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E-Book-Ausgabe 2019

© 2019 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Umschlaggestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Dhieu Lual Deng. Redaktion: Bettina Baer und Lena Luczak. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142573

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2813 3

www.wagenbach.de

Vorwort

Weltweit sind rund 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Kriege, Konflikte und Verfolgung lassen die Zahl derer, die ihre Heimat verlassen müssen, jährlich steigen. Gleichzeitig werden Asylgesetze in Ländern, die Geflüchtete zunächst willkommen hießen, nun verschärft. Wenn man sich die Flüchtlingsströme der vergangenen Jahre anschaut, wird deutlich, dass die westlichen Industrieländer ohnehin lediglich einen verschwindend geringen Anteil aufnahmen. Tendenz: abnehmend.

Vor diesem Hintergrund wurde das Projekt »Refugees Worldwide« 2016 von der »Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik« ins Leben gerufen. Ziel ist es, über literarische Reportagen Informationen über unterschiedliche Situationen von Geflüchteten und einzelne Schicksale zu ermitteln und so zu einem Perspektivenwechsel im öffentlichen Diskurs über Migration weltweit beizutragen. Das Projekt korrespondiert mit dem Anliegen des Films Human Flow von Ai Weiwei, der aus 23 Ländern Beispiele vorstellt.

Die im Rahmen des Projektes entstandenen ersten Reportagen von 14 internationalen Autor*innen über die Situation von Geflüchteten weltweit sind 2017 auf Deutsch im Wagenbach Verlag und auf Englisch bei Ragpicker Press erschienen. Angesichts von sich verhärtenden Debatten über die Aufnahme von Geflüchteten und zunehmendem Rassismus ist es uns ein besonderes Anliegen, »Refugees World wide« fortzuführen und weiteren Autor*innen die Möglichkeit zu geben, über Flucht, deren Ursachen und daraus resultierende Identitätskonflikte zu berichten. In dem vorliegenden Band sind Recherchen von 16 Autor*innen aus 16 Ländern in fünf Kontinenten versammelt.

Um nur einige zu nennen: Drei Reportagen beschäftigen sich mit der Situation der von buddhistischen Extremist*innen verfolgten Rohingya in Myanmar, Bangladesch und Indien. Die Autor*innen Sadaf Saaz, Neha Dixit und Zarchi Oo schildern aus verschiedenen Perspektiven und Ländern den Umgang mit den Rohingya und machen dabei insbesondere auf die Herausforderungen für weibliche Geflüchtete aufmerksam. Die Schauspielerin und Autorin Charmaine Craig trifft in Seattle auf Frauen aus dem Land ihrer Vorfahren, Myanmar, die Opfer von Menschenhändler*innen wurden und über Malaysia in die USA kamen.

Von Mark Isaacs erfahren wir von der menschenunwürdigen Situation in einem Auffanglager für Geflüchtete auf der Insel Manus Island im Norden von Papua-Neuguinea, für das die australische Regierung verantwortlich zeichnet. Faribā Vafī erzählt von den Schicksalen afghanischer Geflüchteter im Iran, die diskriminiert werden und überwiegend auf Schwarzarbeit angewiesen sind. Ibrahim Nasrallah, geboren im Flüchtlingscamp Al-Wihdat in Amman, lässt uns an seinen Erfahrungen als palästinensischer Flüchtling in Jordanien teilhaben. Karen Connelly aus Kanada reflektiert die Situation einer syrischen Familie in ihrem Land (das schon Ende der siebziger Jahre circa 60 000 Geflüchtete aus Vietnam und Kambodscha aufnahm), während der in Berlin lebende New-York-Times-Reporter Patrick Kingsley den turbulenten Weg einer syrischen Familie über Ägypten nach Schweden nachvollzieht.

Wir hoffen, dass die Lektüre dieser Texte Ihre Sichtweise auf das Thema bereichern wird.

Eva Philippi und Ulrich Schreiber
im Dezember 2018

Zuflucht in einer flüchtigen Heimat
Basma Abdel Aziz

Aus dem Arabischen von Mirko Vogel

Ich traf Nadia in einem kleinen Zimmer in einem Vorort von Kairo. Sie empfing mich in einem weiten, bunten Gewand, mit einem breiten Lächeln und glänzenden tiefschwarzen Augen. Wie viele andere Tausend Sudanesinnen und Sudanesen ist sie aus ihrer Heimat nach Ägypten geflohen. Sie lebte mit ihrem Ehemann lange Jahre im Zentralsudan, bis der Putsch von Baschir Ende der achtziger Jahre einen dunklen Schatten auf ihr Leben warf. Fortan wurden die beiden wegen ihrer oppositionellen Aktivitäten vom Regime verfolgt und mussten schließlich getrennte Wege gehen.

Nadia kam im Jahr 2004 nach Kairo und registrierte sich beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR. Ihre Lebenssituation stabilisierte sich mit der Zeit zumindest in einem gewissen Maße. Daraufhin beschloss sie, anderen zu helfen, die – wie sie – wegen unglücklicher Umstände in ein entferntes Land gehen mussten. Zur Vorbereitung auf ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin nahm sie an einigen Trainingskursen teil und sammelte danach im Bereich der Flüchtlingshilfe viel praktische Erfahrung. Zudem gelang ihr der Aufbau effektiver Unterstützungsnetzwerke, um die Lebensumstände vieler Frauen, Männer und Kinder zu verbessern, die auf ihrer Flucht unzählige Dinge verloren hatten.

Eine wichtige Station für Nadias beruflichen Werdegang war das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern.1 Dieses Zentrum wurde 1994 von Psychiaterinnen und Psychotherapeuten gegründet, die sich dem Kampf für Menschenrechte verschrieben hatten, und hat seitdem Tausende von traumatisierten Flüchtlingen behandelt. Diese lernen dort, mit den Auswirkungen ihrer Traumata umzugehen, um auf diese Weise wieder ein »normales« Leben in der Gesellschaft führen zu können. Das Problem ist aber, dass ihnen oft nicht nur in der Vergangenheit unvorstellbar Schreckliches widerfahren ist, sondern auch ihre gegenwärtige Lebenssituation kaum schlimmer sein könnte. Misshandlungen durch ägyptische Sicherheitskräfte etwa führen in vielen Fällen zu Traumatisierung beziehungsweise Retraumatisierung.

