Für Carsten, Florian, Fanita und Filip.

Vorwort

Dies ist ein ungemein praktisches Buch, um gleich einen der größten Vorteile zu benennen. Alice Romanus-Ludewig ist es gelungen, ein Kompendium zusammenzustellen, das jedem eine Hilfe bietet, der eine Systematik für die Praxis der Traumatherapie sucht: Wie geht Traumatherapie? Was kommt wann „dran“? In welcher Reihenfolge sollten die traumatherapeutischen Interventionen erfolgen? Antworten auf diese und ähnliche Fragen werden nicht nur für alle Professionellen interessant sein, die sich einem leidgeprüften Menschen gegenübersehen und zweifeln, wo sie anfangen sollen und „wie dann weiter“. Sondern die Rat- und Hilfesuchenden selbst werden hier fündig, wenn sie sich fragen, was denn Traumatherapie eigentlich leisten kann, was man da „macht“, wie das geht. Es wird sie vielleicht trösten zu lesen, dass es immer erst darum gehen wird, positive Erfahrungen wiederzubeleben, sich weiter zu stabilisieren, und erst dann darum, sich mit dem Grauen zu konfrontieren, um dessen Nachwirkungen zu verstehen, abzumildern oder sogar ganz loslassen zu können.

Die Autorin hat sich einen eigenen Namen für die Therapie-Inhalte ausgedacht: RebiT, also Resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie. Damit sind bereits zwei Schwerpunkte ihrer Arbeit benannt: Ressourcenaktivierung (Resilienz) und Bindungsorientierung. Entlang der üblichen Pfade der Traumabehandlung erläutert Frau Romanus-Ludewig nicht nur aus ihrer Praxiserfahrung heraus und anhand anschaulicher Beispiele, was diese Bereiche der Traumatherapie ausmacht, sondern sie ergänzt dies um Übungen, die leicht erlernbar, hilfreich und unterstützend sind, sowie wertvolle Erläuterungen zum Transfer in die jeweiligen Settings.

In den ersten Kapiteln werden das Konzept und die Vorgehensweise erläutert, zu dem auch – was leider vielen KollegInnen immer noch nicht selbstverständlich ist – ein intensives Bindungsinterview gehört. So legt Alice Romanus-Ludewig überhaupt im gesamten Verlauf der Therapie großen Wert auf Gespräche über die jeweilige Bindungssituation zwischen TherapeutIn und KlientIn. Erst danach folgt bei ihr ein Kapitel über traumaassoziierte Störungsformen – ein Aufbau, der zeigt: Traumadiagnostik ist Prozess-Diagnostik. Erst wenn unsere KlientInnen uns vertrauen und nur solange die Beziehung stimmt, geben sie uns nach und nach zu erkennen, was sie verstört, was ihnen fehlt, was sie brauchen und wo sie allein nicht weiterkommen.

Im Anschluss an diese Kapitel folgen weitere zum Ablauf der Traumatherapie, dazu gehört zunächst ein gründliches (Wieder- oder Weiter-)Aufbauen von Fähigkeiten, Kenntnissen und erfolgreichen Lebensstrategien. Dabei gefallen mir auch manche Sammelbegriffe der Autorin wie zum Beispiel die „Big Five der Stabilisierungsphase“. Darunter versteht Romanus-Ludewig das Erinnern und Verankern positiver Lebensereignisse, Imaginationsübungen, die Erarbeitung und Anwendung einer brauchbaren Skills-Liste, die Arbeit mit dem Spannungsregler und schließlich die Teilearbeit auf der inneren Bühne.

Die Traumadurcharbeitung schließlich braucht den richtigen Zeitrahmen, Motivation und ein sanftes, sorgsam kalibriertes Vorgehen, das die Autorin mit eigenen Praxiserfahrungen, Übungen und Hinweisen anreichert, wobei sie vor allem die Bildschirmtechnik zum Bearbeiten wählt, aber auch auf andere traumatherapeutische Bearbeitungsmöglichkeiten hinweist.

Besonders erfreulich: Die Autorin bleibt nicht am Ende der Durcharbeitung stehen, sondern betont ausdrücklich, wie wichtig es ist, die Trauerarbeit therapeutisch zu begleiten – für das die Klienten oft erst nach dem Erkennen und Anerkennen des eigenen Leids inneren Raum finden. Anschließend weist Alice Romanus-Ludewig noch auf verschiedene andere Störungsformen und Anwendungsbereiche ihres Ansatzes hin und schließt das Buch mit einigen im Anhang befindlichen Fragebögen und anderen sinnvollen Tools ab.

Dieses Buch empfehle ich allen, die Klarheit in ihr traumatherapeutisches Vorgehen bringen wollen, Struktur für die sonst oft unübersichtliche psychotherapeutische Begleitung traumatisierter Menschen brauchen und sich von originellen, teils auch neuen Zusammenstellungen und Übungen anregen lassen möchten.

Hier denkt, arbeitet und schreibt eine psychotherapeutische Kollegin, von der ich gern noch mehr hören und lesen möchte. Das werden sicher viele therapeutisch Tätige nach der Lektüre denken. Und wer selbst eine Traumatherapie sucht, wird in diesem guten, klaren, sehr schön lesbaren und sorgsam gestalteten Handbuch Ermutigung finden, sich nicht zu begnügen mit den schlechten Verhältnissen, sondern sich kompetent und bindungsorientiert auf dem Weg „heraus aus der inneren Not“ begleiten zu lassen. Wie gut, dass Frau Romanus-Ludewig auch KollegInnen ausbildet, denn das Buch wird viele neugierig machen.

Michaela Huber im Frühjahr 2019

Einleitung

Resilienz- und Bindungsorientierung in der Traumatherapie – das ist doch nichts Neues, werden Sie sich jetzt vielleicht denken. Ja und Nein …

Ja, alle traumatherapeutischen Therapieansätze sind in gewisser Weise resilienz- und bindungsorientiert. Die psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen knüpft immer zuerst an deren Ressourcen bzw. deren Resilienz an. Die Klientinnen1 und Klienten sind durch d2ie ständige Präsenz des Traumas und die damit zusammenhängenden Symptome stark beeinträchtigt. Um eine erfolgreiche Traumabearbeitung durchstehen zu können, ist daher das Wiederentdecken der eigenen Widerstandskräfte unabdingbar. Es gilt, den so häufig sich aufdrängenden Schreckensbildern positive Bilder entgegenzusetzen, neben den oft kaum aushaltbaren Gefühlszuständen wieder angenehme Erfahrungen und Gefühlszustände zu ermöglichen. Und es gilt natürlich, den oft mit dem Trauma verbundenen schockierenden Beziehungserfahrungen wieder neue Erfahrungen folgen zu lassen, die von Vertrauen und Verlässlichkeit gekennzeichnet sind. In dieser Hinsicht ist also die resilienz- und bindungsorientierte Arbeit in der Traumatherapie nichts Neues, sondern Bestandteil aller traumatherapeutischer Ansätze.

