Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverbild: Antje Radzimanowski

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-856-5

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-857-2 (EPUB), 978-3-95571-860-6 (PDF), 978-3-95571-858-9 (MOBI).

1. Einführung

„Die Qualität des Seins bestimmt die Qualität des Tuns.
Das Tun muss auf dem Nichtstun basieren.“

(Thich Nhat Hanh 2006, S. 17)

Dies ist kein Buch über die Suche nach dem nächsten Freizeitvergnügen, das Sie zwischen den Anforderungen des Alltags aufmöbeln soll. Kein Buch über Badezusätze zu Hause und Yoga in der Pause. Es ist auch kein Buch über Zeitmanagement bei der Arbeit oder die Frage, wie Sie Ihre Arbeit effektiver gestalten können.

Es wird darum gehen, wie Sie damit umgehen, wenn Effektivität Sie auszehrt. Wie Sie dem vorbeugen, wie Sie das Ausbrennen, den Burnout verhindern. Es könnte ein bisschen unbequem sein, dieses Buch. Denn es soll Ihnen erleichtern, sich während der Arbeit wohlzufühlen. Die Idee ist nicht zuallererst, Ihren Arbeitgeber zufriedener zu machen, weil sie weniger klagen. Das kann aber ein – möglicherweise unerwünschter – Nebeneffekt sein. Wie in der Therapiedebatte der 1970er-Jahre schlagen wir uns hier auf die Seite derer, die sagen: Erst wenn Sie im Vollbesitz Ihrer Kräfte sind, können Sie entscheiden, wogegen oder wofür Sie sich einsetzen wollen. Und das dann auch durchhalten; die nötige Kraft und Überzeugung haben, um zum Ziel zu gelangen. Vorab ist es wichtig, sich wohlzufühlen. So für sich zu sorgen, dass ein klarer Gedanke überhaupt erst entstehen kann. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Dazu bedarf es einer Entscheidung. Legen Sie das Buch bitte wieder aus der Hand, wenn Sie gerne andere über Ihr Leben bestimmen lassen. Es lohnt auch den Kauf nicht und verschwendet Ihre Zeit, wenn Sie es lieben, zu klagen und sich schlecht zu fühlen und darin eine Grundbedingung dafür sehen, dass etwas anders wird. Obwohl Sie grundsätzlich davon überzeugt sind, dass sich ohnehin nichts zum Guten verändern wird. Es sei denn, Sie tun es selbst.

Prima. Wenn Sie nun doch bei der Überzeugung angelangt sind, dass Sie am besten selbst auf sich aufpassen, weil es niemand anderes tut und tun kann, haben wir eine gemeinsame Basis. Dann könnte es gut sein, dass Ihnen die Lektüre dieses Buches Ideen bringt, vielleicht sogar Spaß macht und Sie am Ende mehr Energie für notwendige Änderungen haben. Ob Sie etwas ändern wollen, sollten Sie aber besser vorher entscheiden. Denn auch das Bewusstsein bestimmt das Sein, und ohne Veränderung wird es nicht gehen. Wenn das so gar nicht Ihren Plänen entspricht, stellen Sie das Buch lieber wieder ins Regal. Aber Sie lesen anscheinend weiter. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Entscheidung! Nun können wir Ihnen ja vorstellen, was wir in diesem Buch planen.

Zunächst wird es ein wenig um Arbeit und Freizeit gehen, um Zeitmanagement und Arbeitsethos – die Hintergrundmusik; der Rhythmus, mit dem wir zu ticken gelernt haben. Die Strukturen, die uns so erschweren, den Flow des Lebens auch in der Arbeit zu finden. Denn Arbeit ist genau wie Freizeit über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neu definiert worden. So kam es zum Begriff der Work-Life-Balance, auch ein Konzept, das wir ein wenig näher betrachten wollen.

Danach holen wir etwas Theorie dazu: Um zu veranschaulichen, warum wir Ihnen die im Hauptteil folgenden Übungen und Haltungen empfehlen, gehen wir darauf ein, wie Verarbeitung eigentlich funktioniert. Wie Körper und Geist gut zusammenarbeiten, warum das nicht immer so gut läuft und welche Bedingungen unser Organismus braucht, um das zu optimieren. Wozu? Unsere Körper, unsere Stimme, unsere Gefühle, unser Denken, all das ist das Material, das Werkzeug, mit dem wir arbeiten. Nicht mehr und nicht weniger. Wir sollten lernen, es funktional und geschmeidig zu halten.

Dazu geben wir Ihnen anschauliche und gut verständliche theoretische Modelle an die Hand, um sich selbst und vor allem Ihre unwillkürlichen Reaktionen besser zu verstehen. Denn Stress hinterlässt seine Spuren vor allem im Körper. Machen Sie sich die Symptome von nicht verarbeiteten Belastungen klar und lernen Sie die Möglichkeit ihrer Handhabung kennen. Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie, um in jedem Moment neu und schnell zu wissen, was zu tun ist, wenn Körper und Geist überlastet, wenn die Gedanken nicht mehr abzuschalten sind.

Viele dieser Belastungen entstehen im Kontakt mit anderen. Wir beschreiben, warum das so ist und wie die entsprechenden Mechanismen funktionieren. Auch dafür gibt es Begriffe und Modelle, die eine Einordnung erleichtern und hilfreiche Strategien im Umgang mit solchen Anspannungen anbieten.

