Refugees Worldwide

Literarische Reportagen

Herausgegeben von Luisa Donnerberg
und Ulrich Schreiber

Verlag Klaus Wagenbach   Berlin

Mit freundlicher Unterstützung von:

E-Book-Ausgabe 2019

© 2019 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Umschlaggestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Adrian Paci, Centro di Permanenza temporanea, 2007. Redaktion: Bettina Baer und Lena Luczak. Projektkoordinatorin: Lucy Curzon.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142580

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2783 9

www.wagenbach.de

Vorwort

Meine Schwester, die ich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen habe, erzählte mir am Telefon, dass sie das Meer in einem Schlauchboot überqueren wolle. Dann legte sie auf. Meine Meinung dazu wollte sie nicht hören. (Khaled Khalifa)

Ein Buch über eine der großen Herausforderungen unserer Zeit: 14 literarische Reportagen über Flucht, Fluchtursachen, Identität und den Umgang mit dem, was einen nach einer geglückten oder gescheiterten Flucht erwartet. Die Zahl der Geflüchteten entspricht der Vielfältigkeit der Geschichten von Flucht und Vertreibung und den Gründen zum Verlassen der gewohnten Umgebung. 14 Autorinnen und Autoren aus 13 Ländern in vier Kontinenten reflektieren Facetten des Lebens von Flüchtlingen. Um diese zu erfassen, haben sich einige von ihnen mit dem Flugzeug, dem Auto oder zu Fuß, oft in ihrem eigenen Land, auf den Weg zu Fluchtbrennpunkten, andere ins Innere ihrer Gefühlswelt gemacht. Ihre Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse verdichten sie in den hier vorliegenden horizonterweiternden Texten. Der Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V., die das Projekt Refugees Worldwide, in dessen Rahmen die hier abgedruckten Reportagen entstanden sind, initiierte und organisierte, war die literarische Darstellung der Thematik von besonderer Bedeutung, in der die Einzigartigkeit und Besonderheit der Schicksale aufscheinen.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) konstatierte in seinem Global-Trends-Bericht über 65 Millionen Geflüchtete weltweit im Jahr 2015. Die Krisenherde sind seitdem nicht weniger geworden. Das Ende des Bürgerkrieges in Syrien ist nicht in Sicht, die Lage in der Ukraine ist nach wie vor angespannt. Im größten Flüchtlingslager der Welt, dem kenianischen Dadaab, leben über 200 000 Geflüchtete – nun schon generationenübergreifend. Solange es Krisen auf der Welt gibt, werden Menschen auch nach Europa fliehen.

Aber! Es war uns wichtig, dass auch und vor allem Geschichten erzählt werden, die nicht in Europa stattfinden, weil der mediale Blick auf das Thema in Deutschland und Europa eurozentrisch geprägt ist. So haben wir etwa die Möglichkeit, von Masatsugu Ono etwas von dem Leben eines kongolesischen Flüchtlings in Tokio zu erfahren und etwas über den höchst unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten in den verschiedenen Regionen der Welt. Japan beispielsweise nahm 2015 gerade mal 28 Geflüchtete gemäß der offiziellen Statistik auf. In Nigeria gibt es eine große Zahl von Binnenflüchtlingen, die aus dem Einflussgebiet der Terrororganisation Boko Haram im Nordosten des Landes fliehen. Es erscheint uns substanziell, dass wir über den Tellerrand schauen und uns bewusst machen, dass das Thema kein primär europäisches ist. Diese Geschichten sollen die Reflexionen über den Umgang mit Geflüchteten bereichern.

Luisa Donnerberg und
Ulrich Schreiber im Juni 2017

Meine Identität ist das Exil

Nora Bossong

Es gibt keine Wahrheiten, nur Formulare. Dieser Satz wird mir noch lange nach den Gesprächen durch den Kopf gehen, die ich in New York geführt habe, mit Menschen, die in die USA gekommen sind, um Asyl zu suchen. Was für sie Heimat bedeutet, will ich von ihnen wissen und zugleich besser verstehen, wie es um das Einwanderungsland USA und die Weltoffenheit einer Stadt wie New York bestellt ist in den Monaten, da im Präsidentschaftswahlkampf der republikanische Kandidat erfolgreich mit hohen Mauern entlang der mexikanischen Grenze und einem generellen Einreiseverbot für Muslime wirbt.

Im Spätsommer 2016 bin ich für zwei Wochen in New York, um mir einen Eindruck zu verschaffen, wie es den Menschen ergeht, die als Geflüchtete oder Asylsuchende in diese Großstadt kommen, die als so liberal und multikulturell gilt. Angeblich gehört New York zu den drei Staaten mit den meisten Geflüchteten, doch nach ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass kein einziger mehr in der Metropolregion wohnt. »Die Flüchtlinge aus unserem Programm sind umgesiedelt worden«, bekomme ich von einer Hilfsorganisation mitgeteilt. New York City sei einfach zu teuer. Henrike von der Organisation IRAP bemerkt trocken, dass die US-Behörden schon Schwierigkeiten hätten, die Quote von 10 000 syrischen Geflüchteten einzuhalten, die pro Jahr aufgenommen werden sollen, aufs ganze Land verteilt, ein Fünftel nur von der Aufnahmezahl, die sich Kanada für denselben Zeitraum gesetzt hat. Doch bislang seien in den USA nicht einmal halb so viele Syrer angekommen. Ich versuche Kontakt aufzunehmen zu Migranten, insbesondere zu den illegal in New York lebenden Geflüchteten. Ein Freund erzählt mir, er kenne zwar einige illegale Migranten, aber die hätten Angst, Ärger mit den Behörden zu bekommen. Sie wollten auf keinen Fall mit einer Reporterin sprechen. Fast kommt es mir luxuriös vor, dass der junge Mann und die beiden Familien, die ich schließlich doch kennenlerne, mit dem Flugzeug und einem Touristenvisum in die USA gekommen sind und nicht heimlich über die mexikanische Grenze fliehen mussten. Bei Nacht und Nebel von Ciudad Juárez nach Texas, ohne Papiere und mit Glück der US Border Patrol entgehend, wie jene Männer, die mit mir im Wartezimmer von CALA sitzen, der Central American Legal Association. Untergebracht in einer maroden Souterrain-Etage im westlichen Brooklyn, mit einer Karte von Zentralamerika an der Wand bietet die NGO Asylsuchenden aus den Ländern zwischen Mexiko und Kolumbien kostenlose juristische Hilfe an.