Nein, denn die in diesem Buch vorgestellte Resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie (RebiT) stellt doch eine Ergänzung der bisherigen Ansätze dar. Das bezieht sich vor allem auf die eingängige Struktur und die hohe Praxistauglichkeit.

Im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen2, die mit mir die Weiterbildungen absolvierten, stellte ich fest, dass viele noch mehr Unterstützung dabei wünschten, das traumatherapeutische Wissen und Können in der Praxis zielgerichtet anzuwenden: Die Fülle an Übungen und Materialien war zu groß, vieles geriet im Laufe der Zeit in Vergessenheit, weil es nicht angewendet wurde. Mir selbst erging es ähnlich. Ich erinnere mich an Versuche, das Gelernte umzusetzen, und das sich schnell einsetzende Gefühl, den Überblick zu verlieren angesichts der vielen Möglichkeiten, traumatherapeutisches Handwerkszeug einzusetzen. Das verunsicherte und wirkte sich nicht zuletzt auf die Begleitung der Klientinnen nachteilig aus.

Ich möchte an dieser Stelle unbedingt einem Missverständnis vorbeugen: Die beschriebenen Umsetzungsprobleme sind aus meiner Sicht „typisch Mensch“, denn wir neigen dazu, bei Widerständen schnell zum Vertrauten und Gewohnten zurückzukehren. Das gilt natürlich auch für therapeutisch arbeitende Menschen, deshalb gerät viel Erlerntes in Vergessenheit. Ich möchte also keine Kritik üben an den Weiterbildungen und deren Qualität. Die Weiterbildungen, die ich absolvierte, waren in jeglicher Hinsicht exzellent und nicht nur fachlich, sondern auch menschlich sehr bereichernd. Wegen der dennoch bestehenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung in die therapeutische Arbeit, die ich in meinem Alltag selbst erlebte und auch im kollegialen Austausch wahrnahm, wollte ich einen Beitrag für die bessere Umsetzbarkeit des so wertvollen Erlernten leisten. Der RebiT-Ansatz soll also eine zusätzliche Hilfestellung bieten an der Schnittstelle zwischen Lernen und Umsetzen in der Praxis. So entwickelte ich ganz allmählich eine eigene Struktur, die mir half, sinnvolle Standards zu setzen, wichtige Teilschritte in der Therapie nicht zu übergehen und mich nicht länger in einzelnen Aspekten zu verlieren. Auf diese Weise sind z. B. die „Big Five der Stabilisierungsphase“ entstanden. Sie bilden auch das Grundgerüst für den hier vorgestellten Ansatz (Kap. 2). Ergänzende und weiterführende Übungen sind natürlich nach dem Einüben der Basics möglich und erwünscht. Beispiele für ein sinnvolles Vorgehen finden Sie in diesem Buch.

Auch die Frage, wie Aspekte der Bindung konkret in die traumatherapeutische Arbeit übersetzt werden können, beschäftige mich weiterhin. So entwickelte sich im Laufe der Zeit bei mir die Idee, mithilfe des regelmäßigen Bindungsgespräches bzw. Therapiefeedbacks den Austausch mit Klientinnen über die Qualität der therapeutischen Beziehung aufrecht zu halten. Dies sollte auch wichtige Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Klient und anderen Bezugspersonen haben.

Eine gute Struktur und hilfreiche Arbeitsmaterialien können natürlich niemals Ersatz sein für die allem zugrunde liegende ressourcenorientierte, respektvolle und annehmende Haltung der Klientin gegenüber. Eine gesunde Struktur muss immer auch flexibel bleiben, auf die Klientin zugeschnitten werden und die Besonderheiten des Einzelnen berücksichtigen. Niemals dürfen Klientinnen gezwungen werden, bestimmte Übungen durchzuführen, wenn sie dies ablehnen. Selbstbestimmung, Respekt und Würde verbieten jeglichen Druck, Zwang oder ein starres Festhalten am „Therapieplan.“

Das gesunde Ausbalancieren zwischen Struktur und Flexibilität bleibt bei allen Therapieformen eine wichtige Herausforderung. Auch darum wird es in diesem Buch gehen.

Neben praktischen Schritt-für-Schritt-Anleitungen habe ich die wichtigsten theoretischen Hintergründe (Traumamechanismen, Traumaphysiologie, Hirnbiologie, Diagnosen) in diesem Buch aufgegriffen und dargestellt. Genau das auszuwählen, was notwendig ist, um kompetent in der Praxis zu sein, ohne dieses Handbuch mit zu viel Theorie zu überfrachten, war nicht leicht. Um es anschaulicher zu machen und stets Brücken zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, habe ich den Text um erklärende Grafiken und Abbildungen erweitert.

Wie jede Therapieform ist auch die Traumatherapie immerzu im Wandel und kluge Köpfe bemühen sich um Verbesserungen und Ergänzungen. Damit dies auch weiterhin – zum Wohl der Klienten – gewährleistet ist, bin ich gespannt auf Ihre Rückmeldungen! Feedback dazu, was Sie als hilfreich erlebt haben, und Anregungen, was noch besser werden könnte, sind willkommen. Lassen Sie uns im Austausch bleiben. Ich freue mich darauf.


1  Mit der Bezeichnung „Klient“ möchte ich zum Ausdruck bringen, dass sich der traumatisierte Mensch stets auf Augenhöhe mit den Behandelnden befindet. Therapeuten, die im kassenärztlichen Rahmen tätig sind, sprechen in der Regel eher vom „Patienten“. „Klient“ ist in diesem Fall dazu synonym zu verstehen.

2  Ich möchte in meinem Buch möglichst gendergerecht schreiben. Daher habe ich mich dazu entschlossen, die weibliche und die männliche Form abwechselnd zu gebrauchen.

