Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

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Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-852-7

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-853-4 (EPUB), 978-3-95571-855-8 (PDF), 978-3-95571-854-1 (MOBI).

Verzeichnis der Übungen

Die Kraft unserer Gedanken

Dominanzstrategien

Die Wirkung von Worten

Beobachtung vs. Bewertung

Beobachtung von Bewertung unterscheiden

Gefühle und körperliche Reaktionen

Grüne oder rote Gefühle

Gefühle und Pseudogefühle

Pseudogefühle in echte Gefühle übersetzen

Bedürfnismatrix

Persönliche Bedürnismatrix

Von der Strategie zum Bedürfnis

Positive Handlungssprache

SMARTE Handlungsbitten

Selbstempathie

Innerer Kritiker und Innerer Entscheider

Ungeliebte Tätigkeit

Selbstanerkennung

Anerkennung einem anderen gegenüber

Ärger

Ärgertransformation

Mich aufrichtig mitteilen

Mit vier Ohren hören

Analyse von Gesprächssequenzen

Wertschätzend Nein sagen

Bedürfnisse hinter Aussagen erkennen

Entscheidungen treffen mit dem „Needs meter“

1.  Einleitung

Über dieses Buch

„Wertschätzung Mangelware, Empathie Fehlanzeige“ – Könnte das die Überschrift eines Artikels sein, in dem es einerseits um die Situation der Beschäftigten im Gesundheitswesen und andererseits um das Erleben von Patienten und deren Angehörigen geht?

„Nicht immer zutreffend, aber immer öfter!“, so könnte die Antwort lauten.

Nun stellen Sie sich vielleicht die Frage, welchen Lösungsbeitrag ein Buch über Kommunikation zu den genannten Problemen leisten kann. Wertschätzende Kommunikation für Pflegefachkräfte und Ärzte gibt Ihnen Antworten auf die Fragen: Wie kann ich in meiner Arbeit wertgeschätzt werden und wie kann ich anderen Wertschätzung entgegenbringen? Wie kann ich mich – auch in schwierigen Gesprächen – klar und verständlich ausdrücken, ohne meinen Gesprächspartner anzugreifen? Welchen Beitrag kann ich leisten, dass sich Patienten und deren Angehörige empathisch begleitet fühlen? Das vorliegende Buch bietet Ihnen einen vertiefenden Einblick in die drei Richtungen (Selbstempathie, Aufrichtiges Mitteilen und Fremdempathie), in die Sie den Weg der Wertschätzenden Kommunikation gehen können.

Der Weg der Selbstempathie (Kap. 4.2) ermöglicht es Ihnen, in Kontakt zu kommen mit Ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Selbstklärung, Selbstmitgefühl und Selbstwertschätzung sind wichtige, kraftvolle Beiträge zur eigenen Psychohygiene. Lernen Sie einen Weg kennen, der Ihnen hilft gut für sich selbst zu sorgen. Selbstempathie dient als Prophylaxe, um psychischen und physischen Beanspruchungen vorzubeugen.

Der Weg des Aufrichtigen Mitteilens (Kap. 8) eröffnet Ihnen eine Möglichkeit, sich klar und gradlinig auszudrücken, ohne beim Gesprächspartner Widerstände und Gegenangriffe auszulösen. Sie arbeiten täglich mit Kolleginnen der unterschiedlichsten Berufsgruppen zusammen. Immer geht es darum, Ziele zu erreichen, Abläufe zu koordinieren, Prioritäten zu setzen. Dabei bewirken Personalmangel und steigende Patientenzahlen immer knapper werdende Zeitressourcen. Diese Stressfaktoren erschweren die Kommunikation innerhalb des Teams und mit den anderen Berufsgruppen. Misslingende Kommunikation führt zu Konfliktsituationen, Konflikte erhöhen den Stresspegel um ein Vielfaches. Wenn es Ihnen gelingt, sich aufrichtig mitzuteilen, haben Sie eine realistische Chance, zusätzliche Stressfaktoren zu reduzieren.

Auf dem Weg der Fremdempathie (Kap. 5.2 und Kap. 6) finden Sie zu anderen Menschen einen empathischen Zugang. Für die Pflege und Therapie Ihrer Patienten ist gerade dieser Prozess eine wertvolle Ressource. Die „richtigen“ Worte zu finden, die eigene Empathiefähigkeit zu stärken, Kommunikation als pflegerische und therapeutische Intervention einzusetzen, all das gelingt Ihnen mithilfe der Fremdempathie.

