image

Gunter E. Grimm

Moderne Lyriker

Gunter E. Grimm

Moderne Lyriker

Benn – Brecht – Enzensberger

Tectum Verlag

Gunter E. Grimm

Moderne Lyriker

Benn – Brecht – Enzensberger

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

ePub 978-3-8288-7159-5

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN
978-3-8288-4264-9 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung
des Bildes # 67841046 von monropic | www.fotolia.de

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Drei Meister intellektueller Lyrik

I. Gottfried Benn

Die Verarbeitung der Tradition: Benns Lyrik-Lektüren

Benns Urteile über deutsche Lyriker der Vergangenheit

Benns Lektüre fremder Gedichte

Produktive Rezeption in Benns Lyrik

Am Beispiel Goethe. Intertextualität und Produktion

Der Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze

Gottfried Benns Selbstinszenierungen

Produktive Rezeption am Beispiel einer Goethe-Kontrafaktur

Benns Verskunst und Vortragspraxis

II. Bertolt Brecht

Brechts Balladendichtung zwischen Provokation und Belehrung

Brechts Balladen-Verständnis

Anarchische Balladen der Frühzeit (Legenden, Moritaten)

Agitprop und satirische Balladen der „Kampfzeit“

„Volksballade“ als Lehrgedicht?

III. Hans Magnus Enzensberger

Gebrauchslyrik – Engagierte Lyrik der Anfänge

Verlagsankündigungen

Enzensbergers Verständnis von politischer Lyrik

Die frühe politische Lyrik

Die späte politische Lyrik

„Mausoleum“ – Balladen über die Ambivalenz des Fortschritts

Nekrolog und Ballade

Jacques de Vaucanson

Henry Morton Stanley

Ernesto Guevara de la Serna

Struktur und Kunstform

Die späten Porträtgedichte – Lebensläufe als Meditationen

Begriff und Tradition des Porträtgedichts

Jean-Auguste-Dominique Ingres

Paolo Uccello

Hendrick Avercamp

Anhang

Literaturverzeichnis

I. Gottfried Benn

II. Bertolt Brecht

III. Hans Magnus Enzensberger

Nachweise

Abbildungsverzeichnis

Einleitung: Drei Meister intellektueller Lyrik

In der Tradition deutscher Lyrik-Poetologie galt lange Zeit die Ansicht, Gedichte müssten entweder Erlebnisse gestalten oder Empfindungen ausdrücken. Im Sturm und Drang, in der Romantik und im gesamten 19. Jahrhundert wurde diese Auffassung geradezu zur Doktrin erhoben. Ein Paradebeispiel solcher auf Gefühlsausdruck und Stimmungshaftigkeit fokussierten Lyrik bietet Theodor Storm, der von der ‚eigentlichen‘ Lyrik „das echte ‚Tirili‘ der Seele“ erwartete. Erst im Symbolismus kam das handwerkliche Element, das im Barock und in der Aufklärung selbstverständlich war, wieder zu neuer Geltung. Zur unerlässlichen Inspiration gesellte sich das erlernbare sprachlich-rhetorisch-metrische Können, eben die ‚Machart‘. Diese Erweiterung der Schreibarbeit wirkte sich auch auf den Kreis der behandelten Sujets aus. Sie rekrutierten sich nicht mehr ausschließlich aus dem Bereich der Herzensangelegenheiten und Seelenzustände, sondern öffneten sich philosophischen oder kulturgeschichtlichen Themen – und zwar in Form von Reflexionen und Meditationen, in kritischer oder in rühmender Absicht. Diese reflektierende Lyrik griff dabei auf die Tradition des Lehrgedichts zurück, des diskursiv philosophischen Gedichts, des pointierten Epigramms und der breiter angelegten Weltanschauungslyrik, wie sie schon Goethe gepflegt hatte. Der Expressionismus brachte insofern neue Ausdrucksmöglichkeiten, indem er Aufbegehren und Apokalyptik, Rühmen und Weltbejahung als zwei Grundeinstellungen lyrischen Sagens innovatorisch gestaltete. Zu ihm gehörten in ihren Anfängen auch die beiden großen Lyriker der ersten Jahrhunderthälfte: Benn und Brecht.