Laut der UNHCR-Statistik für das Jahr 2018 leben etwa eine Viertelmillion Geflüchtete in Ägypten. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnt in der Hauptstadt, die wegen der Zuwanderung aus anderen Landesteilen bereits aus allen Nähten platzt. Manche können sich ein Leben in Kairo nicht mehr leisten und werden in Vororte und Randbezirke abgedrängt. Die Flüchtlinge kommen aus vielen verschiedenen Ländern: aus Somalia und Eritrea, aus dem Irak und aus Syrien, aus Äthiopien und aus dem Sudan, und nicht zuletzt aus Palästina.2 Auch wenn sich die Gründe für die Flucht von Gruppe zu Gruppe und von Individuum zu Individuum unterscheiden, so haben doch alle das gleiche Recht auf Asyl. Denn jeder Mensch hat das Recht, sich einen Ort zu suchen, wo er in Sicherheit und Würde leben kann.

Flüchtlinge aus dem Sudan

Momentan machen Sudanesinnen und Sudanesen 16 Prozent der Geflüchteten in Ägypten aus, was einen massiven Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren bedeutet, wo ihr Anteil fast 75 Prozent betrug. Der Grund dafür ist die Eskalation der Krise in Syrien, die Hunderttausende dort zur Flucht in die angrenzenden Länder zwang. Andernfalls wären sie zwischen den Fronten zermahlen worden: auf der einen Seite von Regierungstruppen, auf der anderen Seite von der bewaffneten Opposition und religiösen Terrororganisationen, die in Syrien einen fruchtbaren Boden vorgefunden hatten.

Ethnische Konflikte sind ein wesentlicher Faktor, weswegen Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Nadia erinnert sich an verschiedene gewalttätige Perioden in der Geschichte des Sudan, die Fluchtbewegungen in großem Ausmaß auslösten, wodurch die Asylanträge in Ägypten anstiegen. Das erste dieser Ereignisse war der Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden, der im Jahr 1983 begann. Im Jahr 2003 brach der Darfur-Konflikt aus, als Sicherheitskräfte der Regierung sich mit den Janjaweed-Milizen verbündeten und begannen, die lokale Bevölkerung – die Darfuris – systematisch zu ermorden, was einem Völkermord gleichkam. Als sich dann im Jahr 2008 auch noch die Krise in den Nuba-Bergen zuspitzte, wurde die Lage vollends unübersichtlich.

Die Wirtschaftskrise im Sudan

Auch wenn das islamische Regime im Sudan Oppositionelle, wie etwa Mitglieder der Sudanesischen Kommunistischen Partei, weiterhin verfolgt, ist dies nicht mehr der wichtigste Fluchtgrund. War in den vergangenen Dekaden die politische Unterdrückung der wichtigste Grund für eine Flucht aus dem Sudan, so änderte sich die Lage im Jahr 2015 mit dem Beginn einer massiven Wirtschaftskrise, die alle Teile des Landes erschütterte. Insbesondere als essentielle Güter wie Brot und Brennstoff knapp wurden, stiegen die Flüchtlingszahlen wieder an.

»Das Fladenbrot ist mittlerweile so klein wie ein Hamburgerbrötchen und kostet ein ganzes Pfund«, zitiert Nadia ihre Familie, niemals zuvor habe es im Sudan eine derartige Wirtschaftskrise gegeben. Ägypten stehe dagegen trotz der sich auch hier verschlechternden Wirtschaftslage vergleichsweise gut da.

Ein Grund für die Krise ist die im Jahr 2011 erfolgte Abspaltung des Südsudan, dem nun mehr als die Hälfte der Erdöleinnahmen des Staates zukommt, wodurch das sudanesische Pfund massiv abgewertet wurde: Kostete ein Pfund 2009 noch 0,40 Dollar, war es 2014 nur noch 0,13 Dollar wert. Mittlerweile liegt der Wechselkurs bei 0,05 Dollar. Durch diesen Kursverfall verschlechtern sich die Lebensbedingungen auf besorgniserregende Weise.

Reicher Süden – armer Süden

Auch wenn der Süden die ressourcenreichste Region des Sudan ist, profitiert die dortige Bevölkerung nur wenig von diesem Reichtum, da die weite Verbreitung von Malaria die wirtschaftliche Nutzung einschränkt. Zudem hat der Kampf verschiedener Fraktionen um die Macht im neu gegründeten Staat die Wirtschaft so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass Bürger des Südsudan nun aus Angst vor einer Hungersnot und einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage nach Norden ziehen. Einige, denen die Flucht aus dem Südsudan gelingt, reisen weiter nach Ägypten, was die ethnische Diversität der sudanesischen Flüchtlingscommunity dort erhöht: Zusätzlich zu Menschen aus dem Darfur und den Nuba-Bergen sowie zu Oppositionellen aus dem zentralen und nördlichen Sudan leben in Ägypten nun auch Bürger des kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Südsudan.

Ein relativ neues Phänomen ist die Fluchtbewegung von Sudanesen, die nicht in ihrer Heimat, sondern in Libyen ihren Ursprung hat. Seit Entführungen und Menschenhandel durch bewaffnete Banden in der libyschen Wüste zugenommen haben, flüchten viele eigentlich in Libyen lebende Sudanesen ostwärts nach Ägypten.

Der Leidensweg

Der Leidensweg der Geflüchteten, den sie gehen müssen, um einen Aufenthaltstitel zu erhalten, beginnt im Büro des UNHCR in der »Stadt des 6. Oktobers«, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist, da die Zufahrtsstraßen ständig verstopft sind. In diesem Büro bekommen sie ein Formular in die Hand gedrückt und werden gebeten, in drei Monaten wiederzukommen. Eine Abgabe des Formulars vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist ist nicht möglich.

Für die meisten Geflüchteten stellt die weite und somit teure Anreise zum UNHCR eine große Hürde dar. Aber mit dem Überwinden dieser Hürde ist man noch längst nicht am Ziel, wie viele in den letzten Jahren feststellen mussten. Nachdem sie sich aufwändig Geld für die Reise geliehen und die Mühen des Weges auf sich genommen haben, werden sie oft gar nicht ins Büro eingelassen, wenn die Maximalzahl der Besucher für diesen Tag bereits erreicht worden ist. Einige entschieden daraufhin, auf dem Boden vor dem Gebäude zu übernachten, weil sie sich die Reise kein zweites Mal leisten können. Andere machten aus dieser Tragödie ein Geschäft, indem sie morgens ihren Namen auf die Warteliste setzen ließen, um ihren Platz dann an später Eintreffende zu verkaufen. Dieser Handel florierte, bis der UNHCR davon erfuhr und eine telefonische Terminvergabe einrichtete. Trotz eines Termins, so erzählt Abdelkader, habe er mehrfach unverrichteter Dinge die Rückreise antreten und am nächsten Tag wiederkommen müssen, da er wegen des großen Andrangs nicht eingelassen worden sei.