4. Traumaassoziierte Störungen

4.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Auch in einem praxisorientierten Buch wie diesem ist eine Beschäftigung mit traumaassoziierten Diagnosen unvermeidbar. Unsere therapeutische Arbeit kann nur präziser und effektiver werden und somit den Klienten besser helfen, wenn wir sicher sind im Umgang mit Diagnosen. Wir diagnostizieren zu selten Traumafolgestörungen, weil wir die vielen Varianten und Erscheinungsbilder von traumaassoziierten Symptomen noch nicht gut genug kennen. Später, wenn unser Wissen gewachsen ist, kann es hingegen passieren, dass zu viel „Traumafolgestörung“ diagnostiziert wird, weil wir nicht mehr genau genug von anderen Diagnosen abgrenzen. Ob Sie Anfänger sind oder „alter Hase“ – in jedem Fall ist es notwendig und vor allem im Sinne der Klienten, traumaassoziierte Diagnosen ausschließlich vor dem Hintergrund fachlich fundierter und differenzierter Betrachtungen stellen zu können.

Und nun noch etwas scheinbar Banales: Traumatherapie (insbesondere die Traumakonfrontation) kann nur bei einem zugrunde liegenden Trauma durchgeführt werden. Wir können nur das behandeln, was sich zeigt. Wir können niemals von einer bestimmten Symptomatik auf ein auslösendes Ereignis schließen. Wenn beispielsweise eine Frau sexuelle Probleme und gleichzeitig eine dissoziative Symptomatik hat, ist es ein „Kunstfehler“, aufgrund der Symptome auf die Diagnose sexueller Missbrauch in der Kindheit zu schließen.

Frau K. (36) kam zum Erstgespräch in aufgelöstem Zustand. Sie berichtet, ihr Therapeut in der vorangegangenen Therapie habe ihr gesagt, sie sei wohl als Kind sexuell missbraucht worden und solle daher eine Traumatherapie machen. Seit dieser Aussage sei sie völlig durcheinander und habe sich gefragt, ob dies stimmen könne und wer der Täter gewesen sein könnte. Den Verdacht auf sexuellen Missbrauch begründete der Therapeut mit der Tatsache, dass sie sexuelle Probleme hatte (Lustlosigkeit) und teilweise unter „dissoziativen Sensibilitätsstörungen“ in den Beinen litt. Es stellte sich dann im Verlauf der Vorgespräche heraus, dass sie die Beschwerden noch nie ärztlich hatte abklären lassen. Eine neurologische Untersuchung ergab einen Bandscheibenvorfall als Ursache für die Sensibilitätsstörungen. Die sexuelle Problematik war Ausdruck eines Paarkonfliktes, welchen sie und ihr Partner im Rahmen einer Paartherapie zwar nicht ganz auflösen, aber doch „entschärfen“ konnten.

Dieses Beispiel zeigt mehr als deutlich, wie wichtig es ist, eine „saubere“ Diagnostik zu betreiben und erst dann einen Behandlungsplan aufzustellen!

Ich habe mich bemüht, mich in diesem Kapitel auf das Wesentliche zu beschränken. Es handelt sich also um eine Art Basic zum Thema Diagnostik und Diagnosen. Neben einer fundierten Aus- und Weiterbildung empfehle ich, sich insbesondere über die komplexe PTBS und die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) weiter zu informieren und vertiefende Literatur zu lesen. Einige hilfreiche Titel sind im Literaturverzeichnis zu finden. Besonders empfehlenswert sind in diesem Zusammenhang die Bücher von Michaela Huber (Multiple Persönlichkeiten, 2004; Der Feind im Innern, 2013, u. a.).

Zur Geschichte der PTBS

Erst mehrere Jahrzehnte, nachdem erstmals die Symptome von Traumatisierten beschrieben wurden, fanden sie Eingang in die offizielle Diagnoseklassifikation. 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung in das amerikanische Diagnoseschema DSM III aufgenommen, später dann auch ins internationale Klassifikationssystem ICD-10. Warum dies so lange gedauert hat, ist nicht ganz klar. Möglicherweise waren Psychiatrie und Psychotherapie zu sehr mit der „endogenen“ Verursachung von Krankheiten beschäftigt gewesen, mit genetisch bedingten und durch innerseelische Fantasiebildung überformten neurotischen Symptomen.

Die Beschäftigung mit der PTBS hat mehr Verständnis dafür geweckt, wie die Physiologie, hirnbiologische Vorgänge, Wertesysteme und die Persönlichkeit eines Menschen durch die realen Erfahrungen geformt werden.

Die Anerkennung der PTBS-Diagnose führte zu einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien, die das Wissen über Entstehung, Symptomatik und auch Behandlungsmöglichkeiten massiv erweitern konnten. Die Diagnose barg die Chance in sich, Betroffenen eine Legitimierung und Validierung ihres Leidens zu verschaffen. Ein Solidaritätsgefühl mit Mitbetroffenen kann stützend wirken und das Gefühl reduzieren, „verrückt“ oder von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein.

Wie bei jeder Diagnose lässt sich jedoch nicht ganz ausschließen, dass es auch durch den „PTBS-Stempel“ zu Stigmatisierungen kommen kann. Ähnlich wie bei der Diagnose der Depression wirkt zwar Aufklärung insgesamt einer Stigmatisierung entgegen, kann sie aber nicht ganz verhindern. Auch ist klar, dass die Diagnose PTBS eine Vereinfachung darstellt und nicht die Gesamtheit des Leids eines Betroffenen mitsamt den ganz persönlichen Reaktionsweisen und Bewältigungsversuchen erfassen kann.

Es ist nicht einfach, die initialen „normalen“ Reaktionen auf ein Trauma von einer beginnenden PTBS zu unterscheiden. So ist z. B. das Symptom der Intrusion als eines der Leitsymptome der PTBS direkt nach einem Trauma bei praktisch allen Betroffenen zu finden (McFarlane 1992, Creamer, Burgess & Pattison, 1992). Die Intrusionen, also das Wiedererinnern und Wiedererleben von psychotraumatischen Ereignissen, haben offensichtlich die Funktion, dass der Betroffene sich mit dem Ereignis beschäftigt, sich als Folge davon in Sicherheit bringt, möglichst aus der Erfahrung lernt und Konsequenzen daraus zieht. Die ständige Erinnerung ist auch ein Versuch des Gehirns, das Erlebte zu integrieren.

