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Vorwort

Die Verbindung von Neurowissenschaften und Achtsamkeit

Yi-Yuan Tang ist ein Experte auf diesem Gebiet. Als ordentlicher Professor und Leiter eines Instituts verbrachte er in China über 30 Jahre damit, die Wirkungen von Achtsamkeitstraining sowohl bei gesunden Probanden als auch in Patientenpopulationen zu untersuchen. Anschließend kam er in die USA, um seine grundlegenden und translationalen1 Forschungen an der University of Oregon und ebenso an der Texas Tech University weiter auszudehnen. Ich arbeite seit dem Jahr 2006 mit ihm zusammen an Fragestellungen zu den Wirkungsmechanismen von Achtsamkeitstraining hinsichtlich der Verbesserung von Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle, und wir haben gemeinsam über 30 Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften mit Peer Review veröffentlicht. Wir betrachten Achtsamkeitstraining als eine Form des Zustandstrainings, im Kontrast zu Netzwerktrainings wie etwa einem computerunterstützten Training des Arbeitsgedächtnisses. Darüber hinaus zeigen wir, dass Achtsamkeitstraining die Selbstkontrolle verbessert, indem es in mindestens drei unterschiedlichen Bereichen Wirkungen entfaltet, und zwar Aufmerksamkeitskontrolle, Emotionsregulation und Selbstbewusstheit.

Dieses Buch bietet zweierlei Dinge: einerseits einen Überblick über neurowissenschaftliche Befunde zum Thema Achtsamkeit, andererseits eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Evidenz dafür, dass das Praktizieren von Achtsamkeit einem ein glücklicheres und produktiveres Leben ermöglicht. Yi-Yuan Tang hat eine Methode für das Trainieren von Achtsamkeit entwickelt, das Integrative Body-Mind Training, IBMT© (Integratives Körper-Geist-Training), welches er an die traditionelle chinesische Medizin anlehnte. Anhand eigener Forschungen fand er heraus, dass sich bei Anwendung dieser Trainingsmethode bereits nach nur wenigen Übungsstunden auf Seiten der Teilnehmer schon ein Zustand des Gehirns einstellte, der signifikante Effekte hervorrief. Neben seiner Tätigkeit in diesem Bereich hat er sich umfassende Kenntnisse in vielen anderen Formen des Achtsamkeitstrainings und kontemplativen Traditionen angeeignet.

Auf Anraten der Herausgeber deckt dieses Buch die Erforschung und Anwendung von Achtsamkeitstraining im Allgemeinen ab, anstatt sich lediglich auf das IBMT zu beschränken. Für den durchschnittlichen Leser dieses Buches, der sich für das Praktizieren von Achtsamkeit interessiert, ist es vermutlich ratsam, zuerst die Kapitel 1 und 8 zu lesen, bevor er sich mit der komplexeren Übersicht über die Ergebnisse aus Studien mit bildgebenden Verfahren und ihrer Anwendung in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen beschäftigt. Kapitel 8 bietet einen inspirierenden Einblick in den Ansatz des Autors beim Achtsamkeitstraining, der dem Leser durch die schwierigeren Teile dieses Buches helfen kann.

In neun kurzen Kapiteln fasst Tang zusammen, wie Achtsamkeitstraining die mentale Aktivität verbessern und die Konnektivität im Gehirn ebenso wie Prozesse im Körper verändern kann. Zu seinen zentralen Aussagen zählen dabei, dass Achtsamkeitstraining bereits nach nur fünf Sitzungen Aufmerksamkeit und Stimmungslage verbessert und Stress reduziert, sowie dass das Ausmaß des Achtsamkeitstrainings mit dem Ausmaß der Stressreduzierung in Zusammenhang steht. Diese rasch eintretenden Wirkungen von Achtsamkeitstraining ermöglichen Studien mit zufallsbasierter Zuordnung der Probanden in entweder eine Meditationsgruppe oder eine Kontrollgruppe, in der Entspannungsübungen durchgeführt werden, und führen Tang zu seiner Schlussfolgerung, dass die Meditation die Ursache der zahlreichen beobachteten Effekte ist. Viele Leser werden sich wahrscheinlich für die Möglichkeiten zur Verbesserung von Schulnoten und Gesundheitszustand interessieren, die zu den eher alltagspraktischen Wirkungen von Achtsamkeitstraining gehören.

Diejenigen, die ihr Augenmerk eher auf das Gehirn richten, werden beeindruckt sein, dass Achtsamkeit sowohl im zentralen als auch im vegetativen Nervensystem positive Veränderungen herbeiführen kann. Mittels Magnetresonanztomographie lassen sich bei entsprechenden Studien diejenigen Areale ausfindig machen, die nach Meditation aktiver sind als bei einer Kontrollgruppe, und ebenso wird mit dieser Methode die verbesserte Konnektivität zwischen Gehirnarealen belegt. Messungen der Herzrate zeigen in Untersuchungen zur Meditation, wie der parasympathische Teil des vegetativen Nervensystems dabei hilft, den Meditationszustand hervorzurufen. Yi-Yuan führt auch aus, dass die Wirksamkeit von Meditationstraining zwischen Individuen schwankt, und liefert eine Orientierung in Bezug darauf, wer am wahrscheinlichsten davon profitieren dürfte.

Es muss betont werden, dass meine lange Zusammenarbeit mit dem Autor mich bei der Lektüre dieses Buches möglicherweise beeinflusst haben könnte. Ungeachtet dessen wird es Lesern mit einem wissenschaftlichen Interesse an Achtsamkeit jedoch meiner Meinung nach einen ernsthaften und fundierten Zugang zu diesem Gebiet ermöglichen. Es ist nicht allzu umfangreich, aber es fasst wichtige Befunde zusammen, von denen viele auch bereits publiziert wurden, und es stellt die hilfreiche Perspektive des Autors vor.

Michael I. Posner


1  Translationale Medizin befasst sich mit der raschen Übertragung präklinischer Forschungsergebnisse in die klinische Praxis. [Anm. d. Ü.]

Danksagung

Dieses Werk wurde vom Office of Naval Research, der John Templeton Founda­tion und der James Bower Foundation unterstützt. Ich danke meinen Mitarbeitern, Laborkollegen und IBMT-Praktizierenden für ihre großartige Unterstützung dabei, diese Forschungsarbeit möglich zu machen. Danke an Michael Posner und Brian Bruya für hilfreiche Kommentare. Ich danke außerdem den Herausgebern Joanna O’Neill und Laura Aldridge bei Palgrave Macmillan sehr dafür, dass sie mir diese Gelegenheit gegeben haben, meine grundlegenden und translationalen Arbeiten in der Palgrave Pivot-Reihe zusammenzufassen.

1. Einführung in Achtsamkeit: von „überladen“ zu „achtsam“

Meditation ist der Oberbegriff für eine bestimmte Form des mentalen Trainings. Sie umfasst im Einzelnen eine ganze Reihe komplexer Praktiken, zu denen unter anderem Achtsamkeitsmeditation, Yoga, Tai-Chi und Qigong zählen. Von all diesen Praktiken wurde Achtsamkeitsmeditation in der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte die größte Aufmerksamkeit zuteil (Tang et al., 2015). Viele Leute verwenden den Begriff „Achtsamkeit“, meinen damit aber oft vollkommen unterschiedliche Dinge. Dies kann zu einer unzutreffenden grundlegenden Auffassung von Achtsamkeit und in der Folge zu einer fehlgeleiteten Achtsamkeitspraxis führen. In diesem Kapitel werde ich drei mentale Zustände vorstellen – Überladenheit, Gedankenlosigkeit und Achtsamkeit –, um anhand dieser Beispiele den Begriff „Achtsamkeit“ klar zu definieren, damit der Leser das Wesen der Achtsamkeit leichter erfassen kann. Generell gilt: Achtsamkeit als solche ist KEIN Konzept, vielmehr handelt es sich bei ihr um eine direkte Erfahrung, die der Konzeptualisierung per se vorgelagert ist. Sie entzieht sich daher sprachlichen Beschreibungen und gedanklichen Kategorien oder Generalisierungen. Man kann zwar den Begriff definieren, aber ohne jede persönliche Erfahrung in Achtsamkeit kann man nur eine bruchstückhafte Vorstellung davon gewinnen, etwa so wie ein Blinder, der lediglich einzelne Teile eines Elefanten berührt. Ein erfahrener Trainer oder Coach jedoch kann eine Person zu einem echten Achtsamkeitszustand führen und ihr darüber hinaus dabei helfen, diese Erfahrung in Geist und Körper zu stabilisieren. In einer bestimmten Form der Meditationspraxis, dem Integra­tive Body-­Mind Training IBMT© nutzen wir diese Technik der Unterstützung durch einen Coach oft, um noch unerfahrenen Teilnehmern zu helfen (Tang et al., 2015; Tang, 2009; Tang & Tang, 2015b).