Ihre Gedichte erwuchsen aus dem Protest. Interessanterweise nahmen beide Dichter eine entgegengesetzte Entwicklung. Benn wurde zum Vertreter des modernen l’art pour l’art-Gedichts, des „absoluten Gedichts“, das in sich vollkommen war und keines Publikums bedurfte. Dabei war das von Benn propagierte „absolute Gedicht“ keineswegs voraussetzungslos. Benns kulturkritische Poesie bezog sich auf den naturwissenschaftlichen und den geistesgeschichtlichen Diskurs seiner Zeit und er verarbeitete auch poetische Vorbilder, von denen die Reminiszenzen an Goethe für die eigene Dichtung am wichtigsten waren. Brechts anfänglich anarchistisch geprägter Protest wandelte sich bereits in der Weimarer Republik, wurde politisch-programmatische Kampf- und Lehr-Dichtung, deren dialogischer Charakter sie strikt von der monologischen Kunst eines Benn unterschied. Auch Brecht nahm trotz der Negation bürgerlicher Traditionen ständig Bezug auf sie, insbesondere auf Luthers Bibeldeutsch. Er verwendete sie für seine Didaxe, die moralistische Botschaften der aufklärerischen Fabeltradition aufgriff und auf den sozialistischen Meridian umpolte. Es verwundert angesichts dieser Umprägung bürgerlicher Tradition auch nicht, dass er sich in besonderem Maße der Ballade zuwandte. Zu solchen radikalen Positionen, wie man sie bei Benn und Brecht findet, wurde Enzensberger, der einer jüngeren Generation angehört, nicht gezwungen. Seine Lyrik lässt sich weder zur monologischen noch zur didaktischen Tradition rechnen. Von Anfang an – auch in seinen politischen Gedichten – nimmt er sich vielmehr die Freiheit eines individuellen Standorts. Man hat ihm deshalb Unverbindlichkeit vorgeworfen – zu Unrecht, denn welches Gesetz verpflichtet einen Schriftsteller oder gar einen Lyriker zu ideologischen Festlegungen? Er ist Betrachter und Glossateur, der am Rande steht und seine sehr individualistischen Kommentare abgibt, ähnlich dem Beobachter im „Avercamp“-Gedicht der späten Sammlung „Rebus“. Wenn die poetologischen Positionen beider ‚klassischer‘ Antagonisten – radikaler Solipsismus und linksideologische Didaxe – ihren adäquaten lyrischen Ausdruck im monologischen „absoluten Gedicht“ und in einer appellativen Neuauflage der „Volkspoesie“ fand, so lässt sich Hans Magnus Enzensbergers kritisches Räsonnement als Versuch einer Synthese werten, die sich in der Form einer „diskursiven Meditation“ präsentiert und durch pointierte Prägnanz glänzt. Das gilt auch hinsichtlich der Form, wo er Benns lockeren Parlandostil und Brechts synkopierten Rhythmus weiterführt und zu einer eigengeprägten Verssprache findet.

Obwohl dieses Buch nicht als Monographie konzipiert wurde und selbstständige, in den Jahren 2006 bis 2018 entstandene Studien versammelt, gibt es doch einen zentrierenden Kern: Die drei Lyriker pflegen eine intellektualistische Lyrik mit Themen aus Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Nicht zufällig verkörpern sie den Typus des „poeta doctus“, was zugleich die freizügigen Rückgriffe auf die poetische Tradition erklärt und den intertextuellen Modus moderner Lyrik belegt.

I. Gottfried Benn

Die Verarbeitung der Tradition:
Benns Lyrik-Lektüren

In den 1950er und 1960er Jahren gab es zwei Lyrik-Idole: Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Benns Ruhm stieg damals ins Maßlose. Im Laufe der Zeit haben sich zwei Benn-Bilder herausgebildet: Benn der Provokateur und Benn der poeta doctus. Tatsächlich hat sich Benn nach den expressionistischen Anfängen, in der Phase des Dritten Reichs, der Tradition stärker angenähert. Allerdings: welcher Tradition? In Deutschland gab es schon immer viele Parteien, Strömungen und Traditionen. Insofern ist eine Musterung von Benns Lyrik-Lektüren kein Selbstzweck, sie führt zum Selbstverständnis Benns als Lyriker und darüber hinaus zur Frage, ob uns heute sein Konzept noch genau so viel bedeutet wie der Nachkriegsgeneration.

Benns Urteile über deutsche Lyriker der Vergangenheit

Der Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia hatte Benn im Jahr 1942 einen Ratschlag gegeben. Benn referiert ihn im Brief an Friedrich Wilhelm Oelze.

Er sagt: alle Essays von mir sind vielleicht mir selber interessant, aber sonst völlig nebensächlich. „Sie wissen garnicht, wer Sie sind. Sie haben keine Ahnung von sich selber.“ Wenn Sie jetzt nicht den 3. Stil finden, werden Sie entweder sterben oder sich lächerlich machen. Der 1. Stil war die Krebsbaracke. Der 2. die 8.zeilige Strophe. Für den 3. empfiehlt er mir die Hymnen von Novalis, die Duineser Elegieen u. Hölderlin. Er bringt dies äusserst intensiv vor u. mit mehr Aggressivität, als ihm zusteht u. als die Sache erfordert. Ich sei der grösste Lyriker für 100 Jahre. Ich erwidere mit entsprechenden Invectiven.1

Benn folgte Lernet-Holenias Anregung nicht, doch spielen die Bezüge auf die lyrische Tradition tatsächlich eine bedeutsame Rolle. Benns Beziehungen zu seinen Dichterkollegen lassen sich differenzieren in kurze und nicht begründete Meinungen, in explizite Auseinandersetzungen mit dem Werk und schließlich in produktive Rezeption, also Verarbeitung im eigenen Werk. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht Benns Beschäftigung mit fremden lyrischen Produkten und zwar als explizite (reflektierende) Auseinandersetzung und als (produktive) Verarbeitung im eigenen Werk.

