Ziel, sagst du, erkennst wohl, was meine Augen im Blick haben.

Wir wandern los und es zeigt sich, dass der Weg dir wirklich nicht fremd ist. Ich folge ihm mit den Augen und mein Kopf deinen Worten. Vor dem steilen Aufstieg zur Burg stecken wir immer noch in einer lebhaften Diskussion, die dann vor dem steinernen Tor versickert. Im Burghof verlässt du meine Seite, bist mir voran, bewegst dich katzenhaft, geschmeidig, einfach faszinierend. Schön anzusehen, meine Augen saugen sich an dir fest, meine Fantasie beginnt zu tanzen. Du schaust dich plötzlich zu mir um. Mit einem einfältigen Lächeln im Gesicht sehe ich dich an. Ahnst du möglicherweise, was ich mir gerade mit dir so alles vorstelle? Kann ich diese frischen frechen Gedanken erotische Wünsche nennen? Jetzt schon, so schnell?

Dann sitzen wir auf der Burgmauer, schauen in der Weite spazieren. Wir genießen die Ruhe, lauschen den Stimmen der Natur, merken irgendwann, dass wir uns nur flüsternd unterhalten und müssen darüber schmunzeln.

Es ist eine schöne Stunde auf der Burgruine, die mir immer in Erinnerung bleiben wird. Warum, Mona? Dort hast du mich zum ersten Mal geküsst. Ich hätte mich das nie getraut. Du hast meinen Kopf zwischen deine Hände genommen und deine Lippen auf die meinen gepresst und deine Zungenspitze spielen lassen. Was ist das für ein Kuss?

Spätestens nach dieser verführerischen Szene hätten alle meine Alarmglocken anschlagen müssen. Aber ich will die latente Gefahr nicht erkennen. Du wirst mich dir unterwerfen, mich zu deinem gehorsamen Sklaven machen und dein Spiel spielen, Mona. Und ich werde diese Sinnenlust aufregend finden, erregend, diese Art Leidenschaft habe ich nämlich noch nicht erlebt.

Zurück bei meinem Wagen, wechsle ich die Schuhe und wir fahren los. Dein Finger und deine Worte weisen mich über schmale Straßen in ein Tal zwischen zwei bewaldeten Hügeln. Von dort führt eine schmale Straße aufwärts, nur ein besserer Weg, verzweigt sich in eine Auffahrt, und gleich darauf rollen wir vor ein altes schönes Haus.

Ich sehe dich an, frage mit den Augen. Aber von dir kommt keine Antwort. Wir steigen aus und gehen zum Haus. Du schließt die dunkle Holztür mit dem aufgemalten Wappen auf und ich folge dir ins Haus. Im Flur und im großen Wohnraum machst du Licht, lässt mir Zeit, mich umzuschauen.

Nahe dem Kamin stehst du vor mir, küsst ganz sanft meine Lippen und fragst mit unschuldigen Augen, ob ich mit dir duschen möchte. Was für eine Frage!

Deine Schönheit, die sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hat, werde ich stets vor Augen haben, wenn ich an dich denke, immer, Mona. So wie dich, so sollte man sich eine griechische Göttin vorstellen, wie geschaffen von begnadetem Bildhauer.

Später, in weiße Bademäntel gehüllt, sitzen wir am Tisch seitlich des Kamins und trinken Tee. Weißen Tee.

Das Haus, das Grundstück mit Wald, gehört deinem Bruder, den ich nicht kennenlernen werde. Du hast mir nicht einmal verraten, wie dein Bruder heißt und wo er lebt. Ehrlich, Mona, ich frage mich heute, gibt es ihn überhaupt?

Wir gehen nach oben und nach den ersten Stufen lässt du den weißen Bademantel über die Schulter auf die Holzbohlen gleiten, schreitest dabei weiter die Treppe hinauf. Ich sehe ungläubig dieser nackten Göttin hinterher. Auch heute noch will ich mir unschickliche Gedanken über deine wundervolle Hinteransicht verbieten, vergeblich.

Du winkst mir und ich folge nur zu gerne.

Am Abend bereitest du unsere Mahlzeit: Tomaten, Mozzarella, Sardinen, frisches Brot, weißen Wein. Du hast all die feinen Sachen in deiner schwarzen Tasche mitgebracht.

Wir hören Musik. Du liebst die Madrigale von Monteverdi.

Nachdem der letzte Schluck Wein getrunken ist, begeben wir uns wieder nach oben.

Du bist eine Göttin der Liebe, eine Venus. Schon beim ersten Besuch in diesem Haus hast du mir mit deinen tabulosen, wilden, fantasievollen Liebesspielen den Atem genommen. Fasziniert von dir will ich von dieser dumpfen Angst, die da schon in meinem Herzen aufsteigt, nichts wissen. Deine geschickten Hände und Lippen machen mich verrückt, und nur diese Momente sind wichtig. Deine gehauchten Liebesworte nehmen mir den Rest des Verstandes.

Was bist du für eine Frau, Mona?

Am nächsten Morgen trinken wir Kaffee, essen einen Hefezopf (auch aus deiner Tasche). Nach dem Duschen machen wir einen längeren Spaziergang, fast schon eine kleine Wanderung.