1.1 Überladenheit oder Achtsamkeit?

Heutzutage, in unserer mit Informationen überfluteten Welt, sind wir immer „online“. Mit anderen Worten, wir sind alle überladen: Unser Geist sammelt ständig bewusst und / oder unbewusst endlose Mengen an Informationen. Wir haben nicht genug Platz oder Kapazitäten zur Verfügung, um diese angesammelten Informationen neu zu ordnen und zu verdauen, denn in jedem Moment ist unser Geist damit beschäftigt, zu denken oder umherzuwandern und ruhelos Informationen aufzunehmen oder zu verarbeiten. Der Begriff Gedankenlosigkeit bezeichnet eine automatische und gewohnheitsbasierte Reaktion auf externe Reize ohne Bewusstheit, und der gedankenlose Zustand tritt ebenso wie das damit einhergehende gedankenlose Verhalten häufig auf, wenn unser Geist nicht gut trainiert ist. Außerdem liegen die Zustände von Überladenheit und Gedankenlosigkeit außerhalb unserer geistigen Kontrolle und laufen automatisch ab. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive kann man sagen, die Zustände von Überladenheit und Gedankenlosigkeit beanspruchen einen zu hohen Anteil von der Energie und den Ressourcen unseres Gehirns, welche größtenteils von dem Default-Mode-Netzwerk2 in den Arealen an der Mittellinie unseres Gehirns bereitgestellt werden. In dieser Situation ist der Geist nicht klar genug, um auf die bestmögliche Weise zu unseren Leistungen in Arbeit und Privatleben beizutragen (Tang & Tang, 2015a, b).

Was genau ist Achtsamkeit? Es gibt zahlreiche Definitionen von Achtsamkeit. So bezieht sich der Begriff für manche Autoren beispielsweise auf „nichturteilende Aufmerksamkeit, die auf den gegenwärtigen Moment gerichtet ist“ (Kabat-Zinn, 1990); ein weiteres Beispiel für eine Definition lautet „Wenn wir achtsam sind, dann sind wir offen für Überraschungen, auf den gegenwärtigen Moment hin orientiert, empfänglich für den Kontext und, vor allem anderen, befreit von der Tyrannei alter Geisteshaltungen“ (Langer, 2014). Allerdings ist die genaue Definition von Achtsamkeit immer noch Gegenstand von Diskussionen, da Achtsamkeit an sich jenseits aller Beschreibungen liegt. Wie ich zuvor betont habe: Achtsamkeit als solche entzieht sich sprachlichen Beschreibungen und gedanklichen Kategorien, da es sich bei ihr um eine direkte Erfahrung handelt, die der Sprache und der Kategorienbildung vorgelagert ist. Eine einfache Analogie lautet: Es ist unerheblich, wie viel Sie über einen Apfel wissen – erst wenn Sie einen Apfel gegessen haben, werden Sie wissen, wie er schmeckt. Verglichen mit Überladenheit oder Gedankenlosigkeit stellt sich Achtsamkeit als direkte und präsente Erfahrung dar, die sich von den anderen beiden Zuständen unterscheidet (Tang et al., 2015). Aus einer erlebnisbezogenen Perspektive lässt sich Achtsamkeit wie folgt beschreiben: „Wenn Sie sich einer Sache erstmals bewusst werden, gibt es einen flüchtigen Moment der reinen Bewusstheit, kurz bevor Sie die Sache konzeptualisieren, bevor Sie sie identifizieren“ (Gunaratana, 2011). Ein qualifizierter Trainer oder Coach kann Ihnen helfen, den Zustand der Achtsamkeit direkt zu erleben (dies bezeichnet man auch als „erlebnisbasierte Einsicht“) und dann zu stabilisieren. Diese Erfahrung kann Ihnen die eigene Achtsamkeitspraxis erheblich erleichtern. Im Gegensatz zu den Zuständen von Überladenheit und Gedankenlosigkeit ist Achtsamkeit ein subtiler und sehr tiefgehender Prozess, der das Übermaß an Informationen auf effiziente Weise neu organisieren und daher die ­zuvor davon beanspruchten Gehirnressourcen wieder für mehr Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle sowie optimale Leistungen im Alltagsleben frei machen kann (Tang & Posner, 2013a, b; Tang, 2017; Tang et al., 2017a, b).