Dass Benn nur wenige Kollegen anerkannte und sich über die meisten der zeitgenössischen Dichter negativ ausgelassen hat, ist kein Geheimnis: Jürgen Schröder hat einige von Benns despektierlichen Urteilen über dichtende Zeitgenossen gesammelt.2 Diese Negativliste lässt sich unschwer in die Vergangenheit verlängern. Benn hat bei seinen Urteilen keine literarhistorische Gerechtigkeit im Sinn. Für ihn war wichtig, was ihn geistig beschäftigte und sein eigenes Schaffen anregte.

So hält er Eichendorffs Gedichte für nicht zeitgemäß,3 Hölderlin habe er „eigentlich seit je“ „nicht so sehr“ gemocht,4 Mörike gilt ihm als „völlig geistlos“ und „ausserhalb der Reihe, zu der wir zählen“,5 für Droste-Hülshoff und Brentano habe er „persönlich keinen Sinn“6, bei der Droste störe ihn „zuviel Naturgewaber und Innerlichkeit und Versponnenheit“7. Bei Rilke assoziiert er einen ‚kriechenden Wurm, „etwas, das sich windet“ und „schleimig bleibt“,8 wobei er nicht zurückschreckt, ein Gedicht als „angenehm abwegig und blöd“ zu bezeichnen.9 Die Verdikte ließen sich mühelos vermehren. Oft sind es eher salopp hingeworfene als reflektierte Urteile, eine Mischung aus Überzeugung und Provokation. Überwiegend positive Urteile gibt es zu Goethe, Schiller und Else Lasker-Schüler.

Benns Lektüre fremder Gedichte

In seiner Jugend schätzte Benn Theodor Storms Gedicht „Hyacinthen“10 und verschiedene Gedichte von Detlev von Liliencron.11 In zwei Umfragen nach Lieblingsgedichten hat Benn 1950 für die von Max Niedermayer herausgegebene Anthologie „Geliebte Verse“ Gedichte genannt von George, Heym, Rilke, Hofmannsthal, Werfel, Lasker-Schüler, Dehmel, Brecht und Klabund12 und 1953 in einer Umfrage der „Weltwoche“ „3 Lieblingsgedichte“13 von Goethe, Schiller und Platen. Dort führte er noch drei weitere Gedichte auf, die er zwar schätzte, gegen die er aber doch gewisse Einwände hegte: Mörikes „Gesang Weylas“,14 Hölderlins „Hälfte des Lebens“15 und C.F. Meyers „Lethe“16. Als Beispiel seiner Argumentation die Passage zu Hölderlin. Benn stört sich an der berühmten Kopula „und“.

Reihe vier und fünf lauten: „Ihr holden Schwäne und trunken von Küssen“ (von Trunkenheit und Küssen ist in den vorhergehenden Reihen nicht die Rede, sondern von Birnen und Rosen und allerdings von einem See). Nun sagt der Dichter „ihr holden Schwäne“, er findet also wohl Schwäne im allgemeinen hold, dann holt er aus der speziellen aktuellen Situation mit Hilfe von „und“ die trunkenen Schwäne heran, kein Zweifel, er sieht sie im Augenblick überzeugend trunken, aber dann ist die allgemeine Schwänebezeichnung „hold“ nicht gesehen, sondern konventionell. Außerdem, sind Schwäne hold, wenn sie trunken sind, selbst von Küssen? Und warum tunken sie dann ihr Haupt ins heilignüchterne Wasser, wollen sie sich beruhigen, die Trunkenheit der Küsse abkühlen, um wieder „holde“ Schwäne zu sein?

Benns geradezu beckmesserische Anschauung wird der Komplexität des Vorgangs nicht gerecht: der gewagten Annäherung des Apollinischen an das Dionysische und dem geradezu mystischen Reinigungsprozess durch das heilig-nüchterne Wasser.

Das Verfahren verwundert auch angesichts der im Essay „Expressionismus“ von 1933 behaupteten Ahnenschaft Hölderlins für den Expressionismus. Benns in der Abstraktion zutreffende Thesen und Erläuterungen versagen dort, wo er sie auf das konkrete Gedicht anwendet. Die anzitierten Beispiele verdanken sich freilich Anfragen von außen her. Aus eigenem Antrieb hat Benn sich besonders mit Platen, George, Rilke und Goethe beschäftigt. August von Platen gehört mit seinen gedrechselten Versen in die Tradition der Lyriker, die Versmaß mit Einhaltung des Metrums identifizierten. Das hat ihm viel Kritik eingebracht: seine Verse leierten, seien zwar metrisch exakt aber schwunglos, vor lauter Silbenzählerei und Rücksichtnahme auf Betonung und Länge einzelner Silben gehe der freie Flügelschwung der Phantasie verloren. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass Benn inmitten des Weltkriegs auf diesen Poeten, der das Maß und die Ordnung verabsolutierte, gestoßen ist! 1941 schreibt Benn an Oelze: „Ich blätterte in Platens Sonetten. Wunderbare Verse darin! Klassisch schöne Reihen.“17

Und neun Jahre später, 1950: „Ich las in diesen Tagen Platen. Was für ein grosser Lyriker! Natürlich viel Verstaubtes drin und Antikisierendes, aber wo er rein lyrisch ist, ist er grossartig und von jenem Pessimismus, der immer bewegend ist. Man kann ihn als Ganzes genau so einen Nihilisten nennen wie uns Moderne […].“18

Interessant ist die hier vorgenommene Trennung von Form und Inhalt. Benn zieht Platens artistische Vers-Formen in Zweifel, übrigens auch das Sonett,19 das positive Urteil gründet ausschließlich auf einer mentalen Verwandtschaft. Melancholiker und Pessimisten haben von vornherein in Benns Poetenzirkel einen Bonus. Selten berücksichtigt er in seiner Wertung formale Gesichtspunkte, also sprachlich-poetische Qualitäten, die ja den Kern eigentlicher Verskunst ausmachen.

In seiner „Rede auf Stefan George“ von 1933 betont Benn Georges Formwillen und nennt „Form und Zucht“20 als dessen Konstituenten. Bei dieser Rede muss allerdings der politische Kontext – der Versuch einer Anbiederung an das nationalsozialistische Regime – in Anschlag gebracht werden.21 Benns Wertschätzung zahlreicher Georgescher Naturgedichte – ein Genre, für das er sonst wenig übrig hatte – bleibt von dieser Konstellation unberührt. Betrachtet man aber die explizit genannten Gedichte, so sind es drei Parkgedichte aus Georges vorpolitischer Phase: „Komm in den totgesagten park und schau“, „Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen“ und „Geführt vom sang der leis sich schlang“.

Was Benn dazu bemerkt, ist recht allgemein. Das erste sei „ein unendlich zartes, stilles Landschaftsgedicht, etwas japanisch“, das zweite – ein reines Jugendstilgedicht – sei „ein unvergleichlich schönes, vielleicht das wunderbarste Gedicht der 20 Jahre von 1890 bis 1910“, das dritte schließlich, in seiner schlichten Bauweise, sei „altdeutsch“, stehe in einer Reihe mit Walther von der Vogelweide und Barocklyrik. Gänzlich verfehlt ist die Schlussfolgerung, die er aus diesen Gedichten auf Georges Werk zieht: Gegenüber den bei Hölderlin und Nietzsche anzutreffenden zerstörerischen Kräften sei bei George „alles zart, klar, apollinisch, alles erscheint gesetzlich“.22 Das ist eine krasse Fehldeutung auch des frühen Georgeschen Werkes, wie der Kenner von Georges gewaltsam arrangierter Kunstnatur weiß.23

Rilke ist der Lyriker des 20. Jahrhunderts, mit dem sich Benn am ausführlichsten beschäftigt hat; hier sind auch die meisten Urteile über einzelne Gedichte überliefert. Im Prinzip stand Benn Rilke eher reserviert gegenüber.24 Alles „Ideenhafte“ sei „bei ihm im Grunde sehr durchschnittlich“. Wirklich genial sei nur der Schlussvers aus dem Sonett „Archaischer Torso Apollos“ – „Du musst Dein Leben ändern“.25

Ich fand den Vers erstaunlich, weil er plötzlich eine tatsächliche anthropologische Erkenntnis enthüllte. Erst drechselt R[ilke] 13 Reihen lang sein zähes, mühsäliges Reimplastilin um diesen Torso herum, verkautschukt den Marmor lyrisch, nimmt ihm Knochen u. Umriss, verdreht ihm die Augäpfel, befasst ihm neidisch die potenten Geschlechtsteile, aber plötzlich, völlig unmotiviert bricht aus diesem entmannten Gestammel die Donnergestalt einer wahren Daseinszusammenfassung hervor: entweder ist die Kunst lebenverändernd, d. h. lebenzerstörend oder sie ist ein Dreck (Plastilin). […]26

Die Bewertung des Rilkeschen Sonetts orientiert sich wieder ausschließlich an einem inhaltlichen Kriterium. Nicht zufällig ist es eine Aussage über die Wirkung von Kunst. Benn hatte sich in zwei Rundfunk-Dialogen zur Wirksamkeit von Kunstwerken geäußert. Im ersten von 1930 „Können Dichter die Welt ändern?“27 behauptet er kategorisch: „Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos“28 und leitet daraus ab, dass der Dichter auch nicht verpflichtet sei, an der Besserung der sozialen Zustände mitzuwirken.29 Sein Ziel sei nicht das Verändern und Bewirken, sondern das Sein.30 In der zweiten Rundfunkdiskussion von 1955 mit Reinhold Schneider unter dem Titel „Soll die Dichtung das Leben bessern?“31 greift Benn eine Reihe der früheren Formulierungen wieder auf und unterscheidet zwischen dem gesellschaftszugewandten Kulturträger und dem ichzentrierten Kunstträger: Dichter leben „in einer erbarmungslosen Leere“32. Alle Kunst sei monologisch. Nun fallen die berühmten Worte vom modernen, dem „absoluten“ Gedicht, dem „Gedicht ohne Glauben“, „ohne Hoffnung“, „an niemanden gerichtet“, einer Montage aus Worten. Der folgende Satz enthält allerdings die Formulierung, die eine Öffnung des verschlossenen Zustands, des monologischen Raums gestattet: „Und doch kann es ein überirdisches, ein transzendentes, ein das Leben des einzelnen Menschen nicht verbesserndes, aber ihn übersteigendes Wesen sein.“ Diese das Individuum übersteigende Qualität eines Gedichts ist es, die Benn zum griffigen Fazit führt: „Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert.“33 Gemeint ist dies in einem existentiellen Sinn. Der Leser eines solchen Gedichts sieht die Welt nicht mehr mit denselben Augen an wie zuvor, er selbst verändert sich unter dem Eindruck echter Kunst.

Um Benns ästhetische Urteile verstehen zu können, muss die doppelte Tradition der deutschen Lyriktypen berücksichtigt werden: die volkstümlich-liedhafte und die elitär-artistische Tradition. Mustert man Benns Urteile, so steht außer Frage, dass er in der zweiten Tradition steht und sich zu deren Vertretern bekennt. Wie sehen die Verse der positiv gewerteten Dichter aus? Platens Verse gehen in Richtung eines glatten Klassizismus. Wolfgang Kayser hat ihnen sogar „hölzerne Starre“ vorgeworfen, die aus der völligen Kongruenz von Metrum und Wortakzent entsteht und durch eine invariable Betonungsabstufung verstärkt wird;34 Georges Verse der mittleren Periode zeichnen sich ebenfalls durch statischen Charakter aus, Satzrhythmus und Metrum konvergieren weitgehend. Wie seine Wertschätzung Platens, Meyers und Georges erweist, favorisierte Benn in seinen gereimten und metrisch geregelten Gedichten offenbar den klaren klassizistischen Stil, und zwar in zunehmendem Maß, je älter er wurde. Anders verhält es sich mit seiner freirhythmischen Lyrik.

Produktive Rezeption in Benns Lyrik

In Goethes Zeit bildeten Welt und Ich ein geschlossenes Ganzes; das Ich konnte die Welt noch ganzheitlich „erleben“. In der Moderne steht das isolierte Ich nicht nur einer zerfallenden Welt gegenüber,35 das Ich selbst zerfällt in Bewusstes und Unbewusstes. In der Moderne wird daher die Welt nicht mehr von einem Ich ganzheitlich „erlebt“; auch die Kunst entsteht nicht in einem genialischen Schöpferakt, sie wird gemacht, ist ein artistisches Produkt. Künstlerisches Schaffen und Kunstreflexion gehen konsequent nebeneinander her.36 Die Arbeitsstätte des monologischen37 Dichters ist daher ein Sprach-Wort-Laboratorium.38 Das Montieren ist die literarische Methode, zu der das Einarbeiten empirischer Erfahrungen und literarischer Traditionspartikel (Zitate, Anspielungen) gehört. Deshalb ist die Kenntnis der Lektüren so wichtig. Freilich, spätestens seit den Urheberrechtsstreitigkeiten Brechts weiß man, wie ambivalent „Intertextualität“ ist.

Fast zu allen Lyrikern, die für Benns lyrisches Schaffen eine größere Rolle gespielt haben, gibt es mittlerweile Einzeluntersuchungen; zu Goethe zahlreiche,39 zu Schiller und zu Hölderlin, zu den Symbolisten, zu den Expressionisten und zur Nachkriegsliteratur. Theo Meyers in seiner Übersichtsdarstellung „Gottfried Benn und die lyrische Tradition“ angewendetes objekt-chronologisches Vorgehen erscheint freilich nicht sonderlich sinnvoll, da es sich an der Literaturgeschichte, nicht aber an der Funktion der Autoren für Benns Werk orientiert. Funktioneller ist eine Anordnung, die sich an Werkphasen Benns hält, von denen sich vier Phasen unterscheiden lassen: Das expressionistische Frühwerk bis Anfang der 1920er Jahre, das mittlere Werk bis Mitte der 1930er Jahre, das mittlere Werk ab etwa 1935 und die Spätphase ab Ende der 1940er Jahre.