Gelingt dies, wird das Trauma im Gedächtnis gespeichert als ein schlimmes Erlebnis, welches aber der Vergangenheit angehört. Kann dieser Prozess nicht zu einem guten Abschluss geführt werden, fangen die Symptome an, sich zu „verselbstständigen“ und bahnen die Entstehung der Posttraumatischen Belastungsstörung.

Diagnosekriterien der PTBS und assoziierte Störungsbilder im ICD-10

Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung wird in der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Herausgeber der deutschen Version: Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) folgendermaßen beschrieben: Als Voraussetzung zur Diagnosestellung PTBS muss ein „belastendes Ereignis“ oder eine „Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes“ (kurz oder lang anhaltend) vorliegen.

Es werden mehrere mögliche verursachende Ereignisse aufgezählt: Naturereignisse, von Menschen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwerer Unfall, Zeugenschaft des gewaltsamen Todes anderer, Folter, Terrorismus, Vergewaltigung oder „andere Verbrechen.“

Als die wichtigsten Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) werden vor allem vier Kategorien aufgeführt:

1. Intrusionen

Beschrieben wird hier das „wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen.“

Eine ältere Frau wird abends von einem jungen Mann angesprochen. Er verwickelt sie erst in ein Gespräch und versucht dann, ihr die Handtasche zu entreißen. Als sie versucht, sie festzuhalten, zückt der Mann ein Messer und hält es ihr vors Gesicht. Die Frau überlebt das Geschehen unverletzt, in den darauffolgenden Wochen sieht sie aber immer wieder die Szene vor sich: wie der Mann plötzlich das Messer zückt und es ganz nah vor ihr Gesicht hält.

Eine Teenagerin muss mit ansehen, wir ihr Hund, der sich von der Leine losgerissen hatte, von einem Auto erfasst wird. Kurz darauf stirbt er. Das Mädchen sieht immer wieder die Szene vor sich, wie ihr Hund gegen das Auto prallt, aufjault und durch die Luft geschleudert wird.

2. Numbing

(Dieser in der traumatherapeutischen Literatur immer wieder verwendete Begriff, der übersetzt „Dumpfheit“ bedeutet, taucht in der ICD-Beschreibung nicht auf, fasst aber die Beschreibung dort gut zusammen.)

Es wird ein „andauerndes Gefühl von Betäubtsein, emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Anhedonie“ beschrieben.

„Sie hat sich total verändert“, sagen die Freundinnen der Studentin, die bei ihrem Job an der Supermarktkasse plötzlich mit einer Waffe bedroht und aufgefordert wurde, die Kasse zu öffnen. Sie selbst fühlt sich wie „abgeschnitten“ von ihren Gefühlen, kann seit dem Vorfall weder lachen noch richtig traurig sein.

Der junge Mann, der während eines Auslandsaufenthaltes Zeuge eines Mordes auf offener Straße wurde, zieht sich seit seiner Rückkehr massiv zurück. Er vermeidet Treffen mit Freunden und beendet sogar die Beziehung zu seiner Freundin, weil er „zurzeit nichts fühlen kann.“

3. Vermeidung

„Üblicherweise finden sich Furcht vor und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten (…), Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, die den Leidenden an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten.“

Ein Mann wird bei einem Auffahrunfall in einem Tunnel schwer verletzt. Seitdem vermeidet er konsequent jede Tunnelfahrt, selbst wenn das für ihn einen großen Umweg bedeutet. Manchmal kann schon das Wissen, sich in der Nähe eines Tunnels zu befinden, Schweißausbrüche bei ihm hervorrufen.

Als die Auszubildende sich als angehende Erzieherin in einer Unterrichtseinheit mit dem Thema sexueller Missbrauch beschäftigen muss, spürt sie, dass dieses Thema ihr emotional den Boden unter den Füßen wegreißt. Sie entscheidet kurzerhand, ihre Ausbildung abzubrechen. Hintergrund ist, dass sie als kleines Mädchen über ein Jahr lang von einem Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht wurde.

4. Hyperarousal / Hypervigilanz

„Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit auf.“

Nachdem eine Frau nachts überfallen wurde und nur knapp einer Vergewaltigung entkam, fühlt sie sich unter „Dauerstress“. Sie kann nicht mehr abschalten, vor allem bei einbrechender Dunkelheit wird sie immer unruhiger. Zum Einschlafen braucht sie mehrere Nachtlichter, wenn sie nachts aufwacht, ist sie sofort hellwach, traut sich aber nicht, zur Toilette zu gehen. Tagsüber zuckt sie bei lauteren Geräuschen zusammen, auch wenn ihr eigener Hund bellt.

Ein kleines Mädchen ist wegen erlittener körperlicher Gewalt durch beide Eltern aus der Familie herausgenommen worden und lebt jetzt in einer Pflegefamilie. Es fällt auf, dass sie in Anwesenheit erwachsener Personen diese andauernd mit weit aufgerissenen ängstlichen Augen beobachtet. Verändert sich die Mimik einer Person in Richtung Missfallen oder gar Ärger, wird sie extrem ängstlich und verkriecht sich in eine Ecke des Zimmers.

Über diese wichtigsten diagnostischen Kriterien hinaus, werden im ICD-10 noch häufig assoziierte Phänomene der PTBS beschrieben:

Diese assoziierten Phänomene sind es, die dazu führen, dass Klienten mit PTBS oft erst andere Diagnosen erhalten, und es manchmal lange dauert, bis klar wird, dass die ängstliche, aggressive oder depressive Symptomatik, möglicherweise auch das Suchtverhalten mit einer traumatischen Erfahrung in Verbindung steht. Teilweise gehen Betroffene jahrelang zu verschiedenen Fachärzten, unterziehen sich (evtl. unnötigen oder auch schädlichen) ärztlichen Behandlungen, die das zugrunde liegende Trauma nicht berücksichtigen.

Die Diagnosebeschreibung enthält auch noch einen Hinweis darauf, dass in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung erwartet werden kann, es jedoch auch chronische Verläufe gibt, die dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung übergehen können (F62.0: andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung). Diese traumabedingte Persönlichkeitsveränderung ist durch misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialen Rückzug, Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit, chronische Nervosität und Entfremdung gekennzeichnet. Diese Persönlichkeitsveränderung hat Ähnlichkeiten mit der sogenannten Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS), die aber im ICD-10 nicht aufgeführt ist, aber im ICD-11 enthalten sein wird..