Unterwegs muss ich mich auf deine Worte konzentrieren. Du forderst mich geistig, breitest einen gedanklichen Teppich vor mir aus, den zu betreten mir Einiges abverlangt. Für dich muss es wohl immer hohes Niveau sein, in der körperlichen Begegnung und auch bei der geistigen Auseinandersetzung. Du bist mir ein Rätsel, Mona.

Zurück im Haus verbringen wir die nächsten Stunden in dem breiten französischen Bett.

Die Tage gehen zu Ende. Sie waren aufregend schön und auch anstrengend.

Erst als du aus meinem Wagen steigst, vor dem Bahnhof, verabreden wir uns für den Samstagvormittag in 14 Tagen, gleiche Stelle, gleiche Zeit.

Diese Wochenenden werden zu einem Ritual, das mich magisch anzieht und vor dem ich auch eine gewisse Bangigkeit habe. Der intensive Wunsch, nicht mehr fahren zu müssen, zerbröselt am gewissen Samstagmorgen zu nichts. Deine Anziehung, Mona, ist einfach stärker.

Bis zum Sommer hat sich der geheimnisvolle Mantel, der dich umgibt, auch nicht um einen Zentimeter gehoben. Der Gedanke, wer du wirklich bist, belastet mich bis in meine Arbeit hinein, lenkt mich ab und nimmt ständig zu. Sag, was steckt dahinter, dass du während der Schulferien für mich unerreichbar bist?

Ich kann es nicht mehr hören, wenn du auf meine Fragen lächelnd rufst: Sei nicht neugierig, Ernest! Einmal schiebst du noch einen Satz nach, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Ist dir unsere Liaison zu wenig, Ernest?

Ja, diese Frage hat mich getroffen, Mona. Nicht, weil du sie gestellt hast, nein, weil ich sie mir selbst schon gestellt habe. Es ist die versteckte Frage nach Liebe. Was uns verbindet ist keine Liebe. Bin ich dir hörig, Mona? Ich komme immer mehr aus dem Lot.

Anfangs der großen Ferien fahre ich in deine Stadt, stehe vor deinem Haus, drüben auf der anderen Straßenseite. Auf einmal bleibt jemand neben mir stehen, hat eine Baumwolltasche in der linken Hand, schaut mit mir hinüber, wo kein Lebenszeichen zu erkennen ist. Ich sage nicht, wer die Person ist, die mir dein Geheimnis lüftet, jedenfalls soweit, dass mir dein Wesen etwas verständlicher wird, denn ich habe versprochen, zu schweigen.

Das Haus, dein Haus, Mona, ist das Haus einer religiösen Frauengemeinschaft, fünf Frauen, alle in sogenannten dienenden Berufen tätig. Krankenschwester, Hospizärztin, Fürsorgerin, Erzieherin, Lehrerin. Der Name der Lehrerin ist Magdalena. Magdalena? Das bist du, Mona? In der Bibel ist Magdalena eine Sünderin. Hast du dir den Namen selbst gewählt? Ist Mona auch ein ausgesuchter Name? Ist die Mona aus Henry Millers New York Chronik deine Namenspatin? Ich habe viel nachgedacht, glaube zu erkennen, wenn auch reichlich unscharf, wer du bist. Als Dienerin Gottes frei von Sünde, sauber. Mona lebt ihre Begierden aus, eine verzweifelte Lebensgier, ihre dunkle Seite, aalt sich mit Wonne im Schmutz. Um diese Trennung zu bewahren, darf ich nicht in dein Viertel, nicht mal in deine Stadt.

Im Spätsommer fühle ich mich immer unwohler mit dir, Mona. Gewiss, unser Zusammensein, unsere Spiele sind weiterhin aufregend, lassen das Herz wild schlagen, machen mich toll. Doch gleichzeitig ist mir bewusst, ich werde von dir benutzt, fühle mich in unserem Bund gefangen. Ich bin mir selbst nicht gut, weil mir der Mut fehlt, mit dir darüber zu sprechen. Du bemerkst natürlich, dass ich nicht mehr so unterhaltsam, nicht mehr so diskussionsfreudig bin. Bis zum Sommer waren unsere munteren Gespräche ein frischer intellektueller Genuss, machten unsere Wochenenden zu einer Feier für Körper und Geist.

Dann, endlich, fragst du nach, Mona, lässt nicht locker. Und ich rede, du unterbrichst mich nicht, hörst mir aufmerksam zu, hast Verständnis für den Ernest. Allerdings ist es leider so, dass ich nicht über mein Problem mit dir rede, sondern über mein Schreiben.

Übertreibst du nicht, Ernest? Nimmst dich zu ernst, kann das sein?

Das Schreiben ist nicht nur mein Beruf, von dem ich lebe, es ist auch eine Berufung, mir außerordentlich wichtig, verstehst du, Mona?

Du lachst leise, ziehst mich an dich, öffnest den Bademantel, tröstest mütterlich das schmollende Kind. Ich höre deine betörende Stimme, die eine Giftpflanze in mein Herz setzt, die erst mit Verzögerung ihre Wirkung zeigen wird. Meine Bücher, so schmeichelst du, haben dir von der ersten Seite an gefallen, auch, weil sie dir vertraut seien, so als hättest du sie früher bereits einmal gelesen.

Ich werde an deiner Brust zu Eis.

Was für ein Missverständnis!

