In den Tropen bricht die Nacht überraschend herein. Es gibt keine Dämmerung, keine Vorbereitung auf das Schwinden des Lichts. Eben noch muss man die Augen vor der gleißenden Sonne schützen, und im nächsten Augenblick versinkt bereits alles in Schwärze. In Tikal fand ich kaum Schlaf. Mit der Dunkelheit setzte das Gebell der Pariahunde ein, das die ganze Nacht bis zum Morgengrauen andauerte und dann ebenso abrupt aufhörte, wie es angefangen hatte. An jenem Morgen besichtigte ich früh die Ruinen. Ich schloss mich einer Touristengruppe an und tat so, als gehörte ich dazu, hielt mich aber die ganze Zeit am Rand der kleinen Truppe, um mich auf ein Zeichen hin jederzeit entfernen zu können. Aufmerksam lauschte ich dem einheimischen Fremdenführer, der erstaunlich gut Englisch sprach. Ob er mein Geliebter war? Während ich mit den anderen weiterschlenderte, achtete ich auf die möglichen Anhaltspunkte, die ich mir aus dem National Geographic, Band 148, Nummer 6, Die Maya eingeprägt hatte.

Coenraad und ich verwenden einen Code für unsere Treffen: Wir benutzen das gedruckte Wort und interpretieren es nach mathematischen Formeln. Unsere Sicherheit liegt in der logischen Regelmäßigkeit von Seiten und Zeilen, die in schlichten numerischen Sequenzen aufeinanderfolgen wie etwa »Zeile zwei nach Seite zwei«, »Zeile vier nach Seite vier« oder manchmal auch »ungerade Zahlen in Folge«. Solche einfachen Absprachen und ein gewisses Maß an Phantasie können den cleversten Agenten in die Irre führen, denn niemand rechnet mit dem Offensichtlichen. Mit Hilfe des Codes kann ich außerdem überprüfen, ob ich am richtigen Tag am richtigen Ort bin und ob die Zeichen für unser Rendezvous günstig stehen. Ich will ein Beispiel skizzieren: Vor zwei Jahren wurde mir im Mayfair Hotel in Washington Band 144, Nummer zwei des Geographic ausgehändigt. Auf Seite 246 las ich in einem Artikel über Kormorane zwischen den Zeilen drei, fünf und sieben, dass »balzende Männchen sich heftige Kämpfe liefern, um ein Weibchen anzulocken«. Daraus schloss ich, dass ich vorsichtig sein musste, weil die »Komintern« in der Hauptstadt war, und dass, wie die Dinge lagen, mein Liebster nicht auf direktem Weg zu mir kommen konnte. Meistens funktioniert der Code.

Ich sah mir den Touristenführer genauer an. Er hatte die Größe und Statur meines Geliebten. Dass er braune Augen hatte, während Coenraads eher stahlgrau sind, entmutigte mich nicht. Heutzutage sind Haare, Haut und Augen farblich leicht veränderbar und dienen somit nicht mehr als sicherer Hinweis auf eine bestimmte Identität. Als wir oben an der breiten Treppe zum Tempel des Großen Jaguar ankamen, drehte sich der Touristenführer um und zählte seine kleine Truppe durch. Er sagte, seine Maya-Vorfahren hätten die Wissenschaft der Zahlen perfekt beherrscht. Ich wurde hellhörig.

Für die Maya, fügte er hinzu, seien Vergangenheit und Zukunft ein und dasselbe.

War das an mich gerichtet?

Die Tour endete wieder unten auf dem Großen Platz, wo sie auch begonnen hatte – am Grab des mächtigen Pakal. Der Touristenführer zeigte auf die gewaltige Steinplatte vor dem Sarkophag und sagte: Wenn der Schatten des Kukulcán quer über den Altar fällt, schändet der Hohepriester eine Jungfrau. Die anderen zerstreuten sich im kühlen Schatten der Bar. Ich blieb zurück. Aber letztlich war er doch nicht Coenraad: Er stand nicht so da wie mein Liebster, unerschütterlich und fest mit dem Boden verwachsen. Wenn ich Coenraad in dieser Haltung sehe, fallen alle Ängste von mir ab. Dann sterben keine Babys, Autos stoßen nicht zusammen, Flugzeuge bleiben auf Kurs, Fahrstuhlmusik verstummt, es herrscht Sicherheit. So erkenne ich ihn immer: an der Art, wie er dasteht und wie ich mich fühle.