Vor der „Morgue“ gab es bereits einige traditionelle symbolistische Gedichte (in Georges Nachfolge), ehe Benn sich zur großen Attacke auf gutbürgerliche Kunstempfindung entschloss. Benns Einstieg als Lyriker in die deutsche Öffentlichkeit begann mit einem Traditionsbruch – das berühmt-berüchtigte Lyrikbuch „Morgue“ war ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die von Lyrik eine verklärende Sicht auf die Wirklichkeit erwarteten. In der „Morgue“-Phase dominierte der empirische Zugang zur Wirklichkeit. Doch ganz ohne Bezug auf Tradition kam Benn auch hier nicht aus: Wie mehrfach nachgewiesen, war eines der krassesten Gedichte „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ als Negativ-Kontrafaktur zu Georges Parkgedicht „komm in den totgesagten park und schau“ angelegt.40 Sogar den Einfluss des Dehmel-Gedichts „Verklärte Nacht“ (aus der Sammlung „Weib und Welt“) wollte man darin erkennen.41 Auch in anderen Texten hat Benn auf Gedichte Richard Dehmels zurückgegriffen. So bezieht sich sein bekanntes Gedicht „Nachtcafé“ auf Dehmels Gedicht „Venus Pandemos“.42 Weitere Einflüsse kamen von Liliencron, Hofmannsthal, Rilke und Georg Heym.43 Man hat die Kontrafaktur als dominantes Gestaltungsprinzip ausgemacht, wobei die Bewertung dieser Modifikationsform zwischen Parodie und Fortführung pendelt.44 Benn hat Georges berühmtes Parkgedicht auch direkt kontrafaziert im 1922 publizierten „Prolog“.45

Die künstliche Park-Natur Georges wird hier durch Ingredienzien aus dem Klinik- und Rotlichtmilieu ersetzt. An die Stelle der melancholischen Herbststimmung Georges tritt der Berliner Jargon, schnoddrig und provokativ. Günter Heintz hat in einer eindringenden Studie allerdings einige Gemeinsamkeiten beider Lyriker herausgearbeitet, die sich auf die elitäre Haltung und das ästhetische Verständnis moderner Wort-Kunst beziehen.46

In einer zweiten, spätexpressionistischen Phase hat Benn sich stärker dem gereimten Strophengedicht zugewandt. Es weitet den unvoreingenommenen Blick von der Wirklichkeitswahrnehmung auf die Ebene des Geistigen. Hinsichtlich der Machart rückte Benn von der Empirie immer stärker ab und näherte sich einer Form des Reflexionsgedichtes, das sich als Gehirnlyrik, als Resultat eines zerebralen Prozesses darstellte. Das metrisch geregelte und gereimte Strophenschema konterkarierte er durch einen überbordenden Fremdwörtergebrauch, einen kaltsinnig-zynischen Ton und einen stakkatohaft kurzatmigen Rhythmus, die zusammen jegliches kulinarische Empfinden von vornherein verhinderten und einen forcierten geistigen Anspruch erklärten. Die Ausweitung des Horizontes brachte es konsequenterweise mit sich, dass Benn im weiteren Verlauf seiner lyrischen Entwicklung sich zunehmend mit der Tradition beschäftigte und seine Lektürefrüchte in die eigenen Texte einarbeitete.

In der dritten Phase (ab Mitte der 1930er Jahre bis 1945) und der vierten Phase (ab Ende der 1940er Jahre) reduzierte Benn den Fremdwortgebrauch und setzte auf Ausbau metaphorischer Strukturen. Ob Benn sich die Empfehlung Lernet-Holenias zu Herz genommen hat, ist nicht bekannt, aber Tatsache ist jedenfalls, dass er in seiner Spätphase wieder zur Zweigleisigkeit der ersten Phase zurückkehrte: Neben gereimten Strophen-Gedichten gibt es wieder freirhythmische Gedichte, deren Ton freilich gegenüber den expressiven Gebilden der Frühphase abgemildert erscheint, geschrieben im lässigen Parlandostil. Lesefrüchte werden einmontiert, nicht bloß zitiert, sie werden integriert, umgeformt und neugedeutet. In dieser Phase, seit Mitte der 1930er Jahre, hat sich Benn dem Werk Goethes immer weiter angenähert. Neben Nietzsche hat Benn Goethe von allen deutschen Geistesgrößen am höchsten geschätzt.47 Schon Helmut Brackert hatte „die tiefe wesensmäßige Unvereinbarkeit“ beider Autoren festgestellt. Daran ist im Prinzipiellen auch nicht zu rütteln, trotz aller Gemeinsamkeiten, Übereinstimmungen und Annäherungen in spezielleren Fragen. Benn selbst hat diesen Unterschied erkannt, wenn er sagt: „Lyrische Dichtung ist entweder olympisch oder sie kommt von Lethe“48 – wobei Goethe als Repräsentant des Olympischen gilt, Benn sich selbst als letalen Typ der Melancholie-Tradition zuordnet.49

Angesichts solcher Unterschiede stellt sich die Frage, was Benn an Goethe so fasziniert hat, dass er noch kurz vor seinem Tod notiert hat:

wenn ich anfange, etwas über Goethe zu lesen, geschrieben von einem Mann, von dem ich was halte u dem ich vertraue, beginnt es immer mit Zittern. So sehr erregt mich immer wieder diese Erscheinung. Immer wieder die Angst, vor solche Überwältigungen treten zu müssen, denen man schlechterdings nicht gewachsen ist.50

Wie mehreren Betrachtern schon aufgefallen war, verbindet eine Gemeinsamkeit beide Dichter. Benn war immer auf Distanz bedacht und eben diese Distanzhaltung schätzte er an Goethe. Benn nennt Goethe den „Mann der Zurückhaltung, des Maßes, des Selbstschutzes“.51 Benn schätzte diese Distanzhaltung, die auch eine Schutzaufgabe zu erfüllen hatte.52

Dass Benn einige seiner Gedichte als direkte Antwort auf entsprechende Gedichte Goethes angelegt hat, wurde schon verschiedentlich gesehen und an einigen Gedichten aus dem „Westöstlichen Divan“ textgenau analysiert.53 Die Maxime „Stirb und Werde“ aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ greift Benn im 1936 entstandenen Gedicht „Wer allein ist“ auf und konfrontiert sie mit der „formstillen Vollendung“: Goethes Ideal einer dynamischen Entwicklung setzt er das Ideal des statischen Kunstwerks entgegen.54 Direkte Korrespondenzen finden sich auch zwischen Goethes Ballade „Der Sänger“ und Benns gleichnamigem Gedicht von 1925, zwischen Goethes Divan-Gedicht „Hochbild“ und Benns Gedicht „Auf deine Lider senk ich Schlummer“ von 1936. Theo Meyer hat die in Benns Repliken waltende Tendenz „Gegenbildlichkeit“ genannt. Sie dient der Abgrenzung von Goethes Denken, in dem das sich entwickelnde Subjekt zentrale Bedeutung hat. Bei Benn ist das Subjekt weitgehend gleichgültig, allenfalls als Produzent und als Rezipient des Kunstwerks von Belang. Goethes Gedicht „Proömion“55 findet eine Replik in Benns Gedicht „Im Namen dessen, der die Stunden spendet“. Goethes pantheistisch geprägter Schöpfungsglauben konnte Benns desillusionierter Einstellung nicht genügen.56

Benns Beschäftigung mit Goethe gipfelt in der am 7. Oktober 1935 brieflich gegenüber F. W. Oelze geäußerten erstaunlichen Einsicht: „Wollen Sie auch bedenken, dass wir das geschichtliche Leben eines Volkes doch überhaupt für Dreck halten – wohin redet man also die Dinge? Man baut den Regenbogen, aus Perlen jene Brücke, eine reine Fata morgana, einen Wüstenspuk u. am Rande lagern die Kameele.“57 Dies ist eine unübersehbare Bezugnahme auf Goethes ingeniöses „Caravane“-Gedicht aus dem „Buch des Unmuts“ und begründet Benns eigenes perspektivisches Sehen „vom Rande her“. Benn macht sich Goethes Werk für das eigene Werk nutzbar, wie Wolfgang Butzlaff zu Recht ausführt.58

Kritisch muss indes bei allen Gegenentwürfen und Kontradiktionen angemerkt werden, dass sich diese Abgrenzungsbewegungen ausschließlich auf inhaltlicher Ebene abspielen. Im Formalen nähert sich Benn hier Goethes klassizistischem Gedichtmodell an, dass geradezu von Goethe-Nachfolge gesprochen werden kann, ja in rein formaler Hinsicht sogar von Goethe-Nachahmung. So beruft er sich bei der Begründung seines in den „Statischen Gedichten“ entwickelten Dichtmodells auf Goethes Vers „vergebens werden ungebundne Geister nach der Vollendung reiner Höhe streben“ – und bedient sich ausgerechnet Goethes als Gewährsmann für eine „anti-faustische“ Einstellung, die den „Rückzug auf Maß und Form“ propagiert und an der Möglichkeit von Entwicklungen zweifelt.59 Der von Goethe im „Westöstlichen Divan“ entwickelte assoziative Reihungsstil findet beim späten Benn eine Entsprechung. Über all den Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten darf das wichtigste nicht vergessen werden: Ausschließlich bei Goethe fand Benn das Modell einer gereimten Weltanschauungslyrik, und zwar, neben dem „Westöstlichen Divan“ in den Gedichten der Rubrik „Gott und Welt“, Muster, in denen Anschauung und Reflexion, Empirie und philosophische Maximen zur formbildenden Synthese gelangten. Scharfsinnig hat Mopsa Sternheim Benns klassizistisch-angepasste Goethe-Spiegelungen als „oft formvollendete – Philosophie in Reimen“ klassifiziert.60 Tatsächlich findet sich der kreative Kern von Benns später Lyrik nicht in diesen Reimgedichten, sondern in den freirhythmischen Parlando-Gedichten. In den Parlando-Gedichten spielt Goethe bezeichnenderweise keine Rolle, das letzte Anfang 1956 geschriebene Gedicht Benns nimmt Bezug auf Annette von Droste-Hülshoff, auf Hölderlin, Rilke und George, indem es den Zerfall geschichtlicher Werte und die Gottlosigkeit der Welt der ganzheitlich-pantheistischen Weltsicht Goethes entgegensetzt.

Hermann Korte hat das erstaunliche Phänomen des Erfolgs, den Benn gerade mit seinen klassizistischen Gedichten in den ersten Nachkriegsjahren erlebt hat, zutreffend erklärt:

Es gab für Benn keine weltanschaulichen Botschaften im Gedicht, keine Trost- und Warnfunktion, keine lyrische Prophetie und kein moralisches Amt. Gerade diese Haltung war es, die Benn in den fünfziger Jahren für ein großes bürgerliches Publikum so anziehend machte und sich als wohltemperierte Modernität in die Restauration der Adenauer-Ära leicht einpaßte.61

Vor dem Hintergrund von Benns Lektüren ließe sich auch eine andere Erklärung anbieten. Während Benn für seine frühe Lyrik die Orientierung an Vorbildern negierte, knüpfte er in den 1930er Jahren ganz unverkennbar an die Tradition an. Offenbar suchte Benn bei seiner Lektüre Bestätigungen seiner Position, im Weltanschaulichen wie im Formalen. Daher die Annäherung an Goethe, im Formalen und in der Distanz-Haltung. „Ertragen“ und „reine Kunst“ sind zwei Positionen, die sich konsequent ergänzen: Den banalen Alltag muss man ertragen, man kann sich von ihm lösen und in die absolute Kunst flüchten. Diese absolute Kunst entsteht erst auf der Basis des Leidens an der Welt, ist die Gegenwelt, die sich durch Sich-Abgrenzen und Verneinen schützt. Diese Einstellung war konsensfähig. Das in den Augen der Welt durch die Gräueltaten des NS-Regimes entehrte deutsche Volk suchte wieder Legitimation und fand sie auf verschiedene Weise im Werk Benns. Zum einen knüpfte Benn an die humanistische deutsche Geistestradition an, vor allem an Goethe, an Schiller und Hölderlin – freilich war das nur wenigen erkennbar. Zum andern – darauf hat bereits Dieter Wellershoff hingewiesen62 – praktizierte Benn nach dem Ende des Kriegs eine Verweigerungshaltung, ein radikales „Ohne mich“, eine „Selbstzurücknahme aus allem Geschehen“, ähnlich Goethes Distanzhalten zu seiner Zeit.63 Zum dritten bot Benn dem fehlgeleiteten deutschen Volk eine Legitimation, eine ,Entschuldung‘ an: Das Leben wird als hinzunehmendes Faktum aufgefasst, als ,fernbestimmtes‘ Leben, an dem der Einzelne keine Schuld trägt, sondern es „ertragen“ muss. Das Leben wurde regiert vom Fatum, vom Schicksal, es war vorherbestimmt, ferngelenkt von übermenschlichen dunklen Mächten. Der dahinter stehende Nihilismus hatte zwar etwas Zynisches, wurde aber gar nicht so negativ wahrgenommen; er wurde vielmehr in eine verharmlosende Entschuldungs-Strategie umfunktioniert. Dass diese „Entschuldungs“-Strategie bei den restaurativen Kulturträgern der Adenauer-Ära großen Anklang fand, erklärt auch Benns rasanten Aufstieg.64 Seine Weltanschauungslyrik65 eignete sich zur Wirklichkeitserklärung. Kunst hat dabei eine Alibi-Funktion gegenüber individuellen Verfehlungen, beispielsweise dem eigenen ,Sündenfall‘. Gab es in der Frühphase noch expressionistische „o“-Appelle,66 so prägt die „ach“-Appell-Struktur seine nach 1933 verfassten Gedichte. Bereits die junge Mopsa Sternheim hatte 1952 in ihrem Tagebuch vehemente Kritik an Benns späterem Werk angemeldet, sie fand „die poetischen Substanzen wie aus zweiter Hand“, er lebe „poetisch aus gestapelter Ware“. Als „einzig authentische ‚sentimentale‘ Seite“ erkennt sie „diese larmoyante Herbststimmung“. Auffallend erscheint ihr auch die angemaßte Welthaltigkeit dieser Lyrik: „Peinlich ist auch sein kleinbürgerlicher Snobismus, die falsch geschriebenen Fremdworte (kein franz. Satz ist fehlerlos!) dies Herumwerfen mit Eigennahmen [sic!], die einen kosmopolitischen Zauber verbreiten. Das ist Faszination – aber billigster Art.“67

Damit übereinstimmend hat ebenfalls 1952 der Lyriker Karl Krolow die „fraglose Überschätzung“ von Benns Gedichten festgestellt und in ihnen zahlreiche Reminiszenzen an den Jugendstil ausgemacht: „Kulturklischees von der angreifenden Süße des Kitsches“. Benn bediene sich der Ingredienzien des Exotischen, des Mondänen, des Exklusiven und erziele damit eine „Girlanden-Verbindlichkeit“.68und