Danach malen wir den Teufel Burnout an die Wand. Das dahinter stehende Phänomen ähnelt dem Auslaufen der Batterie in einem Präzisionsuhrwerk. Da geht erst mal nichts mehr, und zu retten, was zu retten ist, ist ein langer und feingliedriger Prozess. Aufladen und Auswechseln sind nicht mehr möglich. Lassen Sie uns herausfinden, wie Sie diesen Zustand vermeiden oder einen guten Umgang damit finden können – womöglich wird ein Neuanfang daraus.

Dann kommen wir ausführlich zu den Handlungsstrategien, die all unseren weiteren Ideen und Vorschlägen zugrunde liegen. Es wird konkret. Ganz explizit gehen wir Standardsituationen an, die wohl jede*r aus der Arbeit kennt. Wie können Sie für sich sorgen – auf dem Weg zur Arbeit, während Sie der Klientin gegenübersitzen, die Kinder der Wohngruppe ins Bett bringen oder die Teamsitzung moderieren? Zum Abschluss des Tages oder dann, wenn Sie auch weiter in Bereitschaft sind und ständig abrufbar? Wie gelingt die Achtsamkeit sich selbst gegenüber im Kontakt mit überbordenden Gefühlen und Menschen, die Ihnen Erlebnisse entgegentragen, die für uns alle viel zu groß und nicht mehr auflösbar sind? Wie soll man*frau ruhig bleiben in der Dynamik des Teams oder gegenüber Auftraggebern, die weit davon entfernt sind, Ihnen mehr Spielraum zuzugestehen? Selbstfürsorge bei der Arbeit – wie soll das gehen? Wir haben für Sie Tools, Ideen und Methoden aufgeschrieben. Wir deklinieren die Standardfragen und konjugieren Verhaltensansätze, bis Sie das Grundvokabular auswendig können. Und sehen uns da eher in der Tradition der freien Schulen: Lernen soll Spaß machen. Und Leben natürlich auch. Viele bunte Ideen sind im Text, in Kästchen, in Tabellen oder Checklisten angeführt. Sie können alles erproben – ganz ohne Noten für den Abschluss!

Vielleicht haben Sie schon alles einmal versucht, und es funktioniert doch nicht. Sie laufen immer wieder gegen die gleiche Mauer. Und wenn Sie dann einen Schritt zurücktreten, stellen Sie fest: Es ist Ihre eigene. Nun ist dies kein therapeutisches Buch, doch auch im ganz normalen Alltag lohnt ein Blick auf die Frage, wer da ein Weiterkommen erschwert und wozu das wichtig sein könnte. Man könnte es Ihre inneren Anteile, Seiten oder Stimmen nennen, die sich da einschalten. Auch innere Kinder bleiben nicht immer zu Hause, wenn wir zur Arbeit gehen. Besser also, sich vorher um sie zu kümmern.

Durchs Buch begleiten Sie drei Testpersonen, unsere Avatare, an denen wir die Theorie beschreiben und die Übungen testen. Das sind Franziska, Erdem und Leila, die unterschiedlich alt sind und in verschiedenen Kontexten arbeiten. Wir möchten Sie Ihnen hier kurz vorstellen.

Franziska: Die 24-Jährige arbeitet als Sozialarbeiterin mit geflüchteten Menschen in einem Containerdorf. Sie ist nicht ganz neu im Job, nach ein paar Jahren in der aufsuchenden Arbeit mit Familien ist das ihre zweite Stelle. Sie hat hierher gewechselt, weil Sie vielfältige Herausforderungen mag. Sie kann sich auf die unterschiedlichen Menschen immer wieder ganz gut einstellen und hat sich gerade vorgenommen, ein bisschen Arabisch zu lernen. Wenn man mehr machen möchte, als den Sprachmittler*innen die verschiedenen Formblätter zu erklären, sind die Arbeitsbedingungen katastrophal. Es gibt viel zu wenig Personal für zu viele Menschen mit Anliegen, die Franziska in der Mehrheit noch nicht einmal versteht.

Erdem ist 36 und arbeitet als Erzieher in einer stationären Wohngruppe mit Kindern und Jugendlichen. Der Krankenstand ist hoch, im Team herrscht Unzufriedenheit und es mangelt an gegenseitiger Unterstützung. Eigentlich macht er die Arbeit mit den ihm anvertrauten Kindern gerne, deshalb ist er schließlich von der Behindertenhilfe damals hierher gewechselt. Inzwischen herrscht im Team oft schlechte Stimmung und die Leitung geht ihm sowieso auf die Nerven. Er hat das Gefühl, kaum noch zum Arbeiten mit den Kindern zu kommen, da er so viel Zeit am Schreibtisch mit Berichten und Dokumentationen verbringt. Jetzt steht auch noch die Drohung weiterer Kürzungen im Raum und er fragt sich, wie viel mehr Arbeit in der gleichen Zeit er noch aushalten kann. Einen Beinahe-Burnout hat er schon hinter sich.