Akute Belastungsreaktion (F43.0)

Bei der hier beschriebenen Symptomatik handelt es sich um die Initialreaktion auf ein Trauma bzw. eine schwere Belastung. Die Belastungsreaktion beginnt typischerweise innerhalb von Minuten nach dem Ereignis mit einer „Betäubung“, einer „gewissen Bewusstseinseinengung“, einer „Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten“, sowie „Desorientiertheit“ (hier wird die Dissoziation beschrieben). Anschließend kann es zu einem Rückzug kommen oder auch zu Unruhezuständen mit Überaktivität bis hin zur Flucht oder dissoziativer Fugue (s. u.). Es treten darüber hinaus auch „vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten“ auf. Die Symptome der akuten Belastungsreaktion gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, manchmal auch innerhalb von Stunden zurück.

4.2 Dissoziation und dissoziative Störungen

Dass bei der Beschreibung der PTBS-Symptomatik im ICD-10 keine dissoziativen Phänomene klassifiziert werden, hat einen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Lange Zeit liefen die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zum Thema Traumafolgestörungen einerseits und dissoziative Erkrankungen andererseits strikt getrennt. Erst später entdeckte man, dass es sich um ein und dieselbe Krankheitsentität handelte. Inzwischen sind sich die Experten einig, dass Trauma und Dissoziation zusammengehören, es wird sogar davon ausgegangen, dass es vom Ausmaß der Dissoziation im schlimmsten Moment des Traumas abhängt, ob und wie stark sich eine Traumafolgestörung entwickeln wird. In der traumatherapeutischen Literatur werden primäre, sekundäre und tertiäre Dissoziation unterschieden.

Primäre Dissoziation

Die primäre Dissoziation ist der seelische Vorgang, der beim Erleben des Traumas auftritt. Angesichts der überwältigenden Bedrohung ist der Betroffene nicht in der Lage, das Trauma vollständig in sein Bewusstsein zu integrieren. Es wird in seine somatosensorischen Elemente aufgespalten und kann dadurch vom Betroffenen nicht zusammenhängend in einem Narrativ geschildert werden (van der Kolk & Fisler, 1995). Diese, auch Fragmentierung genannte Abspaltung bei der primären Dissoziation ist kennzeichnend für die dramatischen Symptome der PTBS, wie z. B. intrusive Erinnerungen oder Flashbacks.

Sekundäre Dissoziation

Die sekundäre Dissoziation trennt traumatisierte Menschen von ihren Gefühlen und Emotionen, die sich auf das Trauma beziehen. Es findet sozusagen eine „Betäubung“ statt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der „peritraumatischen Dissoziation“ (Marmar et al., 1994b). Es findet eine weitere „Desintegration“ der persönlichen Erlebensfragmente statt. Die distanzierte Sichtweise auf das erlebte Trauma hält den Schmerz, die Qual und die volle Wucht des Traumas auf einem gerade noch erträglichen Maß. Sie befähigt den traumatisierten Menschen, weiterzuleben, den Alltag zu bewältigen, zu „überleben“. Man kann somit die Dissoziation als Schutzmechanismus der Seele verstehen.

Tertiäre Dissoziation

Bei der tertiären Dissoziation sind die Abspaltungsprozesse noch weiter vorangeschritten, sie betreffen ganze Persönlichkeitsbereiche. Menschen entwickeln dann deutlich unterschiedene Ich-Zustände, welche die traumatische Erfahrung beinhalten. Diese Ich-Zustände verfügen über eigene getrennte Muster von Kognition, Affekt und Verhalten. So können zum Beispiel bestimmte Zustände Wut, Angst oder Schmerz beinhalten, die sich auf konkrete traumatische Erfahrungen beziehen. Andere wiederum können gut die Alltagsanforderungen bewältigen und sind sich des Traumas und der traumaassoziierten Affekte nicht bewusst. Ein Beispiel hierfür ist die Dissoziative Identitätsstörung (DIS), die am Ende des Kapitels beschrieben wird.

Dissoziative Störungen im ICD-10

Die Dissoziativen Störungen (F44 …) werden im ICD-10 folgendermaßen definiert: „Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen ist der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration, die sich auf Erinnerungen an die Vergangenheit, Identitätsbewusstsein und unmittelbare Empfindungen sowie die Kontrolle von Körperbewegungen bezieht“ (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991, S. 161).

Zur Frage der Ätiologie wird folgendermaßen Stellung genommen: „Es besteht eine nahe zeitliche Verbindung zu traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen“ (ebda.).

4.2.1 Dissoziative Symptome und Erscheinungsformen

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der wichtigsten dissoziativen Symptome werden folgendermaßen beschrieben:

Dissoziative Amnesie (F44.0)

Ein schwerwiegender Erinnerungsverlust für wichtige aktuelle Ereignisse, der sich meist zentriert „auf traumatische Ereignisse wie Unfälle oder unerwartete Trauerfälle.“ (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991, S. 163). Das Ausmaß der Amnesie kann fluktuierend sein, der affektive Zustand dabei ist vor allem von Ratlosigkeit und Gequältsein geprägt.

Eine Zwölfjährige hat ihre Mutter durch einen tödlichen Autounfall verloren. Als sie zwei Jahre später wegen Schulproblemen in Therapie geht und nach der Beerdigung der Mutter gefragt wird, kann sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, obwohl sie dabei war. Sie beschreibt: „Da war ich irgendwie die ganze Zeit wie in einem grauen dichten Nebel.“

Dissoziative Fugue (F44.1)

Die Fugue (frz. fugue = Flucht) wird beschrieben als „zielgerichtete Ortsveränderung über den üblichen täglichen Aktionsbereich hinaus“ (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991, S. 164) bei gleichzeitig bestehender dissoziativer Amnesie. Dabei werden während der Fugue sowohl die Selbstversorgung (Essen, Waschen etc.) als auch einfache soziale Interaktionen mit Fremden (z. B. Kauf von Fahrkarten, Bestellen von Mahlzeiten etc.) aufrechterhalten.