Die nächste Etappe des Leidenswegs beginnt, wenn dem Geflüchteten ein weißer Zettel ausgehändigt wird. Dieser Zettel, vom UNHCR mit seinen persönlichen Daten und seinem Foto bedruckt, dient als Ausweis. Nach sechs oder sieben Monaten wird dieser dann gegen eine gelbe Karte eingetauscht, die ihren glücklichen Besitzer als registrierten Flüchtling ausweist. Wenn der Asylantrag abgelehnt wird, bekommt die Karte eine andere Farbe: Blau bedeutet, dass er zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgeschoben werden kann. Solange über den Asylantrag noch nicht entschieden ist, bleibt die Karte gelb. Der Geflüchtete hängt in der Luft und klammert sich an Hoffnungen, die im Laufe der Jahre immer blasser werden.

Seine gelbe Karte trägt der Flüchtling dann zum ägyptischen Außenministerium, wo er sich registriert und eine Nummer erhält. Nach etwa sechs Wochen begibt er sich zu einem gigantischen Gebäude, in dessen Flügeln die ägyptische Bürokratie ihren Sitz hat. Dort wartet er vor einem Fenster, um zu erfragen, ob sein Name bereits vom Außenministerium übermittelt worden sei. Dafür muss er vor dem Komplex übernachten, um sich einen Platz zu sichern. Wer zu später Stunde in dieser Gegend spazieren geht, kann in dem Park vor dem Gebäude Dutzende von Geflüchteten liegen sehen, die ungeduldig auf den Sonnenaufgang warten.

Wenn der Flüchtling Glück hat, steht sein Name auf der Liste, und er muss an einem anderen Tag wiederkommen, um dieses Mal vor dem Schalter 10 zu warten. Dort kann er dann mit dem Verfahren zum Erhalt eines Aufenthaltstitels beginnen.

Nadia kennt diese Wartesituation aus den Schilderungen ihrer Patientinnen. Viele empfinden die grobe Behandlung, die sie dort erfahren müssen, als Demütigung. Manche werden sogar aus der Warteschlange verjagt. Zudem brechen manchmal Handgemenge zwischen den Wartenden aus, weil niemand das Risiko eingehen möchte, nicht mehr an die Reihe zu kommen und ein weiteres Mal vor Ort übernachten zu müssen.

Der Leidensweg endet aber nicht mit dem Erhalt eines Aufenthaltstitels, denn dieser muss danach mindestens alle sechs Monate verlängert werden. Jedes Mal ist Abdelkader aufs Äußerste angespannt und befürchtet, es könnte jeden Moment sein Handy klingeln und ein Beamter am anderen Ende der Leitung würde ihm mitteilen, dass sein Aufenthalt dieses Mal nicht verlängert worden sei und er nun abgeschoben werden würde.

Das Massaker von Mustafa Mahmoud

Das Büro des UNHCR war nicht immer an einem so abgelegenen Ort. Viele Jahre lang befand es sich im Herzen Kairos, bis es nach einem tragischen Ereignis, das unter dem Namen »Massaker von Mustafa Mahmoud« bekannt ist, verlegt wurde. Dieses Massaker fand im Jahr 2005 in einem öffentlichen Park gegenüber des damaligen UNHCR-Büros im Viertel Mohandessin statt. Eine große Anzahl von Geflüchteten veranstaltete dort einen Sitzstreik, um gegen den Bearbeitungsstopp für Asylanträge, der zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Monate andauerte, zu protestieren. Nachdem die Versuche, ihn durch Verhandlungen aufzulösen, gescheitert waren, drohte das UNHCR mit dem Einsatz von Sicherheitskräften.

In der Silvesternacht, etwa drei Monate nach Beginn des Sitzstreiks, marschierte die Bereitschaftspolizei auf, umstellte die Demonstranten und beschoss sie mit Wasserwerfern. Augenzeugen zufolge ließen die mehr als 6 000 Polizisten niemanden entkommen und prügelten so brutal auf die Anwesenden ein, dass Dutzende getötet und Unzählige verletzt wurden. Es kam zu Massenverhaftungen, Busse transportierten die Festgenommenen ins Gefängnis, Kinder wurden von ihren Familien getrennt und auch Frauen wurden nicht verschont. Als das Ausmaß der Tragödie bekannt wurde, schoben sich das UNHCR und die Sicherheitskräfte gegenseitig die Verantwortung zu.

Auch Abdelkader wurde an diesem Tag festgenommen. Er habe in Tränen aufgelöste Polizisten gesehen, die sich nicht überwinden konnten, die Demonstranten wie befohlen zusammenzuschlagen, sagt er. Hohe Offiziere hingegen hätten ein Exempel statuieren wollen und seien mit übermäßiger Gewalt vorgegangen. Er fügt hinzu: »Niemand hätte erwartet, dass so etwas hier passiert. Darum hatten wir doch den Sudan verlassen!«

Fast schlimmer als der Angriff der Sicherheitskräfte war die Reaktion der ägyptischen Bürger. Viele blieben stehen, um die Niederschlagung der Demonstration zu beobachten und sangen dabei die Nationalhymne. Sie klatschten, während die Polizisten auf Frauen und Kinder einprügelten, und schrien den Demonstranten Beschimpfungen entgegen wie: »Ihr seid Dreck, den man wegputzen muss.« Jedes Mal, wenn ich an diese Szene denke, frage ich mich, welche Rolle Rassismus dabei gespielt hat.

Man hätte erwarten können, dass die Sudanesen nach diesem Massaker Ägypten nicht länger als sicheren Zufluchtsort wahrnehmen und nicht mehr hierher flüchten. Aber laut Nadias Einschätzung ist das nicht der Fall: Manche wüssten nichts von dieser Tragödie, andere ließen sich durch sie nicht von ihren Auswanderungsplänen abbringen. Auch die ägyptische Revolution im Jahr 2011 habe nur in den ersten Tagen einen Einfluss auf die Migration aus dem Sudan gehabt. »Wir haben Präsident Mubarak rausgeschmissen, jetzt seid ihr dran!«, sei zu Beginn von mancher Seite gedroht worden. Es sei auch zu Belästigungen auf offener Straße gekommen, die sich aber meist auf das Entwenden von Handtaschen beschränkten. Nach wenigen Tagen habe sich die Lage für Geflüchtete aber wieder normalisiert, resümiert sie.