Die alte, schwere Sehnsucht in der Nacht. Ich ertrage sie nicht. Ich drehe mich dann oft auf die linke Seite, denn ich habe festgestellt, dass dies die brennenden Bilder in meinem Kopf löscht. Die linke Seite scheint sich mit dem zu befassen, was möglich ist; sie lässt Illusionen verschwinden und zeigt unwiderlegbare Tatsachen. In Tikal war alles teuer. Ich hätte mein Geld zählen sollen. Aber meine linke Seite ließ mich diesmal im Stich. Um mich herum hörte ich trockenes Insektenschaben, und ich musste an unsere Zeit in Celya denken, wo wir den Kakerlaken ein Schnippchen geschlagen hatten, indem wir in die Hängematte gezogen waren. Nachdem wir den Dreh heraus und uns quer darin platziert hatten, wurde die Nacht zu einer der schönsten meines Lebens. Nun musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Nachricht, die mich nach Guatemala geführt hatte, wohl die vorletzte war und dass die letzte noch ausstand. Ich war versucht, mich wieder auf die rechte Seite zu drehen und das Problem zu verdrängen. Stattdessen legte ich mich auf den Rücken und hoffte, in dieser Stellung einen Kompromiss zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu finden. Ich dachte daran, mir die Wartezeit auf Coenraad mit dem Studium der Handwerkskunst in der Region zu verkürzen.

Plötzlich verstummten die Hunde und das Geschabe der Insekten. Offenbar ahnten sie, dass sich etwas anbahnte. Es klopfte an der Tür, und ich sprang auf, um rasch zu öffnen. Ein dürrer Junge stand vor mir, er wollte mich holen. Für einen Nachtpagen war er zu jung. Aber der resignierte Blick aus seinen dunklen Augen war uralt. Unten in der winzigen Lobby zeigte er auf den Telefonhörer, der auf dem Resopaltresen lag, und ging wieder zu seiner Pritsche am Durchgang zur Straße. Er schlief schon wieder fest, bevor ich auch nur Si? in den Hörer sagen konnte. Die Telefonistinnen hatten sich noch viel in aufgeregtem Spanisch zu erzählen, bevor Coenraad und ich endlich miteinander sprechen durften.

– Hör gut zu, vergiss die Nachricht.

– Was ist los, haben sie unseren Code geknackt?

– Nein, aber mein Vorgesetzter möchte ihn haben.

– Dann soll er sich selbst einen zulegen, wir haben Jahre gebraucht, um ihn einwandfrei zu beherrschen.

– Er ist mein Chef, ich habe keine andere Wahl.

– Ich will ihn aber nicht hergeben.

– Das liegt nicht in meiner Hand.

– Was will ein Mann in seiner Stellung denn mit einem gebrauchten Code?

– Er hat eine gebrauchte Frau kennengelernt.

– Das ist nicht lustig.

– Nimm’s nicht persönlich …

– Wir hatten ihn perfektioniert.

– Ich beantrage ein Abo vom American Scholar.

– Zu provinziell.

– Wenn du jetzt wählerisch wirst …

– Nein, schon gut, ich bin mit allem einverstanden, solange es schwarz auf weiß steht.

– In der nächsten Maschine nach Toronto findest du Anweisungen in der Rücktasche deines Vordersitzes.

– Toronto! Dahin kann ich nicht zurück.

– Ist doch nur eine andere Stadt.

– Aber ich wohne da.

– Entweder du akzeptierst oder lässt es bleiben. Dort ist mein nächster Auftrag.

Im Flugzeug durchsuchte ich den Inhalt der Rücktasche meines Vordersitzes, doch so sehr ich meine Phantasie auch bemühte, weder in der Broschüre zum Gebrauch der Sauerstoffmaske noch auf der Karte mit den Notausgängen noch in der leeren Papiertüte fand ich eine verborgene Botschaft. In der auf Französisch und Englisch verfassten Zeitschrift En Route sah ich schöne Bilder vom Lake Louise, von Skifahrern in Quebec und Parfümflakons im Duty-Free-Verkauf. Ich blätterte die Zeitschrift durch, bis ich zwischen den Seiten 25 und 26 ein loses Faltblatt entdeckte. Da wir den 25. November hatten, stieg meine Hoffnung: Schließlich hatte Coenraad mich noch nie im Stich gelassen. Es war eine auf billigem Papier gedruckte Broschüre des Canada First Committee, ein politisches Traktat mit der Überschrift »Canada First!« In den einleitenden Sätzen wurde Kanada wie eine Mätresse dargestellt, das Wort »abdanken« tauchte auf der ersten Seite gleich drei Mal auf. Für mich war die Botschaft eindeutig: Sie verwies auf König Edward VII. und seine vielen Geliebten und auf König Edward VIII., der abgedankt hatte, und, so schloss ich, auf das Hotel King Edward in Toronto. Beim Weiterlesen musste ich immer wieder daran denken, dass Coenraad und ich beim Thema Nationalismus, den er entschieden ablehnte, verschiedener Meinung waren. Mein Herz schlug schneller, als ich mir den Augenblick unserer ersten Begegnung in Erinnerung rief: wie sich die Tür hinter ihm schloss, wie er die Tarnkleidung ablegte, unsere wilden Küsse und leidenschaftlichen Umarmungen, der erste rasche Höhepunkt.

Am Malton Airport ebenso wie an allen anderen Flughäfen bin ich nicht imstande, Coenraads Bild in mir heraufzubeschwören. Zum einen ist die Luft zu stickig und verbraucht von den Emotionen und Gedanken anderer Leute. Außerdem machen mich die Abläufe an Flughäfen ganz benommen. Ich stelle mich an, bekomme meine Bordkarte; dann stehe ich beim Zoll an, bei der Sicherheitskontrolle; ich stehe an, damit ich in der Lounge sitzen und warten darf; und wenn ich Glück habe und es keine unerwartete Verzögerung gibt, stehe ich vor dem Besteigen der Maschine wieder in einer Schlange. In Flughäfen verlassen mich meine Sinne: Ich höre die Berieselungsmusik nicht mehr; Gesichter treiben wie im Wasser. Stundenlang lese ich, lese nicht; ich esse, kann nicht essen; ich trinke Tee, Kaffee, Gin. Über den Wolken werde ich, eingesperrt und beengt, in zwei Sprachen für den Notfall aufklärt.

Einmal fragte ich Coenraad, wie er das aushält – die Zeitumstellungen, die langen Stunden der Gefangenschaft. Es liegt an der Kraft, erwiderte er, an diesem Kraftsog, der die Maschine vom Boden zieht. Und wenn die Erde sich neigt und das Flugzeug seinen langen, energischen Aufstieg beginnt, wenn die Autos und Häuser kleiner werden, bis sie völlig verschwunden sind, wenn wir unter einem makellosen Himmel in der Luft schweben – dann gehört diese Kraft mir. Ich spüre dann das Pulsieren der Triebwerke; es erfasst meine Fußsohlen und wandert durch meine Beine bis in die Wirbelsäule; und sofern ich mich nicht gerade mit etwas ablenke, meine Spesenabrechnung mache oder mich in die Zeitschrift Fortune vertiefe, bin ich jederzeit bereit, mich auf die Frau neben mir zu stürzen. Ich will vibrieren wie die Flugmotoren.

Sein Geständnis überraschte und rührte mich. So poetisch hatte ich ihn noch nie sprechen hören.

Jetzt stand ich in der Schlange vor dem Ausgang. Man dankte mir dafür, dass ich mitgeflogen war. Dann kam der lange Weg durch endlose verlassene Korridore, eine Rolltreppe hoch, wieder Schlange stehen.

– Was ist der Zweck Ihres Besuches?, fragt ein uniformierter Mann der Einwanderungsbehörde.

Wir leben in seltsamen Zeiten, und ich muss vorsichtig sein. Ich befingere die Perlenkette an meinem Hals, mein offener Mantel gibt den Blick frei auf ein schlichtes schwarzes Kleid. Seit ich nicht mehr ganz jung bin, genieße ich in solchen Situationen einen leichten Vorteil. Ich bemühe mich, eine Mischung aus Verwirrung und Unglück zu verströmen, die den Mann daran hindern wird, mich zurückzuhalten, denn in diesem Zustand erinnere ich ihn an seine Mutter.

Urlaub, erwidere ich.

Noch während er meinen Pass stempelt, taxiert er schon den Nächsten in der Schlange.

Langes Warten auf meinen Koffer, eine Schlange am Zoll und schließlich die letzte am Bus. Der Flug von einem Teil der Welt in einen anderen ist still und unmerklich verlaufen. Meine Reise hat niemanden gestört.

Erst als ich im Bus am Lakeshore entlangfuhr, erwachte ich langsam aus meiner Trance. In diesen grauen Wassern hatte ich schwimmen gelernt. Es wird nicht einfach sein, in dieser Stadt unerkannt zu bleiben, wo ich 1942 vor der Bibliothek in der St. George Street über den ordentlichen Stempel des Bauunternehmens Felucci den Namen Lola in den feuchten Beton geritzt hatte. Während die Autos an mir vorbeirasen, sehe ich Lola (das ist nicht mein richtiger Name) vor mir; sie fährt Rollschuh vor Wolkenkratzern, lehnt an Straßenschildern. Ich sehe sie in ihren schlecht sitzenden Kleidern und lächerlichen Mänteln. Ich bedaure das Mädchen, das (noch immer) durch düstere Straßen streift, mit zwei oder drei Büchern aus der Bibliothek, die sie gelegentlich vom linken in den rechten Arm legt und wieder zurück. Manchmal hält sie die Bücher auch mit beiden Armen wie einen Schild vor der Brust. Sie und ihre Bücher gehören zusammen, denn solange sie sie bei sich hat, ist sie sicher. Die Autoren der Bücher werden ihre Vertrauten und beschützen sie vor Verrat. In den Jahren, in denen ich sie vor mir sehe, bleibt sie blass und dünn, scheint kaum zu wachsen; ihre Brüste werden nur unmerklich größer, auch wenn sie kurz nach ihrem dreizehnten Geburtstag einen Büstenhalter trägt, um ihre Brustwarzen zu verbergen. Ich sehe, wie sie die breite Straße mit den Lebensmittelläden und Fischmärkten, den Kurzwarenhandlungen und kleinen Fabriken verlässt und in Richtung Süden geht (immer gen Süden), wo die schmalen, nur durch Abflussrohre getrennten Häuser unbeleuchtet und die Türen fest verschlossen sind. Die schweren Türen aus massivem, dunkel geflecktem Holz sitzen fest in ihrem Rahmen. Einem dieser Häuser nähert sie sich. Die Tür gibt einem kräftigen Stoß ihrer Schulter nach. Alle, die hier wohnen, neigen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und verzweifeltem Schweigen, Wut und Ärger sind ihnen nicht fremd. Manchmal sind die Leute so etwas wie Verwandte; oder es ist ein schottisches Ehepaar, und der Mann arbeitet in einem großen Turnierreitstall. Das Haus riecht nach Pferdemist, aber nicht unangenehm. Eine Zeitlang gehört das Haus einem dicken Mann, der beinahe ihr Stiefvater wird. Häuser mit drei Küchen, einer Toilette und vielen Matratzen. Ich sehe sie die dunkle Treppe hochsteigen. Wie aus dem Nichts taucht jemand auf, um die Tür hinter ihr abzuschließen – der einzige Hinweis darauf, dass ihre Rückkehr bemerkt wurde. Sie steigt weiter die Treppe hoch, in den zweiten Stock oder in den dritten; zwei Winter lang sieht man sie durch den Flur zu einem unbeheizten Anbau hinter der Küche gehen, wo ihre Pritsche inmitten von Kartoffeln und Zwiebeln steht. Ihre unberechenbare Mutter neigt zu hysterischen Anfällen, und sie ziehen oft um. Im Augenblick schläft ihre Mutter tief, sie schnarcht, ist erschöpft. Während ich beobachte, wie das Mädchen immer wieder die Treppe hochsteigt, wird sie vom Kind zur jungen Frau, wechselt von der Pritsche auf ein Sofa, in ein Bett. Niemand hat ihren Namen ausgesprochen. Niemand hat gute Nacht gesagt.

Die ersten wenigen Minuten in einem Hotel verlaufen überall gleich. Die Reihenfolge geht so: Ich nähere mich der Rezeption und trage den (falschen) Namen in meinem Pass auf dem Meldezettel ein. Als Wohnsitz gebe ich außer in New York immer die Adresse der Vereinten Nationen an. Bei Beruf schrieb ich früher in die dafür vorgesehene Zeile Ehrenamtliche Mitarbeiterin; später blieb ich dann aus einer vielleicht kindischen Art von Selbstbehauptung heraus bei der Wahrheit: Treffen Coenraad. Wenn man schon ein deprimierendes Leben führt, fällt es schwer, diese Zeile freizulassen. Der Stift verharrt in der Luft. Eigentlich ist es völlig egal, was ich auf den Zettel schreibe. Den Angestellten interessieren nur die Zahlen in meinem Pass und auf meiner Kreditkarte. Meine Unterschrift, Lola Montez, soll den Wahrheitsgehalt der oben gemachten Angaben bestätigen. Ein Handdruck auf eine Glocke ruft einen Pagen herbei, er bekommt meinen Zimmerschlüssel und nimmt meine einzige Tasche. Ich folge ihm nicht, sondern warte. Ich stehe stocksteif da, gespannt. In dieser Pause des gewohnten Ablaufs entsteht eine Verbindung zwischen dem Angestellten und mir. Erst nach kurzem Zögern und einem nochmaligen Blick auf meine Meldekarte dreht er sich zu den Postfächern an der Wand um und entdeckt zu seiner Rechten einen versiegelten braunen Briefumschlag mit meinem (falschen) Namen, den er mir schweigend überreicht. Sobald in meinem Zimmer alle Schlösser und Riegel an ihrem Platz sind, reiße ich den Umschlag auf, hole die Ausgabe des National Geographic heraus und suche darin die (verschlüsselte) Botschaft von Coenraad. In dem Umschlag befindet sich außerdem ein kleinerer Umschlag mit Geld in der Landeswährung.

Dies ist der Moment, dem ich immer entgegenfiebere – der herrliche Augenblick, wenn ich die Nachricht für unseren nächsten Treffpunkt erhalte. Ich packe meine Tasche ein und packe sie aus; ich gehe zu Flughäfen, Busstationen und Bahnhöfen; ich schlottere vor Kälte oder schmore in der Hitze; ich leide Hunger oder übergebe mich in öffentlichen Toiletten. Manchmal reise ich um den halben Globus, um eine Botschaft zu enträtseln, die mich am nächsten Tag zum nächsten weit entfernten Ziel zitiert.

An jenem Abend im King Edward Hotel befand sich eine lange Menschenschlange – irgendeine Tagung – zwischen mir und meinem Umschlag. Männer mit Rollkragenpullover und Pfeife, Frauen in Hosen mit Schultertasche, alle mit Namensschildern aus Plastik über der linken Brust. Wer nicht in der Schlange stand, schlenderte umher; die Frauen gingen nah an die Männer heran, um die Namen zu lesen, die Männer hingegen hielten Abstand zu den weiblichen Brüsten und senkten, wenn nötig, den Kopf ein wenig beim Lesen. Ein gehetzter Angestellter rief nach Verstärkung, und aus einem Büro hinter ihm, das beim Öffnen der Tür kurz zu sehen war, trat eine junge Frau und gesellte sich zu ihm. Die Warteschlange baute sich nur langsam ab. Sie hatten es nicht eilig, auf ihre Zimmer zu kommen, diese geschwätzigen Männer und Frauen, die sich, so stellte ich mir vor, durch ihre (vorübergehende) Erlösung vom trockenen Akademikerdasein angenehm erregt fühlten. Später erfuhr ich, dass es sich um Botaniker handelte. Langsam kam ich in der Schlange voran. Als mir endlich der Umschlag ausgehändigt wurde, fand ich ihn beängstigend dünn. Um meine Panik zu verbergen, setzte ich eine weltverdrossene Miene auf, gab mich von allem in der Umgebung gelangweilt und folgte dem Hotelpagen, den Mantel locker über die Schultern gehängt, als wäre es ein Nerz.

Ich blieb in der offenen Tür stehen, während er sämtliche Lichter einschaltete, die Heizung regulierte, die Vorhänge aufzog, den Fernseher anmachte und auf die Handtücher im Bad zeigte. Ich gab ihm ein Trinkgeld, das ich schon bereithielt, verriegelte die Tür, schaltete die Plastiklacher im Fernseher ab. Beim Aufreißen des Umschlags zitterten mir die Hände. Der Inhalt schien an den Seiten zu kleben. Mit Daumen und Zeigefinger zog ich ein vierseitiges Faltblatt heraus, das sich als Bericht über das Ulmensterben entpuppte, nachgedruckt aus dem Canadian Journal of Botany (Band 6, Nummer 4). Auf dem Titel war das Foto eines einsamen Baums mit kahlen Ästen vor einer öden Landschaft. Unter dem Bild stand das Wort Opfer! Sprachlich war der Text erstaunlich emotional gehalten, mit Anspielungen auf Tod, Sterben, Schmarotzerpilze, tödliche Krankheiten, Siechtum, Endzustand, in extremis, dem Untergang geweiht, Hoffnungslosigkeit. In dieser Fülle des Verfalls wurde erwähnt, dass noch kein Retter der Ulme in Sicht sei. Es gab nur einen Hoffnungsschimmer: … eine neue Art, bekannt als Quebec Ulme …, die dem Pilz widersteht …

Was sollte ich aus alldem schließen? Vielleicht wollte Coenraad, dass ich mir unsere problematische Situation bewusst machte und die entsprechenden Schlüsse aus dem Text zog. In dieser Hinsicht bewundert er meine Intelligenz. In einem Geographic-Artikel über die Freiheit der Berbernomaden in der Sahara zum Beispiel war ein Bild von einem kleinen, ungefähr zehnjährigen Mädchen, das hingebungsvoll der idyllischen Beschäftigung nachging, einen mit Ziegenmilch gefüllten Hautsack hin und her zu schwenken, bis die Milch zu Butter wurde. Mir fiel auf, dass sie blind war, obwohl im Text nichts von ihrer misslichen Lage stand. Meine Auslegung führte mich zu einer Klinik für blinde Kinder in Tanger, an der Coenraad als Geschäftsmann für eine Arzneifirma tätig war. Trotzdem blieb die Frage: Wo lag im Problem der aussterbenden Ulmen seine Botschaft an mich? Ich zählte die Wörter in einer Zeile, die Zeilen auf einer Seite; die Zahl der lateinischen Begriffe. Nichts erschloss sich mir. Meine wachsende Angst wich der Müdigkeit. Vielleicht würde ich am nächsten Morgen klarer denken.