Eine Frau findet sich plötzlich auf dem Marktplatz einer anderen Stadt wieder. Sie fragt sich, wie sie dahin gekommen ist, kann sich partout nicht erinnern. Als sie auf ihr Handy schaut, sieht sie, dass mehrere Anrufe eingegangen sind. Sowohl ihr Chef als auch ihr Partner haben wiederholt versucht, sie zu erreichen. Sie trägt eine Tasche bei sich, in der sich Essen und ein neu gekaufter Schal befinden. Sie kann sich nicht erinnern, wie sie in den Besitz dieser Dinge gekommen ist.

Dissoziativer Stupor, dissoziative Trance (F44.2 / F44.3)

Beim dissoziativen Stupor oder der dissoziativen Trance handelt es sich um Zustände, die durch das weitgehende Fehlen willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen des Klienten auf äußere Reize charakterisiert sind, ohne dass der Klient schläft oder bewusstlos ist. „Der Patient liegt oder sitzt lange Zeit überwiegend bewegungslos. Sprache und spontane oder gezielte Bewegungen fehlen oder sind fast nicht wahrzunehmen“ (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991, S. 165). Die Wahrnehmung der eigenen Identität und der Umgebung ist zeitweise eingeschränkt.

Während einer Gruppentherapiesitzung, in der ein Klient einen Verkehrsunfall schildert, wirkt eine Frau plötzlich merkwürdig abwesend. Sie wird sowohl vom Gruppenleiter als auch von den neben ihr sitzenden Mitklienten direkt angesprochen, reagiert aber nicht. Auch auf ein vorsichtiges Berühren ihres Armes reagiert die Frau nicht. Dabei hat sie ihre Augen geöffnet, schaut mit starrem Blick ins Leere. Erst nach dem Ende der Sitzung, als eine Tür vom Wind laut zugeschlagen wird, kommt sie wieder zu sich. Später stellt sich heraus, dass sie bei der Schilderung des Unfalls an ein eigenes ähnliches traumatisches Ereignis erinnert wurde.

Dissoziative Bewegungsstörungen (F44.4)

Darunter versteht man einen vollständigen oder partiellen Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperteile. Es kann zum Beispiel zu einem bizarren Gangbild aufgrund von mangelnder Koordination kommen (Ataxie), zu Schwierigkeiten beim Stehen (Astasie, Abasie), zu übertriebenem Zittern von Extremitäten sowie zu Sprechstörungen (Aphonie, Dysarthrie) und anderen Bewegungsstörungen.

Ein Mann befindet sich wegen sequenzieller Traumatisierung (Gewalt in der Kindheit) in traumatherapeutischer Behandlung. Es dauert sehr lange, bis er so stabil ist, dass eine Traumadurcharbeitung erwogen wird. Doch schon das Erstellen der Belastungsliste ist für ihn so destabilisierend, dass er beim Benennen der Ereignisse massive Sprachstörungen bekommt und schließlich keinen verständlichen Satz mehr aussprechen kann. Nach einer weiteren Phase von Stabilisierung wird es für ihn möglich, die innere Belastung so zu regulieren, dass er beim Benennen der Traumata nicht dissoziiert.

Dissoziative Krampfanfälle (F44.5)

Diese sogenannten Pseudoanfälle sehen praktisch so aus wie epileptische Anfälle. Im Vergleich zu diesen fehlt jedoch meistens der typische Zungenbiss und die Urininkontinenz, schwere Stürze sind seltener. Statt des Bewusstseinsverlustes nach einem epileptischen Anfall findet sich ein stupor- und tranceähnlicher Zustand.

Eine junge Frau kommt nach längerem psychiatrischem Klinikaufenthalt zur ambulanten Weiterbehandlung. Sie hat eine antikonvulsive Medikation (Antiepileptikum), weil sie in der Klinik einen Krampfanfall hatte. Dieser trat auf, als ihr Freund ihr während eines Besuches in der Klinik die Trennung verkündete und sie dabei massiv entwertete. Die Klientin litt schon länger unter ihrem Freund, der sie durch das Hin und Her ständiger Trennungen und Wiederannäherungen quälte. Als Kind litt sie unter einem sadistisch veranlagten Vater.

Anmerkung:

Es gibt keinen Beweis dafür, dass ein Krampfanfall dissoziativ ist, weil während des akuten Ereignisses der Patient in der Regel kein EEG bekommt. Man kann also nur von Wahrscheinlichkeiten sprechen. Fehlende Auffälligkeiten bei wiederholten EEG-Untersuchungen, Fehlen von Zungenbiss, Einnässen und Stürzen sowie der Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen oder Traumatriggern sprechen für das Vorliegen eines Dissoziativen Krampfanfalls, sind aber dafür nicht beweisend.

Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6)

Störungen der Sensibilität können Empfindungsstörungen oder auch Parästhesien in bestimmten Hautarealen sein. Auch möglich ist ein Visusverlust, der meistens unvollständig ist und sich in allgemeinem Verschwommensehen oder „Tunnelsehen“ äußert (Dilling. Mombour & Schmidt, 1991, S. 169). Dissoziative Taubheit oder Riechstörungen (Anosmie) können ebenfalls gelegentlich vorkommen.

Eine Frau hat Probleme an ihrem Arbeitsplatz, seit sie einen neuen Chef hat, der cholerisch ist und sie oft laut und in scharfem Ton anfährt. Immer nach solchen Ereignissen fühlt sie sich taub und kann ihre Tätigkeit im Callcenter kaum ausführen, weil sie ihre Kunden am Telefon fast nicht mehr hören kann und sich wie gelähmt fühlt. Sie beschreibt es mit den Worten: „Meine Ohren gehen zu.“ In der Therapie stellt sich heraus, dass sie einen sehr autoritären Vater hatte, der sie als Kind manchmal so laut anschrie, dass sie vor Schreck sofort einnässte.

4.2.2 Strukturelle Dissoziation

Die Beschreibung der unterschiedlichen Erscheinungsbilder dissoziativer Symptomatik macht deutlich, wie vielgestaltig und dadurch auch schwer diagnostizierbar dissoziative Zustände sind. Noch komplexer wird es, wenn man zur sogenannten strukturellen Dissoziation kommt.

Bei der strukturellen Dissoziation kommt es zu Abspaltungsprozessen, die der Stabilisierung des traumatisierten Menschen dienen. Die eigentlich unkontrollierbare traumainduzierte Stressreaktion wird aushaltbar und kontrollierbar gemacht, um das Überleben zu sichern. Wiederholen sich diese Vorgänge, wird das Dissoziieren also „chronisch“, hat es immer stärkere Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur.