Falsche Versprechungen

Durch ihre Arbeit mit Geflüchteten aus verschiedenen Städten und Regionen des Sudan weiß Nadia, welche Heilsversprechen Schlepper und Menschenhändler verbreiten. Menschen, die nur mit großer Mühe ihren Lebensunterhalt bestreiten können, malen sie das Leben in Ägypten in schillernden Farben aus. Dort warte großer Wohlstand auf sie, das UNHCR müsse allen Flüchtlingen ein monatliches Wohngeld von mehr als 1 000 Pfund zahlen. Zusammen mit dem Kindergeld und Sonderzahlungen für Extraausgaben ergebe sich somit ein monatlicher Betrag von mehreren 1 000 Pfund, was für die meisten Sudanesen ein unvorstellbarer Reichtum ist. Viele glauben diesen Gerüchten und planen ihre Reise in den Norden mit der Vorstellung, dass dort Geld im Überfluss und ein glückliches Leben auf sie wartet. In Ägypten stellen sie dann fest, dass sie einer Illusion aufgesessen sind, welche nichts mit ihrer schmerzhaften Lebensrealität zu tun hat.

Die finanzielle Unterstützung, welche die Caritas im Auftrag des UNHCR jahrelang ausgezahlt hatte, wurde tatsächlich ohne Erklärung eingestellt, erinnert sich Abdelkader. Da seine Fixkosten nach und nach gestiegen seien, habe er schließlich wegziehen müssen. Er war einfach nicht mehr in der Lage, für die Miete, die Elektrizität und die sonstigen Kosten aufzukommen.

Die Probleme der sudanesischen Geflüchteten

Unter den vielen Problemen, mit denen sudanesische Geflüchtete in Ägypten zu kämpfen haben, ist die Arbeitslosigkeit aber zweifelsohne das größte. Wer keine Ersparnisse mitgebracht hat, von denen er leben kann, sucht händeringend Arbeit, egal wie niedrig bezahlt sie auch sein mag. Sudanesen müssen zwar keine Verwaltungsgebühr für die Ausstellung einer Arbeitserlaubnis bezahlen, haben aber auch keinen Rechtsanspruch auf sie, da Ägypten einige Paragrafen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht anwendet, unter anderen jenen, der ein Recht auf Arbeit gewährt.3 Somit ist es sehr schwer, seinen Lebensunterhalt in einem offiziellen Arbeitsverhältnis zu verdienen, was Hunderte oder gar Tausende von Flüchtlingen zu prekärer, undokumentierter Arbeit zwingt. Diese Art von Arbeit birgt viele Risiken, etwa die Beschlagnahmung der produzierten Waren oder die Festnahme durch Sicherheitskräfte. Aber die Repression durch die Sicherheitsorgane ist mitunter gar nicht das Schlimmste. Manchmal ist es die ägyptische Gesellschaft, die dem Flüchtling selbst die niedrigsten Tätigkeiten verwehrt.

Nachdem etwa der 40-jährige Abdelkader in seiner Heimat, dem sudanesischen Bundesstaat Blauer Nil, von Sicherheitskräften interniert und gefoltert worden war, floh er im Jahr 2002 nach Ägypten. Nach seiner Registrierung beim UNHCR hangelte er sich mit verschiedenen Hilfsjobs durch: Er bedruckte Stoffe und putzte in Privathaushalten, arbeitete als Schneider, Bäcker oder Koch und verdiente als fliegender Händler und als Dienstbote seinen Lebensunterhalt. Dabei wurde er oft als Eindringling, der den Ägyptern die Arbeit wegnimmt, beschimpft: »Ihr seid in Scharen aus eurem Land gekommen, um uns unseren Lebensunterhalt streitig zu machen!« Manchmal blieb es nicht bei derartigen Anschuldigungen und Beschimpfungen, es kam sogar zu körperlichen Übergriffen. So wurde Abdelkader einmal so heftig auf den Kopf geschlagen, dass er notfallmedizinisch versorgt werden musste. Der Täter wurde nicht gefasst.

Abdelkader sagt aber auch, dass er viel Unterstützung von Ägyptern erfahren hat. Sie hätten ihn als einen der ihren behandelt und ihm geholfen, Schwierigkeiten zu überwinden, an denen er alleine gescheitert wäre. Dafür stehe er in ihrer Schuld. Dennoch, räumt er ein, gäbe es andere, die er als ständige Bedrohung empfinde.

Insbesondere seit den sogenannten Wirtschaftsreformen der ägyptischen Regierung, die viele in Armut gestürzt haben, ist unter den ökonomisch Schlechtergestellten der Eindruck omnipräsent, der angespannte Arbeitsmarkt sei überlaufen.

Ausgerissene Wurzeln

Wenn ein Flüchtling seine Heimat verlässt, büßt er mit einem Mal die Lebenserfahrung ein, die er dort über Jahrzehnte hinweg gesammelt hat. Die meisten Sudanesen klagen über ein Gefühl der Entfremdung, da es ihnen kaum gelingt, enge Kontakte in ihrem Wohnumfeld zu knüpfen, weder im Viertel noch in der direkten Nachbarschaft. In ihrer Heimat waren innige Beziehungen zu Bekannten und Nachbarn die Regel, ebenso wie ein starker Zusammenhalt in der Großfamilie. In Ägypten hingegen ist der Lebensstil sehr individualisiert, und selbst die Mitglieder einer Kleinfamilie, die unter demselben Dach leben, haben oft keinen engen Kontakt miteinander. Es ist sogar normal, nicht alle Namen von Verwandten zu kennen.

Abdelkader hat seine Frau im Sudan kennengelernt und dort geheiratet, bevor sie gemeinsam nach Kairo gingen. Sie habe Angst, sagt er: Angst davor, mit den Nachbarn zu reden. Angst, auf die Straße zu gehen und sich unter die Leute zu mischen. Angst, wenn er arbeitet und sie alleine in dem Zimmer sitzt, das sie gemietet haben. Und er hat Angst, weil sie Angst hat – Angst, dass ein blöder Spruch im Vorübergehen, irgendwo in ihrer Nachbarschaft, sie verletzen könnte.