Danach sehen wir uns länger nicht, was mir gut tut. Für einige Wochen bin ich zu Gast im Ferienhaus meines Verlegers in der Steiermark. Im Herbst erscheint mein neues Buch und ich bin auf Lesereise. Während der Fahrt zum Treffpunkt, Mitte November, habe ich leichtes nervöses Magendrücken. Ich freue mich nicht wirklich auf dich, bin andererseits doch gespannt, mit was du mich überraschen willst, wie du am Telefon angedeutet hast.

Erst einmal ist alles wie gewohnt, dein Heißhunger auf mich ist nicht abgekühlt, was sich nach dem einleitenden Spaziergang zeigt.

Nach dem Essen, die Flasche Wein ist geöffnet, du ziehst die Beine unter dich, sagst nichts, nimmst das in Geschenkpapier eingeschlagene Päckchen, wohl ein Buch, vom Tisch, hältst es mir hin. Ein Geschenk, Ernest. Bitte erst zu Hause öffnen. Dabei schaust du mich mit lächelnden Augen an.

Ich halte mich an deine Bitte. Aber zu Hause reiße ich ungeduldig das Papier auf. Es ist ein altes Buch, gut hundert Jahre. Ich setze mich und beginne zu lesen. Schon nach wenigen Seiten lasse ich es zu Boden fallen, starre es wie eine gefährliche Kobra an. Der mir unbekannte Autor schreibt über das Thema meines aktuellen Buches, hat Worte für meine Vorstellungen und Gedanken. Kann das sein? Wie kommt Mona an dieses Buch? Ich muss sie fragen, unbedingt.

Lockt sie mich damit zum nächsten Treffen, das wir für den Tag vor dem Heiligen Abend, nur für diesen einen Tag, vereinbart haben? Hast du geahnt, was passieren wird, Mona? Diese Frage stelle ich mir noch heute und finde keine Antwort. Sagen kann ich, du bist doch keine anima candida gewesen, nur ein Mensch, der seinen Platz suchte und nicht fand.

Seit zwei Tagen schneit es ununterbrochen. Die Fahrt zu unserem Treffen dauert darum länger. Du wartest dick eingepackt unter dem Dach der Bushaltestelle. Als du neben mir sitzt, unsicher bist, sollen wir uns küssen oder nicht, in dieser Sekunde liebe ich dich, Mona, und dieses Gefühl wärmt mir die Brust.

Ich stelle meinen Wagen in die Garage, ziehe die Stiefel an, die ich im Kofferraum habe, und wir brechen zu unserem Spaziergang auf, dem vielen Schnee zum Trotz. Du gehst voraus und wir verlassen das Grundstück nach hinten hinaus, erreichen gleich den schmalen Pfad durch den Wald. Wir werden also direkt an dem Felsabbruch vorbeikommen, denke ich. Führst du mich in Versuchung, Mona? Während ich mit zwei Schritten Abstand hinter dir herstapfe, wird mir erschreckend klar, ich habe einen Fehler gemacht.

Der dicht fallende Schnee hängt einem verschleiernden Vorhang gleich zwischen uns. Ich nehme mir fest vor, und das beruhigt mich, nachher in meinen Wagen zu steigen und trotz dieses Wetters nach Hause zu fahren. Ich werde das Haus nicht mehr betreten, will nur noch frei sein von dir. Mit aller Macht.

Wo bist du, Mona? Bin ich unbewusst langsamer gegangen, sogar stehengeblieben und du bist mir voraus? Hier oben auf diesem Grat ist die Sicht im dichten Schneetreiben äußerst eingeschränkt, annähernd null. Ich erkenne, woran eigentlich, dass wir uns über dem Abbruch befinden.

So eilig ich auch dahinstapfe, ich hole dich nicht ein. Wo bist du nur? Ich komme zu der Stelle nahe dem Haus, wo der Weg aus dem Wald auf die Straße trifft.

Auch vor dem Haus finde ich dich nicht. Einen Moment stehe ich unentschlossen im Schnee, der Wind bläst mal von da, mal von dort. Wo du einen Schlüssel deponiert hast, weiß ich, könnte also ins Haus. Drinnen ist es nicht warm, was soll mich locken? Im Moment, als ich den Entschluss gerade fassen will in meinen Wagen zu steigen, überfällt mich ein absurder, ein schrecklicher Gedanke. Mir bleibt vor Bestürzung fast die Luft weg, dennoch laufe ich los, nicht zurück, sondern zur Straße vor. Der Schnee hüllt mich ein, aber es gelingt mir schnell, den steilen Weg durch den Wald zu finden, der in die Schlucht hinab führt. Mehr rutschend als gehend komme ich unten an, vermute mehr als ich es weiß, ich muss nach rechts. Bis zum Felsabbruch sind es gut hundert Meter, ungefähr.

Die ganze Zeit hämmert mir die Frage durch den Kopf: Habe ich dich gestoßen, Mona, ohne es wahrzunehmen?

Ist das möglich? Ja. Nein. Habe ich meinen stillen Wunsch, dich umzubringen, tatsächlich in die Tat umgesetzt?

Plötzlich spüre ich den kalten Wind, der durch die enge Schlucht drängt. Auf einmal sehe oder besser ahne ich über mir die dunkle Wand hinter dem weißen Vorhang. Ich zwinge mich, langsam zu gehen und die nähere Umgebung genau abzusuchen. Kannst du schon vom Schnee bedeckt sein? Ich finde dich nicht, Mona! In mein Blickfeld schiebt sich die kleine Kapelle Lamm Gottes. Sind wir hier einmal vorbeigekommen, bist du immer für eine kleine Weile im Gebet verharrt.

Erstarrt, zur Salzsäule quasi, bleibe ich abrupt stehen, rühre mich nicht vom Fleck.

Ich hab dich gefunden, Mona.

Du sitzt mit dem Rücken gegen die Gittertür der Kapelle gelehnt und schaust mich an. Mit Mühe bewege ich mich auf dich zu, fühle mich auf einmal unendlich schwach. Meine Beine verweigern mir beinahe ihren Dienst. Langsam nur komme ich dir näher, beuge mich vor. Ist Vorwurf in deinem Blick zu lesen? Nein, in deinem Blick ist kein Leben mehr, deine Augen sind offen und stumm.

Du bist tot, Mona.

Wie bist du zur Kapelle gekommen? Ich kann keine sichtbaren Verletzungen erkennen. Nach dem Sturz in die Tiefe ist mir auch das nicht verständlich.

Was ist mir überhaupt verständlich? Habe ich dich gestoßen? Bist du gesprungen?

Schöne friedvolle Weihnacht, Mona, sage ich halblaut und erschrecke sowohl über diese Worte als auch meine eigene Stimme.

Macht mich diese Situation, der Schmerz zum Zyniker?

Ich lächle dir zu, wende mich zum Gehen. Schon nach den ersten Schritten weiß ich, ich werde dich vermissen und ich werde dich auch hassen. So bleiben wir verbunden. Für immer, Mona.

Wie erlöst schließe ich die Datei, klappe den Laptop zu und verlasse den Schreibtisch. Ich bin hundemüde.

Dachau, März 2018

*

Zum Autor

Michael Böhm wurde 1947 im Taunus geboren, verbrachte in Oberursel seine Kindheit und Jugend. Als Schriftsetzer-Meister war er als Ausbilder tätig, bevor er in die Datenverarbeitung wechselte. Er lebt in der Nähe von München.

Nach Veröffentlichungen in Anthologien erschienen zwei Kriminalromane rund um einen Buchhändler und den eigenwilligen Detektiv Homer. Der erste Teil seiner »Petermann«-Trilogie mit dem Titel »Herrn Petermanns unbedingter Wunsch nach Ruhe« wurde 2014 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, 2016 erhielt er die begehrte Auszeichnung für den zweiten Band »Herr Petermann und das Triptychon des Todes«. Mit »Quo vadis, Herr Petermann?« schließt die Reihe ab.

Böhm begeistert mit einem schnörkellosen Schreibstil, trockenem Humor und dem Fingerspitzengefühl, wie man dem Leser das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Ein schönes Geschenk

von Christine Bonvin

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Der Jetlag brachte ihre gewohnte Tageskurve durcheinander. An Schlaf war nicht zu denken. Tausend neue Eindrücke schwirrten durch ihren Kopf. Anstatt sich ruhelos im Bett zu wälzen, beschloss Doris, aufzustehen. Zum Auftakt des vierwöchigen Aufenthaltes in Neuseeland verbrachten sie und Eveline fünf Tage in einem ehemaligen Leuchtturm. Sie genossen die Weihnachtstage in Island Bay, einem Vorort von Wellington. Das historische Gebäude stand an der Küstenstraße und bot einen ausladenden Blick auf die Bucht und das Meer.

Leise schlich sie an der schlafenden Freundin vorbei zur Wendeltreppe, über die sie zur Plattform stieg. Im Dunkeln betrachtete sie den sternenklaren Himmel. Eine warme Brise wehte ihr ins Gesicht. Das unruhige Geräusch der Meeresbrandung drang unaufhörlich an ihre Ohren, bedrohlich und gleichzeitig beruhigend. Jäh wurde das Grundrauschen von Gesprächsfetzen übertönt, die von dem Nachbarhaus hinüberdrangen. Im erleuchteten, geöffneten Fenster beobachtete Doris eine Art Schattenspiel hinter einer feinmaschigen Gardine. Die Silhouette einer Frauengestalt bewegte sich auf eine Männerfigur mit Spitzbart zu. Ihre Arme gestikulierten oder vielmehr schlugen wild um sich.

»Nein, so war das nicht geplant!«, schrie die aufgebrachte Frauenstimme. Ein höhnisches Männergelächter folgte, das sich als Echo an der Mauer des Leuchtturms überschlug. Schweißperlen kullerten über die Stirn der Voyeurin. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ungefragt Augenzeugin einer Gewaltszene wurde. Zu Tode erschrocken sah sie, wie die langhaarige Nachbarin eine Art Dolch in die Höhe schwang und mehrmals auf ihr Gegenüber einstach. Das dröhnende Lachen verstummte augenblicklich. Doris glaubte, ein herzzerreißendes Stöhnen zu hören. Das Mannsbild musste zusammengesackt sein, denn es verschwand aus dem Blickfeld. Die Messerstecherin schlug die Hände vors Gesicht und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Das Meeresrauschen klang so unheimlich, als würde der nächste Spuk auf den Fersen folgen.

Doris verharrte in einer verkrampften Stellung, schloss die Augen und probierte, tief durchzuatmen. Nach geraumer Zeit wagte sie wieder hinzuschauen. Sie blinzelte in Richtung Nachbarhaus, als wäre sie eben aus einem Albtraum erwacht. Es war niemand mehr im Fensterrahmen auszumachen. Die Gardinen schienen leicht im Lichtkegel der Straßenlampe zu wellen. Kein Licht, kein Geräusch, nur Totenstille, wären nicht das nahe Meer und der Wellenschlag.

Doris versuchte, sich zu fassen. Besorgt fragte sie sich, ob sie geträumt oder gar eine Fata Morgana gesehen habe? Sie befolgte eines ihrer bewährten Rezepte, das da hieß: ins Bett zu schlüpfen und den Morgen abzuwarten.

Lustlos und abwesend saß sie beim Frühstück. Eveline hingegen plauderte munter drauflos, in freudiger Erwartung, was der anstehende Ausflug in die Stadt an Überraschungen für sie bereithalte.

»Ich kann es nicht glauben, dass wir dem Weihnachtsstress entflohen sind und zusammen Ferien in diesem wundervollen Land verbringen können. Auf eine erholsame Zeit!«

Doris hörte nicht zu. Sie dachte daran, was sie am Vortag im Nachbargarten beobachtet hatte. Sie und Eveline waren nach dem Einzug in ihr neues Heim auf der Plattform gesessen. Plötzlich setzte ohrenbetäubender Lärm ein.

»Muss das jetzt sein? Wir sind hierhin gereist und haben Ruhe inklusive gebucht!«

Eveline holte den Feldstecher und betrachtete die Quelle der ärgerlichen Ruhestörung.

»Es ist unsere Nachbarin mit einer langen Mähne. Die hätte einen Schnitt nötiger als der Rasen, den sie gerade mäht. Aber schau mal. So komisch. Sie hat den Pohutukawa-Baum mit gelben Bändern geschmückt.«

Doris entriss ihr ungeduldig das Fernglas, um den neuseeländischen Weihnachtsbaum näher anzusehen.

»Sind dir die großen rotblühenden Blumenkugeln aufgefallen? Wunderschön! Aber warum bindet sie Bändel an die Äste?«

»Kennst du den amerikanischen Countrysong: Tie a yellow ribbon round the oak tree? Der Text handelt von einem Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Er schreibt seiner Geliebten, dass er nach Jahren freikommen werde. Falls sie ihn immer noch wolle, solle sie ein gelbes Band um den Eichenbaum binden. Würde er keines sehen, bliebe er im Bus sitzen. Bei der Ankunft in seinem Ort wagte er kaum, hinzusehen. Er konnte es nicht glauben. Der ganze Baum hing voller gelber Bänder.«

Einem Zufall gleich, beobachteten sie am Abend die Ankunft eines Mannes mit einem Koffer. Er schien sich über den geschmückten Baum zu freuen. Und letzte Nacht dieses Schattenspiel. Sie schüttelte sich und glaubte, damit das nächtliche Intermezzo aus ihren Gedanken zu vertreiben.

Die beiden Frauen verbrachten den Tag in Wellington. Müde kehrten sie am Abend in den Leuchtturm zurück.

»Es ist schon witzig, wenn wir in Sommerkleidern draußen sitzen und ich daran denke, dass heute der 24. Dezember ist. Die Umgebung und das Ambiente wirken so gar nicht weihnachtlich.«

»Wir wollten dem ganzen Trubel entgehen und einmal etwas anderes anpacken und erleben. Und hier sind wir. Lass es uns genießen. Komm jetzt, gehen wir gemeinsam kochen.«

»Ich muss zuerst ein wenig auf die Plattform und Luft schnappen.«

Der nächtliche Zwischenfall holte sie zurück. Doris fühlte sich genötigt, nachzuschauen, ob sie den ominösen Mann mit dem Spitzbart im Nachbargarten entdecken konnte. Nichts dergleichen, dafür bemerkte sie die Nachbarin neben dem Pohutukawa Baum, dem die gelben Bänder nun fehlten. In unmittelbarer Nähe des Weihnachtsbaums pickelte sie ein schaufelbreites Loch in den Boden. Jetzt überstürzten sich die Gedankengänge in Doris’ Kopf. Ihr nächtliches Erlebnis war kein Traum gewesen. Sie war tatsächlich Zeugin eines Mordes. Sie ließ sich heulend in den Liegestuhl fallen.

»Was ist denn mit dir los?«

Eveline fand ihre Kochassistentin in Tränen aufgelöst. Stotternd erzählte Doris das nächtliche Erlebnis und deutete mit dem Zeigefinger auf die Szene im Nachbargarten. Eveline lächelte verschmitzt.

»Es ist zum Heulen und du scheinst den größten Spaß an diesem fatalen Intermezzo zu haben? Ich muss sofort die Polizei benachrichtigen und alle Verdächtige zu Protokoll geben. Diese Frau ist gemeingefährlich. Die Leiche …«

»Also weißt du was? Wir klären diese Sache auf unsere Weise«, fuhr Eveline dazwischen.

»Wie das?«, fragte Doris skeptisch.

»Wir gehen einfach einmal rüber und fragen unsere Nachbarin, ob sie uns ein paar Eier leihen kann. Während sie in der Küche verschwindet, schauen wir uns diskret um. Sollte es wirklich eine Leiche geben, hat sie diese alleine bestimmt nicht weit schleppen können.«

»Das ist mir alles zu abenteuerlich. Ich will, dass wir die Polizei benachrichtigen.«

»Und wenn du alles nur geträumt hast? Dann stehen wir schön blöd da«.

Nach einem Moment der Pause meinte Doris kleinlaut: »Vielleicht hast du wieder einmal recht. Gehen wir auf Erkundungsbesuch. Ich möchte in Neuseeland nicht aktenkundig werden, weil ich Beamte am Heiligen Abend an einen vermeintlichen Tatort bestelle.«

Doris und Eveline durchquerten den Nachbargarten und schauten sich beim Vorbeigehen die ominöse Grube an, bei der immer noch die Schaufel und Pickel in der Erde steckten.

»Gaffe nicht so auffällig hin, sonst weckst du noch unnötig die Neugierde der suspekten Dame.«

Bevor sie klingeln konnten, wurde die Türe geöffnet.

»Was wollen Sie hier?«, fragte die Frau barsch.

»Sorry. Wir sind Feriengäste aus der Schweiz und haben den Leuchtturm gemietet. Wir bemerkten eben, dass wir keine Eier haben für unser Weihnachtsessen. Könnten Sie uns ein paar ausleihen?«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf, dann lenkte sie jedoch ein.

»Ich werde im Vorratsraum nachsehen. Wie viele benötigen Sie?«

»Zwei würden schon genügen. Wir können gleich mitkommen, wenn Sie wollen.«

»Nein, auf keinen Fall. Warten Sie hier vor dem Eingang.«

Sie schloss die Türe hinter sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

»Und nun? Dein Plan ist genial und so richtig ausgegoren!«

»Ich geh da jetzt rein. Du folgst mir auf den Fersen und siehst dich um. Jedes kleine Detail ist wichtig.«

Eveline preschte vor und Doris folgte mit angehaltenem Atem.

Vom Eingang sahen sie ins Wohnzimmer, vermochten aber nirgends etwas Verdächtiges zu erkennen. Kein Mann, keine Leiche, gar nichts.

»Hallo. Wo sind Sie?«, rief Eveline pro forma.

Im gleichen Moment stolperte die Frau keuchend in den Raum.

»Was fällt Ihnen ein, einfach in mein Haus einzudringen. Machen Sie, dass Sie rauskommen«. Sie gestikulierte derart, dass ihr die Eierschachtel entglitt.

»Sorry, wir hatten geklopft. Sie haben es wohl nicht gehört.«

Wutentbrannt ob der Bescherung am Boden, brüllte die Nachbarin: »Zum Teufel mit Ihnen! Raus, aber sofort.«

Die Freundinnen kehrten frustriert in den Leuchtturm zurück.

»Das war ein Reinfall sondergleichen«, meckerte Doris mit einer Spur Schadenfreude.

»Jetzt kochen wir. In der Nacht stehen wir Wache und observieren, ob dieses Ungetüm von Weib weiter an der Grube arbeitet. Sollte sie einen schweren Sack heranschleppen und diesen darin versenken, haben wir ein Indiz für deine schauerliche Theorie.«

»Mir ist das unheimlich, diese Ungewissheit geht mir auf den Wecker.«

Doris konnte den gedämpften Fisch mit Gemüse und Wildreis nicht genießen. Auch die zwei Gläser Prosecco brachten sie nicht in Stimmung.

»Denk doch nur, jetzt sitzen unsere Männer zu Hause bei ihren Eltern und lassen die üblichen Weihnachtsrituale über sich ergehen«, versuchte Eveline sie aufzumuntern.

»Und wir beobachten vielleicht in Kürze eine Mörderin beim Einbuddeln ihres Ehemanns. Ich würde jetzt doch lieber die Kerzen am Weihnachtsbaum betrachten und mich bei den Schwiegereltern langweilen.«

»Stille Nacht, heilige Nacht …«, drang es plötzlich an ihre Ohren.

Irritiert durch den perversen Kontrast sahen sie auf das erleuchtete Wohnzimmer. Es überkam sie das Gefühl, als stünde jemand hinter dem Vorhang.

»Die beobachtet uns bestimmt.«

»Doris, wir sind nicht gestresst. Sie hat ein Problem. Nicht wir.«

»Doch. Mein Problem ist riesengroß. Ich habe den begründeten Verdacht, einem Gewaltverbrechen beigewohnt zu haben, das ich nicht ordnungsgemäß der Polizei melde. Jetzt rufe ich an, basta! Ich halte das nicht mehr aus.«

»Doris, jetzt warte. Denke einmal an die Konsequenzen. Die werden uns nach Strich und Faden verhören. Zudem laufen wir Gefahr, eine geraume Zeit auf dem Polizeirevier zu verbringen. Kurz: Unsere Ferien sind im Eimer.«

Doris schien Gehörschutzpfropfen zu tragen. Sie suchte auf ihrem Handy die lokale Telefonnummer der Polizei. Eveline gab ihr einen Tritt ans Schienbein.

»Schau mal, da drüben. Du kannst dein Smartphone wegstecken.«

Vor dem Nachbarhaus hielt ein Polizeiauto mit knallfarbigem Schachbrettmuster. Zwei Cops schritten gemächlich zum Haupteingang. Sie klingelten. Die Frau, die sie insgeheim schon Mörderin nannten, öffnete zaghaft die Türe. Sie gestikulierte wild mit den Armen und zeigte auf den Leuchtturm.

»Jetzt läuft aber etwas aus dem Ruder«, bemerkte Doris missmutig.

Einer der Polizeibeamten sah verwundert in ihre Richtung. Der zweite zückte sein Handy.

»Da stimmt etwas nicht. Eveline sieh dich um, es wird brenzlig. Einer der Cops schreitet geradewegs auf unser Refugium zu«, ereiferte sich Doris.

»Das ist der passende Augenblick, deine Albtraumepisode an den Mann zu bringen«, spottete Eveline. Sie wirkte jedoch betreten. Tatsächlich dauerte es nur einen Moment, bis eine Stimme sie unüberhörbar aufforderte, runter zu kommen. Doris wollte die Sache hinter sich bringen und holte den Polizisten ins Wohnzimmer. Bevor sie ihr nächtliches Erlebnis vortragen konnte, wurde sie barsch mit der Frage konfrontiert, weshalb sie in die Wohnung von Frau Smith eingedrungen seien.

»Eingedrungen? Nein, das stimmt so nicht«, versuchte Doris den Cop mit dem bauschigen Schnauz umzustimmen. Er zog reflexartig ein Notizheft aus seinem Gilet und hakte nach. »Was hatten Sie dort zu suchen?«

Eveline sprang ein: »Das ist denkbar einfach. Wir vergaßen, Eier einzukaufen und der Bequemlichkeit halber wollten wir welche bei unserer Nachbarin ausleihen. Das war jedoch ein Vorwand, um uns einen Einblick zu verschaffen. Meine Freundin beobachtete letzte Nacht einen dubiosen Vorgang.«

»Um was geht es da?«

Endlich kam Doris dazu, ihre Version der Geschichte, die Mutmaßungen und voreiligen Kurzschlüsse vorzutragen. Angesichts der Aussagen, begann der Beamte, vorsichtig nachzufragen.

»Und warum haben Sie uns nicht sofort alarmiert?«

»Ich war so verwirrt, dass ich nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden konnte. Und als ich dann entdeckt habe, wie die Frau hektisch und scheinbar planlos began, eine Grube auszuheben, leuchtete bei mir ein oranges Licht auf.«

»Eine Grube?«

»Ja, im Garten nahe dem blühenden Weihnachtsbaum. Ich befürchtete ernsthaft, sie wolle die Leiche vergraben.«

Bevor der Beamte zu dieser Situationskomik etwas beitragen konnte, griff er zum Handy, um seinen Kollegen zu informieren. Die Intervention könne andauern, meinte der Cop lakonisch. Den Frauen schwante, dass jede von ihnen auf ihre Art in ein Schlamassel hineinschlitterte.

»Also, ihre Befürchtungen entbehren jeglicher Grundlage. Kurz zusammengefasst: Es gibt keine Leiche. Frau Smith hat den Mann, angeblich in Notwehr ernsthaft verletzt. Was sich ungefähr mit Ihren Beobachtungen von letzter Nacht deckt. Sie ist jedoch heute Nachmittag mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Es ist ein gravierender Zwischenfall, deshalb wurden wir umgehend informiert. Der Ursprung ist eine alte Geschichte, die hier ihre Fortsetzung findet. Frau Smith bekam Angst nach Ihrem forschen Eindringen in ihr Haus.«

»Warum? Was hat das alles mit uns zu tun?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären.«

»War der Mann im Gefängnis?«, hakte Doris nach. Der Beamte reagierte sofort.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, konterte er sichtlich hellhörig geworden.

»Am Pohukutawa-Baum waren gelbe Bänder befestigt und wir haben uns an den amerikanischen Country-Song erinnert. Natürlich haben wir uns vorgestellt, dass sich diese Legende erneut vor unseren Augen abspielt.«

»Es ist wirklich so, dass Herr Brown gestern aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen eines Bankraubs eingesessen. Allerdings konnte die Beute nie ausfindig gemacht werden. Was ich unbefugter Weise jetzt ausplaudere. Die nächtliche Auseinandersetzung muss im Zusammenhang mit der versteckten Beute stehen.«

»Und welche Anschuldigungen erhob diese Frau Smith konkret gegen uns?«

»Sie behauptet hartnäckig, dass Sie Komplizen von Herrn Brown sind und ihr nachstellen würden. Sie hat offensichtlich Kenntnis von Kontakten in die Schweiz, die mit dem Bankraub zusammenhängen.«

»Handlanger, ausgerechnet wir!« Doris lachte lauthals he-raus. Eveline wandte sich mit bleichem Gesicht ab, was Doris nicht entging.

»Kannten Sie Herrn Charly Brown?«

»Wie sollte ich«, entgegnete Doris ungehalten.

»Und Sie?« Der Polizist beobachtete Eveline aufmerksam.

»Charly Brown, sagen Sie. Das ist doch eine Komikfigur?» Sie lachte verlegen.

Der Ermittler insistierte nicht. Er bedankte sich, ließ eine Visitenkarte da und verabschiedete sich höflich. Doris kam das Verhalten von Eveline auffällig vor.

»Du hast seine Frage nicht beantwortet. Kennst du diesen Brown?«

Eveline senkte wortlos den Kopf. »Ja, ich erinnere mich schwach an einen Charly Brown. Das ist aber schon lange her.«

Doris schaute sie sprachlos an. Eveline starrte zu Boden und begann stockend zu erzählen: »Ich gebe mich geschlagen und lege die Karten auf den Tisch. Es ist keine Weihnachtsgeschichte, eher ein Drama.«

Sie legte eine kurze Pause ein und fuhr dann angespannt fort: »Nach der offiziellen Schulzeit verbrachte ich ein Jahr als Au-pair-Mädchen in Neuseeland.»

»Was? Das hast du mir voll unterschlagen«, schrie Doris.

»Du hast mich auch nie gefragt. Lass mich jetzt einfach berichten, ohne mich zu unterbrechen.«

»Damals betreute ich bei einer Familie zwei Kinder. Ich brachte sie zur Schule, räumte das Haus auf und ging einkaufen. Am Nachmittag besuchte ich einen Sprachkurs.«

»Daher deine Englischkenntnisse. Warum hast du mir nie davon berichtet?«

»Weil ich diese Zeit aus meinem Gedächtnis streichen wollte. Aber es gelang mir nicht. Darum habe ich diese Reise vorgeschlagen. Die Vergangenheit holte mich immer wieder ein.«

»Mir hast du das aber anders verkauft. Auf was soll das alles hinauslaufen?« Die Lautstärke von Doris Stimme schwoll zu einem Sturm an.

»Das wirst du schon noch kapieren, sofern du mir nicht dauernd ins Wort fällst. Also, ich wohnte bei dieser Familie.«

Wieder unterbrach Doris sie: »Familie Brown?«

»Ja, Charly und Margreth Brown. Eines Morgens kam er unerwartet nach Hause. Ich war am Putzen. Er bot mir an, mir Autofahren beizubringen. Ich war noch nicht achtzehn und hatte demzufolge auch noch keinen Lernfahrausweis. Diese Aussicht, am Steuer eines Autos zu sitzen, ließ mich nicht unberührt. Er bekräftigte nachdrücklich, dass nichts passieren könne, weil wir auf einem abgelegenen Parkplatz trainieren würden. Tatsächlich konnte ich nach ein paar Übungsstunden ziemlich gut fahren. In Abwesenheit von Margreth musste ich Charly zwei Wochen später vor eine Bank in einem Vorort chauffieren. Er befahl mir, mit laufendem Motor auf dem Parkplatz zu warten und bei seiner Rückkehr sofort wegzufahren. Ich ahnte, was er im Schilde führte. Mir lief es kalt den Rücken runter. Er drohte mir, falls ich nur irgendetwas über dieses Abenteuer ausplaudern sollte, sei ich geliefert. Er heizte mir ein, mich bei der Polizei wegen Fahrens ohne Führerschein anzuzeigen. Die Konsequenzen seien so klar wie das Amen in der Kirche. Auslieferungshaft und Abschiebung in die Schweiz. Jung und blauäugig wie ich war, nahm ich ihm ohne Widerrede alles ab. Ich fühlte mich diesem Monstrum total ausgeliefert. Charly zog sich umständlich eine Nylonmaske über und peilte mit einer grauen Schultertasche die Eingangstüre der Bank an. Mein Realitätssinn schien blockiert. Ich hätte gefahrlos wegfahren können. Aber ich verpasste die Gelegenheit. Ich saß da wie gelähmt. Minutenlang passierte nichts. Ein paar Passanten querten den Platz, aber keiner von denen trat in die Bank. Und schon gar kein Kunde verließ die Bank. Es war unheimlich, gespenstig und schauerlich am helllichten Tag. Nach ein paar beklemmenden Minuten stürmte Charly triumphierend aus der Bank, riss die Maske ab und warf sie in hohem Bogen auf die Straße. Über den Schultern hing die prallgefüllte Sporttasche. Blindlings rannte er auf den wartenden Wagen zu. Während er mir kaltschnäuzig befahl, loszufahren, hörte ich das Aufheulen einer Sirene. Mir war hundselend zumute. Der nachfolgende schreckliche Zwischenfall blieb mir bis heute nachhaltig im Gedächtnis haften. Eine ältere Dame querte in einer leichten Kurve den Fußgängerstreifen. Charly befahl, nach rechts auszuweichen und zu beschleunigen. Auf der Höhe des Streifens verspürte ich am Heck einen dumpfen Stoß. Mein Magen spielte verrückt. Brechreiz plagte mich.«

Eveline konnte nicht mehr weitersprechen.

»Entschuldige mich einen Moment. Es wird mir heute noch übel, wenn ich daran denke.«

, geboren 1957, lebt im Wallis im Süden der Schweiz. Als gelernte Betriebswirtschafterin ist sie als Krimiautorin eine Quereinsteigerin. Sie schreibt Genusskrimis und Kurzgeschichten. In der Freizeit pflegt sie den Naturgarten, kocht, isst gerne gut und trinkt mit Genuss ein Gläschen Wein.

Mehr über die Autorin unter: /www.bonvinc.bonne-eau.ch