Etwas vereinfachend könnte man sagen, dass es immer dann, wenn ein traumatisches Erlebnis langfristig nicht verarbeitet werden kann, zu Veränderungen in der Struktur der Persönlichkeit kommt, die eine Art „Notfallreaktion“ darstellen. Um diese Vorgänge zu verstehen, kann man unterschiedliche Modelle wählen, die immer bestimmte Aspekte der Prozesse primär veranschaulichen. Das bekannteste stammt von den führenden europäischen Traumaforschern van der Hart, Nijenhuis und Steele aus den Niederlanden (Nijenhuis, van der Hart & Steele, 2008).

Sie haben gemeinsam mit ihrer internationalen Arbeitsgruppe herausgearbeitet, dass es nach Traumatisierungen zwei unterschiedliche Arten von Persönlichkeitszuständen gibt:

Die traumatische Erfahrung wird abgespalten in voneinander getrennte innere Zustände, die Emotionalen Persönlichkeitsanteile. Die Funktion dieses unbewusst ablaufenden Prozesses besteht darin, mit den emotional stark aufgeladenen traumaassoziierten Zuständen besser umgehen zu können, die überlebenswichtigen Alltagsfunktionen zu ermöglichen, welche der ANP bewältigen muss. Als überwiegend unbewusste „Notfallmaßnahme“ zur Sicherung des Überlebens bringt diese Abspaltung jedoch auch Nachteile bzw. Nebenwirkungen mit sich. Diese bestehen darin, dass nun nicht mehr – wie bei einer nicht traumatisierten Persönlichkeit – Alltagsfunktionen und Alltagssteuerung mit den emotionalen Anteilen verflochten und verwoben sind und gleichzeitig unbewusst oder bewusst abrufbar sind bzw. in verflochtener („integrierter“) Weise auftauchen. Es ist also entweder die ANP oder ein EP aktiv, was eine doppelte Problematik im Alltag mit sich bringt.

Zum einen sind im ANP-aktivierten Zustand die Gefühle nicht zugänglich, was in Situationen, in denen Emotionalität gefordert ist, ein Problem darstellt. Zum anderen können die EP-Zustände unbewusst „getriggert“ werden und durch die Unkontrollierbarkeit (ANP ist dann inaktiv, kann nicht regulieren) Probleme verursachen. Auf hirnphysiologischer Ebene kommt es in solchen Situationen zur Aktivierung der Amygdala und damit verbundenen heftigen emotionalen und auch somatischen Stressreaktionen. Welche Alltagsprobleme durch eine strukturelle Dissoziation entstehen können, wird an folgendem Beispiel deutlich:

Frau S. (38) ist vor einem halben Jahr beim Joggen im Wald von einem jungen Mann überfallen und vergewaltigt worden. Sie war danach drei Monate arbeitsunfähig, verbrachte die Vormittage – wenn ihre zwei Kinder in der Schule waren – ganz alleine. Das Leid ihrer Kindheit, dass sie von einem Freund ihrer alleinerziehenden Mutter im Grundschulalter über zwei Jahre lang immer wieder sexuell missbraucht wurde, kam in dieser Phase zusätzlich massiv hoch und quälte sie.

Inzwischen ist sie froh, wieder arbeiten zu können und somit ein Stück Normalität wiedergewonnen zu haben. Ihre Kinder zu versorgen schafft sie, allerdings fühlt sie sich dabei oft „merkwürdig mechanisch“. Schwierig wird es, wenn ein Kind Kummer hat. Dann merkt Frau S., dass sie innerlich „nichts fühlt“, auch wenn es ihr gelingt, tröstende Worte auszusprechen. Sind die Kinder allzu fordernd oder wird im Fernsehen ein „Stichwort“ genannt, welches an das traumatische Geschehen erinnert, kann es sein, dass sie in Tränen ausbricht, wütend herumschreit und lange Zeit braucht, um sich wieder zu beruhigen. Ihr Mann, der bisher sehr verständnisvoll war, wirft ihr nun oft vor, dass sie sich nicht im Griff habe und vor allem die Kinder durch diese Gefühlsausbrüche schwer belaste.

Meine naturwissenschaftlichen Wurzeln haben mich zu der Idee gebracht, die oben beschriebenen Abspaltungsvorgänge mit einer „Immunreaktion“ zu vergleichen: Dringt ein Fremdkörper durch die Haut eines Menschen in den Körper ein, wird das Immunsystem aktiviert. Mehrere Immunreaktionen auf unterschiedlichen Ebenen finden in Form von sogenannten Kaskaden (aufeinanderfolgende Kettenreaktionen) statt. So kommt es zum Beispiel zu einer Reaktion direkt am Ort der Schädigung im Gewebe, aber es wird auch eine Immunreaktion durch unterschiedlichste Reaktionen von Blutzellen (v. a. durch die weißen Blutkörperchen) in Gang gesetzt. Ziel ist es, den Fremdkörper „unschädlich“ zu machen. Er wird einkapselt, liegt er nahe der Oberfläche, kann er durch Eiterentwicklung (massive Ansammlung von Entzündungszellen) oft erfolgreich „herausgeschwemmt“ und somit eliminiert werden. Manchmal gelingt es dem Körper, das Material des Fremdkörpers allmählich zu „zersetzen“, wozu es z. B. sogenannte „Fresszellen“ gibt. Ist dies nicht möglich, versucht der Körper trotzdem, ihn so gut wie möglich durch Verkapselung „unschädlich“ zu halten. Dieser Zustand kann über Jahre andauern, oft findet sich dann eine mehr oder wenig latente Entzündung im Bereich des Fremdkörpers. Dies kann dauerhaft so bleiben, es kann aber auch nach langer Zeit ohne Symptome (erfolgreiche „Verkapselung“) zum Beispiel durch Veränderungen oder Belastungen des Immunsystems zu einem „Wiederaufflammen“ der Entzündung kommen, welche eine Behandlung, oft auch eine operative Entfernung des Fremdkörpers notwendig macht.