Darüber hinaus finden Sie in diesem Buch die Grundlagen und Grundannahmen der Wertschätzenden Kommunikation und zahlreiche Anregungen zur Selbstreflexion u. a. im Hinblick auf den Umgang mit Ärger, das eigene Verhalten in Konfliktsituationen und in Bezug auf eigenes Führungsverhalten.

An wen sich dieses Buch richtet

Wertschätzende Kommunikation für Pflegefachkräfte und Ärzte richtet sich an alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen: Logopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Hebammen, Operationstechnische Assistentinnen, Altenpflegerinnen, Pflegepädagogen, Pflegemanager. Sie alle werden mit den Inhalten angesprochen, auch wenn im Titel beispielhaft nur zwei Berufsgruppen genannt sind. Um zur Klarheit beizutragen, wurden die Beispiele im Buch aus dem Berufskontext von Pflegefachkräften ausgewählt. Alle Inhalte, Beispiele und Übungen können Sie jedoch leicht auf Ihren jeweiligen beruflichen Kontext anpassen. Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wurde im Buch die weibliche Anrede gewählt. Da mir jedoch Gleichwertigkeit wichtig ist, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass Männer in gleicher Weise angesprochen sind.

Wie dieses Buch aufgebaut ist

Alle Kapitel dieses Buchs beleuchten die Inhalte der Wertschätzenden Kommunikation mit konsequentem Praxisbezug zu den besonderen Herausforderungen, die Sie als Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen bei Ihrer täglichen Arbeit bewältigen. Im Anschluss an die praxisorientierten, theoretischen Inhalte haben Sie die Möglichkeit, diese durch eigene Übungen zu vertiefen. Ein Verzeichnis der Übungen finden Sie hier.

Am Ende eines Kapitels finden Sie dessen Kernaussagen noch einmal „Auf den Punkt gebracht“.

Welche Symbole dieses Buch benutzt

Zu Ihrer Orientierung arbeitet dieses Buch mit folgenden Symbolen:

 Übung

Auf den Punkt gebracht

Beobachtung

Gefühle

Bedürfnisse

Bitte

Dank

Kopfkino

Wie Sie dieses Buch nutzen können

Die Konzeption dieses Buchs gibt Ihnen die Anregung, Wertschätzende Kommunikation in Ihr berufliches Leben zu integrieren. Da sie frei von Nebenwirkungen ist, können Sie mit der praktischen Umsetzung direkt beginnen. Neben der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema wünschen sich viele Menschen Gelegenheiten zum vertiefenden Üben. Die Wirksamkeit des praktischen Lernens ist unbestritten. In Anlehnung an das Sprichwort von Cicero „Reden lernt man durch reden“ gilt auch: „Wertschätzend kommunizieren lernt man durch wertschätzend kommunizieren.“ Es existieren zahlreiche Angebote, die ein praktisches Lernen in einer Gruppe ermöglichen: TrainerInnen bieten Einführungs- und Vertiefungsseminare an. Alternativ kann für einige Leserinnen ein Jahrestraining von Interesse sein. Übungsgruppen sind eine weitere Plattform, die Sie nutzen können. Und schließlich können Sie sich mit interessierten Kolleginnen zusammenfinden, um sich gegenseitige Unterstützung zu geben auf dem Weg zu einer Wertschätzenden Haltung. Es wäre doch großartig, wenn sich solche Initiativen berufsgruppenübergreifend bilden.

Wie auch immer der passende Weg für Sie ist: „Jede kleine Änderung wirkt im Großen!“ So lautet meine Antwort auf die Frage: „Was bringt das denn, wenn ich allein wertschätzend kommuniziere?“ Mir gefällt in diesem Zusammenhang das Bild eines Tropfens, der ins Wasser fällt. Der Tropfen zieht viele Kreise. Wenn Sie mit Ihren Kolleginnen und Patienten wertschätzend kommunizieren, wird das ebenfalls Kreise ziehen. Ich wünsche Ihnen viel Freude und Leichtigkeit beim Anwenden und Leben der Wertschätzenden Kommunikation.

2. Die Kraft der Sprache

Sie arbeiten mit Menschen, die aufgrund von Alter, Krankheit oder anderen Einschränkungen auf Pflege und Therapie angewiesen sind? Sie sind Pflegefachfrau, Ärztin, Physiotherapeutin, Logopädin, Ergotherapeutin, Hebamme? Was ist Ihre wertvollste Ressource, Ihr wichtigstes Werkzeug, das Ihre Arbeit überhaupt erst möglich macht?