1.2 Zur Klarstellung des Begriffs Achtsamkeit

Einer neueren Sichtweise zufolge lassen sich Formen von Achtsamkeitsmeditationen oder achtsamkeitsbasierte Interventionen wie folgt unterteilen:

  1. achtsamkeitsbasierte Stressreduzierung (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) und verwandte gruppenbasierte Achtsamkeitsinterventionen wie die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, MBCT) sowie
  2. achtsamkeitsbezogene Interventionen wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), die Dialektische Verhaltenstherapie (DVT), kognitiv-behaviorales Stressmanagement und IBMT (Creswell, 2017).

Allerdings sorgt es für Verwirrung, dass die Bezeichnungen „verwandte gruppenbasierte Achtsamkeitsinterventionen“ und „achtsamkeitsbezogene Interventionen“ sich abgesehen vom Gruppenaspekt auf dasselbe zu beziehen scheinen. Ob die Interventionen in einer Gruppe oder bei Einzelpersonen angewendet werden, ermöglicht jedoch keine eindeutige Unterscheidung zwischen den Interventionen, denn viele davon lassen sich sowohl in Einzel- als auch in Gruppensitzungen durchführen. Creswell führt aus, dass die Interventionen in der ersten Kategorie Trainingsprogramme seien, die primär auf die Förderung von Achtsamkeit abzielten, während es sich bei denjenigen in der zweiten Kategorie um Trainingsprogramme handele, die Achtsamkeit lediglich als eine von mehreren Komponenten integrieren würden. Leider ist auch diese Unterscheidung nicht wirklich eindeutig, denn MBSR und MBCT beinhalten ebenfalls eine Vielzahl von Komponenten, zu denen eben auch Achtsamkeit zählt (Kabat-Zinn, 1990; Davidson & Kabat-Zinn, 2004; Segal et al., 2002). Nach sorgsamer Betrachtung der Unterscheidungen des Autors scheint der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Kategorien darin zu bestehen, dass die Interventionen in der ersten Kategorie den Begriff „Achtsamkeit“ im Namen tragen und daher als „achtsamkeitsbasierte Interventionen“ zusammengefasst werden, während dies bei den Interventionen in der zweiten Kategorie nicht der Fall ist. Um diese Möglichkeit eingehender zu erörtern, beschreibe ich im Folgenden einige der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen Interventionen, wie sie von führenden Forschern auf diesem Gebiet diskutiert werden (Kabat-Zinn, 1990; Davidson & Kabat-Zinn, 2004; Smith, 2004; Segal et al., 2002; Linehan, 2014; Tang et al., 2015; Hayes et al., 2016; Tang, 2017; Tang et al., 2017c).