Eine traumatische Erfahrung ist in gewisser Weise ein Fremdkörper für die menschliche Seele, weil Betroffene die Erfahrung nicht in ihr bisheriges Bild von der Welt und sich selbst einordnen können. Bisherige Bewältigungsmechanismen werden ausgehebelt, das traumatische Erlebnis „steckt fest“. Manchmal kommt es zu einer allmählichen Verarbeitung durch die Selbstheilungskräfte (s. Kap. 3 „Bindung und Resilienz“). Das würde dem „Herauseitern“ oder auch „Auflösen“ des Fremdkörpers entsprechen. Zurück bleibt trotzdem eine Narbe und auch in den Körperzellen bleibt alles, was sich rund um diese Schädigung abgespielt hat, „gespeichert.“

Gelingt es dem Organismus nicht, den Fremdkörper durch Herauseitern oder Auflösung und Abtransport der Partikel zu eliminieren, bleibt er verkapselt („abgespalten“) im Gewebe, so wie das feststeckende traumatische Geschehen eine dauerhafte Belastung darstellt und ebenfalls „in Schach gehalten werden“ muss. Hat ein Fremdkörper eine entsprechende Größe oder ungünstige Lage, führt er zwangsläufig auch zu einer Funktionseinschränkung. Wie beim traumatischen Erlebnis kann eine äußere Belastung (körperlich gesehen: ein irritiertes Immunsystem) zur Verstärkung der Symptomatik führen (wiederaufflammende Entzündung), welche der Organismus nicht mehr alleine in den Griff bekommt.

Wie alle Vergleiche „hinkt“ auch dieser an einigen Stellen, aber er kann bestimmte Aspekte und vor allem die Funktion von Abspaltungsprozessen erhellen: Sowohl auf der körperlichen als auch auf der seelischen Ebene versucht unser menschlicher Organismus immer, den „Schaden“ möglichst einzugrenzen, in Schach zu halten und so weit wie möglich alle wichtigen Funktionen zu erhalten.

Ein anderes Bild kann den Zusammenhang von Tiefe der Spaltung / des Schweregrades der Dissoziation und psychischer Stabilität veranschaulichen: Stellen Sie sich unterschiedlich gebaute Windräder vor (wie in Abb. 4.1 dargestellt). Ein Windrad mit eher sehr eng oder sogar leicht überlappenden Flügeln ist ziemlich stabil, je weiter die Flügel auseinanderliegen, desto instabiler wird das Windrad, weil der Wind an immer mehr Stellen angreifen kann. Beim vierten abgebildeten Windrad (ganz rechts) kann der Wind am meisten angreifen, jeder Flügel führt in gewisser Weise ein Eigenleben und kann sich unabhängig von den anderen bewegen. Trotzdem bleibt das Ganze ein Windrad. Übertragen auf den Klienten bedeutet das: Es steht nur ein Körper zur Verfügung trotz tief gespaltener Persönlichkeit.

Abbildung 4.1: Stabilität / Spaltung im Windradmodell

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen und auch Schweregrade der strukturellen Dissoziation sind international noch nicht einheitlich klassifiziert. Im ICD-10 findet man über die bereits geschilderten Symptombilder (F44.0–6) hinaus nur noch die Dissoziative Identitätsstörung (F44.8) als die am stärksten von Dissoziation geprägte Diagnose, auf die ich am Ende dieses Kapitels eingehen werde.

Im amerikanischen DSM-IV gibt es noch die DDNOS (Dissociative Diagnosis Not Otherwise Specified = nicht näher bezeichnete dissoziative Störung). Dazu gehören auch Betroffene, die z. B. bezüglich ihrer Kindheit aufgrund traumatischer Erfahrungen große Erinnerungslücken haben, aber im Hier und Jetzt ihr Leben bewältigen. Nach dem Modell von van der Hart und Nijenhuis formuliert: Es konnte sich nach dem Ende der Traumatisierung eine funktionierende ANP entwickeln, die abgespaltenen EPs treten nur gelegentlich, dann aber umso heftiger in Erscheinung, meist in Form von schwer kontrollierbaren Affektdurchbrüchen (s. Beispiel Frau S.).

Sind die EPs mehr als abgespaltene Erinnerungspartikel und betreffen größere Bereiche der Persönlichkeit, so spricht man von Ego-States und nennt dann die dazugehörige Störung Ego State Disorder (Watkins & Watkins, 2012). Die unterschiedlichen Ego-States sind so stark voneinander getrennt, dass der Wechsel von einem Zustand in einen anderen willentlich nur schwer möglich ist. Es gibt zwar noch eine „Steuerungsinstanz“, diese muss sich jedoch sehr anstrengen, um von einem gerade aktiven Ego-State, der möglicherweise zu Problemen führt, in einen adäquaten zu wechseln.

Biografisch findet man bei von Ego State Disorder Betroffenen häufig frühe Kindheitstraumata, die dazu geführt haben, dass das Kind durch Misshandlung, Vernachlässigung oder unberechenbares und willkürliches Erziehungsverhalten nicht ausreichend lernen konnte, eigene Gefühlszustände zu regulieren. Statt zu regulieren, konnte es Gefühlszustände nur durch Dissoziation verändern, indem es den aktuellen Zustand „abschaltete“, was dann als Reaktionsmuster persistiert und die Identitätsentwicklung erheblich einschränkt (Putnam, 1997).

Weitere diagnostische Beschreibungen und Klassifikationen sind noch in der Entwicklung. So gibt es Bestrebungen, für die Symptomatik, die durch frühe und langanhaltende sequenzielle Traumatisierungen entsteht, eine eigene Kategorie anzunehmen. Dies macht insofern Sinn, als sich das Symptombild erheblich von dem einer PTBS bei einmaliger Traumatisierung unterscheidet. Es hat sich in der Fachwelt der Begriff der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) durchgesetzt, dafür existiert jedoch noch keine offizielle ICD-Kodierung. Für das in Vorbereitung befindliche ICD-11 ist allerdings eine eigene Klassifikation für die KPTBS vorgesehen. Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman war die erste, die den Begriff „komplexe PTBS“ für die auftretenden Störungen durch chronische Traumatisierungen vorgeschlagen hatte. Sie verwendete auch den Begriff „DESNOS“ (Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Speficied), der auch heute noch im DSM-Klassifikationssystem aufgeführt ist.

Es kursiert allerdings in Fachkreisen schon ein sehr hilfreicher Fragebogen, das „Interview zur Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (IK-PTBS)“, welches von Bessel van der Kolk und Kollegen entwickelt wurde (Van der Kolk et al., 1999). Die Items des Interviews sind so ausgewählt, dass die folgenden entscheidenden Bereiche abgefragt werden, die bei Vorliegen einer komplexen PTBS erfahrungsgemäß eine Rolle spielen: