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Systematische Musikwissenschaft
und Musikkulturen der Gegenwart

Systematische Musikwissenschaft
und Musikkulturen der Gegenwart

Herausgegeben von Claudia Bullerjahn

Band 7

Üben am Instrument

Übertragbarkeit der Expertiseforschung auf normalbegabte, popularmusikalisch interessierte Schüler

von

Georg Wissner

Tectum Verlag

Georg Wissner

Üben am Instrument

Übertragbarkeit der Expertiseforschung auf normalbegabte, popularmusikalisch interessierte Schüler

Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart; Band 7

Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften

Umschlagabbildung: © Georg Wissner

ePub: 978-3-8288-7100-7

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4202-1 im Tectum Verlag erschienen.)

ISSN: 1867-7630

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018

 

Besuchen Sie uns im Internet:
www.tectum-verlag.de

 

 

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltverzeichnis

I. Vorwort der Herausgeberin

II. Vorwort des Autors

III. Einleitung

IV. Definitionen, Theorie und Forschungsstand

Was ist Üben?

Was ist Normalbegabung?

Erkenntnisse der Expertise- und Übeforschung

Das Konzept der ›deliberate practice‹

Wer ist ein Experte und wer nicht? Eine Definition

Talent vs. Übung

Die Rolle der Eltern

Musikalische Vorerfahrung

Die Rolle der Motivation beim Üben

Externale Handlungshemmnisse

Übeverhalten

Feedback des Lehrers (Unterrichtsgüte)

Die Rolle der Infrastruktur

Musikalische Leistung vs. Aktivität

Probleme und Versäumnisse der Expertiseforschung

Generalisierung der Erkenntnisse auf andere Instrumente

Methodische Forschungsprobleme und Versäumnisse

Einschränkung durch Beschränkung auf Experten

V. Fragestellung und Ziele

Modell zur Übepraxis normalbegabter jugendlicher Instrumentalschüler: ›amateur practice‹

Forschungsfragen und Hypothesen

VI. Methode

Messinstrumente

Vorstudie

Durchführung der Datenerhebung

Beschreibung der Stichprobe

Statistische Auswertung

VII. Ergebnisse

Datendeskription

Musikalische Vorerfahrung (FmV – Anhang A)

Übeverhalten (FÜV – Anhang B)

Übemotivationsfragebogens (ÜMF – Anhang C)

Infrastruktureller Background (FiBEM – Anhang D)

Externale Handlungshemmung (FeH – Anhang E)

Elterliche Unterstützung beim Erlernen eines Musikinstrumentes (FEZEM – Anhang F)

Musikalische Aktivität (FmA – Anhang G)

Musikpräferenz (FMP – Anhang H)

Faktorenanalytische Auswertung und Messmodelle

Musikalische Vorerfahrung (FmV)

Übeverhalten (FÜV)

Übemotivation (ÜMF)

Infrastruktureller Background (FiBEM)

Externale Handlungshemmung (FeH)

Elterliche Unterstützung beim Erlernen eines Musikinstruments (FEZEM)

Musikalische Aktivität (FmA)

Modellierung und Modellschätzung

Beantwortung von Forschungsfragen und Hypothesentestung

VIII. Diskussion

Modellinterpretation

P- und K-Schüler im Vergleich

Kritische Anmerkungen zur Studie

Dichotome Zuordnung der Musikpräferenz

Abbruchquote

Fehlende Werte

Stichprobengröße

Verwendung der gleichen Stichprobe für explorative und konfirmatorische Analysen

Befragungszeitraum

IX. Fazit

Mit Blick auf die Praxis

Schlusswort

X. Literaturverzeichnis

XI. Verzeichnisse, Erläuterungen und verwendete Abkürzungen

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Verwendete Abkürzungen

Erläuterung der Mess-, Pfad- und Strukturgleichungsmodelle

XII. Register

XIII. Anhang

Abbildungen

Tabellen

Fragebogen

A.   Fragen zur musikalischen Vorerfahrung (FmV)

B.   Fragen zum Übeverhalten (FÜV)

C.   Übemotivationsfragebogen (ÜMF)

D.   Fragen zum infrastrukturellen Background beim Erlernen eines Musikinstrumentes (FiBEM)

E.   Fragen zu externalen Handlungshemmnissen (FeH)

F.   Fragen zur Elternförderung im Zusammenhang mit dem Erlernen eines Musikinstruments (FEZEM)

G.   Fragen zur musikalischen Aktivität (FmA)

H.   Fragen zur Musikpräferenz (FMP)

I. Vorwort der Herausgeberin

Musik ist zweifelsohne ein wichtiger Bestandteil im Leben heutiger Kinder und Jugendlicher. Dies hat vor allem mit der generellen, unmittelbaren und häufig kostenlosen Verfügbarkeit von Musik über heutige Medien zu tun, die eine eigenständige Rezeption und damit Abgrenzung von Eltern und sonstigen Autoritätspersonen ermöglicht. Jedoch erfolgt eine Beschäftigung mit Musik zumeist nur über das Hören und gegebenenfalls Tanzen, wobei populäre Musik im Vordergrund steht. Viel weniger Kinder und Jugendliche unterziehen sich zusätzlich den Mühen des Erlernens eines Instruments und dies zumeist unter Anleitung eines Lehrers oder einer Lehrerin, mit dem oder der zusammen vornehmlich ein klassisches Repertoire an Musikstücken erarbeitet wird. Allerdings ist gerade im Jugendalter die autodidaktische Aneignung von Techniken des Instrumentalspiels oder der vielfältigen Möglichkeiten elektronischer Musikproduktion ebenfalls verbreitet, was individuelles und/oder gemeinsames Songwriting und Jammen ermöglicht. Ist für den musizierenden Zugang zu populärem Repertoire somit überhaupt eine Instrumentallehrkraft erforderlich?

Unbestreitbar erfordert auch das autodidaktische Lernen Übung: Über das Ausprobieren, das Konsultieren von Instrumentalschulen für Selbstlerner und YouTube-Lehrgängen sowie die Beobachtung von musizierenden Peers und anderen Vorbildern erkunden Jugendliche die Möglichkeiten ihres Instruments und eignen sich nach und nach verschiedene Techniken zum Spielen konkreter Songs an. Das autodidaktische Üben war bisher jedoch selten Gegenstand der Forschung (vgl. z. B. Green 2002). Ein noch größeres Forschungsdefizit ist bezogen auf das Üben von solchen Jugendlichen auszumachen, welche bei einem Lehrer an einer Musikschule ein Instrument erlernen, das mehrheitlich in der populären Musik Verwendung findet (z. B. E-Gitarre) oder mit dem ein populäres Repertoire aufgebaut werden soll. Zwar handelt es sich beim Thema ›Üben‹ um eines der wichtigsten Forschungsfelder in der Musikpädagogik und in der Musikpsychologie (vgl. z. B. Miksza 2011; Lehmann/Jørgensen 2012; Jørgensen/Hallam 2016), jedoch spielt dabei das Erlernen von populären Musikstilen oder von Instrumenten, die Standard einer Rockband sind, keine Rolle. Allerdings deuten bisherige Ergebnisse zum Aufbau einer musikalischen Expertise über Üben darauf hin, dass bestimmte Überstrategien effektiver sind als andere und dass ein Lehrer dabei helfen kann oder vielleicht sogar erforderlich ist, die effektivsten Übestrategien kennenzulernen und die Einsicht zu gewinnen, welche Strategien wenig effizient und deshalb nur Zeitverschwendung sind (vgl. z. B. den Forschungsüberblick in Heller/Bullerjahn/von Georgi 2015, S. 2 f.). Denn auch wenn Jugendliche mehrheitlich keine virtuosen Leistungen anstreben, mit denen sie internationale Wettbewerbe gewinnen könnten, so geht es ihnen doch darum, eine gewisse Kompetenz aufzubauen, und sollte diese auch nur darin bestehen, endlich mit der eigenen Band ein Cover von Smoke On The Water spielen zu können.

Ausgangspunkt des vorliegenden Buches, dem eine von mir betreute Dissertation am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen zugrunde liegt, sind vor allem eigene Erfahrungen Georg Wissners als Gitarrenlehrer an verschiedenen Musikschulen sowie bereits durchgeführte eigene empirische Studien zum Thema Üben beispielsweise im Rahmen seiner Magisterarbeit. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht der durchschnittliche, von ihm »normalbegabt« genannte Instrumentalschüler, der wie die Mehrheit seiner Altersgenossen frühestens in der mittleren Grundschulzeit mit dem Instrumentalunterricht beginnt, eine Präferenz für das Hören und Musizieren von Popularmusik hat und wenig Zeit und Lust zum Üben. Georg Wissner interessiert, ob die im Rahmen der Expertiseforschung als am wichtigsten proklamierten Einflussfaktoren, wie eine hohe Anzahl an Übungsstunden, das hoch strukturierte, zielgerichtete, anstrengende und von einem qualifizierten Lehrer überwachte Üben (›deliberate practice‹) mit bewussten Pausen sowie große elterliche Unterstützung für diese Klientel in gleicher Weise von Bedeutung sind, oder ob sie vielleicht durch weitere Faktoren aus der allgemeinen Übeforschung (wie Motivation, infrastruktureller Hintergrund und externale Handlungshemmnisse) zu ergänzen oder durch andere Konzepte vielleicht sogar zu ersetzen sind. Sein Wunsch ist dabei auch, dass seine Erkenntnisse später in Lehrwerken für Instrumentallehrer und -schüler Berücksichtigung finden mögen, um einen zeitgemäßen, an den Zielsetzungen der durchschnittlichen Schüler ausgerichteten und für beide Seiten gewinnbringenden Unterricht zu ermöglichen.

Georg Wissner beginnt als Ausgangspunkt für seine eigene Untersuchung mit einem umfassenden Theorieüberblick, wobei er Begriffe wie ›Üben‹, ›Normalbegabung‹ und ›Experte‹ erläutert und Erkenntnisse der Expertise- und Übeforschung zusammenfasst. Dabei werden auch Probleme und Versäumnisse bisheriger Forschung nicht ausgespart. Diese Betrachtungen münden in sein Modell zur ›amateur practice‹, also der Übepraxis normalbegabter jugendlicher Instrumentalschüler, und Forschungsfragen sowie Hypothesen.

Als Methode zur Datenerfassung wählt er die Befragung von Instrumentalschülern über einen längeren Fragebogen, der die musikalische Vorerfahrung, das Übeverhalten, die Übemotivation, den infrastrukturellen Background, externale Handlungshemmungen, elterliche Unterstützung, musikalische Aktivität und Musikpräferenz erfasst. Die vielen gesammelten Einzeldaten dienen der Bildung und Überprüfung eines linearen Strukturgleichungsmodells (SEM), um einen tiefergehenden Einblick in das Beziehungsgeflecht der relevanten Faktoren für das Üben jugendlicher Instrumentalschüler zu erlangen. Dabei geht es ihm letztlich auch um einen Vergleich zwischen Schülern, die eher am Musizieren klassischer Musik interessiert sind, und solchen, die populäre Musik machen wollen.

Mögen die Ergebnisse des vorliegenden Buches, dessen besondere Stärke die Überprüfung von Erkenntnissen der Übe- und Expertiseforschung hinsichtlich ihrer Relevanz für den Unterricht von normalbegabten Instrumentalschülern ist und welches populäre Musik nicht wie bisher viele Publikationen marginalisiert, möglichst bald Eingang in den Unterricht an deutschen Musikschulen und den von Privatmusiklehrern finden und dabei helfen, die Effektivität des Unterrichts in Hinblick auf eine Vorbereitung des Übens zu steigern, indem die Ziele und Wünsche solcher Jugendlichen nicht nur erkannt, sondern auch ernst genommen werden und sie von Lehrern und Eltern die Unterstützung beim Musik machen erhalten, die sie auch brauchen.

Gießen, im März 2018

Claudia Bullerjahn

II. Vorwort des Autors

Bereits seit über zwanzig Jahren gebe ich Instrumentalunterricht und habe dabei Schüler jeden Alters und jeder Leistungsklasse unterrichtet. Eines hat sich dabei immer wieder deutlich gezeigt: Lehrbücher, Tipps zum Üben und generelle Empfehlungen zur Erreichung eines Fortschritts am Instrument müssen zum einen für den jeweiligen Schüler gezielt ausgesucht werden und zum anderen auf ihre Eignung für den jeweiligen Unterricht, vor allem im popularmusikalischen Bereich, überprüft werden. Der überwiegende Anteil der vorhandenen Literatur und Lehrwerke zum Üben entstammt einer an klassischer Musik und deren Methodenrepertoire orientierten Lehre. Allerdings finden sich solche rein klassisch orientierten Schüler im heutigen Instrumentalunterricht kaum noch. Die populäre Musik ist gegenüber der Klassik ein Teil der Lebenswirklichkeit der Schüler und beeinflusst in starkem und immer noch zunehmendem Maße auch die Inhalte im Unterricht.

Wie also soll man mit Schülern umgehen, die einerseits klar an der populären Musik interessiert und orientiert sind und andererseits mit klassischer Musik und deren Methodenrepertoire nicht zufriedenstellend zu unterrichten sind? Sicher können einige der bekannten Methoden und Techniken beim Üben auch in der populären Musik Anwendung finden, eine direkte Eins-zu-eins-Übertragung ist aber kontraproduktiv und führt langfristig zu Unmut und Demotivation bei Schülern und Lehrern.

Muss ein Schüler, der beispielsweise ein bestimmtes Gitarrensolo lernen möchte, wirklich unweigerlich zuerst die entsprechend zugrunde liegende Skala perfekt als Fingerübung beherrschen oder sind vielleicht andere Herangehensweisen, gerade vor dem Hintergrund eines nicht expertiseorientierten Anspruches, denkbar? Muss zuerst ein bestimmtes Repertoire an Etüden und Übungen durchgearbeitet werden, bevor man sich an ›echte‹ Werke heranwagen darf, oder können erforderliche Kenntnisse möglicherweise auch direkt am konkreten Stück vermittelt werden?

Aus der Sicht des Lehrers heraus kann ich die tradierten Methoden nicht per se als schlecht, altmodisch oder überkommen verurteilen. Generationen von Musikern haben damit gelernt und ihre Ziele erreicht. Doch kann dies im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass aktuelle Strömungen, wie zum Beispiel die Flut von Lernangeboten im Internet als Randerscheinungen oder kurzlebige Trends abgetan und in der Unterrichtsdidaktik nicht behandelt werden sollten. Im Gegenteil! Die vielfältigen Möglichkeiten, die sich durch neue Medien, neue Musikrichtungen und auch durch das technische und methodische Repertoire der populären Musik ergeben, müssen in einen modernen, zeitgemäßen Unterricht Eingang finden und können letztlich nur zu einer Verbesserung des Unterrichts insgesamt und somit zu einer Verbesserung des häuslichen Übeverhaltens der Schüler und deren Motivation beitragen.

Was mir in der Unterrichtsvorbereitung immer wieder aufgefallen ist, sind die großen Lücken in der Forschung und damit auch der angebotenen Literatur in diesem Bereich. Zwar sind im Rock/Pop-Bereich vielfältige Lehrwerke vorhanden, doch orientieren sich deren Aufbau und die darin verwendeten Methoden doch immer wieder an klassischen Techniken und Althergebrachtem. Offensichtlich wird die Übemethodik weitgehend unreflektiert von Generation zu Generation übernommen. Dem unbestreitbaren Wandel jugendlicher Lebenswelten trägt dies nicht Rechnung. Dabei müssten gerade populär orientierte Musiker um die Besonderheiten ihres Genres hinsichtlich des Übens wissen.

Diese Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit des alltäglichen Musikunterrichts und dem Angebot an Lehrwerken, den Tipps und Meinungen anderer Lehrer und Musiker und den Wünschen und Motivationen der Schüler hat mich dazu veranlasst, den Grundlagen des Übens bei populär orientierten Instrumentalschülern auf den Grund zu gehen, um zum einen herauszufinden, wie das häusliche Üben jugendlicher normalbegabter Instrumentalschüler vor allem im popularmusikalischen Bereich tatsächlich abläuft und zum anderen, wie man dieses optimiert, zeitgemäß und motivierend gestalten kann.

»Forschung zur populären Musik führt in der Musikpsychologie ein Schattendasein. Die Gründe hierfür sind vielfältig und das Forschungsdefizit widerspricht der großen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Musik« (Lehmann/Kopiez 2013, S. 26).

Zu Gunsten der besseren Lesbarkeit des Textes wurde auf eine durchgängige zweigeschlechtliche Bezeichnung verzichtet und stattdessen nur die männliche Form verwendet. Grundsätzlich sollen aber alle Aussagen stets für beide Geschlechter gelten, wenn nicht anders erwähnt.

Mein Dank gilt allen Personen, die während der Promotionsphase und der Erstellung meiner Dissertation mit hilfreicher Kritik, anregenden Hinweisen und emotionaler Unterstützung dafür gesorgt haben, dass ich diese Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte. Besonders bedanken möchte ich mich beim Verband Deutscher Musikschulen (VDM), der die Benutzung des offiziellen Verbandslogos für die Umfrage freigegeben hat und diese über den Email-Verteiler des Verbands mehrfach in den Mitgliedsschulen publik gemacht hat. Darüber hinaus gilt mein Dank dem Inhaber des Musikhauses Schönau in Gießen, Herrn Hans-Joachim Reh, der die Studie durch mehrere Gutscheine zur Verlosung finanziell unterstützt hat. Ganz besonders hervorheben möchte ich alle meine Schüler, die ich in den letzten zwanzig Jahren unterrichten durfte, und die durch ihre Anregungen und ihre individuellen Persönlichkeiten den Anstoß zu dieser Arbeit gaben.

Pohlheim, im Februar 2018

Georg Wissner

III. Einleitung

Bereits seit mehr als einhundert Jahren versuchen Forscher die Mechanismen zu ergründen, die sich hinter der Aneignung von Können und Leistungen auf verschiedenen Gebieten wie Sport, Schach oder Musik verbergen (vgl. Jørgensen/Lehmann 1997, S. 5). Die Forschung erstreckt sich dabei allerdings in vielen Fällen ausschließlich auf den Bereich von besonderer Begabung und das Erlangen außergewöhnlicher Expertise, die Untersuchungen bislang fast ausschließlich auf hochbegabte Schüler, Studenten und Experten (z. B. Kaczmarek 2012). Daraus resultiert die Frage, ob die gewonnenen Erkenntnisse sich, wie oft versucht, nahtlos auf den Bereich von Normalbegabung und durchschnittlicher Leistung beziehungsweise einem durchschnittlichen Leistungswillen übertragen lassen. Susan Hallam bemerkt mit Blick auf die Forschung dazu:

»Stichproben sind auch so eine Sache. Forschung, die nur definierte Experten ihres Faches berücksichtigt, berücksichtigt nicht jene, die möglicherweise als mittelmäßig zu beschreiben sind, obwohl Individuen in dieser Gruppe vielleicht dieselben langen Übezeiten haben« (Hallam 1998, S. 37).

Aufgrund dieser Forschungsfixierung muss auch überprüft werden, inwieweit die oft angeregte Praxisimplikation von Forschungsergebnissen in der musikpädagogischen Realität überhaupt Bestand haben kann. Die musikalische Jugendbildung, wie sie vornehmlich als Instrumentalunterricht in Einzel- oder Gruppenform von den öffentlichen und privaten Musikschulen in Deutschland angeboten wird, erstreckt sich hauptsächlich auf die Arbeit mit normalbegabten Schülern mit durchschnittlichem Leistungsanspruch. Des Weiteren belegt die populäre oder U-Musik seit Jahren einen Platz im Unterricht, der in den meisten Fällen die Beschäftigung mit der klassischen E-Musik, spätestens mit Eintritt in das Jugendalter, weit in den Hintergrund drängt. Aus diesem Grund scheint die Forschung in diesem Gebiet von besonderer Bedeutung.

»Die Populäre Musik umgibt uns ständig – ob wir sie nun schätzen oder nicht. Das allein sollte für Systematische Musikwissenschaftler, Musikpsychologen und andere Musikforscher Grund genug sein, sich dieser Musik zuzuwenden. Allerdings ist […] international bislang erstaunlicherweise sehr wenig empirische Forschung zu diesem Sujet zu verbuchen« (Lehmann/Kopiez 2013, S. 25).