Leila ist Mitte 50 und hat eine Mädchen- und Frauenberatungsstelle vor 28 Jahren mit viel Begeisterung und unentgeltlichem Einsatz mit aufgebaut. Sie konnte ihre Vision autonomer und parteilicher Arbeit an der Seite der Mädchen und Frauen in erstaunlich vielen Punkten umsetzen und ist nach wie vor stolz auf das Erreichte. Inzwischen sind ein paar Jahrzehnte vergangen, und von den Gründerinnen ist außer ihr nur noch eine dabei. Schon wieder sind zwei neue Kolleginnen eingestellt worden, die mühsam erkämpfte Inhalte wie selbstverständlich hinnehmen, wenn sie ihnen nicht sogar egal sind. Leila hat immer viel Wert auf Teamarbeit und Gleichrangigkeit gelegt, aber manchmal hat sie nun keine Lust mehr. Die Sparvorgaben der öffentlichen Hand machen die Sache nicht besser, die Anfragen nehmen ständig zu, die Räume sind schon lange zu eng und eine zusätzliche halbe Stelle wäre dringend notwendig.

So, der Rahmen ist gesetzt, jetzt geht es los.

2. Einordnen: Die Arbeit leben statt Work-Life-Balance

Sie kennen das: Sie machen Ihre Arbeit gut, eigentlich auch gerne, doch manchmal sind Sie lustlos, fühlen sich überfordert und fragen sich, was los ist. Ob da nicht etwas schiefläuft, ob Sie nicht unter Ihren Möglichkeiten bleiben? Sie überlegen, ob es an Ihnen liegt, an den Mitarbeiter*innen oder Klient*innen, die Ihnen auf die Nerven oder an die Nieren gehen. Ob Sie den falschen Beruf gewählt haben?

Wenn Sie schon länger dabei sind, überlegen Sie vielleicht, ob sich das Gefühl in letzter Zeit verstärkt hat. Ob Sie den Belastungen noch standhalten? Ob Sie nicht eigentlich etwas ganz anderes mit Ihrem Leben hätten anfangen sollen. Vielleicht fragen Sie sich: „Kann das so weitergehen? Will ich das so? Ich tue das doch eigentlich gerne! Brauche ich Tapetenwechsel? Werde ich einfach alt oder muss aus allem raus?“ Sie finden keine Orientierung in diesen Gedanken und machen viel zu lange weiter, ändern Kleinigkeiten, sprechen mit Ihrer Freundin, lassen sich Johanniskraut verschreiben. Auf Dauer ändert das alles nichts. Vielleicht hilft erst die Burnout-Diagnose, um es grundsätzlicher anzugehen.

Dass es anderen auch so geht, macht das Leben nicht einfacher. Wie viele Kolleg*innen haben Sie, die am Montag pfeifend in die Einrichtung kommen, am Tagesende beschwingt die Tür schließen und lächelnd in den Feierabend starten? Dann sagen Sie sich: „Hab dich nicht so, wird schon, geht doch allen gleich.“ Und wenn nicht, lassen Sie sich ein paar Tage krankschreiben. Brauchen können Sie es allemal. Nicht zu lange, sonst sind die Kolleg*innen sauer. Nur fühlen Sie sich die meiste Zeit genervt, abgeschlagen, unlustig. Wäre schon gut, das zu ändern, klar. Aber wie? Und wo ansetzen?

2.1 Arbeit und Freizeit

Wie ist das überhaupt mit der Arbeit, wozu machen Sie das? Gönnen wir uns einen kurzen und sehr verknappten Blick auf Arbeit und Freizeit, deren Verhältnis zueinander, die Besonderheit der psychosozialen Arbeit und die neue Anforderung „Selbstfürsorge“.

Arbeit, das ist zum einen Notwendigkeit – der Broterwerb, wie es so schön heißt, und die Sicherung all dessen, was Sie als materielle Lebensgrundlage definieren. Natürlich müssen wir arbeiten, die allermeisten Menschen müssen irgendeine Tätigkeit verrichten, die es ihnen und den ihren erlaubt zu (über)leben. Wir verkaufen Arbeitskraft und können so Nahrung, Kleidung, Flugreisen und Altersversorgung sichern. Oft stellen wir die Arbeit dem Leben gegenüber, manchmal gar darüber, als Bedingung, der wir alles unterordnen: die Liebe, das Essen, die Kinder, die Familie, die Gastfreundschaft. Arbeit zu haben, arbeiten zu gehen und dafür bezahlt zu werden scheint die Voraussetzung für Leben, für Anerkennung, für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung, für Freizeit. Das sine qua non, wie der Lateiner sagt. Ohne sie ist alles nichts.

2.2 Arbeit im psychosozialen Bereich

„Arbeit im Sinne der Betriebswirtschaftslehre ist jede plan- und zweckmäßige Betätigung einer Arbeitsperson in körperlicher und geistiger Form, die dazu dient, Güter oder Dienstleistungen zu produzieren“1 – Wikipedia ist einfacher zu zitieren als Karl Marx. Das Problem des psychosozialen Bereichs ist demnach kurzgefasst, dass hier Dienstleistungen produziert und verkauft werden sollen, während Sie davon ausgehen, dass Sie mit Menschen arbeiten. Den Kindern zu zeigen, wie man ein Puzzle zusammensteckt und sich die Zähne putzt, oder damit umzugehen, wenn ein anderer sie die Treppe runterschubst – diese Art der Dienstleistung würde vermutlich unter „Vermittlung sozialer Kompetenz“ eingeordnet werden. Derselbe gesichtslose Begriff steht für die Vermittlung von Werten im Zusammenleben, den Umgang mit Gefühlen, die Hilfestellung bei den Hausaufgaben und den Antrag für die Einschulung.