Die sudanesischen Geflüchteten, die eine kollektive, auf gegenseitige Hilfe basierende Lebensweise gewohnt sind, scheinen durch die hiesige Vereinzelung in eine tiefe Krise gestürzt zu werden. »Die Nachbarn interessieren sich hier nicht füreinander«, sagen manche Flüchtlinge, »es ist ihnen egal, ob Essen im Nachbarhaus ist oder ob die Kinder hungrig oder gar krank sind.« Dieses wachsende Gefühl von Einsamkeit und Isolation, der Eindruck, dass es keinerlei Unterstützung aus ihrem Umfeld gibt, ist über das individuelle Leid hinaus von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, weil es die Fähigkeit der Geflüchteten einschränkt, sich in die ägyptische Gesellschaft zu integrieren. Denn sie haben das Gefühl, dass es für niemanden einen Unterschied macht, ob sie da sind oder nicht.

Die Verwundbarkeit der Geflüchteten

Sobald ein Flüchtling ein wenig Erfolg hat, sich ein soziales Netzwerk aufgebaut und einen Arbeitsplatz gefunden hat, sieht er/sie sich einem neuen Problem gegenüber, das im Fall von Frauen, die meistens in Privathaushalten als Dienstmädchen oder Putzhilfen arbeiten, besonders ausgeprägt ist. Viele berichten, ihr Arbeitgeber würde sie schlecht behandeln oder gar misshandeln. Er zahle ihren Lohn nicht, begrapsche sie, biete ihnen Geld für sexuelle Handlungen und drohe, dass er, sollten sie sich mit dem Gedanken tragen, ihn zu verklagen, falsche Anschuldigungen, wie etwa des Diebstahls, erheben werde, um sie davon abzubringen.

Hier zeigt sich die Verwundbarkeit der Geflüchteten: Angesichts des dysfunktionalen Justizsystems und der unverhohlenen Feindseligkeit, mit der ihnen die ägyptische Gesellschaft gegenübertritt, sowie in Ermangelung eines sicheren Aufenthaltsstatus haben die meisten Flüchtlinge keine Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern. Nadia verweist in diesem Zusammenhang auf eine in Ägypten weit verbreitete Kultur der Diskriminierung, die Schwarze als Menschen zweiter Klasse ansieht und sie schutzloser gegenüber Demütigungen und Unterdrückungen macht, als dies bei ägyptischen Hausangestellten der Fall sei.

Sklavenkopf

Geflüchtete aus dem subsaharischen Afrika werden wegen ihrer Hautfarbe angefeindet, wobei kein Unterschied gemacht wird, aus welchem Land sie kommen. Menschen aus dem Sudan, Äthiopien, Somalia und Eritrea leiden unter der gleichen Unterdrückung. Darum hat Abdelkader beim UNHCR den Antrag gestellt, sein Asylverfahren in irgendeinem beliebigen subsaharischen Staat neu zu eröffnen. Er hat die Hoffnung, in einem Land, dessen Bewohner zumeist eine ähnliche Hautfarbe wie er haben, in Frieden leben zu können, weil dort vielleicht die ständigen Beleidigungen aufhören, die sein Leben in Ägypten noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.

Die Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe seien eine schwere psychische Belastung für die Flüchtlinge, deren sozioökonomische Lage bereits schwierig genug sei, erklärt Nadia. Im Sudan habe die Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert, und Fremde würden herzlich aufgenommen. Zudem hätten sich die Sudanesen eine historisch gewachsene Liebe zu Ägypten und den Ägyptern bewahrt. Darum sei die rassistische Behandlung in einem Land, das sie als ihre zweite Heimat ansehen, so besonders unerwartet und traumatisierend.

Auch wenn über »Ägypten und Sudan« traditionell lange Zeit als Einheit gesprochen wurde, in der ein Fluss zwei benachbarte Völker verbindet und über die ein einziger König herrscht, so hat das rassistische Ressentiment mittlerweile hohe Mauern zwischen diesen beiden Völkern errichtet. Wenn ein dunkelhäutiger Mensch an einer Gruppe von Ägyptern vorbeiläuft, passiert es nicht selten, dass sie ihn wegen seiner Hautfarbe verspotten oder »Shikabala« rufen.4 Oder sie zwinkern einander zu und fragen: »Warum ist es denn so dunkel?« In manchen besonders entwürdigenden Momenten bezeichnen sie die Person auch als »Sklavenkopf«.

Schwarzer Sklave

In der jüngeren Geschichte gab es einen relativ bekannten sudanesischen Dichter, der sich mit dem Thema Rassismus poetisch auseinandergesetzt hat. Der 1933 in Omdurman geborene Salah Ahmed Ibrahim schrieb:

Hast Du jemals die Schmach der Farbe gekostet?

Die Leute, wie sie auf Dich zeigen und rufen:

Schwarzer Sklave

Hast Du jemals den Knaben beim Spiel

mit zärtlicher Sehnsucht zugesehen

und das Herz wurde vor Güte Dir schwer?

Wie schön sie doch spielen!

dachtest Du im Vorübergehen

Da bemerkten sie Dich und sprangen Dir hinterher

Schwarzer Sklave

Schwarzer Sklave

Schwarzer Sklave

Das in dem Gedicht beschriebene Leiden ist weit verbreitet, man findet es im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden. Der Rassismus ist eine schwere Last auf den Schultern seiner Opfer, die er stets unter den Schwächsten wählt.

Kampf dem Rassismus

Es gibt verschiedene Initiativen, die versuchen, sich dem Rassismus entgegenzustellen, wie etwa die Sensibilisierungsworkshops, die das Psycho-Social Services and Training Institute5 zwischen 2009 und 2014 veranstaltet hat. Diese Workshops richteten sich an Ägypter und fanden in Gegenden statt, in denen sehr viele Geflüchtete wohnen. Hierfür wurden die Räumlichkeiten von Theatern und öffentlichen Bibliotheken genutzt.