Es ist Ihre Sprache. Ohne Kommunikation ist eine patientenorientierte Versorgung nicht möglich. Sie informieren, Sie diagnostizieren, Sie klären auf, Sie beraten, Sie trösten und Sie kooperieren mit Ihren Kolleginnen und mit den Kolleginnen der anderen Berufsgruppen. Nichts davon wäre ohne Ihre Sprache möglich. Mit Ihrer Kommunikation haben Sie die Möglichkeit aktiv auf die Zufriedenheit und den Genesungsprozess Ihrer Patienten einzuwirken. Ein Patient, der sich verstanden und gut aufgehoben fühlt, kann all seine inneren Kräfte auf seinen Heilungsprozess ausrichten. Worte können zur Heilung beitragen!

Waren Sie oder einer Ihrer Angehörigen schon einmal ernsthaft krank? Kennen Sie Schmerzen, die so stark sind, dass Sie keine klaren Gedanken mehr fassen konnten, oder hatten Sie schon einmal Angst vor einem diagnostischen Eingriff und noch mehr vor dessen Ergebnis? Wissen Sie, wie es ist, wenn man darauf angewiesen ist, Unterstützung zu bekommen, weil man sich allein nicht helfen kann? Wenn man sich hilflos und schwach fühlt und nur einen Wunsch hat, dass dieser Zustand so schnell wie möglich wieder vergeht? Was würden Sie in einer solchen Situation am meisten brauchen? Neben der medizinischen Versorgung sind es vor allem Ruhe, Verständnis, Zuwendung, Unterstützung, Fürsorge, Menschen, die sich um Sie kümmern. Was hilft Ihnen in einer solchen Situation, dass Sie sich angenommen und umsorgt fühlen? Es sind kleine Gesten und Handlungen und es sind die „richtigen“ Worte, die uns in einer solchen Situation Erleichterung geben und Mut machen. Es ist die wohltuende, fast heilsame Kraft der Sprache, die manchmal sogar wirksamer ist als jedes Medikament. Mit unserer Sprache signalisieren wir, dass wir den anderen verstehen und dass wir unsere Hilfe anbieten. Mit unserer Sprache drücken wir Empathie aus und können dem anderen versichern, dass wir gern für ihn da sind. Die Qualität von Pflege und Therapie wird in hohem Maße durch unsere Kommunikation beeinflusst. Die „richtigen“ Worte zu finden ist gerade in Ihrem Arbeitsumfeld von entscheidender Bedeutung. Vielleicht kennen Sie das berühmte Zitat von Mark Twain: „Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.“

Im Arbeitsalltag klingen unsere Worte manchmal, als ob der Blitz einschlüge. Bei den folgenden Beispielen aus der Praxis handelt es sich nicht um „beinahe richtige“ Worte, sondern um verletzende, trennende Worte, um wirklich heftige Blitzeinschläge:

Ich möchte diese Liste noch um ein Beispiel von Martha Maschke erweitern. Sie beschreibt in ihrem Buch Hommage an mein Bauchgefühl. Oder: Die Würde des Menschen ist doch antastbar ihre Leidensgeschichte und ihre damit verbundene Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser. Folgende Situation trug sich mit einer Pflegenden im Nachtdienst zu: Frau Maschke hatte geklingelt, weil Sie erbrechen musste und eine Schüssel benötigte. Die Antwort der Pflegenden war: „Können Sie jetzt noch ’ne halbe Stunde warten, bis ich meinen Rundgang fertig habe? Wissen Sie eigentlich, wie sehr Sie mir auf den Keks gehen? Immer diese Extrawünsche.“ (Maschke, 2016, S. 134)

Auch das ist Sprachrealität in unserem Gesundheitswesen. Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem Sie diese Aussagen gelesen haben? Sind Sie schockiert und im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos? Worte bilden Wirklichkeit ab, und Worte schaffen Wirklichkeit. Das heißt, Worte haben die Kraft unsere Gedanken und Einstellungen zu spiegeln und damit sichtbar zu machen. Und letztlich beeinflusst Sprache auch unser Handeln.

Viele von Ihnen kennen wahrscheinlich den Auszug aus dem Talmud:

Gefühle werden zu Gedanken, Gedanken zu Worten, Worte zu Handlungen. Das bedeutet, mein Denken und damit auch meine Sprache bestimmen mein Handeln.

  

Die Kraft unserer Gedanken möchte ich gern anhand einer Übung verdeutlichen:

Sie benötigen einen Partner, dem Sie zunächst keine weiteren Informationen geben. Setzen Sie sich hinter Ihren Partner, und legen Sie Ihre Hand auf dessen Schulter. Denken Sie dabei ganz intensiv: „Der ist wirklich unmöglich und ich kann diesen Menschen überhaupt nicht leiden!“

Nehmen Sie nun für ein paar Sekunden Ihre Hand von der Schulter. Legen Sie Ihre Hand erneut auf, und denken Sie nun intensiv: „Das ist wirklich ein netter Mensch und ich mag ihn unglaublich gerne!“

Nachdem Sie Ihre Hand wieder entfernt haben, fragen Sie Ihren Partner, welche der beiden Berührungen angenehmer war.

Diese Übung habe ich mit vielen Trainingsgruppen durchgeführt und das Ergebnis ist immer wieder erstaunlich: Die deutliche Mehrheit der Teilnehmerinnen, die berührt wurden, empfindet die zweite Berührung als wesentlich angenehmer. Haben Sie bei Ihrem Versuch das gleiche Ergebnis erzielt? Welche Schlussfolgerung kann man nun aus diesem kleinen Experiment ziehen? Unsere Gedanken spiegeln sich in unserer Sprache und verändern die Art und Weise, wie wir einen anderen berühren. „Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.“

Wie sehr uns Sprache auch emotional berühren kann, möchte ich ergänzend anhand der sprachlichen Dominanzstrategien in Anlehnung an die Kommunikationssperren von Thomas Gordon (Gordon, 2005) deutlich machen. Sie finden diese in der folgenden Tabelle. Einige dieser Strategien haben das Potenzial, nicht nur Kommunikations-, sondern auch Kooperationssperren zu sein. Vermutlich haben Sie jede dieser Formulierungen in Ihrem beruflichen Alltag schon einmal zu hören bekommen, und wahrscheinlich befindet sich eine größere oder kleinere Auswahl davon auch in Ihrem eigenen sprachlichen Repertoire.

  

Lesen Sie die Dominanzstrategie und das dazugehörige Beispiel. Notieren Sie für sich in der letzten Spalte, welche Emotionen in Ihnen ausgelöst werden und wie Sie darauf reagieren würden, wenn Ihr Kollege, Ihr Vorgesetzter Sie in der beschriebenen Art ansprechen würde.

Dominanzstrategie

Beispiel

Ihre Emotionen/
Ihre Reaktionen

Befehlen, anordnen

„In 10 Minuten ist das Medikament auf der Station! Ist das klar!“

Drohen, warnen

Wenn … dann

„Wenn du noch mal zu spät zum Dienst kommst, dann werde ich das der Pflegedienstleitung melden.“

Moralisieren, predigen

„Als verantwortungsvolle Pflegekraft springt man ein, wenn man darum gebeten wird.“

Beraten, Vorschläge machen, Lösungen liefern

„Am besten nehmen Sie erst Blut ab und dann machen Sie Visite!“

Urteile fällen, Vorwürfe machen, beschuldigen

„Von Ihnen habe ich gar nichts anderes erwartet! Das konnte ja nur schiefgehen.“

Loben, schmeicheln

„Ohne Sie läuft die Station einfach nicht!“

Beschämen, beschimpfen, lächerlich machen

„Der Verband sieht wirklich kreativ aus! Aber Kreativität ist hier nicht gefragt! Das können Sie noch mal machen!“

Zurückziehen, ausweichen

„Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss mich um Wichtigeres kümmern!“

Interpretieren, analysieren, diagnostizieren

„Das sagen Sie jetzt nur, weil Sie unsicher sind!“

Verantwortung vorschieben

„Schließlich trage ich die Verantwortung für die Patienten!“

Wie ist es Ihnen ergangen? Waren Sie ärgerlich, wütend, hilflos, sprachlos oder fassungslos? In Ihrem Berufsalltag hätten wahrscheinlich viele dieser Formulierungen bei Ihnen Widerstand ausgelöst. Nach meiner Erfahrung haben die meisten Menschen eine Dominanzstrategie, die wie das sogenannte rote Tuch wirkt. Diese Aussagen lösen unmittelbar heftige Emotionen und massive Reaktionen aus. Falls Sie auch ein solches rotes Tuch identifizieren konnten, behalten Sie es in Erinnerung. Im Kapitel 6.1 wird es noch einmal angesprochen. Dann haben Sie die Möglichkeit, den potenziellen Ursachen Ihrer Reaktion auf den Grund zu gehen.

Dominanzstrategien führen zu Kontaktverlust und lassen uns auf Distanz gehen. Wenn wir die Verbindung und damit den Kontakt zu unserem Gesprächspartner verlieren, dann sinkt unsere Bereitschaft zuzuhören. Damit sinken die Chancen, den anderen zu verstehen und Verständnis für den anderen zu haben.

Eine trennende Sprache bedeutet immer, dass eigene Bedürfnisse und auch Bedürfnisse des anderen im Mangel sind. Von Ruth Bebermeyer stammt das folgende Zitat: „Worte sind Fenster (oder sie sind Mauern)“ (Rosenberg, 2016, S. 18). Ich möchte dieses Zitat umformulieren: „Worte können heilen oder krank machen.“ Lernen Sie die positive Wirkung von Sprache kennen und integrieren Sie sie in Ihren Alltag. Eine Sprache, die wert-schätzend ist, schätzt die eigenen Werte und die Werte des anderen. Sie achtet die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse des anderen. Aus dieser Haltung heraus gelingt es, die „richtigen“ Worte zu finden und gleichzeitig in klärender und stärkender Verbindung mit uns selbst zu sein.

Den Blick auf Gefühle und Bedürfnisse zu lenken zeigt uns einen Weg zu einer verbindenden, gewaltfreien und wertschätzenden Kommunikation. Darauf basiert das Konzept der Wertschätzenden Kommunikation, das von Marshall Rosenberg entwickelt wurde und dessen Grundlagen ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorstellen möchte.

Pflege und Therapie sind ohne Kommunikation nicht möglich. Unsere Sprache hat die Kraft, uns von anderen und von uns selbst zu trennen und unser Handeln zu beeinflussen. Eine wert-schätzende und bedürfnis-achtende Kommunikation bietet die Möglichkeit, sowohl mit den eigenen Werten und Bedürfnissen als auch mit den Werten und Bedürfnissen unseres Gegenübers in Kontakt zu kommen. Durch das Konzept von Marshall Rosenberg ergibt sich ein neuer Weg zu einer verbindenden Kommunikation.

3. Das Konzept der Wertschätzenden Kommunikation

Wenn Menschen zusammenkommen, kommunizieren sie, sowohl verbal als auch nonverbal. Wie sagte schon Paul Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren!“ Wir wünschen uns eine Kommunikation, die zur Klärung beiträgt, die uns miteinander in Verbindung bringt, die Gemeinsamkeiten schafft und es uns ermöglicht, uns abzugrenzen. Doch Kommunikation kann auch verletzen, Verwirrung stiften, trennend und sogar gewaltvoll sein. Haben Sie schon einmal sowohl die wohltuende als auch die verletzende Wirkung von Worten erlebt? Worte können Balsam sein, mit Worten kann man zur Heilung beitragen, aber sie können auch wirksame Waffen sein und Wunden verursachen, die oft schlecht verheilen.

  

Halten Sie an dieser Stelle doch einmal kurz inne!

Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Worte Sie überglücklich gemacht haben?

Forschen Sie nun in Ihren Erinnerungen nach Sätzen oder Aussagen, die Sie schwer getroffen haben.

Sind Ihnen Beispiele sowohl für die wohltuende als auch für die verletzende Wirkung von Worten eingefallen? Ich finde es sehr erstaunlich, wie viele Jahre diese Erinnerungen manchmal überdauern. Dies mag man als einen Hinweis auf die nachhaltige Wirkung unserer Worte sehen.

3.1 Ursprung, Menschenbild, Grundannahmen

Ähnliche Erfahrungen hatte auch Marshall Rosenberg in seiner Kindheit und Jugend gemacht. Er wurde am 06.10.1934 in den USA geboren. Rosenberg war Jude. Aufgrund seiner Religionszugehörigkeit erlebte er oftmals eine gewaltvolle Sprache und auch körperliche Gewalt gehörte für ihn in seinen außerfamiliären Kontakten zur Tagesordnung. Mit zunehmendem Alter beschäftigen Rosenberg Fragen wie: Warum verletzen sich Menschen gegenseitig? Was lässt sie gewalttätig werden? Wie kann man selbst unter schwierigen Umständen mitfühlend bleiben? Welche Wahlmöglichkeiten gibt es abseits von Hass und Gewalt? Rosenbergs Konzept der Gewaltfreien Kommunikation1 gibt Antworten auf diese Fragen und ermöglicht einen Weg zu einem verbindenden, friedlichen Miteinander. Die Gewaltfreie oder Wertschätzende Kommunikation achtet die eigenen Bedürfnisse und schätzt die eigenen Werte. Gleichzeitig achtet sie auch die Bedürfnisse des anderen und schätzt dessen Werte.

Rosenberg verfolgte mit seiner Arbeit die folgenden Ziele:

Die Grundannahmen und das damit verbundene Menschenbild der Wertschätzenden Kommunikation wirken auf den ersten Blick einfach und sind gut nachvollziehbar:

Wie bereits gesagt: Die einzelnen Annahmen erscheinen simpel und doch bietet jede von ihnen umfangreiche Lernfelder und Entwicklungsmöglichkeiten. Ihre Integration in das tägliche Leben eröffnet die Perspektive auf ein gewaltfreies, friedliches Leben, das von einer wertschätzenden Grundhaltung geprägt ist.

Der Weg der Wertschätzenden Kommunikation besteht aus vier Schritten:

Beobachtung

Gefühle

Bedürfnisse

Bitte

Diese vier Schritte ermöglichen uns einen radikal anderen Weg der Kommunikation. In den folgenden Abschnitten wird jeder Schritt von einer Schlüsselunterscheidung abgegrenzt. Wie bereits im Kap. 1 erläutert, können Sie den Weg der Wertschätzenden Kommunikation in drei Richtungen gehen. Ob Sie sich selbst Empathie geben, sich aufrichtig mitteilen oder einem anderen Menschen empathisch begegnen wollen, immer nutzen Sie die oben genannten Schritte. Machen Sie sich mit mir auf den Weg!

Das Konzept der Wertschätzenden bzw. Gewaltfreien Kommunikation wurde von Marshall Rosenberg entwickelt. Es geht von einfachen Grundannahmen aus, die ein verbindendes, friedliches Miteinander ermöglichen. Das Kerngerüst des Konzepts besteht aus vier Schritten: Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten. Diese Schritte können in drei Richtungen gegangen werden: der Weg der Selbstempathie, der Weg der Fremdempathie und der Weg des aufrichtigen Mitteilens.

3.2 Beobachtungen von Bewertungen abgrenzen

Beobachten lässt sich definieren als eine systematische und planmäßige Form der Wahrnehmung mit dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Entscheidungen zu treffen. Beobachtungen bilden die Tatsachen (ZDF: Zahlen, Daten, Fakten), die gesehen, gehört, geschmeckt oder gerochen werden, möglichst realistisch ab. Bewertungen werden auf der Grundlage von Beobachtungen getroffen und bleiben bei allen Versuchen der Objektivierung immer subjektiv.

Im praktischen Leben werden Beobachtung und Bewertung oftmals synonym verwendet. Hinweise dafür finden sich auch in den Patientendokumentationen. Im Rahmen der Krankenbeobachtung werden beispielsweise folgende Aussagen festgehalten: „Der Patient ist unruhig und nicht kooperativ“ oder „Patient läuft schlecht“. Beide Aussagen stellen keine Beobachtungen dar, sondern bewerten das Verhalten oder die Fähigkeiten des Patienten. Bewertungen erlauben einen großen Interpretationsspielraum und tragen deshalb nicht zur Klarheit und Eindeutigkeit bei.

Bewertung

Mögliche Beobachtungen, die sich hinter der Bewertung verbergen können

„Der Patient ist unruhig und nicht kooperativ.“

Der Patient möchte zur Körperpflege im Bett bleiben und nicht ans Waschbecken mobilisiert werden.

Oder:

Der Patient ist im Frühdienst trotz Bettruhe viermal aufgestanden.

Oder:

Der Patient hat im Spätdienst 20-mal geklingelt.

Oder:

„Der Patient läuft schlecht.“

Der Patient braucht einen Rollator, um sich beim Gehen abzustützen.

Oder:

Der Patient zieht sein rechtes Bein leicht nach.

Oder:

Der Patient verlässt das Zimmer nur in Begleitung einer Pflegenden. Er sagt, er habe Angst zu stürzen.

Oder:

Fallen Ihnen weitere potenzielle Beobachtungen ein, die sich hinter der jeweiligen Bewertung verbergen könnten? Die Beispiele verdeutlichen den Interpretationsspielraum und die denkbaren Unklarheiten und Missverständnisse, die sich aus einer Bewertung ergeben können.

Was für die Krankenbeobachtung zutrifft, kann in gleicher Weise auf die Kommunikation übertragen werden. Bewertungen schaffen Missverständnisse, werden häufig als Angriffe verstanden und bieten damit den Raum für Gegenangriffe, Verteidigung oder Rückzug – Strategien, die ein verbindendes und wertschätzendes Gespräch behindern. Dies möchte ich an einigen Bespielen verdeutlichen:

Bewertung

Mögliche Beobachtungen, die sich hinter der Bewertung verbergen können

„Du saugst den Patienten nicht richtig ab!“

Vor der Durchführung hast du den Sog nicht kontrolliert.

Oder:

Du hast den Katheter unter Sog eingeführt.

„Du beachtest die Hygieneregeln nicht!“

Du hast dir nach dem Patientenkontakt nicht die Hände desinfiziert.

Oder:

Du hast mit den sterilen Handschuhen die unsterile Unterlage berührt.

  

Sie haben Herrn Müller endotracheal abgesaugt. Während des Absaugvorgangs fällt Ihnen auf, dass Sie vor der Intervention den Sog nicht überprüft haben. Ihre Kollegin, die ebenfalls im Patientenzimmer war, spricht Sie nach dem Verlassen des Zimmers an:

Ihre Kollegin sagt: „Du saugst nicht richtig ab!“

Was würden Sie antworten?

In einer alternativen Gesprächssituation sagt Ihre Kollegin: „Mir ist aufgefallen, dass du vor dem Absaugen den Sog nicht kontrolliert hast.“

Wie wäre bei diesem Gesprächseinstieg Ihre Reaktion?

In meinen Seminaren sind die Reaktionen dazu immer eindeutig: Die erste Situation löst das Bestreben aus, sich zu verteidigen. Dieses Bestreben geht entweder mit einem Gegenangriff oder mit Rückzug einher. Die zweite Situation wird von den Teilnehmerinnen meist so kommentiert: „Wenn meine Kollegin das so sagen würde, wäre mir das auch peinlich. Wenn es jedoch den Tatsachen entspricht, würde ich beim nächsten Absaugen definitiv darauf achten.“

Warum kommt es zu diesen unterschiedlichen Reaktionsweisen? Die Ursache liegt in den unterschiedlichen Emotionen, die durch die Formulierungen bei Ihnen ausgelöst werden. Spüre ich bei der ersten Formulierung Ärger in mir aufsteigen, ist es bei der zweiten Variation eher Betroffenheit. Dementsprechend unterschiedlich werden unsere Reaktionsweisen sein. Über die Macht der Emotionen erfahren Sie im folgenden Abschnitt mehr.

Bevor es zu den Gefühlen geht, möchte ich Ihnen eine weitere Übung anbieten, um meine Aussagen zu vertiefen.

  

Lesen Sie zunächst die aufgeführten Beispiele und entscheiden Sie anschließend, ob es sich bei der jeweiligen Aussage um eine Beobachtung oder um eine Bewertung handelt.

Nr.

Beispiel

Beobachtung

Bewertung

1

Du bist eine tolle Kollegin.

2

Unsere Teamsitzung ist immer ein einziges Chaos.

3

Der Patient wartet seit 30 Minuten auf sein Wasser.

4

Auf unserer Station sind andauernd Kollegen krank.

5

Du hast dem Patienten um 10:00 Uhr seine Medikamente gegeben.

6

Die neue Schülerin ist sehr fleißig.

7

Die Spülmaschine ist noch nicht eingeräumt und Reste vom Frühstück stehen noch auf dem Tisch.

8

Von meinen drei Wünschen wurden zwei im Dienstplan berücksichtigt.

9

Immer muss ich Überstunden machen.

10

Die Frau von Herrn Müller ist wirklich anstrengend.

Die Aussagen 3, 5 und 8 sind Beobachtungen, da sie nachprüfbare Fakten enthalten. Alle anderen Aussagen lassen einen großen Interpretationsspielraum und stellen Bewertungen dar. Vielleicht wundern Sie sich, dass ich die Aussage 7 „Die Spülmaschine ist noch nicht eingeräumt und Reste von Frühstück stehen noch auf dem Tisch“ ebenfalls in die Rubrik der Bewertungen einsortiert habe. Diese Aussage beinhaltet zwei kleine Wörter, die in die grammatikalische Gruppe der Modalpartikel gehören. Weil in dieser Aussage zweimal das Wort „noch“ auftaucht, wird das Beispiel zu einer Bewertung. Modalpartikel zeigen die Stimmungslage des Senders an und können eine Aussage schwächen oder stärken. In die Gruppe der Modalpartikel gehören u. a. eigentlich, mal, vielleicht, schon, einfach, doch. Die unverfängliche Frage: „Könntest du den Müll mitnehmen?“ bekommt, gewürzt mit drei kleinen Modalpartikeln, eine ganz andere Dynamik: „Könntest du vielleicht auch mal den Müll mitnehmen?“

Im zweiten Teil der Übung bitte ich Sie, die Bewertungen in Beobachtungen umzuformulieren. Stellen Sie sich dabei ganz konkret vor, was der andere getan oder gesagt haben könnte.