Eine Beschreibung von MBSR lautet: „ein Programm, das sich darauf konzentriert, zu lernen, wie man körperliche Empfindungen achtsam wahrnimmt, und zwar mittels Body-Scans, sanften Dehnübungen und Yoga-Achtsamkeitsübungen, in Verbindung mit Gesprächen und Übungen, die dazu dienen, achtsame Bewusstheit auf alltägliche Lebenserfahrungen anzuwenden, einschließlich des Umgangs mit Stress“ (Creswell, 2017). Diese Beschreibung zeigt deutlich, dass MBSR zahlreiche Komponenten als Bestandteil des Programms integriert hat, darunter Achtsamkeit, Yoga-Übungen, Dehnübungen, Gruppengespräche und andere, genau wie die zuvor erwähnten achtsamkeitsbezogenen Interventionen in der zweiten Kategorie. Daher ergibt es auch keinen Sinn, nur MBSR oder MBCT gewissermaßen als „echte achtsamkeitsbasierte Interventionen“ einzuordnen und alle anderen, die nicht den Begriff „Achtsamkeit“ im Namen tragen, lediglich als „achtsamkeitsbezogene Interventionen“ zu kennzeichnen, bei denen Achtsamkeit nur eine untergeordnete Rolle spielen soll. Wie der MBSR-Entwickler Kabat-Zinn in seinem Buch und späteren Artikeln klarstellt, gibt es kein „reines“ Achtsamkeitsprogramm, und Achtsamkeitsinterventionen wie MBSR integrieren neben Achtsamkeit auch andere Techniken (Kabat-Zinn, 1990; Davidson et al., 2003; Davidson & Kabat-Zinn, 2004). Smith (2004) weist außerdem darauf hin, dass das „MBSR-System eine Mischung aus Achtsamkeitsmeditation, Konzentrationsmeditation, passiven Atemübungen, Yoga-Dehnübungen und anderen Komponenten“ sei. Aus diesem Grund wirken Achtsamkeitsinterventionen oder -trainings durch die Integration mehrerer Techniken und Komponenten anstatt nur durch die Anwendung von Achtsamkeit als einziger Technik.

Im selben Sinne haben die Entwickler von MBCT das Training als ein Programm beschrieben, das Elemente aus der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und älteren auf Achtsamkeit fokussierten Verfahren wie MBSR entnommen habe. Laut Definition ist MBCT eine psychologische Intervention für die Anwendung bei Menschen mit einem Risiko, ein Rezidiv einer Depression zu erleiden (Segal et al., 2002). Selbstverständlich integriert MBCT auch andere Verfahren wie KVT und MBSR in das eigene Behandlungsprogramm, und es wäre unsinnig, zu behaupten, dass MBCT eine Achtsamkeitsintervention sei, während andere ähnliche Behandlungsprogramme (wie ACT, DVT oder IKGT) ohne den Begriff „Achtsamkeit“ im Namen dies nicht seien. Diese Klarstellung ist von entscheidender Bedeutung, da Missverständnisse in Bezug darauf, welche Interventionen Achtsamkeitsinterventionen sind, die bereits Forschung betreibende wissenschaftliche Gemeinschaft ebenso wie die Allgemeinbevölkerung hinsichtlich der Natur von Achtsamkeit und ihrer Anwendung in die Irre führen können. Außerdem könnten derartige Missverständnisse auch Personen, die sich für Achtsamkeit interessieren und in der Forschung oder der angewandten Praxis auf diesem Gebiet erst noch aktiv werden wollen, verwirren oder sogar voreingenommen machen.

Aus diesem Grund sollte die Definition der Natur einer Achtsamkeitsmeditation oder -intervention keinesfalls davon abhängig gemacht werden, ob das entsprechende Programm den Begriff „Achtsamkeit“ im Namen trägt oder nicht. Stattdessen sind die einzelnen Komponenten und Instruktionen der betreffenden Achtsamkeits­praxis die definierenden Merkmale des Programms. Darüber hinaus müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Achtsamkeitsmethoden immer mehrere Komponenten beinhalten und dass es kein Programm für „reine“ Achtsamkeit gibt, dessen einzige Komponente in Achtsamkeit an sich bestehen würde (Davidson & Kabat-Zinn, 2004; Smith, 2004; Tang et al., 2007; Tang & Tang, 2015a, b; Tang, 2017; Tang et al., 2017c).

1.3 Ein neues Fachgebiet: neurowissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit

Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit meinem Kollegen Michael Posner in einer Sonderausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift Social Cognitive and Affective Neuroscience (SCAN) vorgeschlagen, die aufkommende neurowissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit (engl. Mindfulness Neuroscience) als eigenständiges neues Fachgebiet zu definieren. Das Ziel dieser neuen Teildisziplin besteht in der Erforschung der grundlegenden Mechanismen hinter unterschiedlichen Achtsamkeitspraktiken, unterschiedlichen Stufen und unterschiedlichen Zuständen in der Achtsamkeitspraxis sowie unterschiedlichen Auswirkungen der Achtsamkeitspraxis über die Lebensspanne eines Individuums hinweg. Die neurowissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit integriert Theorien und Methoden von fernöstlichen kontemplativen Traditionen, westlicher Psychologie und Neurowissenschaften, und sie nutzt Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren, physiologische Messverfahren, verhaltensbezogene Tests und genetische Methoden. In Kapitel 2 werde ich die auf das Gehirn bezogenen Mechanismen hinter der Achtsamkeit eingehender erörtern (Tang & Posner, 2013a, b).

1.4 Methodische Schwierigkeiten in Bezug auf Achtsamkeitsforschung

Um die Erforschung und Anwendung von Achtsamkeit voranzubringen, müssen gegenwärtig vorhandene methodische Schwierigkeiten in Bezug auf die Achtsamkeitsforschung berücksichtigt werden (Davidson, 2010). Auch wenn die Anzahl der veröffentlichten Artikel zum Thema der Erforschung von Achtsamkeit erheblich zugenommen hat, wie in mehreren Metaanalysen von unterschiedlichen Forscherteams gezeigt wurde, ist die methodische Qualität vieler Studien nach wie vor relativ niedrig. Bei nur wenigen handelt es sich um aktiv kontrollierte Längsschnittstudien, die neben Vergleichen von Daten, welche in einer oder mehreren Gruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben wurden, auch eine aktive Kontrollbedingung und eine zufallsbasierte Zuordnung der Teilnehmer zu den Versuchsbedingungen beinhalten. Darüber hinaus sind die Stichproben üblicherweise klein. Die meisten Studien sind Querschnittstudien – sie vergleichen Daten von einer Gruppe von Meditierenden mit Daten von einer Wartelisten-Kontrollgruppe von Nichtmeditierenden, wobei die Daten zu einem bestimmten Zeitpunkt auf unterschiedlichen Dimensionen gematcht wurden. Obwohl eine Reihe von Querschnittstudien darauf hindeutete, dass positive Effekte mit der Meditation in Zusammenhang standen, schließt dieses Studiendesign kausale Schlussfolgerungen aus: Es ist möglich, dass bereits vor der Untersuchung relevante Unterschiede zwischen den Gehirnen der Meditierenden und denen der Nichtmeditierenden vorhanden waren, die auf das unterschiedliche Interesse an Meditation oder die Motivationen, Erwartungen oder Persönlichkeiten der Teilnehmer in den beiden Gruppen oder auch andere Faktoren zurückzuführen sein könnten (Tang et al., 2015).

Von besonderer Bedeutung ist auch die statistische Kontrolle möglicher konfundierender Variablen, die sich ansonsten vielleicht auf die Ergebnisse der Meditation auswirken. Zu diesem Zweck wurden neuere Studien entwickelt, die aktive Interventionen in Kontrollgruppen beinhalten, wie etwa Entspannungstraining, eine Anleitung zum Stressmanagement oder ein Programm zur Gesundheitsförderung. Diese Interventionen können konfundierende Faktoren wie soziale Interaktionen mit der Gruppe und den Lehrern ebenso wie das Ausmaß an Übungen daheim, körper­lichem Training und Psychoedukation kontrollieren. Daher sind die entsprechenden Studien besser geeignet, um die meditationsspezifischen Effekte herauszuselektieren und abzugrenzen. Beispielsweise konnte in neueren Untersuchungen der University of Wisconsin gezeigt werden, dass sich in randomisierten Längsschnittstudien im Vergleich zwischen MBSR und einem aktiv kontrollierten Gesundheitsförderungsprogramm keine Unterschiede finden lassen (MacCoon et al., 2012, 2014; Rosenkranz et al., 2013).

Wie es für ein junges Forschungsgebiet ganz typisch ist, basieren viele experimentelle Untersuchungen zur Achtsamkeit noch nicht auf elaborierten Theorien und weisen auch kein rigoros strukturiertes Forschungsdesign auf; ebenso werden Schlussfolgerungen oft aus Post-hoc-Interpretationen gezogen. Ich bin überzeugt, dass zukünftige Forschungen mehr randomisierte und aktiv kontrollierte Längsschnitt-Forschungsdesigns verwenden müssen, um unser Verständnis der Mechanismen hinter der Achtsamkeitsmeditation voranzubringen. Aus diesem Grund werde ich auch in diesem Buch nur aktiv kontrollierte Längsschnittstudien heranziehen, um die Abhandlung der Thematik und die gezogenen Schlussfolgerungen zu untermauern. Im nächsten Kapitel werden wir gemeinsam die Mechanismen der Achtsamkeitsmeditation im Gehirn eingehend betrachten.


2  In der deutschsprachigen Literatur wird das default mode network auch als „Ruhezustands-Netzwerk“ oder „Ruhestandard-Netzwerk“ bezeichnet. [Anm. d. Ü.]

2. Mechanismen der Achtsamkeitsmeditation im Gehirn

2.1 Schlüsselmechanismen der Achtsamkeitsmeditation

In jüngerer Zeit wurden jährlich über 500 Arbeiten zur Achtsamkeitsmeditation veröffentlicht. Laut den neuesten neurowissenschaftlichen Befunden beinhaltet Achtsamkeitsmeditation mindestens drei Komponenten, die eng zusammenarbeiten, um einen Prozess hervorzubringen, der mit gesteigerter Selbstregulation oder Selbstkontrolle einhergeht: gesteigerte Aufmerksamkeitskontrolle, verbesserte Emotionsregulation und veränderte Selbstbewusstheit (Tang et al., 2015; Hölzel et al., 2011).

Der Begriff Aufmerksamkeitskontrolle bezieht sich auf die Fähigkeit zur lang andauernden Konzentration auf ein Objekt oder Ziel (etwa Atmung oder eine Empfindung) während der Achtsamkeitsübung und beansprucht oft Aufmerksamkeitsnetzwerke, die für Aufmerksamkeitsaktivierung, Aufmerksamkeitsausrichtung oder exekutive Kontrolle verantwortlich sind. Aufmerksamkeitskontrolle umfasst in den frühen Phasen der Achtsamkeitspraxis explizite Prozesse mit bewusster Kontrolle und Anstrengung, aber mit zunehmender Erfahrung kann der Meditierende später auch mit weniger Anstrengung auskommen oder sogar eine anstrengungslose Art der Aufrechterhaltung von Konzentration und Bewusstheit wählen. Darüber hinaus trainiert Achtsamkeitspraxis eine einzigartige Form von Aufmerksamkeit, die auf den gegenwärtigen Moment gerichtet ist, sodass negative affektive Erfahrungen durch das Einnehmen einer nichturteilenden und akzeptierenden Haltung abgemildert werden können (Tang & Tang, 2015a, b).

Emotionsregulation bezeichnet die impliziten und expliziten Strategien, die beeinflussen können, welche Emotionen aufkommen und wann sie dies tun, wie lange sie anhalten und wie sie erlebt und zum Ausdruck gebracht werden. Emotionsregula­tion wird benötigt, um mit dem Erleben von Langeweile und negativen Stimmungslagen während der Achtsamkeitsübung umzugehen. Wenn der Praktizierende bereits geübt ist, kommen positive Emotionen auf, die mit dem subjektiven Erleben von Freude und Wohlbefinden assoziiert sind. Diese können dabei helfen, die Aufmerksamkeit und den meditativen Zustand aufrechtzuerhalten, und unterstützen so die mentalen Prozesse der Meditation (Tang & Tang, 2015b).

Selbstbewusstheit wird oft als Bezeichnung für die Bewusstheit des „Selbst“ als Gegenstand der Aufmerksamkeit verwendet. Somit ist Selbstbewusstheit eine Form der sogenannten Metabewusstheit, also der kognitiven Funktion, sich eigener mentaler Verarbeitungsprozesse oder Bewusstseinsprozesse bewusst zu sein. Während der Achtsamkeitsmeditation sind wir uns unseres eigenen inneren körperlichen Zustandes (aufgrund von Interozeption) ebenso bewusst wie unseres eigenen mentalen Zustandes (durch Metabewusstheit unseres Bewusstseins), und zwar in einer gleichmütigen Weise (Tang et al., 2015). In der Folge davon verschmelzen unser Selbst und unsere Umgebung allmählich zu einer einzigen nahtlosen Erfahrung (beziehungsweise lösen sich zu dieser auf). Selbstbewusstheit durch Achtsamkeitspraxis kann helfen, das Individuum von seinem eigenen Denken und seinen eigenen Denkprozessen zu distanzieren, was im Gegenzug Offenheit gegenüber eigenen Gedanken, Emotionen und Empfindungen und Akzeptanz derselben ermöglicht (Tang et al., 2015; Tang & Tang, 2015b). Ohne Metabewusstheit des Selbst hingegen werden wir zwangsläufig ein Teil von dem, was wir erleben, wie etwa Empfindungen, Emotionen und Gedanken. Im Folgenden erörtern wir Gehirnregionen, die für die drei genannten Komponenten der Achtsamkeitsmeditation von entscheidender Bedeutung sind.

2.2 Gehirnregionen, die mit der Aufmerksamkeitskontrolle während der Achtsamkeit in Zusammenhang stehen

Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass die Gehirnregionen, die an der Aufmerksamkeitskontrolle beteiligt sind, hauptsächlich den anterioren cingulären Cortex (ACC), den angrenzenden medialen präfrontalen Cortex (mPFC) und das Striatum / die Basalganglien einschließlich des Nucleus accumbens (NAc) umfassen, wobei Letzterer auch eine Gehirnregion darstellt, die von zentraler Bedeutung für das Belohnungssystem ist (Petersen & Posner, 2012). Ebenso sind dieselben Gehirnregionen (Abbildung 2.2), nämlich der ACC, der angrenzende mPFC und das Striatum, auch diejenigen, bei denen Aktivierungen im Zusammenhang mit dem breit gefassten Konstrukt der Selbstregulation nachgewiesen werden konnten (Posner et al., 2007). Somit deutet die Überlappung zwischen Gehirnregionen, die mit Aufmerksamkeitskontrolle und Selbstregulation in Zusammenhang stehen, auf die Existenz eines neuronalen Verarbeitungspfades hin, durch den die Achtsamkeitsmeditation ihre Wirkungen ausüben kann und der zumindest den ACC, den mPFC und das Striatum beinhaltet (Tang et al., 2015). Wichtig ist, dass, wenn ein sehr erfahrener Meditierender durch ein angemessenes Maß an Bemühen und Aufmerksamkeitskontrolle einen fortgeschrittenen Vertiefungszustand wie etwa ein Jhana aufrechterhält, eine ekstatische Meditationserfahrung mit extremer Freude und Vergnügen auftritt. Dies deutet ­darauf hin, dass eine optimale Aufmerksamkeitskontrolle möglicherweise das Belohnungssystem einschließlich des NAc im Striatum und des Striatums selbst aktiviert, wobei das Striatum (als zentrale Region der Aufmerksamkeitskontrolle) die Selbstkontrollfähigkeiten der Aufmerksamkeit weiter steigern könnte. Studien haben außerdem gezeigt, dass im Striatum im Anschluss an Meditation eine größere Menge des Neurotransmitters Dopamin ausgeschüttet wird (Tang et al., 2015).