Aus dieser Divergenz zwischen Forschung und Praxis ergibt sich die Problemstellung der empirisch zu prüfenden Vereinbarkeit von Erkenntnissen der Expertiseforschung mit den Gegebenheiten im musikpädagogischen Alltag der Instrumentalerziehung. Schon Günter Kleinen wies darauf hin, dass man im Instrumentalunterricht vorwiegend auf normalbegabte Schüler trifft und bemerkte darüber hinaus:

»Daher muss ein entscheidender Ansatzpunkt bei den Musikinteressen liegen, die es zu fördern und auszubauen gilt« (Kleinen 1988, S. 891).

Eine Untersuchung zum Einfluss gezielter Übeinstruktionen auf den musikalischen Lernerfolg bei Instrumentalschülern zeigte bereits, dass einfache alltägliche Hinweise – etwa zur Benutzung eines Notenständers oder der Einrichtung eines geeigneten Übeplatzes – keinen signifikanten Nutzen beim Üben haben (vgl. Wissner/Bullerjahn/von Georgi 2006). Eine im Rahmen meiner Magisterarbeit durchgeführte Studie zu Konzepten zum Üben am Instrument, deren Stichprobe sich aus dem Schülerstamm verschiedener, populär-musikalisch ausgerichteter Musikschulen sowie aus Studenten verschiedener Fachbereiche speiste, lässt darüber hinaus Zweifel an einigen tradierten Feststellungen der Expertiseforschung aufkommen (vgl. Wissner 2010). Wie erklärt es sich beispielsweise, dass Teilnehmer, die sich eher als Autodidakten einschätzen, in der durchgeführten Studie längere tägliche Übezeiten aufweisen als Instrumentalschüler? Und warum üben diese Autodidakten häufiger mit innovativen Übetechniken wie Playalongs, Tutorials oder Selbstaufnahme als ihre durch Unterricht angeleiteten Altersgenossen? Hier liegt die Vermutung nahe, dass auch die zumeist populär orientierten, vorwiegend von autodidaktischem Lernen geprägten Schüler ein hochwertiges Üben praktizieren, welches aber in seiner Ausgestaltung nicht zwingend den Grundsätzen der deliberate practice folgen muss. Dahingehende Vermutungen äußern auch Andreas Lehmann und Reinhard Kopiez:

»Die an klassischer Musik gewonnenen musikpsychologischen Erkenntnisse sind nicht auf die Populäre Musik übertragbar: So verläuft die Expertisierung von Popmusikern häufig informell (z. B. autodidaktisch), das Songwriting ist etwas anders als das Komponieren und die Persönlichkeitsmerkmale klassischer Musiker unterscheiden sich höchstwahrscheinlich von denen der Popmusiker.« (Lehmann/Kopiez 2013, S. 27).

Ebenso interessant erscheint, dass im Falle einer intrinsischen, lustbetonten Motivation hinsichtlich des Instrumentalspiels höhere Übezeiten angegeben werden als bei extrinsischer Motivation. Dies wirkt auf den ersten Blick vollkommen logisch, wirft aber Fragen in Bezug auf das Konzept der deliberate practice auf, welches hohe Übezeiten erfordert, aber gleichzeitig wiederholt betont wird, dass ein Üben im Sinne der deliberate practice selten lustbetont sei (vgl. Ericsson/Krampe/Tesch-Römer 1993). Auch im Hinblick auf das geforderte informative Feedback ergab sich in der durchgeführten Studie eine interessante Tendenz bezüglich der schriftlichen Fixierung von Hausaufgaben im Instrumentalunterricht: Je weniger schriftlich festgehalten wurde, umso höher waren die täglichen Übezeiten (vgl. Wissner 2010, S. 86). Auch hierbei stellt sich die Frage nach der Ausgestaltung des Übens und des damit verbundenen Ergebnisses. Eine durch den Lehrer fixierte Festlegung von Hausaufgaben, wie sie im Konzept der deliberate practice als wichtig erachtet wird, schränkt möglicherweise den eigenen kreativen Umgang mit dem Übematerial ein und verhindert somit eventuell eine selbstgewählte, möglicherweise lustbetontere Gestaltung des Übens.

Hinsichtlich der Rolle der Eltern, welchen in der Expertiseforschung eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, zeigte sich, dass in über 75 Prozent der Fälle die Eltern (oder der Partner) nicht am Übeprozess teilhaben. Dieser Umstand korreliert aber nicht mit der Dauer der Übezeit (vgl. Wissner 2010, S. 62). Offensichtlich gibt es also tatsächlich deutliche Diskrepanzen im Üben von populär und klassisch geprägten Instrumentalisten. Diese Diskrepanzen und Forschungslücken müssen aufgeklärt und verstanden werden, um letztlich zu Empfehlungen und einem Unterricht zu gelangen, der alle Instrumentalschüler auf ihrem jeweiligen Niveau, ihrer musikalischen Ausrichtung und ihrem spezifischen Leistungsanspruch umfassend fördern kann.

»Obwohl das Thema Üben für jeden Musiker von großer Bedeutung ist, gibt es in der deutschen Literatur sehr wenig Forschung auf diesem Gebiet. Dokumentierte Reflexionen oder Beobachtungen des Übens bzw. des Übeverhaltens sind selten zu finden. […] Gleichzeitig wurden aber nicht viele experimentelle Untersuchungen auf diesem Gebiet gemacht« (Kaczmarek 2012, S. 56).

In vorliegender Arbeit sollen entgegen der gängigen Praxis vor allem jene Aspekte Berücksichtigung finden, die bislang in der Übeforschung vernachlässigt wurden. Dies bedeutet insbesondere eine Fokussierung auf ganz gewöhnliche, ›normalbegabte‹ jugendliche Instrumentalschüler, die sich vorwiegend im Bereich der Rock- und Popmusik heimisch fühlen beziehungsweise ein Instrument des Pop/Rockinstrumentariums spielen und sich in der Regel in ihrem Leistungsanspruch jenseits von außergewöhnlicher Expertise, wie etwa bei musikalischen Preisträgern unter ihren Altersgenossen, bewegen. Sie verfolgen weder das Ziel, virtuose Fähigkeiten auf einem Instrument zu erlangen, noch haben sie die Absicht, sich ein umfangreiches Spielrepertoire des klassischen Werkekanons anzueignen. Oft streben sie sogar nur an, ein ganz bestimmtes, ihnen schon vorher bekanntes Stück zu erlernen.