Nr.

Beobachtung

1

Vielleicht hat die Kollegin mit Ihnen am Wochenende den Dienst getauscht, damit Sie an einer privaten Feier teilnehmen konnten.

 

 

 

 

 

 

 

 

Beobachten ist eine systematische und planmäßige Form der Wahrnehmung mit dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Entscheidungen zu treffen. Beobachtungen bilden die Grundlage unserer Bewertungen. Diese bleiben bei allen Versuchen der Objektivierung immer subjektiv. Hinter einer Bewertung können sich zahlreiche Beobachtungen verbergen, das heißt, sie ist weniger konkret als Beobachtungen. Aus diesem Grund haben Bewertungen das Potenzial, Missverständnisse und Widerstände zu erzeugen.

3.3 Gefühle von Gedanken unterscheiden

Gefühle verbinden uns mit oder trennen uns von uns selbst und anderen. Gefühle motivieren und bremsen uns. Gefühle erzeugen Handlungen und körperliche Reaktionen und gleichzeitig beeinflussen unsere Handlungen und körperlichen Reaktionen unsere Gefühle. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wozu wir eigentlich Gefühle haben? Emotionen zeigen uns, ob unsere Entscheidungen stimmig sind oder nicht. Wer kennt das nicht? Sie haben einen Versetzungsantrag gestellt, weil Sie gerne von der Inneren in die Chirurgie wechseln möchten. Das Fachgebiet interessiert Sie schon lange und jetzt ist auf der Station C14 eine Stelle frei. Sie hatten mit Ihrer zukünftigen Stationsleitung schon ein erstes Vorstellungsgespräch und einige neue Kolleginnen haben Sie auch bereits kennengelernt. Von Ihrer PDL gibt es ebenfalls das Okay. Obwohl alle Zahlen, Daten und Fakten (ZDF) passen, zögern Sie. Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen, dass es besser ist, nicht zu wechseln. Wie würden Sie entscheiden? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auf mein Gefühl hören würde, und vermute, dass viele von Ihnen genauso entscheiden würden. Gefühle sind für uns Entscheidungshilfen und gleichzeitig motivieren sie uns zum Handeln. Der Hirnforscher Eugen Roth sagt dazu: „Emotionen sind keine Störfaktoren für das Denken, sondern unersetzliche Überlebenshilfen.“ (Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2001)

Doch wie entstehen unsere Gefühle? Die ‚Entstehungsgeschichte‘ unserer Gefühle lässt sich in drei Phasen unterteilen:

Phase 1

Sie erleben eine Situation.

Bsp.: Ihre Kollegin sagt im Beisein anderer zu Ihnen: „Du arbeitest unsteril!“

Phase 2

Sie bewerten diese Situation. Diese Bewertung kann positiv bzw. angenehm, negativ bzw. unangenehm oder auch neutral sein.

Bsp.: Sie denken über Ihre Kollegin: „Was fällt der eigentlich ein? Mich vor den anderen bloßzustellen. Das ist eine Unverschämtheit. Die ist einfach unmöglich!“

Phase 3

Ihre Gedanken und Bewertungen lösen in Ihnen Emotionen aus.

Bsp.: In der oben beschriebenen Situation sind Sie vielleicht ärgerlich, unsicher oder auch sprachlos.

Neurobiologisch gesehen sind unsere Gefühle das Ergebnis einer komplexen biochemischen Reaktion und eines daraus resultierenden biochemischen Cocktails. Diese Vorstellung ist nicht gerade romantisch, fasst aber die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung sehr stark vereinfacht zusammen. Für uns wahrnehmbar werden Gefühle, wenn sie eine somatische Reaktion hervorrufen. Hinweise auf diese somatischen Reaktionen gibt uns unsere Sprache. Zahlreiche Redewendungen spiegeln die Verbindung von Gefühlen und körperlichem Erleben: „Ihnen läuft es kalt den Rücken herunter.“ Oder: „Sie kriegen weiche Knie.“ Oder: „Etwas nimmt Ihnen die Luft zum Atmen.“ Oder: „Sie haben Schmetterlinge im Bauch.“