Was aber, wenn die Hausaufgaben nicht zu Ende gemacht werden und der Antrag nicht gestellt werden kann? Wenn die Begleitung zum Gericht abgesagt werden muss oder die Vorbereitung auf die Asylanhörung erst einmal nur ein Gespräch voll Weinen und Angst auslöst? Wenn jemand wegläuft oder ausflippt oder Sie keinen Kontakt finden? Wenn alles viel länger dauert, als Zeit bewilligt wurde? Das Umschreiben von Anträgen, das Neudefinieren des Bedarfs, die Suche nach noch nicht genannten Gründen für einen Verlängerungsantrag sind Bestandteile einer Arbeit, die nicht so recht definierbar sind. Weil der Faktor Mensch entweder im Zentrum steht oder auf der Strecke bleibt. Das mit der Arbeit und Entlohnung im psychosozialen Bereich ist kompliziert.

Auch Ihre eigene Motivation läuft dem Profitmaximierungsinteresse entgegen. Sie wollen helfen, unterstützen, Vorbild sein und Halt geben. Ihre Arbeit basiert auf dem Austausch von Aufmerksamkeit und Zuwendung, von Sorgfalt und Wahrnehmung, von Flexibilität und der Kompetenz, Niederlagen zu neuen Erfolgen umzudeuten; noch ein Stück länger durchzuhalten, Mut zu geben, wo Sie selbst verzweifeln möchten. Zum ökonomischen Unsicherheitsfaktor Mensch kommt hinzu, dass Sie oft mit Menschen arbeiten, die marktwirtschaftlich betrachtet ohnehin nur Kosten verursachen, zu den Loosern gehören, (noch) nicht zählen oder eigentlich gar nicht hier sein sollten.

Sie tun diese Arbeit nicht nur, weil sie arbeiten müssen, um Ihre Kinder zu ernähren oder das Haus abzuzahlen. Sie arbeiten, um diese Welt ein klein wenig besser zu machen, um anderen zu helfen, um sich selbst als Bezugspunkt zur Verfügung zu stellen, wo sonst keiner ist. Sie verkaufen keine Arbeitskraft, sondern Ihre Beziehungsfähigkeit, Ihr Mitgefühl, Ihre Mitmenschlichkeit. Der Wert dieser Arbeit ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Hier werden nicht nur Dienstleistungen produziert, sondern Beziehungen, Zuneigung, Anerkennung, Werte und Bindung getauscht.

Das bindet Sie völlig anders ein, als es die Produktion eines Autos oder Fernsehers, die Bearbeitung von Akten oder Dächern jemals tun könnte. Je mehr Sie geben, desto abhängiger fühlen Sie sich oft. Das macht Sie anfällig und korrumpierbar. In keinem anderen Bereich wird so spät gestreikt, übernehmen Kolleg*innen so verlässlich die Arbeit ausfallender Mitarbeiter*innen, wird das Übermaß an Arbeit so lange mit einem „Ich kann sie ja nicht einfach allein lassen“ toleriert und mitgetragen. Mitgeschleppt. Bis irgendjemand zusammenbricht, nicht mehr kann, monatelang krankgeschrieben ist oder von heute auf morgen kündigt und den Kolleg*innen kaum mehr Lebewohl sagt, aus Scham, das sinkende Schiff als Erster verlassen zu haben.

Der Leistungs- und Erfolgsdruck, oft schlicht der zeitliche Druck, und die immer höheren strukturellen Anforderungen wie Dokumentationspflichten, Innovationsdruck, unsichere Arbeitsverhältnisse und ständig wieder neu aufgestellte Teams, QM, Umstrukturierungen etc., fordern ihren Tribut.

2.3 Work-Life-Balance

„Tun Sie etwas für Ihre Work-Life-Balance!“ Sicher weckt der Begriff auch bei Ihnen Assoziationen wie etwa die einer Waage: auf der einen Seite Aktenordner, Teamsitzungen, Menschen, die etwas von Ihnen wollen, geschlossene Räume, viel zu wenig Platz, eine hektisch laufende Uhr. Auf der anderen Seite Licht, Farben, ein Fahrrad, Sonne, Strand, lachende Menschen, nette Familienmitglieder, Urlaub.

Abbildung 1: Work-Life-Balance

So stellt man sich das doch vor, oder? Da wird Leben mit Freizeit und Urlaub assoziiert. Und die Arbeit? Wann findet die statt? Ist sie ein Zustand jenseits des Lebens? Ein Zustand der Verdammnis? Das Land, aus dem man möglichst früh zurückkehrt, um weiter leben zu können, endlich leben zu können, noch einmal leben zu können? In vielen Hinweisen zur Selbstfürsorge oder zum Zeitmanagement wird dazu aufgerufen, eine deutliche Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen, die Überlappungen so gering wie möglich zu halten, die Übergänge bewusst zu vollziehen, Grenzen zu setzen.

Nein, wir plädieren nicht für 60-Stunden-Wochen und strikte Arbeits- und Zeitpläne vom Morgengrauen bis zum Abendappell. Auch wir sind für Grenzen, für unterschiedliche Bereiche in Ihrem Leben, die Sie immer wieder neu definieren sollten. Sie gehen fröhlicher ins Büro oder in die Kita, wenn das Wochenende angenehm verlaufen ist. Sie sollen sich natürlich auf den Urlaub freuen, den Sie lange geplant haben.