Da das Konzept der ›deliberate practice‹ bislang nur in Verbindung mit klassischer Musik und dem klassischen Instrumentenrepertoire an Experten oder weit fortgeschrittenen Schülern untersucht wurde, stellt sich ferner die Frage, ob sich populär und klassisch orientierte Schüler in ihrem Übeverhalten unterscheiden und inwieweit das Konzept der deliberate practice überhaupt bei diesen Gruppen greifen kann. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Üben und die Motivationen zum Erlernen eines Instrumentes bei diesen normalbegabten Schülern mit durchschnittlichem Anspruch an die eigene Leistung besser zu verstehen und mit den bisherigen Erkenntnissen aus der Übe- und Expertiseforschung, wie beispielsweise dem Zeitpunkt des Unterrichtsbeginns, der elterlichen Teilhabe, der Übezeit, des sozialen Umfeldes und Fragen der Motivation, abzugleichen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob es gravierende Unterschiede im Üben von Schülern im populären und klassischen Bereich gibt. Dies soll zur Beantwortung der Frage führen, ob die tradierten Empfehlungen zum Üben, die sich zumeist aus den Erkenntnissen der Expertiseforschung ableiten, überhaupt auf die alltägliche Übepraxis normalbegabter Schüler und deren Lebenswirklichkeit anwendbar sind.

Im Anschluss an definitorische Überlegungen und eine Aufarbeitung des Forschungsstandes in den Bereichen musikalische Übe- und Expertiseforschung wird eine eigene empirische Untersuchung vorgestellt, die auf der Befragung von mehreren hundert Instrumentalschülern verschiedener Musikschulen mit einem umfangreichen Fragebogen basiert und in die Bildung und Überprüfung eines linearen Strukturgleichungsmodells (SEM) mündet, wofür das Modul AMOS des statistischen Softwarepakets SPSS (Version 22) Verwendung fand.

IV. Definitionen, Theorie und Forschungsstand

Was ist Üben?

Eine der Standardfragen zu Beginn einer Unterrichtsstunde im Instrumentalunterricht lautet: »Hast Du geübt«? Doch was genau meint der Lehrer mit dieser Frage? Welches Erkenntnisinteresse verbirgt sich hinter dieser vermeintlich banalen Fragestellung?

Möchte der Lehrer wissen, ob die reine Spielzeit des Schülers am Instrument seinen Erwartungen entspricht oder eher die allgemeine Zeit der Auseinandersetzung mit dem zu übenden Material als zufriedenstellend beurteilt werden kann? Zielt die Frage möglicherweise auf die Anwendung spezifischer Übetechniken ab oder soll damit letztlich eine Einschätzung des Lernfortschrittes des Schülers abgefragt werden? Eines wird in jedem Fall deutlich; die Frage nach dem, was mit dem Begriff Üben im musikalischen Kontext gemeint ist, ist keine solch einfache, wie vielleicht vermutet. Oftmals dürfte auch dem Instrumentallehrer selbst nicht erschöpfend klar sein, worin genau der Kern seiner Frage nach dem Üben liegt.

Es gibt diverse Versuche, den Begriff des Übens auf mehr oder weniger einfache Art und Weise zu definieren. Bei Martin Gellrich findet sich ein guter Überblick, in welchem mehrere Sichtweisen dessen, was Üben sein kann (Arbeit am Instrument, Ausübung der Kunst, Optimieren und Automatisieren von Handlungen), zusammengefasst werden (Gellrich 2005, S. 243). Doch bereits Christian Harnischmacher (1998b, S. 188) bemerkt treffend: »Nun ist das Üben jedoch keine banale Handlung.«

Bei Ulrich Mahlert heißt es:

»Was Üben ist, lässt sich zunächst leicht in wenigen Worten sagen: ein in Wiederholungen erfolgendes Lernen und Vervollkommnen einer praktischen Tätigkeit« (Mahlert 2006, S. 9).

Folgt man dieser Definition, bleibt die Frage offen, ab wann man von einer gelungenen Vervollkommnung einer Tätigkeit sprechen kann. Auch müsste man jegliche kognitiv repräsentierte Form des Lernens beim Üben ausklammern. Dies widerspricht einer Sichtweise auf das Üben, die auch mentale Formen des Übens sowie den Aufbau mentaler Repräsentationen, konkreter Bewegungsabläufe und musikalischer Inhalte mit einbezieht. Eckart Altenmüller gibt hierzu eine erweiterte Definition, die genau jene Aspekte betont:

»Üben ist eine zielgerichtete musikalische Betätigung, die dem Erwerb, der Verfeinerung und dem Erhalt sensomotorischer, auditiver, visueller, struktureller und emotionaler Repräsentationen von Musik dient. Diese Definition ist durch folgende Aussagen zu ergänzen:

Üben setzt dabei nicht immer motorische Tätigkeit voraus, sondern kann auch als rein gedankliche Aktivierung und Verfeinerung dieser Repräsentationen geschehen. Wir sprechen dann vom mentalen Üben.

Üben schafft auch die körperlichen Voraussetzungen zur Realisierung der mentalen Repräsentationen in Wechselwirkung von zentralem Nervensystem und Körperperipherie« (Altenmüller 2006, S. 47).

Nancy Barry und Susan Hallam definieren das Üben am Instrument in Anlehnung an einen Eintrag in The New Lexicon Dictionary Of The English Language (Cayne 1990) als ein wiederholtes und systematisches Üben, mit der Absicht des Lernens beziehungsweise der Verbesserung der eigenen Leistung. Sie bemerken darüber hinaus, dass oftmals die Begriffe Üben und Training simultan verwendet werden.

»Practice is defined as ›repeated performance or systematic exercise for the purpose of learning or acquiring proficiency‹ (Cayne, 1990, p. 787). In many contexts, such as sports and psychology, training and practice are often used synonymously« (Barry/Hallam 2002, S. 151).

Dabei wirft dieser Definitionsversuch mehr Fragen auf, als er beantwortet. Es bleibt etwa unklar, was mit ›systematischem Üben‹ gemeint ist. Allerdings wird hier bereits deutlich, dass der Begriff des Übens oft aus anderen Disziplinen wie dem Sport abgeleitet wird und möglicherweise auch aus der Sichtweise dieser Disziplinen beeinflusst ist.

Auf den Faktor Zeit und dessen effektiver Nutzung beim Üben geht Hallam ein. Bei ihr liegt der Fokus somit auf der Effizienz des Übeprozesses.

»Man mag daher effektives Üben eher auf eine Definition zurückführen, nach der das gewünschte Endprodukt in der kürzest möglichen Zeit erreicht wird, ohne in Konflikt mit langfristigen Zielsetzungen zu geraten. In anderen Worten ist effektives Üben, was beim Lernen des zu Lernenden ›funktioniert‹« (Hallam 1998, S. 17; s. auch Hallam/Rinta/Varvarigou und andere 2012, S. 653).

Ein in vielen Definitionen wiederkehrender Faktor stellt die Wiederholung beim Üben dar. Dies ist insofern wenig verwunderlich, als dass die Methode des wiederholenden Übens die von vielen Instrumentalschülern bevorzugte ist (Kopiez 1990, S. 25; Wissner 2010, S. 64). G. S. Reed definiert das Üben als eine Handlung des Optimierens und Automatisierens bis hin zur Sicherheit und Geläufigkeit. Er bemerkt aber, dass die reine Wiederholung nicht die beste Art der Übung ist, sondern die Art und Weise des Übens entscheidend ist (Reed 1976, S. 123). Demzufolge muss angemerkt werden, dass der Begriff der Automatisierung keinesfalls mit dem der reinen Wiederholung gleichzusetzen ist. Vielmehr führen die Verknüpfung verschiedener Methoden und die Auswahl der effektivsten Methode für die jeweilige Aufgabe zu den befriedigendsten Ergebnissen. Allzu oft kann man aber im Instrumentalunterricht feststellen, dass die Schüler ganze Stücke lediglich immer und immer wieder im Ganzen wiederholen, ohne gezielt auf auftretende Probleme einzugehen. Dabei ist das wiederholende Üben als Methode nicht generell zu verteufeln, sofern es abwechslungsreich und gezielt eingesetzt wird (vgl. Ernst 2006, S. 99).

»Das Gleiche ist nicht das Gleiche, und Wiederholen ist nicht Wiederholen. Auf die Qualität der Wiederholung kommt es entscheidend an« (Ernst 2006, S. 102).

Harnischmacher versucht das Üben von der eigentlichen motorischen Tätigkeit zu trennen und bezieht sich eher auf den situativen Charakter des Übens, indem er das Üben als zeitlich begrenzten Abschnitt im Tagesablauf sieht, in welchem der Übende die Absicht verfolgt, eine bestimmte Handlung durchzuführen (vgl. Harnischmacher 1998a, S. 93).

Worin liegt nun also die Quintessenz all dieser Definitionsversuche des Übens? Augenscheinlich gibt es bislang keinen erschöpfenden Konsens über einen kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was Üben am Instrument im Kern ausmacht. Möglicherweise ist eine Definition des Begriffs ähnlich schwer greifbar wie der eigentliche Vorgang des Übens selbst. Mahlert bemerkt dazu: »Üben erfolgt zwar zielgerichtet, bleibt aber ›unerschöpflich‹ – und somit prinzipiell unabschließbar« (Mahlert 2006, S. 37).

Beim Versuch, die bestehenden Definitionen und deren diverse Aspekte zu vereinen, muss festgehalten werden, dass das Üben am Instrument keine in sich abgekapselte Tätigkeit ist. Üben ist nicht nur motorisches oder wiederholendes Üben. Üben ist nicht nur ein mentaler oder sich in einem Zirkel diverser Methoden erschöpfender kognitiver Prozess. Üben ist kein monostrukturelles Konstrukt. Insofern sollte man den Begriff des Übens am Instrument eher in den Begriff des Übens im musikalischen Kontext überführen.

Was bleibt also übrig, wenn man das Üben auf eine Ebene herunterbrechen will, die möglichst vielen Sichtweisen Rechnung trägt? Üben im musikalischen Kontext besteht letztlich in der Beschäftigung mit dem domänenspezifischen Material. Beschäftigung ist in diesem Kontext als eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand, welchem das Erkenntnisinteresse zum Zeitpunkt des Übens zugewandt ist, zu verstehen. Richtet sich ein Schüler Fingersätze für eine neue Etüde ein, so übt er. Sieht er sich ein Lernvideo oder eine Interpretation eines Stückes an, so übt er. Tauscht er sich mit befreundeten Musikern über ein Stück, musikalische Techniken oder Möglichkeiten der Klanggestaltung aus, so kann man ebenfalls von Üben sprechen. Oft wird dies aber nicht als Üben verstanden, sondern unter dem Begriff des informellen Lernens abgelegt (vgl. Herold 2009, S. 175).

Zusätzlich verschwimmen die Grenzen zwischen dem rein zielgerichteten Üben und dem eher lustvoll konnotierten Spielen. Auch wenn beim Spielen am Instrument vom Spieler nicht zwingend ein Lernzuwachs oder eine Reflexion der eigenen Tätigkeit vorgesehen ist, so geben Hör-, Seh- und Tastsinn doch laufend sensorische Rückmeldung, die unbewusst im Gehirn verarbeitet werden. Als Beispiel kann hier exemplarisch der menschliche Stimmapparat genannt werden. Schon alleine beim Zuhören einer (musikalischen) Darbietung bewegt sich der Kehlkopf des Zuhörers mit (Eckert/Laver 1994, S. 38 u. 101). Dieser, auch ›Carpenter-Effekt‹ genannte, Vorgang findet auch bei der Betrachtung von Bewegungsvorgängen am Instrument statt (Kopiez 1990, S. 32). Blendet man diese Aspekte beim Üben aus, so bleibt das Üben letztlich auf rein technische Aspekte beschränkt (vgl. Richter 2006, S. 132 f.).

Das Üben in seiner Gesamtheit aller geschilderten Aspekte ist an sich schon als eine Kunstform zu verstehen. Wie einst Otto Friedrich Bollnow anmerkte, ist das Üben bereits im weitesten Sinne die Ausübung der Kunst (vgl. Bollnow 1978/1991). Gellrich weist ergänzend darauf hin, dass dieses Verständnis auch heute noch im Begriff ›sich in einer Kunst üben‹ vorhanden sei (Gellrich 2005, S. 243).

Wichtig ist, sich von der Vorstellung eines im stillen Kämmerlein am Notenständer hochkonzentriert und eifrig vor sich hin übenden Instrumentalschülers zu trennen. Alle Prozesse, die letztlich zur Erweiterung des musikalischen Horizonts dienen können, sind unter dem Begriff des Übens zu subsummieren.

Was ist Normalbegabung?

Sucht man nach einer Definition von Normalbegabung stößt man paradoxerweise in den allermeisten Fällen zuerst auf Definitionen dessen, was Hochbegabung sein soll. Dabei zeigt sich schon in der Recherche zur Normalbegabung, dass jene nicht als normal, sondern eher als etwas Minderwertiges angesehen wird (vgl. Kleinen 1988, S. 891). Hochbegabte sind schlauer, kreativer, motivierter, schneller – einfach rundum besser. Doch diese Sicht trügt, nicht zuletzt, wenn man auf die vielen Probleme schaut, die mit einer Hochbegabung einhergehen (vgl. Obschonka 2015). Viele Kinder, denen eine Hochbegabung zugeschrieben wird, stehen unter einem immensen Leistungsdruck und tun sich im alltäglichen sozialen Miteinander schwer. Sie fühlen sich im Umfeld Normalbegabter oft missverstanden, gelangweilt und als Fremdkörper (vgl. Ball 2014, S. 8; Damian/Simonton 2014, S. 381).

Stellt man die Frage nach der Begabung im Allgemeinen, muss man zuerst definieren, was Begabung eigentlich meint. Hallam definiert sie als die Menge an (musikalischer) Vorerfahrung und verweist auf die positiven Effekte des proaktiven Transfers, also die Begünstigung des Lernprozesses durch bereits vorhandenes Wissen (vgl. Hallam 1998, S. 20 f.), während etwa Heiner Gembris bemerkt, dass zwar eine hohe Übezeit bessere Ergebnisse bringe, aber begabtere Kinder insgesamt höherwertige Fähigkeiten aufweisen als jene, die nur viel geübt haben (vgl. Gembris 1998, S. 119). Die Zuschreibung besonderen Talentes oder einer besonderen Begabung erfolgt in der Regel durch die Lehrer. Doch muss man die Frage stellen, ob diese überhaupt in der Lage sind, eine solche Beurteilung vorzunehmen, da sie in den meisten Fällen nicht über weitreichende Kenntnisse der Schülerumwelt über den Unterricht hinaus verfügen. Daraus ergibt sich das Problem, dass Talent und Expertise häufig aus der Bewertungssituation heraus zugeschrieben werden. Spielen beispielsweise zwei Kinder das gleiche Stück und sind deutliche Unterschiede in der Aufführungsqualität zu erkennen, so stellt sich zuerst die Frage nach dem Alter und dem Unterrichtsbeginn der Schüler. Weichen diese voneinander ab, so lässt sich leicht sagen, dass der Ältere, welcher vermutlich auch länger Unterricht hatte, durch Übung entsprechend besser ist. Sind beide Schüler jedoch gleich alt und haben gleich lange Unterricht genossen, so schreibt man Unterschiede im Können eher dem Talent zu (vgl. Lehmann 1998, S. 128 f.). Lehmann gibt des Weiteren Beispiele aus Sport und Schule, wo häufig objektive Kriterien wie Einschulungsalter und damit verbundene Unterschiede in der körperlichen und kognitiven Reifung übersehen werden und relativ ältere Kinder in einer gleichen Gruppe häufig die besseren Leistungen zugeschrieben und sie damit auch besser gefördert werden. Dabei wird übersehen, dass diese älteren Kinder mehr Zeit hatten sich zu entwickeln und zu trainieren (ebd.). Stella Kaczmarek bemerkt dazu allerdings, dass

»für die traditionelle musikpädagogische Forschung […] das Üben ein wichtiger, aber nicht der entscheidende Faktor zur Erklärung des musikalischen Fähigkeitserwerbs [ist]. […] obwohl man beachten muss, dass die rein am Instrument verbrachte Zeit auch kein Garant für die Qualität des musikalischen Lernens und Übens ist.« (Kaczmarek 2012, S. 72).

Die Kontroverse zwischen Begabung und Übung zeigt sich auch in neueren Veröffentlichungen. Hinsichtlich der Übequalität von Amateuren wird entgegen der oft behaupteten Minderwertigkeit dieses Übens von Friedrich Platz, Reinhard Kopiez, Andreas Lehmann und Anna Wolf bemerkt, dass auch im Üben musikalischer Amateure Aspekte der deliberate practice vorhanden seien (vgl. Platz/Kopiez/Lehmann und andere 2014). Des Weiteren zeigen die Metaanalysen von Brooke Macnamara, David Hambrick und Frederick Oswald, dass deliberate practice weit weniger Varianz in musikalischer Leistung erklärt als bislang angenommen wurde, und auch Faktoren, die eher im Bereich der Begabung subsummiert werden, einen großen Anteil am erreichten Leistungsstand haben (vgl. Macnamara/Hambrick/Oswald 2014). Dieser Sichtweise widerspricht die von Platz und Kollegen durchgeführte Metaanalyse, die zum Ergebnis kommt, dass deliberate practice immer noch das beste Mittel zur Vorhersage musikalischer Expertise sei und der wahre Effekt bedingt durch Messproblematiken sogar unterschätzt werde (vgl. Platz und andere 2014). Zu bemerken ist hier allerdings, dass wiederum ein von David Hambrick, Erik Altmann, Frederick Oswald und anderen zu dieser Untersuchung verfasster kritischer Kommentar schlüssige Belege dafür liefert, dass die Interpretation der Ergebnisse durch Platz und Kollegen den Effekt der deliberate practice weit überschätzt (vgl. Hambrick/Altmann/Oswald und andere 2014; siehe auch Hambrick/ Oswald/Altmann und andere 2014).

In diesem Zusammenhang erscheint der Befund einer Studie von Swathi Swaminathan, Glenn Schellenberg und Safia Khalil interessant, in welcher der Zusammenhang zwischen musikalischer Begabung und Intelligenz nicht durch musikalisches Training beeinflusst wurde (vgl. Swaminathan/Schellenberg/Khalil 2017). Im Gegensatz dazu finden allerdings Dana Strait, Nina Kraus, Alexandra Parbery-Clark und Richard Ashley Hinweise darauf, dass das Üben über einen langen Zeitraum hinweg speziell auditorische kognitive Wahrnehmungsprozesse fördert. Für einen positiven Effekt hinsichtlich visueller Wahrnehmungsprozesse ergaben sich dagegen keine Anzeichen (Strait/Kraus/Parbery-Clark und andere 2010, S. 26). Auch Sissela Bergman Nutley, Fahimeh Darki und Torkel Klingberg gehen auf Grundlage der Ergebnisse ihrer Langzeitstudie zur Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses davon aus, dass musikalisches Training messbare positive Effekte auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten hat (Bergman Nutley/Darki/Klingberg 2014).

Der Begriff der Begabung im Allgemeinen ist also nach wie vor undeutlich formuliert und auch die Unterscheidung zwischen Hoch- und Normalbegabung konnte bislang nicht als fassbares, trennscharfes Konstrukt etabliert werden. Jan Hemming schlägt deswegen vor, den Begriff der Begabung im Bereich der Musik analog zu dem von Wolfgang Detel (1997) formulierten Konzept des ›dünnen Begriffs‹ in der Geschlechterforschung neu zu definieren. Begabung müsste somit als dünner Begriff auf basale Faktoren reduziert werden. Verschiedene Teilaspekte des Musizierens (und damit auch des Übens) verlangen, laut Hemming, nach unterschiedlichen Arten von Begabung. Somit brauche es eine individuelle Differenzierung, welche anscheinend dem Begriff der Begabung schon unbewusst innewohne. Diese Möglichkeit der individuellen Differenzierung ist aber im Expertisekonzept nicht gegeben (vgl. Hemming 2002, S. 57). Definiert man nicht den dünnen Begriff von Begabung, macht eine individuelle Differenzierung anhand von Umwelteinflüssen laut Hemming keinen Sinn. Begabung müsse grundsätzlich so definiert werden, dass klar werde, wofür genau eine bestimmte Begabung vorliege (ebd., S. 58).

Einer solchen Neudefinition des Begabungsbegriffs ist grundsätzlich zuzustimmen. Es bleibt aber dennoch die Frage, wo die Trennlinie zwischen Hoch- und Normalbegabung verläuft. Karl Anders Ericsson bemerkt, dass es für viele Situationen, in denen eine außergewöhnliche Performance stattgefunden hat, keine gesicherten Beweise gibt beziehungsweise dass Beschreibungen solcher Ereignisse meist auf den Schilderungen von Einzelpersonen beruhen, die möglicherweise in der Retrospektive eine verzerrte Sichtweise haben oder bewusst Dinge falsch berichten, um ein bestimmtes Licht auf einen Künstler oder sich selbst zu werfen. Da die Begutachtung eines Künstlers schon per se eine sehr komplexe Angelegenheit ist, können sich Schilderungen einer außergewöhnlichen Leistung bei verschiedenen Personen deutlich unterscheiden. Es gibt keine festgelegten Kriterien, die belegen können, was eine herausragende Leistung ausmacht. Wenn solche Kriterien festgeschrieben werden, dann erlaubt eine geringere Anzahl der in diese Kriterien fallenden Berichte eine genauere Analyse der einzelnen Fälle (Ericsson 1997, S. 10 f.).

Darüber hinaus schlägt Ericsson einige Ansätze zur Identifizierung von Höchstleistungen beziehungsweise der besten Individuen in einer Domäne vor:

(1) Diverse Aufnahmen eines Künstlers könnten geordnet und anhand des Fortschrittes die aktuelle Performance eingeordnet werden.

(2) Man könnte Künstler in einem Wettbewerb paarweise gegeneinander antreten lassen, bis am Ende der Beste übrig bliebe.

(3) Die Einschätzung der Leistung könnte auch anhand objektiv vorliegender Zeugnisse und belegter Qualifikationen erfolgen (vgl. ebd., S. 14).

Diesen Ideen muss aber teilweise widersprochen werden, denn bei Wettkämpfen kommt es auf die individuelle Bewertung durch eine Jury an und darüber hinaus schließt die Orientierung an vorliegenden Qualifikationsnachweisen all diejenigen aus, die sich zum Beispiel als Autodidakten abseits des etablierten Ausbildungssystems (in ihrer Domäne) gebildet haben.

Auch Kaczmarek widerspricht der Idee der Leistungsmessung anhand einer konkreten Vorführung und bemerkt, dass eine musikalische Vorführung ihrem Charakter nach etwas Einzigartiges sei und es demnach schwierig ist, die gezeigte Leistung genau so zu wiederholen und zu messen (vgl. Kaczmarek 2012, S. 76). Des Weiteren gibt Kaczmarek zu bedenken, dass die Leistungsmessung im musikalischen Bereich anders als im Sport nicht auf einer absoluten, sondern einer relativen Messung beruhe. Dadurch wird allerdings eine objektive Leistungsmessung erschwert, da die Einzigartigkeit der Situation, in welcher die Leistung entsteht, ein standardisiertes, repräsentatives Verfahren zur Ermittlung reproduzierbarer, herausragender Leistungen nicht zulasse (ebd.).

Die Messung einer hohen Begabung und damit einhergehend einer hohen Leistung wird in der Regel durch jene Organisationen vorgenommen, die selbst vom Geist der Hochleistung durchdrungen sind. Marek gibt zu bedenken, dass sich Amateure meist bewusst von der Definition der Profis abgrenzen und ihre Leistungen deswegen von der Sphäre der Profis oft als minderwertig angesehen werden. Die dadurch gewonnene Position versetzt die Amateure allerdings in die Lage, frei von Konventionen und Regeln ihrem Tun nachzugehen und dabei neue und innovative Wege und Ideen zu entwickeln und zu verwirklichen. Durch diesen Umstand wiederum wird den Amateuren dann eine hohe Authentizität zugesprochen und sie werden für diese geschätzt. Teilweise ergeben sich sogar aus der Amateurszene heraus Impulse für die professionelle Sphäre. Als Beispiele dafür nennt Marek die Film- und Fotografierszene, in welcher die Entwicklung der Trockenplattentechnik auf Innovationen von Amateuren zurückgeht (vgl. Marek 2013, S. 51).

Begabungstests sind per se nicht unkritisch zu sehen. Bereits seit längerer Zeit ist man sich darüber einig, dass man nicht im wissenschaftlichen Sinne von einer angeborenen Begabung sprechen kann. Eine solche »klinisch rein« zu erfassen ist nicht möglich (Kleinen 1988, S. 892). Kleinen bemerkt dazu:

»Die Begabungstests messen nicht angeborenes Potential, sondern geben den momentanen Leistungsstand wieder. Wie dieser zustande gekommen ist, bleibt offen« (ebd.).

Da die Begriffe ›Begabung‹ und ›Intelligenz‹ in der psychologischen Literatur oftmals synonym verwendet werden (vgl. Rost/Sparfeldt 2017, S. 316), muss man sich auch mit der Messung der Intelligenz und somit der Begabung beschäftigen, wenn man erfassen will, was Begabung eigentlich ist und wie man Hoch- und Normalbegabung unterscheiden kann. Messungen der Intelligenz erfolgen in der Regel durch Intelligenztests, die anhand diverser zu lösender Aufgaben eine Zahl, den Intelligenzquotienten, festlegen, welcher ausdrückt, wie intelligent ein Individuum im Vergleich zu einer Bezugsgruppe (z. B. anderen Musikschülern) ist (ebd.). Dabei gilt gemäß der meist verwendeten Wechsler-Skalierung der Wert 100 als Mittelwert mit einer Standardabweichung von SD = 15. Ab einem IQ-Wert von 130 spricht man von einer Hochbegabung, die allerdings nicht in allen Lebensbereichen sichtbar sein muss (ebd., S. 329). Die Werte der Intelligenz sind in der Gesamtbevölkerung letztlich normalverteilt und folgen in ihrem Verteilungsmuster einer gaußschen Glockenkurve (vgl. Kleinen 1988, S. 892). Etwa zwei Prozent der Bevölkerung werden dabei als überdurchschnittlich begabt eingestuft. Hinsichtlich der Frage, ob eine Messung der Begabung durch Intelligenztests möglicherweise für eine Relevanz im Alltag nicht valide genug sein könnte und deshalb eine Zuschreibung von Begabung eher durch Eltern, Lehrer oder die Peergroup erfolgen sollte, zeigt sich, dass eine Einschätzung durch diese Gruppen dem klassischen Intelligenztest unterlegen ist (vgl. Rost/Sparfeldt 2017). Auch Kleinen bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Lehrer selten eine klare Vorstellung davon haben, auf welchem Begabungsniveau der jeweilige Schüler unterwegs ist (vgl. Kleinen 1988, S. 891).

Diesen Erläuterungen folgend ist normalbegabt, wer nicht zu den wenigen Individuen gehört, die über oder unter dem Schwellenwert des Intelligenztests im Bereich der Normalbegabung liegen. Anders ausgedrückt – der größte Teil der Bevölkerung kann als normalbegabt gelten.