Nadia, die an der Organisation dieser Workshops beteiligt war, ist vorsichtig optimistisch: Das feindselige Verhalten mancher Ägypter entspringe teilweise dem Unwissen über die negativen Konsequenzen. Sie wollten sich einen Spaß erlauben, nicht andere verletzen. Darum hätten sie die Präsentation der gravierenden Schäden, die rassistisches Verhalten sowohl der Psyche des Individuums als auch der Gesamtgesellschaft zufügt, mit Aufmerksamkeit verfolgt, glaubt Nadia. Die während der Workshops gefassten Vorsätze, diese rassistischen Verhaltensweisen abzulegen und sich menschlicher zu benehmen, erscheinen ihr glaubhaft. »Manchmal höre ich im Vorbeigehen, wie Leute von mir als Abu Samra as-Sukra sprechen, was Hochachtung ausdrückt«, berichtet sie. »Ich lächele dann und sage nichts.«

Geflüchtete aus Syrien

Wer aus der Levante, insbesondere aus Syrien, nach Ägypten migriert ist, befindet sich in einer anderen Lage als die Flüchtlinge aus dem Sudan. Die syrische Diaspora ist groß, mehr als 128 000 Syrerinnen und Syrer leben in Ägypten. Die meisten von ihnen suchen hier Zuflucht vor den Bombardierungen, den Explosionen und den Chemiewaffen, die ihre Heimat in eine leblose Trümmerwüste verwandelt haben. Manchen gelang es, in den Westen auszuwandern, viele flohen nach Ägypten.

Die syrische Flüchtlingscommunity ist in Bezug auf ihren sozioökonomischen Status divers, da es einem nennenswerten Teil der mittleren und oberen Mittelschicht gelungen ist, ihr Vermögen mit nach Ägypten zu bringen. Ohne Einschränkungen vonseiten des Staates konnten sie mithilfe dieses Kapitals prosperierende Unternehmen aufbauen. Viele der neu eröffneten syrischen Restaurants beschäftigen nicht nur syrische, sondern auch ägyptische Arbeitskräfte, was zum guten Ruf dieser Restaurants sowie deren Besitzer beiträgt und somit Letzteren die Integration in die ägyptische Gesellschaft erleichtert.

Trotz der positiven Entwicklung dieser Unternehmen leben viele andere syrische Familien in Armut und sind auf sporadische oder regelmäßige Unterstützung angewiesen. Wohlhabende Syrer haben deshalb Solidaritätsstrukturen aufgebaut, welche die ärmsten Familien mit dem Notwendigsten versorgen.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die freundliche Aufnahme, die den syrischen Geflüchteten zuteilwurde, steht in deutlichem Kontrast zum oben beschriebenen Umgang der ägyptischen Gesellschaft mit sudanesischen Geflüchteten. Sudanesen haben Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verrichten niedrige Arbeiten und werden ständig vom Sicherheitsapparat gegängelt. Die syrische Community hingegen ist wirtschaftlich bessergestellt, hat zum Teil Arbeitsplätze für Ägypter geschaffen und Selbsthilfestrukturen aufgebaut. Zudem werden Syrer nicht wegen ihrer Hautfarbe als fremd wahrgenommen. Darüber hinaus sind in Ägypten die Erinnerungen an die Einheit mit Syrien noch lebendig. Getragen von der Begeisterung für die panarabische Idee waren beide Länder von 1958 bis 1962 unter der Präsidentschaft von Abdul Nasser vereinigt, was die Bindung zwischen den beiden Völkern anhaltend gestärkt hat, im Gegensatz zur traditionellen Beziehung zum Sudan.

In Bezug auf einen anderen Punkt gleichen sich die beiden Communities wiederum: die 180-Grad-Wende, welche die offiziellen Stellen im Umgang mit den Geflüchteten in jüngerer Zeit vollzogen haben. Bis zum Jahr 1995 brauchten Sudanesen gar keine Aufenthaltserlaubnis für Ägypten. Das gescheiterte Attentat auf den damaligen Präsidenten Mubarak in Addis Adeba setzte dieser Politik ein Ende, da die ägyptische Regierung dem Regime im Sudan eine Mitschuld an dem Vorfall zuwies. Von diesem Zeitpunkt an wurden sudanesische Staatsbürger wie alle anderen Flüchtlinge behandelt und mussten fortan Aufenthaltstitel beantragen.

Auch die Syrer erlebten einen ähnlichen Kurswechsel: Nachdem ihnen zunächst alle Türen offen gestanden hatten, wurden ihnen diese vor der Nase zugeschlagen, als sich einige syrische Flüchtlinge den Protesten anschlossen, die Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mursi Mitte 2013 auf dem Rabaa Al-Adawiya Platz in Kairo organisierten. Um der einsetzenden Repression6 durch den Sicherheitsapparat zu entgehen, reisten viele Syrer in den Sudan und organisierten sich dort auf komplizierten Wegen einen Reisepass und ein Visum. Auf diese Weise können sie je nach Situation zwischen dem Sudan und Ägypten hin- und herreisen, was seit der Eröffnung des Qastal-Grenzübergangs im Jahr 2014 leicht möglich ist.

Genau zuhören

Geflüchtete, seien sie aus Syrien, dem Sudan oder einem anderen Land, haben ähnliche Sorgen, und ihre Rechte werden in ähnlicher Weise mit Füßen getreten. Wie schwer die Bürde ist, die sie zu tragen haben, erkennt nur, wer den Kontakt mit ihnen sucht, genau hinsieht und aufmerksam zuhört.

Es ist viel Zeit seit Nadias Ankunft in Kairo vergangen, und ganz sicher hat sich vieles in der Stadt verändert. Aber Nadia hat sich nicht verändert – das sagen zumindest ihre Freunde. Sie ist, wie sie ist: voller Vitalität und den Menschen zugewandt. Sie trotzt den Widrigkeiten des Lebens, ohne dabei zu verbittern.

Verweise

1 www.alnadeem.org/en.

2 BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights: ›Zur Lage der palästinensischen Flüchtlinge in Ägypten‹, Oktober 2013 (arabisch).

3 Ashraf Milad: ›Die Lage der sudanesischen Geflüchteten in Ägypten‹, 30.12.2005 (arabisch).

4 Shikabala ist der Name eines bekannten ägyptischen Fußballspielers, der aus Oberägypten kommt. Wegen seiner Hautfarbe wird er im Stadium oft von Zuschauern rassistisch beschimpft.

5 www.pstic-egypt.org/.

6 Deutsche Welle: ›Syrer in Ägypten: Die Sicherheitsorgane hören nicht auf, uns zu schikanieren‹, 27.10.2013 (arabisch).

Das ist es doch, wofür wir leben
Karen Connelly

Aus dem Englischen von Gregor Runge

Einige haben Koffer bei sich, aber die meisten tragen ihre wenigen Habseligkeiten in Plastiksäcken, die von UN-Mitarbeitern ausgegeben wurden. Mancher hat seinen Koran dabei, die Bibel oder Familienschmuck, Goldohrringe der Mutter, einen Ring der Tante, duftenden syrischen Kaffee und Tee, libanesische und türkische Zigaretten, alte Fotos.

Ein paar Monate nach ihrer Ankunft wagt es Hala zum ersten Mal, uns ihre Fotos zu zeigen. Sie berührt die Dokumente ihrer Vergangenheit mit größter Ehrfurcht. Die Fotos zeigen ihre ernst posierenden Eltern, ihre Großeltern und andere Mitglieder der Familie an den Orten ihrer Kindheit. Ein Picknick am Fluss, ein großer Baum, darunter ein Teppich, auf dem eine gesellige Runde beim Tee sitzt. Eingehend betrachtet sie das Bild und sagt in der ihr noch völlig unvertrauten Sprache: »Die Zeit davor. Vorbei.«

»Vorbei« bedeutet »Vergangenheit«, ein Wort, das sich Hala noch nicht merken kann. »Vorbei« bedeutet auch »ausgelöscht« – und doch gehören diese Bilder zu ihrer Wirklichkeit. Die Vergangenheit mag unerreichbar geworden sein, aber ein Mythos ist sie nicht. Mit dem Fluss und den jugendlichen Gesichtern ihrer Eltern hält Hala den unwiderlegbaren Beweis in Händen, dass es in Syrien eine Zeit davor gab, eine Zeit vor dem Krieg, bevor sie erfahren musste, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, sich nicht nur gegenseitig, sondern auch die ganze sie umgebende Welt restlos zu vernichten.

Am Tag der Ankunft werden nur Fotos auf Handys herumgezeigt. Was ich auf dem Display sehe, erscheint mir sehr vertraut: Großeltern umarmen ihr Enkelkind, Halas jüngere Cousinen präsentieren sich in reich verzierten Hidschabs und Männer in ihren besten Anzügen, die einen mit kurzen, die anderen mit längeren, zurückgekämmten Haaren, Jungs stehen in glänzenden Fußballshorts neben einem Motorrad, die einen wirken ernst, die anderen lachen, haben den Witz von eben noch auf den Lippen. Das bin ich, sagen diese Bilder, das sind wir, wir leben. Überall auf der Welt zeigen sich Menschen, die einander kaum kennen, solche Schnappschüsse, wie Ausweise, die etwas über ihre Geschichte erzählen.

Zu der syrischen Familie, für die wir die Patenschaft übernehmen, gehören Hala und Jassim sowie ihre vier Kinder im Alter zwischen zwei und elf Jahren. In den nächsten vier Monaten werden wir, so mysteriös wie selbstverständlich, auf den Displays ihrer Handys erscheinen, so wie sie auf unseren. »Wir« sind sieben Frauen und ein Mann, die in Toronto eine private Patenschaftsinitiative ins Leben gerufen haben. Gemeinsam haben wir Spenden in Höhe von 35 000 kanadischen Dollar gesammelt. Wir werden die uns anvertraute Familie während ihres ersten Jahres in Kanada auch über die finanzielle Hilfe hinaus unterstützen.

Justin Trudeau erklärte im Herbst 2015, damals noch Vorsitzender der Liberal Party, er wolle im Falle seines Wahlsiegs dafür sorgen, dass Kanada innerhalb von drei Monaten insgesamt 25 000 syrische Flüchtlinge aufnehmen werde. Ein solches Versprechen wäre in vielen anderen Teilen der Welt einem politischen Selbstmord gleichgekommen. Heute sind sich jedoch nicht wenige politische Kommentatoren darin einig, dass Trudeaus öffentliches Engagement für syrische Geflüchtete sogar zu seinem Wahlsieg beigetragen hat. Damals steckte nicht nur den Kanadiern das Bild des toten dreijährigen Aylan Kurdi in den Knochen, der auf der Flucht ertrunken war und an einen türkischen Strand gespült wurde.

Der neu gewählte Premierminister Trudeau ging später über sein Versprechen sogar noch hinaus. Es waren noch keine 25 000 Geflüchteten im Land, da wurde weiteren 20 000 das Bleiberecht angeboten, zusätzlich zu den 250 000 Migranten, die jedes Jahr regulär nach Kanada einwandern. Und die kanadischen Bürger kamen dem Aufruf, Patenschaften zu übernehmen, bereitwillig nach. Wir füllten die Formulare aus, ließen uns Führungszeugnisse ausstellen und überprüften, ob unsere Fahrzeugversicherungen noch gültig waren. Wir schrieben E-Mails an Freunde, Kollegen und Unbekannte. Schwierig war es vor allem, eine Wohnung zu finden, ohne genau zu wissen, wie viele Personen überhaupt untergebracht werden mussten. Schwierig war es, die nötigen Dolmetscher zu gewinnen. Schwierig war vieles …

Wenn etwas keine Probleme bereitete, dann war es das Geld. Geflüchteten, die von privaten Initiativen unterstützt wurden, ging es häufig besser als den von öffentlichen Geldern finanzierten. Aber nicht nur, weil ihnen mehr Geld zur Verfügung gestellt wurde, sondern weil sich eine kleine Gruppe von Menschen um sie kümmerte, ihnen half, wo sie konnte, um den manchmal komplizierten Alltag im neuen Land zu bewältigen. Die Angestellten der öffentlichen Wohnungsgesellschaften und die staatlichen Betreuer gaben zwar auch ihr Bestes, den zahlreichen Neuankömmlingen mit ihren ganz unterschiedlichen Bedürfnissen unter die Arme zu greifen, aber häufig waren sie überfordert.

Die Unterstützung schutzbedürftiger Menschen erfordert heute vor allem Zeit und Entschlossenheit, denn an Geld mangelt es wie gesagt nicht. Geldmangel ist eine beliebte, faule Ausrede, wenn es eigentlich an politischem und persönlichem Willen fehlt. Wir aber waren fest entschlossen. Wir wollten und konnten einer Familie dabei helfen, eine Wohnung zu beziehen und sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Bis auf einen Mitstreiter bestand unsere Initiative aus lauter Frauen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren, die selbst Familie hatten: darunter kleine Kinder, alternde Eltern, kranke Verwandte. Dazu kamen oft fordernde Jobs. Wir alle mussten also unterschiedliche Menschen und Aufgaben unter einen Hut bringen. Zeit ist letztlich die wertvollste Ressource. Und dann gab es noch all die anderen Dinge, die im Zusammenhang mit einer Patenschaft gefragt sind: Geduld, Demut, Vertrauen und die Bereitschaft, daran zu glauben, dass wir es auf unsere, wenn auch manchmal etwas ungeschickte Art gut meinen, auch wenn wir es mal vermasseln, uns auf die Nerven gehen und meistens viel zu viel reden.

Wenn ich an Hala und Jassim und die anderen Neuankömmlinge dachte, kamen mir nie terroristische Anschläge in den Sinn, sondern der Terror des Krieges, vor dem sie geflohen waren. Ich machte mir keine Sorgen, dass irgendwelche Terroristen trotz der Überprüfungsverfahren der Vereinten Nationen und der kanadischen Regierung in »unsere« Welt eindringen könnten. Am 29. Januar 2017, genau ein Jahr, nachdem Hala und Jassim in Toronto angekommen waren, ereignete sich in Kanada ein brutaler Anschlag. Kurz nachdem im Islamischen Kulturzentrum von Quebec City um acht Uhr das Morgengebet verlesen worden war, betrat ein weißer Mann mit einer Waffe den Gebetsraum und eröffnete das Feuer. Er tötete sechs Männer und verletzte mindestens 19 weitere schwer. Die Schuhe der am 29. Januar 2017 getöteten Menschen stehen seitdem in einer Reihe neben dem Eingang zum Gebetsraum.

Es gab neben meiner Arbeit und meiner Familie immer unheimlich viel zu tun: Wir mussten Vorsorgeuntersuchungen, Impfauffrischungen, Zahnarztbesuche und Englischkurse organisieren, die Kinder brauchten Computer, die Lehrer der Kinder wollten mit den Eltern sprechen, Hala hatte Probleme mit ihrer Bankkarte, der Ankauf von Waschmaschinen stand an, und Handyverträge erklären sich nicht von selbst.

Allein die vielen Zahnarztbesuche. Sechs Patienten! Während all der Jahre des Krieges und der Flucht, als die Familie in Flüchtlingscamps und billigen Unterkünften in Beirut wohnte, war die Familie nie beim Zahnarzt gewesen. Die beiden jüngsten Kinder mussten einiges durchstehen, weil sie so viele Füllungen und Impfungen benötigten. Eines der Mädchen packte beim Anblick der Nadel das blanke Entsetzen, und eine posttraumatische Belastungsstörung wurde ausgelöst. Hala gab ihr Bestes, ihre Tochter zu beruhigen, und wir beruhigten wiederum Hala, die ebenfalls Probleme mit den Zähnen hatte. Erst nachdem ihre Zähne gezogen waren, hatte sie keine Schmerzen mehr.

Hala zeigt auf ihr Handydisplay. Zu sehen ist ein Auto in einer Zufahrt, dahinter eine weiße Hauswand, im Vordergrund zwei gutaussehende lächelnde Männer in traditionellen, leuchtend weißen Gewändern. Halas Brüder. Ich erkenne es sofort, weil sie dieselben strahlend grünen Augen und dasselbe Kinn haben wie ihre Schwester. Weiß auf Weiß. Ein großes Haus, intakt. Vor dem Krieg.

Nachdem ich die Kinder mit ihren grünen Augen und glänzenden goldbraunen Haaren im Hotelzimmer begrüßt habe, hüpft die Jüngste auf meinen Schoß, legt mir die Arme um den Hals und sagt: »Tschokran!« Hala und die anderen Kinder lachen. Die Übersetzerin ist noch nicht da. Nachdem ich ein wenig mit den Kindern »geplaudert« und wir uns gegenseitig unsere Handyfotos gezeigt haben, gehe ich kurz aus dem Zimmer, um durchzuatmen. In der Hotellobby geht es wie auf einer riesigen Sportveranstaltung zu. Ich bahne mir einen Weg durch das Gewühl. Dutzende Menschen stellen sich, so wie ich gerade eben, ihren Familien vor, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation aus Übersee blättern durch die Listen auf ihren Clipboards, überall wuseln Kinder herum, trinken Limo und quengeln vor Aufregung und Müdigkeit. Mit leuchtenden Augen flitzen sie in kleinen Banden in den Hotelfluren hin und her. Ich zwänge mich durch den Eingangsbereich und trete ins Freie, es riecht nach Schnee, Autoabgasen und Zigarettenrauch. Jassim ist auch da, zusammen mit ein paar anderen Männern, um zu rauchen und dem Trubel und der Enge zu entkommen. Einige der Männer sind vor Müdigkeit schon ganz benommen, andere sehen einfach nur glücklich aus. Wir lächeln uns zu, Jassim sagt das einzige Wort, das er kennt: »Hallo.« Einige der Männer können schon ein paar Worte mehr. Aber wir werden schon klarkommen. Die Männer tragen ihre neuen Winterjacken. Gestern, nachdem die Einreiseformalitäten am Pearson International Airport erledigt waren, wurden die Geflüchteten offiziell in Empfang genommen, und alle bekamen eine Jacke ausgehändigt.

Die rauchenden Männer fallen aus dem Rahmen hier. Jene Orte, die ihrer Existenz einen Rahmen gaben, sind zerstört, es gibt sie nicht mehr, oder es ist viel zu gefährlich dort. Und doch kommen sie mir vertraut vor mit ihren sonnengegerbten Gesichtern und ihren von harter Arbeit erzählenden Händen. Sie erinnern mich an die Männer meiner Kindheit, an die libanesischen, italienischen und griechischen Maurer, Fernfahrer und Zementarbeiter (wie mein Vater einer war). Ihre Haltung strahlt Aufrichtigkeit und Stärke aus, sie überspielen ihre Verletzlichkeit, und doch scheint sie manchmal auf, in einem zögerlich zur Seite geneigten Kopf oder einem feinfühligen Blick.

Im Leben eines jeden Menschen bilden Verletzlichkeit und Stärke je eine Seite derselben Medaille. Der Mut, der die Männer so weit gebracht hat, ringt mit der Angst, die sie am Leben hielt. Ab jetzt werden ihnen wohl ganz andere Dinge Angst machen. Das verwirrende Metronetz. Die Möglichkeit eines Lebens in Armut in einem fremden Land.