Darf man sich aber auch auf die Arbeit freuen? Ist das nicht ein bisschen eigenartig, fällt das nicht unter überengagiert oder Flucht aus dem Privatleben? Die Arbeit trägt das Vorzeichen der Pflicht, der Fremdbestimmung, die mit der Kita anfängt und mit der Berentung endet. Von zentraler Wichtigkeit, das ja. Aber darf man Arbeit gerne tun? Und trotzdem pünktlich die Tür abschließen, die Dienstübergabe beenden und den Kolleg*innen Tschüss sagen?

Zu oft ist Arbeit mit Klage, mit Plage assoziiert. Vorbilder dafür hatten und haben bestimmt auch Sie zuhauf. „Ich muss doch zur Arbeit“, ist wohl die häufigste Antwort, wenn Kinder, Geliebte oder Freunde sich mehr Kontakt, Zusammensein, Genuss wünschen und dies nicht möglich ist. Kaum jemand geht freudig zur Arbeit und kommt froh von dort zurück. Oft bleiben Sie zu lange weg, kommen zu spät nach Hause. Fast alle Entschuldigungen beginnen so: „Ich musste noch …, ich konnte nicht …“

Nicht von ungefähr hat sich in den 1980er-Jahren, einer Zeit, in der Deutschland als Wohlstandsgesellschaft markiert wurde (Lutz 1989), die Freizeit als Nonplusultra etabliert. Wer es sich leisten kann, macht in der knapp bemessenen Zeit jenseits der Arbeit aufwendige Urlaube, reist spätestens als Rentner*in einmal fast um die Welt. Work-Life-Balance heißt dann: Je aufwendiger die Freizeit gestaltet wird, je mehr Fun-Faktoren sie aufweist, desto besser scheint sie genutzt. Dem folgt auch das neue Konzept von „Self-Care“. Selbstfürsorge meint Freizeit, ist untrennbar mit Bildern von lachenden Menschen im Schnee oder am Strand verbunden; mit wohlgeformten Körpern im Saunatuch und beim Joggen oder vom Kreuzfahrtschiff winkenden Familien.

2.4 Selbstfürsorge als neuer Workload

Auch die Arbeitgeber*innen haben den Begriff Selbstfürsorge gelernt, die Ideen zur Effizienzerhöhung studiert und unsere obige Begründung längst verstanden. Sie bieten nicht nur kostenloses Mittagessen an, sondern auch Team-, Entspannungs- oder Snoozle-Räume („Die können Sie als Mitarbeiter*in doch auch mal nutzen, in der Pause!“). Der Chef*innen aktuelles Lieblingsspielzeug scheinen Weiterbildungen zu sein. Zum Thema Burnout, zu Entspannungs- oder Yogaübungen am Arbeitsplatz. „Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit“, raunt Marie von Ebner-Eschenbach (1911) im Hintergrund, und wir warten nur noch auf den Feierabend.

Selbstfürsorge droht zu einer zusätzlichen Anforderung im Berufsalltag zu werden, frei nach dem alten Motto: „Selbst schuld, wenn es dir schlecht geht.“ Wenn Sie Nackenschmerzen vom Berichteschreiben am Computer haben: „Geh doch in die Rückenschule!“ Wenn die Anforderungen an Interkulturalität, Sprachverständnis und Aggressionsregulierung ansteigen, der Personalschlüssel aber gleich bleibt und der Krankenstand wächst: „Wir haben doch erst kürzlich extra für Sie ein Seminar zum Umgang mit geflüchteten Menschen angeboten!“ Es sieht so aus, als sei nur immer mehr zu tun. Mehr Wissen anzuhäufen, mehr Informationen zu verarbeiten, mehr Techniken zu erlernen. Und alles muss man selbst machen. Nun auch noch selbst für sich sorgen!

Was also tun bei all den An-, Über- und Herausforderungen? Selbstfürsorge, so eine unserer Setzungen (siehe auch Hudnall Stamm 2002), sollte im psychosozialen Bereich als Grundbedingung für erfolgreiche Arbeit betrachtet und eingefordert werden. Sie müsste in allen Arbeitsverträgen als Standard formuliert sein, für den Mitarbeiter*in, Team und Leitung gemeinsam verantwortlich sind. Lässt ein*e Mitarbeiter*in es daran mangeln, übernimmt er*sie sich mit Überstunden, überzieht die Termine und lädt sich zu viel Arbeit auf, dann müsste zwangsweise eine zusätzliche Arbeitskraft eingestellt werden, um sie*ihn zu entlasten. Und die*der ausgepowerte Arbeitnehmer*in würde erst einmal in Urlaub geschickt. Es könnte ein Teilaspekt von Nachhaltigkeit sein, den man in QM-Büchern und auf Webseiten anführt: Dass es Voraussetzungen braucht, um die Beziehungsfähigkeit von Menschen aufrechtzuerhalten.

Könnte. Hätte. Sollte.

Solange das noch nicht der Fall ist, müssen wir uns leider doch selbst um Arbeitsqualität und Selbstfürsorge kümmern, sie zum Thema machen in Teamsitzungen, in Gesprächen mit Vorgesetzten, in Verhandlungen um Finanzierung und Ausstattung sowie in Netzwerken und politischen Gremien. Müssen uns auf dem Klo entspannen (s. Kap. 7.10), um im Kontakt mit unseren Klient*innen wieder ganz bei uns zu sein.

Ein Widerspruch? Ja klar. Es kann passieren, dass uns – ganz selbstversorgt – noch ein Kind mehr zugewiesen wird, eine Akte zusätzlich auf unserem Tisch landet. Ach, Sie haben doch noch Kapazitäten, oder? Es kann aber auch sein, dass wir uns dann lächelnd eher wehren, freundlicher abgrenzen und nach der Arbeit entspannter den Kopf schütteln können über das, was dort alles so passieren kann.