Weil ich oft alleine schlafe, habe ich mir angewöhnt, Literatur über die Orte unserer Treffen zu lesen. Die Verwendung des National Geographic als Code stellte sicher, dass ich am ersten Abend in einem fremden Bett immer etwas zu lesen hatte. Außerdem konnte ich mich mit dem Ambiente unseres Stelldicheins vertraut machen, sodass ich Coenraad, falls wir undercover bleiben mussten, wie es so schön heißt, mit Geschichten über die Region unterhalten konnte. In Bangkok erzählte ich ihm, dass jedes Grundstück einen Geist besitzt. Wenn man ein Haus baut, darf man diesen Geist nicht vertreiben, weil das Unglück bringt. Man schenkt dem Geist also ein eigenes Zuhause, draußen, in der östlichen Ecke.

Einmal gingen unsere Meinungen über die Deutung des Hochzeitsritus in Botswana völlig auseinander. Um ihre Demut zu beweisen, tanzt die Braut mit nacktem Oberkörper vor dem Bräutigam. Die in ihrem Haar befestigte Gallenblase eines Ochsen soll Glück symbolisieren, und als Zeichen ihrer Bereitschaft zum Eintritt in einen anderen Clan ergreift sie zwei schmale Speere und ein Messer. Während die untergehende Sonne die Mdzimba-Berge färbt, beobachtet der Brautvater, König Sabhusa, schweigend den langsamen Tanz, der von einem eindringlichen Trauergesang begleitet wird. Mein Geliebter meinte, weibliche Demut sei ein guter Anfang für eine Ehe; ich hingegen fand, das Klagelied zeuge von Angst vor der Zukunft. Am Tag vor einer chassidischen Hochzeit, erklärte ich ihm, würden Frauen angeheuert, um den ganzen Tag zu weinen.

Nach diesem Vorfall prägte ich mir nur noch unverfängliche Geschichten ein. Hätten wir uns in Tikal getroffen, dann hätte ich eine Geschichte wiederholt, die ein Priester und praktizierender schwarzer Magier aus dem Dorf Xcobenhaltun erzählt hatte. Ich wurde von den Göttern gerufen, bevor ich geboren wurde. Als meine Mutter mit mir schwanger war, tat mein Vater ihr etwas Schlimmes an, und ich erschlug ihn aus dem Mutterleib heraus. Und jedes Mal, wenn ich die Zeitschrift allein in einem Hotelzimmer las, sah ich vor mir, wie Coenraad mit seinen kantigen Fingern dieselben Seiten umblätterte und dieselben Zeilen las. Ich stellte mir vor, wie er mit gezücktem Stift über die Stelle mit der Botschaft nachdachte und die Zeitschrift dann in den Umschlag steckte, den ich vor unserem nächsten Rendezvous abholen würde. An diesem Abend ließ ich den botanischen Artikel auf den Boden fallen. Ich hatte keine Lust, noch einmal vom Tod der Ulmen zu lesen.

Ich war jetzt bereit für den letzten Teil meines abendlichen Rituals. Unter einem kleinen Lichtkreis auf dem Nachttisch lag mein Postkartenstapel, den ein breites, offenbar überdehntes Gummiband zusammenhielt, denn es riss, als ich es entfernte. Zuerst mischte ich die Karten. Dann lehnte ich mich in die Kissen zurück und zog wahllos drei heraus.

Die erste zeigte ein sepiafarbenes Foto von einer Reiterstatue. Es war die einzige Karte, die mich an das Paralelo Hotel in Barcelona erinnerte. Mitten in der Nacht hatte jemand an die Tür geklopft, ich hörte Flüstern im Flur und wurde freundlich aufgefordert, mich rasch anzuziehen, wir müssten auf der Stelle gehen. Bei unserem hastigen Aufbruch schnappte ich mir in der Lobby noch schnell eine Postkarte aus dem Ständer auf dem Tresen. Zwei Prostituierte in engen Röcken und Blusen wie aus einem Fellini-Film, die ihre Beine und Brüste freizügig offenbarten, kamen gerade mit ihren Freiern herein und quittierten meinen Diebstahl mit ungläubigen Blicken; während die beiden Männer scherzten und lachten, starrten mich die Frauen weiterhin an, bis sich die Fahrstuhltür vor ihren missbilligenden Blicken schloss.

Ich erinnere mich noch gut an die Einzelheiten unserer leidenschaftlichen kurzen Begegnung in Barcelona, aber sie stimmen mich nicht froh. Vielleicht lag es an meinem Unbehagen in diesem schäbigen Hotel. Wasser tropfte von den Wänden, das Bettzeug war feucht. Der Krieg in Vietnam war nicht allzu gut gelaufen. Vermutlich waren strengere Sicherheitsvorkehrungen angeordnet worden, denn seit Kurzem trafen wir uns nur noch in Arbeitervierteln. In diesem luftlosen, beengten Zimmer, mit dem gesprungenen Bidet gegenüber dem durchgelegenen Bett, stieg eine Ahnung in mir auf, ein Gefühl wie in der Kindheit, wenn etwas nicht in Ordnung war oder wenn ich unwissentlich etwas angestellt hatte, dem eine baldige Bestrafung folgte, in deren Verlauf man mich von meiner Missetat in Kenntnis setzte.

– Ich möchte ein Kind von dir, platzte ich heraus.

– Gütiger Himmel, wozu denn das!

– Damit mich unser Kind immer an unsere Liebe erinnert, ganz gleich, was passiert.

– In Hiroshima hast du gesagt, es mache dir Angst, Kinder in die Welt zu setzen, es sei eine schreckliche Verantwortung.

– Das habe ich ganz vergessen.

Es war stickig im Zimmer. Die untere Hälfte des einzigen Fensters wurde von einer defekten Klimaanlage blockiert, die obere Hälfte ließ sich nicht öffnen. Die Tür war natürlich verschlossen. Und dann musste ich Coenraad beim Leben der Kinder, die ich schon habe, schwören, dass ich nicht schwanger war und es auch niemals so weit kommen lassen würde. Nicht von ihm.

Jetzt reg dich nicht auf, fügte er hinzu. Dann trat er zurück, sah mich lange an und hielt mir eine kurze Predigt darüber, dass Frauen Männer in die Falle locken, indem sie Kinder kriegen. Ich glaube, er benutzte das Wort unterjubeln.

Trotz meines Versprechens trug Coenraad danach stets ein Kondom, eigens dafür konzipiert, sagte er, um meine Lust zu steigern. Die genaue Beschreibung auf der Packung erwähnte 148 Lustpunkte und elf Ringe. Manchmal fragte ich mich, ob der wahre Zweck vielleicht doch nur Schutz vor Betrug war.

Den Rest dieser kurzen Nacht verbrachten wir bei angenehmer Musik. Coenraad telefonierte mit der Rezeption, und wenig später erschien ein junger Mann mit einer Gitarre. Er stimmte eine Melodie an, als wolle er Coenraad auffordern, das Bouquet des Instruments zu genießen. Ziemlich lange stellte er seine Virtuosität zur Schau, bevor er Coenraad mit ein paar letzten kraftvoll angeschlagenen Akkorden und einer tiefen Verbeugung die Gitarre übergab. An diesem Abend diente das Instrument nicht als Requisit wie seinerzeit das Kornett in einer schwülen Nacht in New Orleans. Coenraad spielte wunderbar, mit viel Rubato und indem er die Melodie am Ende jeder Phrase verführerisch akzentuierte. Dann spielte er aus dem Gedächtnis Recuerdos de la Alhambra von Tarrega und sah mich dabei die ganze Zeit an, bis mir die Tränen kamen, weil es so schön war.

Als hätte er das Klopfen an der Tür geahnt, sagte Coenraad um zwei Uhr morgens zu mir:

– Dir ist klar, wenn kein Umschlag von mir da ist, heißt das, ich kann dich nicht treffen.

– Du meinst, dann ist dir etwas zugestoßen!

– Nicht unbedingt. Egal aus welchem Grund, es bedeutet nur, dass ich dich nicht treffen kann.

– Nicht kannst oder nicht willst?

– Das kommt aufs Gleiche raus.

Der abgebildete Reiter auf der gestohlenen Postkarte verlangte meine Aufmerksamkeit. Auf der Rückseite stand in drei Sprachen, dass er ein katalanischer König war, Ramon Berenguera. Mit nach hinten geworfenem Umhang saß er rittlings auf seinem Pferd, aufrecht und gebieterisch, und hielt die Zügel mit einer behandschuhten Hand, die andere hatte er zum Befehl erhoben. Der Bildhauer hatte ihm einen Ausdruck der Überlegenheit ins Gesicht gemeißelt. Diese vornehme Miene, das wusste ich, konnte sich rasch in Zorn verwandeln. Sie erinnerte mich an Zbigniew, meinen Ehemann.

Ich zog schnell die nächste Karte.

Beim Betrachten der zweiten Postkarte fragte ich mich, ob ich meinen nächtlichen Schlaf auf diese Weise weiter riskieren sollte, zumal jede Karte nur Trostlosigkeit verhieß. Das Haus, in dem Christopher Columbus seine Kindheit verbracht hatte, erinnerte mich an meine Stimmung damals in Genua. In den schäbigen Gassen begegneten mir finster blickende Männer und Frauen. Selbst die Kinder auf dem Weg zur Schule gingen langsam und schwer. Und auch das gänzlich in Schwarz gekleidete Zimmermädchen in meinem Hotel hielt den Kopf stur über einen Armvoll Wäsche geneigt und weigerte sich, mich anzusehen. Aber ich merkte, dass sie mir hinterherschnüffelte, und vermutete, dass sie den Inhalt meines Koffers untersucht hatte. Mein zweites schwarzes Kleid dürfte sie wenig beeindruckt haben: Schwarz musste sie ohnehin tragen. Wahrscheinlich war sie arm, überarbeitet, ernährte weiß Gott wie viele Kinder und kam abends in ein Zuhause mit ungemachten Betten. Ich bot ihr ein paar Nylonstrümpfe an. Sie nahm sie wortlos und mit gleichgültiger Miene entgegen. Gleichgültigkeit, egal bei wem, kann ich grundsätzlich nicht leiden.

Ich tröstete mich mit Parfüm; sie durchschaute mich: Ich war einsam. Außerdem spürte sie, dass ich weder genug Geld noch Stil oder sonstwie das Zeug dazu hatte, ihr überlegen zu sein. Auf Italienisch fragte ich sie nach ihrem Namen und nannte ihr meinen. Sie machte weiter das Bett und ersetzte glatte saubere Laken durch glatte saubere Laken, ohne auch nur einmal aufzublicken. Irgendwie war ich ihr im Weg, obwohl ich mit hochgelegten Füßen auf einem Sessel in der Ecke saß. Im Bad blieb das schon zu einem Scheibchen geschrumpfte Stück Seife in seiner Pfütze liegen. Ich sagte mir, du hast nicht mal den Mumm, dir zum Beweis deiner Unabhängigkeit ein normal großes Stück Duftseife zu kaufen. Heute Abend wirst du dich so gut es geht mit dem letzten Rest der Hotelseife waschen und das auch noch mit den Händen, weil die Handtücher und Waschlappen entfernt und nicht ersetzt wurden. Man hat dir nur ein kleines Stofftuch für das Bidet zurückgelassen. Du verdienst es nicht besser, wenn sich das arme Mädchen durch deine mangelnde Autorität dazu aufgefordert fühlt, die dir zugeteilte Seife zu stehlen. Warum setzt du dich nicht durch und verlangst, was dir zusteht, damit ihr euch beide mehr achten könnt? Stattdessen tat ich so, als würde ich lesen.

Am Morgen nach Coenraads Besuch trödelte dasselbe Mädchen in unserem Zimmer herum. Während sie das zerknitterte fleckige Bettzeug wechselte, lächelte sie und blickte gelegentlich auf. Plötzlich ein explosionsartiger Redeschwall. Ich antwortete ihr nicht, weil ich mit leerem Blick am Fenster stand, taub für alles, bis auf die nachhallenden Koseworte der letzten Nacht. Sie führte mich zu einem Sessel und setzte mich behutsam hinein. Als sie das Zimmer verließ, ging sie rückwärts und hielt die Bettwäsche in den Armen. Im Bad lagen zwei eingewickelte Seifenstücke, zwei Waschlappen und vier große Handtücher. Zu spät. Ich wollte mir all die Säfte und Gerüche bewahren. Ich wollte mich nie wieder waschen.

Die letzte Postkarte an diesem Abend zeigte den Aberdeen Harbor in Hongkong, auf dessen Wassern eine einzige Masse von Dschunken und Sampans und zwei zinnoberrot gestrichene Restaurants dahintrieben. Ich erinnerte mich, dass ich nur Zeit für eine fünfminütige Fahrt auf einem Sampan hatte und von einer kleinen, dünnen Frau undefinierbaren Alters chauffiert wurde, die sich nur auf das Wasser konzentrierte und deren kleine Kinder in einer Ecke kauerten, sodass ich immer wieder in drei vorwurfsvolle Augenpaare starren musste. Obwohl es nur ein kurzes Erlebnis war, bilde ich mir ein, viel über Leute zu wissen, die ihr ganzes Leben auf einem winzigen offenen Boot verbringen. Auch der junge Mann in unserem Hotel, zuständig für den elften Stock, war auf einer Dschunke zur Welt gekommen und dort aufgewachsen. Er erzählte mir viele Geschichten an den trägen Nachmittagen, wenn wir Tee trinkend an seinem Tisch gegenüber den Fahrstühlen saßen.