„Das ist doch Augenwischerei“, könnten Sie einwenden. „Erst macht Ihr das Feld der gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen auf, und dann sollen wir uns wieder um alles selber kümmern und uns bunte Kugelschreiber zulegen?“ Unser Vorschlag ist, dass Sie damit beginnen, sich selbst ernst zu nehmen und Selbstfürsorge zur Basis Ihrer Arbeit zu machen. Einfach nur, damit es Ihnen besser geht. Natürlich sichern Sie damit auch die Qualität Ihrer Arbeit, sorgen damit für Ihre Klient*innen – und Arbeitgeber*innen. Aber vielleicht gefällt Ihnen dieser Satz: „Wir sollten es uns nicht auch noch schlecht gehen lassen, wenn die Bedingungen schon schwierig sind.“ Wenn Sie aus den Vorschlägen für Ihre Selbstfürsorge die Kraft gewinnen, sich für andere Bedingungen einzusetzen – umso besser!


1  https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_(Betriebswirtschaftslehre) (24.8.18)

3. Werkzeugkunde

3.1 Wir sind das Werkzeug unserer Arbeit

Wir sind das Werkzeug unserer Arbeit, wir haben kein anderes. Auch wenn wir nicht explizit Atemtherapie, Bewegungsarbeit oder Stimmtraining anbieten, sind doch unser Körper, unsere Stimme, unsere Haltung, die Art und Weise, wie wir in unserem Körper zu Hause sein können und uns wohlfühlen, das Wichtigste, was wir in die Waagschale zu werfen haben – unser eigentliches Arbeitsmittel. Ist unser Werkzeug verbogen, dreckig oder nicht gut gepflegt, wird das Arbeitsergebnis schlechter.

Kennen Sie richtig gute Handwerker? Beobachten Sie einmal, wie sie ihr Werkzeug pflegen, wie sie darauf achtgeben, es sauber halten und immer an einen guten Platz legen. Sie kennen Ihr Arbeitsmaterial genau und wissen, was getan werden muss, um es optimal zu erhalten. So, wie in der Autoherstellung auch die Fertigungshallen ständig technischen und Sicherheitskontrollen unterzogen werden, sind Sie verantwortlich dafür, dass Sie selbst gut funktionieren. Schon aus eigenem Interesse. Sie wollen Ihren Körper ja auch für sich und Ihre Lieben noch einsatz- und genussfähig halten. Wenn also Ihre Arbeit durch vollen emotionalen Einsatz gekennzeichnet ist, sollten Sie besonders auf sich achten. Sie verkaufen Ihre Arbeitskraft, bringen aber gleichzeitig das Produktionsmittel noch mit.

Wenn Sie eine psychosoziale Arbeit tun, ist es nicht damit getan, sich zur Arbeit zu schleppen, sondern Sie sollten auch beziehungsfähig, regulationsfähig und konfliktkompetent bleiben. Wenn Sie nicht gut für sich sorgen, passiert, was immer passiert, wenn ein Werkzeug verbogen, dreckig, nicht funktionsfähig ist: Zum Ziel zu kommen dauert länger, manches geht gar nicht. Sie brauchen mehr Kraft und können nicht so sauber arbeiten. Im schlimmsten Fall geht Zielobjekt oder Werkzeug zu Bruch, weil Kraft und Mittel nicht mehr richtig angepasst werden können.

Selbstfürsorge ist im psychosozialen Bereich also kein Beiwerk, sondern ein grundlegendes Erfordernis. Zudem sind Sie Beispiel für die Menschen, mit denen Sie arbeiten. Im richtigen Gebrauch Ihres Werkzeugs geht es für Sie gleichzeitig immer um die Anleitung anderer.

Reichlich Gründe also, Selbstfürsorge jeden Tag im Gepäck zu haben: noch bevor Sie Ihr Werkzeug einsetzen, währenddessen und auch zum Ausklang beim Säubern und sorgsamen Wegpacken. Dazu später mehr. Lassen Sie uns zunächst aber einen Blick auf das Werkzeug selbst werfen.

3.2 Material und Zusammensetzung

Heute Morgen ist Franziska mit dem Fahrrad durch den Park gefahren. In Gedanken war sie schon bei der Arbeit, als sie hinter einer Ecke das Meer von Rosen sah – die Blüten mussten übers Wochenende aufgegangen sein. Dem nächsten Jogger strahlt sie unwillkürlich entgegen. Kurz zuvor noch hätte sie ihn missmutig betrachtet.

Ihre Stimmung hat sich spontan geändert, von einem Moment auf den anderen. Ganz ohne ihr Zutun und vielleicht auch ohne bewusste Assoziationen hat ihr Organismus den Blick auf das Rosenmeer mit angenehmen Erinnerungen verknüpft.

Assoziationen jeder Art, ob bewusst oder nebenbei aufgerufen, ob per WhatsApp im Vorbeigehen entstanden oder im Schreiben eines Briefes sorgsam ausgewählt, ändern mit der Stimmung auch alle anderen Zustände des Körpers – ist das nicht faszinierend? Atmung, Herzschlag, Hirnströme, Zellstoffwechsel, Muskelspannung, Blutzirkulation … das alles wird im Bruchteil einer Sekunde verändert, wenn wir einen starken emotionalen Eindruck aufrufen. Das hat dann auch Auswirkungen auf die anderen um uns. Ganz ohne dass wir es beabsichtigen oder die anderen etwas dazu tun müssten. Im Fall von Franziskas Fahrradfahrt durch den Park trifft es den Jogger, bei dem seinerseits wieder Assoziationsketten freigesetzt werden – vielleicht trabt auch er jetzt in einen angenehmeren Tag.

Wenn wir etwas tun, wir etwas wahrnehmen, ist unser gesamter Organismus beteiligt, Gefühle und Denken. Oft nehmen wir wahr oder reagieren, ohne dass uns das bewusst wäre. Diesen gesamten Prozess bewusster oder unbewusster Wahrnehmung, das Abgleichen von Erfahrungen mit Bekanntem, die Suche nach Einordnungsmöglichkeiten, das Abspeichern von dazugehörigen Gefühlen, Körperzuständen und Gedanken, die Zuordnung von Raum, Zeit und letztlich Sinn in unserem Wertsystem – das nennen wir Verarbeitung. Das Wenigste davon kommt uns jemals zu Bewusstsein. Um besser zu verstehen, was da passiert, macht es Sinn zu betrachten, wie Körper und Geist dabei zusammenspielen.

3.3 Denker*in

Unser Gehirn lässt sich für unsere Zwecke in zwei funktionelle Bereiche unterteilen. Da sind die Areale, die wir mit anderen Säugetieren – sagen wir mit einem Häschen – gemeinsam haben, und jene, die uns zu ganz besonderen Säugetieren machen, eben zu Menschen mit einer hohen Fähigkeit, die Welt um uns zu verändern und nach unserem Willen zu gestalten. Diese Funktionen können wir einer Denker*in zuordnen. Mit den äußeren Schichten unseres Gehirns nehmen wir bewusst wahr, entscheiden und kontrollieren wir, denken wir nach und planen wir. Natürlich haben auch Häschen eine Großhirnrinde, doch die menschliche ist schon speziell in ihren Möglichkeiten. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob diese Ausstattung die sinnvollere Variante für das Überleben des Planeten ist …

Mithilfe des Bewusstseins, der Reflexion und der Sprache lösen wir Rechenaufgaben und entscheiden, welche Themen wir in die Teamsitzung einbringen wollen. Außerdem ist die Großhirnrinde unser großer Speicher für alle gut verarbeiteten Erinnerungen und Wahrnehmungen. Die Ausprägung und Qualität der Denker*in ist das zentrale Merkmal, durch das wir uns von den meisten Tieren unterscheiden. Nur sind die Durchführung, Umsetzung und Kontrolle all dessen, was wir uns vornehmen und wovon wir überzeugt sind, nicht immer so einfach, denn da ist ja auch noch …

Abbildung 2: Zusammenarbeit der Hirnteile (Hantke & Görges 2012, S. 38)

3.4 Häschen

Ganz automatisch und ohne darüber nachzudenken atmen wir ein und aus, schlägt unser Herz in der Brust, haben wir eine fast konstante Körpertemperatur und einen mehr oder minder hohen Blutdruck. Wir schwitzen, wenn es zu warm ist, und frieren bei Kälte. Ohne Zutun unseres bewussten Denkens bewegen wir uns so, wie wir es gelernt haben, laufen oder rennen, erklimmen Berge, schwimmen, fahren Fahrrad oder Auto. Schöne, aufregende oder beängstigende Situationen führen sofort zu körperlichen Reaktionen wie schnellerem Herzschlag, Schweißausbrüchen, wackeligen Knien, angenehmer Wärme oder heißen und kalten Schauern, Anspannung oder Entspannung, je nachdem. Freude, Wut oder Angst und andere Gefühle entstehen im Körper und werden erst danach bewusst wahrnehmbar und von uns benannt. Kommt der Kampfhund ohne Leine auf mich zugerast, schlägt mein Herz schneller, mein Blutdruck steigt, mir stockt der Atem, das Blickfeld engt sich ein, die Muskeln spannen sich an und all das, bevor ich die Entscheidung getroffen habe, was zu tun sei – falls das überhaupt noch möglich ist. Doch dazu später.

Unser Körper funktioniert ganz ähnlich wie der von anderen Säugetieren, egal ob Elefanten, Delfine oder Affen. Was nicht wirklich überraschend ist, schließlich sind auch wir Säugetiere. Die Strukturen in unserem Gehirn, die all diese Prozesse jenseits aller Aufmerksamkeit steuern, sind viel älter als das bewusste Denken. Dazu gehören Hirnstamm, Kleinhirn und limbisches System, die wir mit allen Säugetieren gemeinsam haben. Und diese Strukturen spielen eine wichtige Rolle, um den Organismus aufrechtzuerhalten, Bewegungen in Gang zu bringen und Gefühle zu generieren. Sie sind für unser Leben und im Falle von Bedrohung auch für unser schnelles Überleben sehr viel wichtiger als die Großhirnrinde, die uns das bewusste Denken ermöglicht, aber erst mit Verzögerung reagiert.

Sie kennen das: Der Schokoriegel erliegt ganz schnell den Kaumuskeln; so schnell können Sie bewusst gar nichts verhindern. Sie reißen das Kind vom Fenster zurück oder schreien vor Schrecken laut auf. Erst danach nehmen Sie vielleicht wahr, dass dieses Fenster nur gut geputzt und die Ameise nicht ganz so schrecklich war.

Für das Säugetier in uns haben wir als Bild einen jungen Hasen gewählt, das Häschen. Auf unbewusster Ebene und in seinen primären Funktionen wird der Körper in der Kindheit geprägt und später immer dann, wenn es um Leben und Tod geht. Das Häschen ist der Teil von uns, der für alle automatischen und lebenserhaltenden Funktionen zuständig ist.

Das Häschen

3.5 Denker*in und Häschen: Zusammenarbeit und Voraussetzungen

Im Normalfall arbeiten Denker*in und Häschen ganz gut zusammen. Das Häschen sorgt für die schnelle Anpassung an die Alltagsanforderungen, die Denker*in verarbeitet die Informationen und macht Geschichten über unser Leben daraus. Er*sie beruhigt das Säugetier in uns, wenn wir zu angestrengt sind, und nimmt das Häschen an die Hand, wenn Angst die Möglichkeiten einengt oder Wut wenige Alternativen lässt. Wichtig dafür ist, dass die Chemie zwischen beiden stimmt. Wenn das Häschen schon zu verspannt ist, zu lange in einer Situation verharren musste, aus der es fliehen will, verliert die Denker*in an Einflussmöglichkeit. Das ist ein bisschen, als hätten Sie einen Dreijährigen an der Hand, der dringend ein Eis möchte. Ist die Lust noch frisch, können Sie noch ablenken oder beruhigen, kann der Konflikt noch abgewendet werden. Sind beide Beteiligten nicht mehr im Lot, ist das Notfallprogramm unabwendbar (vgl. auch Graf & Seide 2016).

Um für uns sorgen und schnell reagieren zu können, müssen also wir in erster Linie merken, was da in unserem Körper gerade passiert. Ob wir Hunger oder Durst haben, auf die Toilette müssen, ob die Schultern verspannt sind, uns Müdigkeit überfällt oder wir diesen Raum unbedingt einmal verlassen müssen. Als kleine Kinder haben wir Jahre und viel Unterstützung von fürsorglichen Erwachsenen gebraucht, bis wir lernten, die Sprache unseres Körpers zu verstehen. Am Beispiel dieser Erwachsenen haben wir gelernt. Und das war mal gut, mal schlechter, mal aufmerksam, mal nachlässig oder auch strafend. Nur wenn wir achtsame Strategien gelernt haben, werden unsere Körper geschmeidig auf neue Anforderungen reagieren. Andernfalls reagieren wir mit verstärkter Kontrolle und lösen so einen Konflikt aus, der sich oft zeitlich verzögert in Krankheit oder Schmerzen äußert.

Wie ist es bei Ihnen? Nehmen Sie Ihren Körper während der Arbeit wahr? Können Sie frühzeitig sinnvolle Entscheidungen treffen? Wollen Sie etwas ändern? Was bräuchten Sie? Welche Lösung ist momentan machbar?

Wenn Sie wissen, dass Ihr Körper spätestens alle halbe Stunde einmal Bewegung braucht oder es ihm mit einem Glas Wasser besser geht, können Sie Schritte einleiten. Es wird nicht immer der Gang nach draußen sein, aber vielleicht hilft ein leichtes Schaukeln auf dem Stuhl. Oder in der Tasche wartet schon ein Igelball, den Sie in die Hand nehmen können.

Wenn das nicht reicht, vermitteln Sie verbal, was Sie tun: „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich muss jetzt mal aufstehen, das Gespräch über Frau F. macht mich immer ganz hilflos und starr. Vielleicht können wir eine von den Bewegungsübungen aus dem Workshop machen?“

Der Körper reagiert nicht immer gleich, und wenn er schon eine Weile vernachlässigt wurde, oft nicht schnell. Also braucht es vielleicht doch den Gang aufs Klo oder eine still für sich gemachte Atemübung, um wieder in seiner Kraft zu sein. Gut wäre es, sich das zu merken oder für die nächste Teamsitzung zwei kleine Übungen bereitzuhalten. Was das alles sein kann, darum geht es ja in diesem Buch.

Wenn wir zusammenfassen, was die Zusammenarbeit zwischen Denker*in und Häschen umfassen sollte, ergibt sich als kleines Standardprogramm:

Erdem weiß genau, wann er an seine Grenzen kommt, das hat er gelernt, nachdem er fast einen Burnout hatte. Teamstreitereien und Dokumentation sind für ihn rote Tücher. Im Team versucht er dann, seine Füße auf dem Boden deutlicher wahrzunehmen und bewegt sie ein bisschen hin und her. Das ist ihm schnell zur Gewohnheit geworden, manchmal legt er sich jetzt ein Steinchen in den Schuh, damit er den Unterschied noch merkt. Bei der Doku ist das schwieriger: Wenn der Cursor über dem leeren Textfeld blinkt, weiß er, dass er tief atmen muss – schreiben ist nicht sein Ding. Meistens macht er das auch. Manchmal ist es allerdings schon zu spät. Dann muss er erst einmal aufstehen und mit einem der Kinder Kontakt aufnehmen, damit er wieder weiß, warum er die Arbeit tut. Das ist inzwischen ganz gut etabliert. Erdem macht die Dokumentation jetzt oft in der Zeit, wenn die Kinder abends versorgt sind und er nur noch auf Nachfragen reagiert oder von sich aus eine Runde dreht. Das klappt ganz gut. 

3.6 Erinnerungen nutzen