»Wir können bei Weitem nicht alle beraten«, sagt Heather, eine der Juristinnen, die hier arbeiten. »Es gibt einfach viele, bei denen wir keine Aussicht auf Erfolg vermuten.« Diese sollten es lieber gar nicht erst versuchen, meint sie. Wer ein Asylverfahren verliert, werde schließlich sofort zurückgeschickt. Meist blieben diese Leute dann als »unauthorized immigrants« in den Staaten, elf Millionen leben schätzungsweise im Land, die meisten von ihnen kommen aus Mexiko. Zwar dürfen die Behörden offiziell nichts von diesen Menschen wissen, und es wird ihnen weder staatliche Unterstützung noch eine legale Arbeitserlaubnis zuteil, gleichwohl ist es ihren Kindern möglich, die Schule zu besuchen. Auch minimale Gesundheitsversorgung gibt es und zumindest für alle Stadtbewohner New Yorks eine City ID. Schwarzarbeit ist ohnehin möglich, im kleinen und großen Stil. Nicht zuletzt Trump habe sich gern dieser billigen Arbeitskräfte bedient, wie es ihm Hillary Clinton in einer Präsidentschaftsdebatte vorwarf.

Zum Teil sind die Neuankömmlinge schon einmal erwischt und zurückgeschickt worden, erzählt Heather. Trotzdem versuchen sie es wieder. Ich muss an Sisyphos denken, nur dass die Steine, die immer wieder den Berg hinunterrollen, die Menschen selbst sind. Ob sich die Situation noch verschärfen würde, falls Trump die Wahl gewinnt, frage ich Heather zum Abschluss. »Trump wird nicht Präsident«, sagt sie kategorisch und fügt etwas leiser hinzu: »Das wäre eine Katastrophe.«

Venezuela sei eigentlich nie ein Auswanderungsland gewesen, bemerkt Wendy und stellt mir ein Wasserglas hin. Alle wollten dort bleiben. Sie selbst sei eine Ausnahme, weil sie, als sie vor 26 Jahren zum Studieren hierherkam, ihren Mann kennenlernte und somit blieb. Luisa, einige Jahre jünger als sie, studierte an der Universidad Central de Venezuela Internationale Beziehungen, ging nach Ecuador und arbeitete dort an der venezolanischen Botschaft. Sie kümmerte sich um inhaftierte Venezolaner, die lange Jahre im Gefängnis saßen. Meist wussten nicht einmal die Angehörigen, was aus ihnen geworden war. Der Botschafter hatte für Luisa bereits eine feste Stelle vorgesehen, als er sie fragte, ob sie bei der letzten Wahl für Hugo Chávez gestimmt habe. Nein, das habe sie nicht, sie sei mit Chávez’ Politik nicht einverstanden. Nach diesem Gespräch begannen die Probleme.

Die feste Anstellung war hinfällig, einen Monat später musste sie zurück nach Venezuela. Sie sah sich in Caracas nach anderen Jobs um, doch stieß sie überall auf verschlossene Türen. Als Luisas Tochter an einer Mittelohrentzündung erkrankte und sie keine Antibiotika auftreiben konnte, weil die Apotheken leer waren und die Ärzte mit den Schultern zuckten, war ihr klar, dass sie das Land verlassen musste. »Was derzeit in Venezuela los ist«, wirft Freddy wütend ein, »das ist eine Verletzung der Menschenrechte. In den Geschäften sind die Lebensmittel knapp, und auf der Straße wird es immer gefährlicher.« Er sitzt etwas abseits im Sessel und verfolgt das Gespräch genau. Auch er ist wie Luisa erst seit wenigen Monaten in den USA.

Einmal schon habe sie ein Leben in Mexiko versucht, erzählt Luisa, doch habe sie sich dort nicht über Wasser halten können. Vor sechs Monaten kam sie dann in Orlando an, fand für sich und die Tochter ein Zimmer, meinte sogar, einen Job in Aussicht zu haben. »Aber sie sollte mit Schecks bezahlt werden«, ergänzt Wendy, »die kann sie nicht einlösen, wenn sie nur ein Touristenvisum hat. Und wenn sie während der Arbeit ihre Tochter allein zu Hause lässt, bekommt sie Ärger mit den Behörden. Ich habe ihr gesagt: Geh zu einem Anwalt und lass dich beraten.« Im Juni ist Luisa mit ihrer Tochter nach New York gegangen, nächste Woche wird sie ihre Fingerabdrücke registrieren lassen, ihr Aufenthaltsstatus wird sich dann ändern, von einer Touristin zur Asylsuchenden. Sie glaubt, in dem Prozess Aussicht auf Erfolg zu haben.

»Die Lage in Venezuela wird sich ja so bald nicht ändern«, sagt Freddy, »das ist der Wilde Westen dort.« Er erzählt von einem der letzten Sonntage, den er dort verbracht hat. Mitten am Vormittag brachen zwei bewaffnete Männer in sein Haus ein. Freddy schlich in sein Schlafzimmer und lud seine Pistole, um kurz darauf zu schießen. Das sei der Moment gewesen, in dem er entschieden habe, Venezuela zu verlassen.

In einem Café im Financial District von Manhattan warte ich auf meine nächste Begegnung, auf Alex. Während ich an meinem Eistee nippe, die jungen Menschen an den Tischen um mich herum beobachte, überlege ich, ob überhaupt irgendjemand in New York Sympathien für Trump hat, ob hier sein Wahlspruch von der neuen Größe Amerikas verfängt. Eine republikanische Hochburg ist New York nicht, aber immerhin hat Trump auch hier die Vorwahlen gewonnen und ist selbst Bürger dieser Stadt. Bislang habe ich nur Leute getroffen, die ihn vehement ablehnen, so wie Don, Mitarbeiter eines Thinktanks für Migrationspolitik, den ich in seinem Büro besuche. »Trump würde die USA ruinieren«, sagt er. In der Wallstreet gäbe es Wetten auf seinen Sieg, und Investoren zögen bereits ihr Geld aus dem Land ab. Auch mein Nachbar, bei dem ich abends noch auf einen Wein vorbeigehe, prophezeit wenig Gutes unter einem Präsidenten Trump. »Dann wird es hier so werden wie in Venezuela«, meint er. Auch für ihn ist es unvorstellbar, dass Trump gewinnen könnte. Bewege ich mich mal wieder in einer Blase, in der ich nur Menschen treffe, die meine politischen Ansichten zumindest im Groben teilen?

Alex steht vor mir, lachend und ein wenig aufgeregt. Aufgewachsen ist er im russischen Togliatti, wo es, wie er mir erzählt, außer Autofabriken nicht viel gebe. Das Detroit des Ostens, denke ich. In die USA ist er über ein Work-and-Travel-Programm gekommen, jetzt studiert er, übt weiter die Sprache, die er bereits exzellent beherrscht, arbeitet und verdient sein Geld. Auf seine Arbeitsdisziplin ist er sichtlich stolz. Er fühle sich bereits mehr als US-Bürger denn als Russe und denke darüber nach, seinen Nachnamen zu ändern, um nicht mehr so slawisch zu klingen. Eine Passage von Vladimir Nabokov fällt mir ein, über die absurden Versuche einiger Amerikaner, den russischen Namen Pnin richtig auszusprechen. Doch Alex geht es nicht nur um die Artikulation. Am liebsten wäre ihm der Name seiner Schwiegergroßmutter, »ein guter deutscher Name«.

Bald werde er seine Greencard erhalten. Das Asylverfahren sei für ihn nicht schwierig gewesen, ein Freund habe beim Ausfüllen der Unterlagen geholfen und ihn auf das Interview vorbereitet. Bis spät in die Nacht habe er dafür gelernt. Mittlerweile könne er sich gar nicht mehr vorstellen, wieder in Russland zu leben, in der drückenden Stimmung seiner Geburtsstadt und unter einem Präsidenten namens Putin. Wie dankbar er den USA sei, das betont Alex immer wieder, und wie er die Freiheit hier liebe. Nur dass in das Viertel, in dem er mit seinem Ehemann wohnt, zunehmend viele Asiaten zögen, gefalle ihm nicht. In seinem ersten Job in New York habe er nur mit Afroamerikanern zusammen gearbeitet, das habe er nicht ertragen, nach ein paar Tagen habe er gekündigt. Alex träumt von einem Leben in einer weißen Mittelschichtstadt, von einem Leben unter seinesgleichen.

Was ich von der Migrationspolitik in Europa hielte, fragt er mich. Ob ich nicht der Meinung sei, dass Muslime nicht in den westlichen Kulturkreis gehörten? Dass sie unsere Kultur unterwanderten? Ich lächele ihn fassungslos an. Solche Fragen habe ich nicht erwartet, mitten im scheinbar so liberalen New York, von einem sympathisch wirkenden jungen Mann. Einige meiner besten und überdies europäischsten Freunde seien muslimisch, entgegne ich. Aber es gäbe doch einen Unterschied, beharrt Alex, zwischen der christlichen Kultur und dem Islam, jede habe ihren Platz, aber nicht beide in Europa. »Am Ende«, meint er, »wirst du dich in deinem eigenen Land wie eine Migrantin fühlen.«

Ich versuche, eine freundliche Miene zu wahren, und frage mich, wie jemand, der selbst Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Orientierung erlebt hat, so über andere Menschen reden kann, über ihre Religion, ihre Herkunft, ihre Hautfarbe. Weißsein, einen deutschen Nachnamen tragen, keine »Anderen« in der Nachbarschaft wünschen … Hätte er sich auch mit mir getroffen, wenn ich Nora Morales hieße und für eine mexikanische Zeitschrift schriebe? Was er von Donald Trump hält, frage ich ihn lieber nicht mehr.

»Wenn du Asyl willst«, erzählt mir Tsamchoe, »kannst du nicht die Wahrheit erzählen, du musst eine Geschichte präsentieren. Sie kann falsch sein, aber sie muss sich gut anhören. Und du musst sie mit Papieren belegen, das ist das Wichtigste hier.«

Wir sitzen in ihrem kleinen Apartment mitten in Queens, nahe am Corona Park. Die beiden Schlafzimmer teilen sich ihre vier Kinder, die älteste Tochter Khachoe sitzt bei uns und übersetzt für ihre Mutter. Bunte tibetische Gebetsfahnen schmücken das winzige Wohnzimmer, dessen Mittelpunkt Tsamchoes Bett und eine Kommode bilden, beide kunstvoll geschnitzt. Die Möbelstücke hat sie sich aus ihrer Heimat schicken lassen, sie fühle sich dadurch näher an Tibet. Zurückkehren könne sie ja nun nicht mehr, nicht einmal für einen kurzen Besuch.

Doch, Tsamchoe zögert, sie sei froh, in die USA gekommen zu sein. Sie habe eine Stelle als Putzkraft in einem Hotel und arbeite so viel sie könne, damit ihre Kinder es gut hätten. Vom Staat habe sie nie finanzielle Unterstützung gewollt. Seit acht Jahren ist sie schon hier, die jüngsten Kinder sind in den USA geboren, und auch Khachoe hat einen großen Teil ihres Lebens hier verbracht. Sie ist 20 und wartet darauf, am College weiterstudieren zu können, sie musste es unterbrechen, weil das Geld für die Gebühren nicht mehr gereicht hat. Ob sie sich nach all den Jahren amerikanisch fühle, frage ich sie. Oder doch tibetisch, obwohl sie selbst Tibet nie erlebt hat? Khachoe überlegt eine Weile. Sie fühle sich tibetisch, antwortet sie dann, aber sie gehöre einer neuen Generation an, jener Generation Tibeter, die im Exil geboren und aufgewachsen ist. »Ich kann mir vieles von dort vorstellen, aber ich werde nie ganz fühlen, was es bedeutet, Tibeterin in Tibet zu sein. Ich bin Tibeterin im Exil, das ist meine Identität.«

Ihren zweiten Ehemann lernte Tsamchoe in den USA kennen, ebenfalls ein Tibeter, der die amerikanische Staatsbürgerschaft bekommen hatte. Ohne die Heirat wären sie bis heute schlechter gestellt. Asyl haben sie nie bewilligt bekommen. »So viele in unserer Familie waren politische Gefangene. Wir haben Bücher, in denen sie vorkommen, Artikel, aber das haben die Behörden nicht akzeptiert. Es gibt hier keine Wahrheiten, nur Formulare«, übersetzt ihre Tochter für Tsamchoe und fügt hinzu: »That’s the American Way.« Ich weiß nicht, ob sie noch übersetzt oder bereits kommentiert, was ihre Mutter erzählt.

Zu der Zeit, als Tsamchoe mit ihren Kindern in den USA ankam und ihren endlosen Gang durch die amerikanischen Ämter antrat, waren ihr Vater und einer ihrer Brüder in Tibet inhaftiert, festgenommen während der tibetischen Unruhen Ende der achtziger Jahre. »Die chinesische Regierung wollte alles reinwaschen, eine neue chinesische Identität installieren«, sagt Tsamchoes Tochter. Ihr Vater wurde später von der Armee getötet. Bewaffnet seien Soldaten mitten in die Privatzimmer marschiert, erzählt ihre Mutter, sie hätten die Menschen eingeschüchtert und gefordert, ihren Besitz zu teilen. »That’s the communist way«, sagt die Tochter.

Tsamchoe spricht auf Tibetisch schnell. Sie meint, ihr Englisch sei nicht gut genug, obwohl wir uns vor ein paar Tagen schon einmal unterhalten haben, ohne Dolmetscherin. Vielleicht liegt es gar nicht an ihren Sprachkenntnissen, sondern daran, dass diese Geschichte in ihrer Muttersprache ein wenig leichter zu erzählen ist. Es gäbe Leute, sagt sie, die nie im Gefängnis waren, die sich aber Papiere besorgen konnten. Und dann gäbe es Ex-Häftlinge, die gefoltert worden waren, aber der Haft entkommen konnten. Aber dann hätten sie natürlich keine Papiere. Wer zertifiziere ihnen schon Misshandlungen? »In der tibetischen Kultur vertrauen wir Menschen, wir geben nicht viel auf Papier«, sagt sie. Dass es hier anders ist, sei eine ihrer wichtigsten Lektionen gewesen. Sie wirft sich bis heute vor, sie nicht schon vor ihrer Ankunft gelernt zu haben.

Nach meinem Besuch in Queens fahre ich mit der Linie 7 bis zum Bryant Park in Manhattan, um noch ein wenig spazieren zu gehen. Es ist einer der vielen gleißend hellen Tage in New York, der Himmel schon fast künstlich blau. Auf dem Titel des Time-Magazins schmilzt Donald Trump wie eine Kugel Eiscreme davon. Meltdown titelt das Heft. Die letzte, vielleicht zu naive Hoffnung, die vom großen »Melting Pot« USA in diesem Jahr geblieben ist?

Der Verkehr staut sich in den Straßen, Passanten eilen an mir vorbei. Ich gehe langsam und denke über die Menschen nach, die ich getroffen habe und die vor einigen Monaten oder Jahren neu in diesem Land angekommen sind, das für so viele das gelobte Land und die große Freiheit bedeutet, aber dessen innere Grenzen aus Bürokratismus und Ressentiments zu spüren bekommen: Wenn sie bemerken, dass es auch hier Leute gibt, die nicht mit ihnen in einem Haus leben wollen, weil sie eine andere Hautfarbe oder Konfession haben. Wenn sie begreifen, dass sie nie wieder in ihre Heimat zurückkehren können, dorthin, wo der Rest ihrer Familie lebt. Wenn sie lernen, dass nicht ihre Geschichte zählt und nicht sie selbst als Person, sondern nur abgestempelte Papiere gelten, als gäbe es den Menschen gar nicht, für den diese Papiere sprechen sollen.

Vertagte Träume
(Ein Leben im Schwebezustand – Dadaab, das größte Flüchtlingslager der Welt)

Abdi Latif Dahir

Aus dem Englischen von Gregor Runge

Es ist kühl an jenem Morgen in Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt. Amphile Kassim, von allen bloß Anfi genannt, sitzt im Schneidersitz auf einer dünnen Matratze und denkt über die Vergangenheit nach. Er streicht sich durch seinen hennaroten Kinnbart und erzählt davon, wie er im Alter von zehn Jahren zum Flüchtling wurde, als er, ein ethnischer Somali, und seine Familie vor Kämpfen in ihrer Heimatstadt in der äthiopischen Bale-Zone (heute: Oromia-Zone) geflohen sind. Damals, im Jahr 1974, haben seine Eltern mit Anfi und seinen Geschwistern Zuflucht im benachbarten Somalia gesucht. Nachdem die dortige Zentralregierung 1991 aufgelöst und das Land von zahllosen Banden und Splittergruppen ins Chaos gestürzt worden war, brachen sie erneut auf, diesmal nach Kenia, wo man ihnen Asyl gewährte. Dort ließen sie sich im Flüchtlingslager von Dadaab nieder.

Seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten lebt Anfi also nun in Dadaab, und hier wird er vorerst auch bleiben – in einem abgelegenen Camp im trockenen Nordosten von Kenia, in dem 1991 die ersten Geflüchteten aufgenommen wurden. Inzwischen ist Dadaab das größte Flüchtlingscamp der Welt; zeitweise haben hier mehr als 600 000 Menschen aus mehr als einem Dutzend Ländern Obdach gefunden. Die Geflüchteten verteilen sich auf fünf verschiedene Untercamps, auf einer Fläche von 50 Quadratkilometern. 95 Prozent der Geflüchteten sind ethnische Somalis wie Anfi. Den jüngsten Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge nennen mehr als 260 000 Somalis Dadaab ihr Zuhause.

Nach und nach dringt die Sonne durch die Ritzen des Lehmhauses, in dem Anfi seit vielen Jahren wohnt; allmählich wird der graue Morgen zum Tag. Anfi strahlt eine durch nichts zu erschütternde Ruhe aus. Als seine Familie damals aus Äthiopien nach Somalia aufgebrochen sei, so Anfi, »hätte ich nicht gedacht, so lange ein Flüchtling zu bleiben«. Inzwischen ist er ein 52-jähriger Mann, die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens musste er fliehen, wieder fliehen, warten. In all der Zeit, sagt er, habe er die Hoffnung verloren, je wieder nach Hause zurückzukehren. Immer wieder betont er, dass der UNHCR, der das Camp leitet, »seine Regierung« sei, ihr habe er die Treue geschworen; das weiß-blaue UNHCR-Logo sei »seine Flagge« und das Flüchtlingslager »sein einziges Land«.

So deutlich Anfi seine Vergangenheit vor Augen steht, so unklar ist seine Zukunft. Über zwei Jahrzehnte ist man den Geflüchteten mit großer Warmherzigkeit begegnet, inzwischen hat sich die Lage in Dadaab merklich verschlechtert. Im November 2013 haben die kenianische und die somalische Regierung sowie der UNHCR ein Dreierabkommen unterzeichnet, das die freiwillige Rückführung somalischer Geflüchteter aus Kenia ermöglichen soll. In den vorangegangenen Jahren waren erneut Zehntausende Somalis infolge wiederaufflammender Konflikte und einer schweren Dürre über die Grenze gekommen, um in Dadaab Zuflucht zu suchen. Vor allem die Dürre im Jahr 2011 hatte dramatische Folgen: Nahezu fünf Prozent1 der somalischen Gesamtbevölkerung fielen ihr zum Opfer; Hilfsaktionen im Umfang von einer Milliarde Dollar wurden notwendig.

Im Oktober 2011, auf dem Höhepunkt der Hilfseinsätze, wurden zwei Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen aus Dadaab entführt. Wenige Tage später marschierte die kenianische Armee in Somalia ein,2 um sich auf einen Angriff auf die somalische Terrormiliz Al-Shabaab vorzubereiten, die Berichten zufolge für die Entführung verantwortlich war. In den Folgejahren schlug Al-Shabaab unerbittlich zurück, verübte in ganz Kenia Anschläge auf Kirchen, Busbahnhöfe und Nachtclubs.

Im September 2013 wurden in der exklusiven Westgate Mall in Nairobi 67 Menschen getötet. Unmittelbar darauf forderten Vertreter der kenianischen Regierung, Dadaab zu schließen; sie bezeichneten das Flüchtlingslager als »Brutstätte« und »Kinderstube für Terroristen«.3

Im April 2014 kam es zur Operation Usalama Watch (Peace Watch), in deren Verlauf nahezu 4 000 Menschen somalischer Herkunft festgenommen wurden, die meisten von ihnen Geflüchtete.4 Erklärtes Ziel der vor allem in den von Somalis bewohnten Vierteln der Hauptstadt Nairobi ausgeführten Operation war es, illegale Einwanderer und Sympathisanten von Al-Shabaab außer Landes zu bringen. Festgesetzte Personen wurden in Sammellager gebracht. Kritiker bezeichneten diese als »Konzentrationslager«, die Zustände würden an die »britischen Gulags« erinnern,5 in denen die Kolonialregierung in den fünfziger Jahren Kenianer inhaftiert, misshandelt und gefoltert hatte, die sich für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt hatten. Dutzende somalische Geflüchtete wurden laut Human Rights Watch nach kurzer Haft und ohne jedes Gerichtsverfahren nach Somalia abgeschoben.6

Acht Monate später, am 8. Dezember 2014, ging ein UNHCR-Projekt in die Pilotphase, das die Rückführung somalischer Geflüchteter aus Kenia vorsah. Das Flüchtlingskommissariat bezeichnete den Vorgang als »einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lösung für eines der langanhaltendsten Flüchtlingsprobleme weltweit«.7 Zehn Tage darauf kam es im kenianischen Parlament zu im Fernsehen übertragenen Handgreiflichkeiten,8 als ein umstrittenes und weitreichendes Sicherheitsgesetz verabschiedet wurde. Dieses sah vor, die Zahl der im Land befindlichen Flüchtlinge von 600 000 auf 150 000 zu reduzieren und deren Aufenthalt auf zugewiesene Camps zu beschränken. Menschenrechtsgruppen verurteilten diesen Vorgang und warnten davor, dass Geflüchtete von nun an zwangsweise zurückgeführt werden könnten – was den kenianischen und internationalen gesetzlichen Regelungen zuwiderlaufen würde. Zwar erklärten Richter des High Court of Kenya das Gesetz in seiner ursprünglichen Form für verfassungswidrig, ließen gleichwohl aber jene Teile des Gesetzes gelten, welche die Freizügigkeit von Geflüchteten innerhalb Kenias einschränkten.9

Die Situation verschärfte sich infolge eines Anschlags, der am 2. April 2015 auf das Garissa University College im Nordosten von Kenia verübt wurde; gerade einmal 70 Meilen vom Flüchtlingscamp Dadaab entfernt fielen 148 Menschen, überwiegend Studierende, Al-Shabaab-Kämpfern zum Opfer. Nach diesem Vorfall verlangte der kenianische Vizepräsident William Ruto die Schließung des Camps10 binnen drei Monaten und die Umsiedlung aller Geflüchteten. In einer Erklärung verkündete er: »So wie sich Amerika nach dem 11. September gewandelt hat, so wird sich – nach Garissa – auch Kenia wandeln.«

Mit dem Anschlag auf das Garissa University College, so Anfi, und nach all den Ereignissen der letzten Jahre hätte sich die Situation in Dadaab zu einem Albtraum entwickelt: wachsende Unsicherheit, sanitärer Notstand, Krankheiten, polizeiliche Übergriffe und dazu die bange Vorahnung, was eine Rückführung für seine Familie bedeuten könnte. Außerdem hätten Hilfsorganisationen, darunter das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, angekündigt, die Nahrungsrationen und Hilfsmaßnahmen wegen schrumpfender finanzieller Mittel zurückzufahren.11 Viele Jahre lang hatten nicht-staatliche Organisationen und die Regierungen anderer Länder den Betrieb von Dadaab mit Spenden finanziert, ohne dass Kenia dazu viel beigetragen hätte. Gleichzeitig hat die Flüchtlingspolitik der Regierung aber die Campbewohner von den Hilfen abhängig gemacht und damit verhindert, dass diese sich eine nachhaltige Lebensgrundlage schaffen.

»Wir kommen uns hier wie in einer Lagerhalle vor«, sagt Anfi. »Nichts bewegt sich. Wir sitzen fest. Es ist wie im Gefängnis.«

Anfi und Hunderttausende weiterer Geflüchtete fragen sich, wie sich der Ort, den sie seit Jahrzehnten ihr Zuhause nennen, in den nächsten Jahren entwickeln wird. Anfang März 2016 hat die kenianische Regierung das Department of Refugee Affairs aufgelöst – eine Regierungsbehörde, die für die Flüchtlingsregistrierung und -verwaltung zuständig war – und damit den Weg für die Schließung des Camps geebnet. Frust lässt ihn fast an eine Verschwörung glauben: Seiner Ansicht nach wendet sich die Campverwaltung gegen die Geflüchteten und beschneidet ganz bewusst grundlegende Versorgungsleistungen, um so den Druck zu erhöhen, damit die Bewohner das Camp verlassen.

»Aber wo soll ich denn hingehen?«, fragt Anfi und gestikuliert mit seinen langen Armen und dünnen Fingern. »Ich kann doch nirgendwohin zurück!«

*

Bis zu seiner Abwicklung war das Department of Refugee Affairs für die Besuchsgenehmigungen für Dadaab zuständig gewesen, und ich machte mich auf den Weg dorthin. Die Behörde befand sich in Lavington, einem ruhigen Viertel am Stadtrand von Nairobi, in einem Gebäude namens The Castle, das architektonisch an ein Kolonialfort erinnerte – große, imposante Fenster, weitläufige Räumlichkeiten. Eine unheimliche Stille und eine enorme Diskrepanz zwischen dem Pomp und den Menschen, um deren Belange man sich hier kümmern sollte. An den Wänden hingen kitschige Kalender mit dem Motto der Behörde: »Flüchtlinge sind Menschen.« Nachdem ich die Genehmigung erhalten habe, fahre ich frühmorgens mit dem Bus von Nairobi in die Stadt Garissa, dem Verwaltungszentrum von Garissa County mit seinen sechs Distrikten;12 von denen einer Dadaab ist. Der Bus ist schnell unterwegs und mit allerhand religiösem Klimbim und Bildchen geschmückt: »Es gibt keinen Gott außer Allah«, verkünden sie, islamische Feiertage werden gepriesen. Nach einer sechsstündigen Fahrt durch grünes, nebliges Hochland geht es bei hohen Temperaturen über unfruchtbares Land bis nach Garissa. Die florierende, überbevölkerte Stadt liegt etwa 350 Kilometer nördlich von Nairobi und wurde von Interpol einmal als sicherste Stadt in Ost- und Zentralafrika bezeichnet.13 Ich übernachte in Garissa. Am nächsten Morgen mache ich mich auf nach Dadaab.

Laut Google Maps braucht man mit dem Auto von Garissa nach Dadaab etwa eine Stunde und 25 Minuten. Tatsächlich aber fährt man dreieinhalb Stunden durch eintönige Landschaft, hier und da ein Akazienbaum oder Busch – aber nichts, das als Orientierungshilfe dienen könnte. Ein Anflug von Vertrautheit auf diesen verlassenen Pisten entsteht nur, wenn Autofahrer anhalten, um sich herzlich zu begrüßen, oder hupen, wenn sie aneinander vorbeifahren. Trostlose alltägliche Szenerien mit verschlafenen Siedlungen wischen an einem vorüber – Mütter halten im Schatten der Bäume ihre nackten Kinder im Arm und sehen den Autos nach, Mädchen am Straßenrand laufen auf Busse und Lastwagen zu, in der Hoffnung, sie anzuhalten, damit ihnen jemand in alte Plastikflaschen abgefüllte Kamel- oder Ziegenmilch abkauft.

Bevor wir Dadaab erreichen, halten wir – der Fahrer, mein Begleiter und ich – in einem kleinen Dorf namens Hagar Buul. Wir sitzen in einer Hütte, in der ein solarbetriebener Fernseher läuft. Vier Männer kauen Khat, ein leicht anregendes pflanzliches Rauschmittel. Sie trinken Tee und lauschen, wie Sean Hannity auf Fox News über Bernie Sanders spricht, den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. Die Männer haben rissige Lippen und staubige Beine, jeder hat einen Dolch und einen Gehstock neben sich. »Der alte Mann da soll gewinnen«, sagt einer von ihnen und deutet auf Sanders. »Nein, nein«, sagt der Mann zu seiner Rechten. »Die Lady soll gewinnen. Die hat es verdient.« Dann streiten sie sich über Führungsqualitäten, Frauen, die amerikanische Demokratie, und wenig später beginnt der Sanders-Unterstützer, der im Besitz der Fernbedienung ist, durch die Kanäle zu zappen. Er landet bei Russia Today, gerade läuft die Vorschau für eine Reportage über einige Angehörige der kenianischen Volksgruppe der Massai, die Russland besucht haben: »Massai: Aus dem Sand in den Schnee« lautet der Titel. Bald darauf überlassen wir die Männer ihrem Khat und fahren weiter durch das schwierige Gelände, bis wir auf den gewundenen, labyrinthartigen Sandpisten gegen sechs Uhr nachmittags in Dadaab-Stadt ankommen.

Der gesamte Flüchtlingskomplex von Dadaab besteht aus fünf Camps. In Hagadera, Dagahaley und Ifo sind die bis 1991 angekommenen Geflüchteten untergebracht; die jüngeren Camps, Ifo 2 und Kambios, wurden für die im Juli beziehungsweise September 2011 neu dazugekommenen Geflüchteten errichtet. Jedes Camp ist in Sektoren unterteilt, die in alphabetischer Reihenfolge benannt und wiederum in Blöcke aufgeteilt sind. Jeder Block verfügt über einen Gemeindevorsteher, einen Spielplatz, eine Krankenstation, eine Moschee und eine Wasserstelle. Einige Behausungen sind aus Wellblech und Pflöcken errichtet, andere aus Steinen, die meisten verfügen jedoch nur über eine Plane als Dach. Auf geschäftigen Marktplätzen, vor allem in Hagadera und Dagahaley, gibt es billige Gebrauchswaren, Textilien und Spielzeug. Darüber hinaus finden sich hier auch Apotheken, Banken, Restaurants, Agenturen für Bargeldtransfer, Läden für elektronisches Gerät, Fleischer sowie Herren- und Damenfriseure. Mit den Jahren hat sich das Camp zu einer eigenen Stadt entwickelt, einem abgelegenen Außenposten, dessen geographischer Umriss auf der Karte an ein etwas kümmerlich geratenes L erinnert.

Überall im Camp informieren großformatige Plakate über Präventivmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Cholera, HIV und zahlreichen anderen Krankheiten. Auf Metallschildern bewerben NGOs ihre Arbeit: Projekte in Dadaab sollen wieder ein- und umgesetzt sowie gefördert werden. Die Liste der NGOs, die rund um Dadaab aktiv sind, ist schier endlos: International Rescue Committee, Norwegian Refugee Council, World Food Programme, Lutheran World Federation, International Organization for Migration (IOM), African Development Solutions usw. Nur dank der Arbeit all dieser Organisationen konnte Dadaab zu dieser Stadt werden, die ihren staatenlosen Bewohnern den Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Wasser und gewisse ökonomische Möglichkeiten bietet. Seit der Gründung vor 25 Jahren ist Dadaab für viele Menschen ein ständiges Zuhause – eine selbstgestaltete Flüchtlingsrepublik für Menschen, die in einem Zustand ewigen Wartens gefangen sind.

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Zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015 wurden 33 00014 der in Kenia ansässigen Somalis an mehr als 30 verschiedene Orte in Somalia zurückgeführt. Die meisten somalischen Geflüchteten lehnten eine Rückführung jedoch ab – laut einer im Jahr 2014 gemeinsam vom UNHCR und der IOM durchgeführten Umfrage15 wollten nur 2,6 Prozent der in Dadaab lebenden Flüchtlinge zurück in ihr Heimatland. Zustimmend reagierten vor allem diejenigen Geflüchteten, die erst nach der Jahrtausendwende in Dadaab angekommen und deswegen zuversichtlicher waren, in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren zu können, oder Geflüchtete, die Freunde und Bekannte in ihrem Herkunftsland hatten, die bei der Bezahlung einer Unterkunft behilflich sein oder selbst Obdach bieten konnten. Menschen wie Anfi dagegen, die bereits in den frühen neunziger Jahren gekommen waren, lehnen eine Rückkehr ab aus Angst, wirtschaftlich nicht überleben zu können.

Die Drohungen Kenias, das Camp zu schließen, stehen in krassem Widerspruch zu dem mit Somalia und dem UNHCR abgeschlossenen Dreierabkommen. In dem 15-seitigen Dokument16 wird Kenia verpflichtet, allen Geflüchteten so lange Schutz und Hilfe zu gewähren, bis eine nachhaltige Lösung in Sicht ist, das heißt mit anderen Worten: bis in Somalia Frieden herrscht. So gesehen handelt es sich bei dem Dreierabkommen um eine mangelhafte Vereinbarung. Sie basiert auf der Annahme, dass sich die Sicherheitslage in Somalia verbessern wird und dass Kenia auf der anderen Seite wegen der Geflüchteten in ökonomische und sicherheitspolitische Schwierigkeiten gerät. Aufgrund der prekären Bedingungen, mit denen sich die Rückkehrer vor Ort konfrontiert sehen, kommt die Zustimmung zur Rückkehr einem Teufelspakt gleich, bei dem die Geflüchteten leer ausgehen. Denn zum einen ist Somalia weiterhin mit komplexen Problemen17 konfrontiert, sogar mehr noch als vor ein oder zwei Jahrzehnten: Millionen von Menschen sind aufgrund lang ausbleibender Regenfälle von Ernährungsunsicherheit bedroht; Städte und Dörfer sind ständig den Terrorattacken der Al-Shabaab ausgesetzt; die von der internationalen Gemeinschaft gestützte Zentralregierung ist durch Korruption und Fehlmanagement geschwächt, ganz abgesehen von den politischen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Bundesstaaten.18

Und doch sind Experten der Ansicht, dass es sich bei dem Dreierabkommen um eine zukunftsweisende Vereinbarung handelt, weil es eben auch die Bedürfnisse von Geflüchteten berücksichtigt, die zurückkehren wollen. Zudem dürfen laut Abkommen Familienmitglieder nicht gegen ihren Willen getrennt werden, und den Geflüchteten müssen gültige Ausbildungs-, Geburts- und Familienstandsdokumente zur Verfügung gestellt werden. Kindern, Frauen und älteren Menschen steht bei der Wiedereingliederung eine Unterstützung zu. Über die Jahre angesammelte Individual- und Gemeinschaftseinkommen dürfen nicht besteuert werden. Außerdem verpflichtet sich die somalische Regierung, jedem nicht-somalischen Familienangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Das Abkommen »trägt zu einer gewissen Verbesserung bei«, so Andrew Maina, Programmbeauftragter der Nichtregierungsorganisation Refugee Consortium of Kenya, die sich in Kenia für den Schutz von Geflüchteten und Staatenlosen einsetzt. »Zielsetzung ist weniger die Rückkehr als solche als eine Rückkehr in Sicherheit und Würde.«

Der Rückführungsprozess beginnt, sobald sich die Geflüchteten an eines der ausgewiesenen Büros wenden, die sich in allen fünf Camps befinden. Die Büros sind dreistufig organisiert. Der UNHCR als leitende Institution organisiert die Rückkehr, das Norwegian Refugee Council bietet Informationen über mögliche Rückkehrgebiete, und eine kenianische Behörde stellt die nötigen Reiseunterlagen aus. Der gesamte Vorgang dauert bis zu einer Woche. UN-Beamten zufolge hätten die Rückkehrer aber ausreichend Zeit, sich mit Freunden zu besprechen und Familienmitglieder über ihre Entscheidung zu informieren.

Für einige der Geflüchteten, die schon lange in Dadaab sind, hat die Schnelligkeit, mit der das Ganze vonstatten geht, allerdings eine Kehrseite. Eines Nachmittags frage ich den Kellner, bei dem ich im Midnimo Restaurant im Hagadera-Camp die Rechnung für mein Mittagessen begleiche, was er von dem Rückführungsprozess halte. Er habe sechs Kinder, sagt er, das älteste sei 13; zwar plane er nicht zurückzugehen, aber selbst wenn – für seine Familie wäre es zu schwierig, heimisch zu werden. »Meine Kinder kennen doch Somalia gar nicht«, meint er. »Wie auch? Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, mit ihnen darüber zu reden.«

Als ich erwidere, es müsse hart sein, länger als zweieinhalb Jahrzehnte in einem Flüchtlingscamp zuzubringen und dass es vielleicht besser wäre, nach Somalia zurückzukehren, schüttelt er den Kopf. »In Kenia«, sagt er, »sind wir Flüchtlinge, aber wenn wir nach Somalia zurückgehen, sind wir Flüchtlinge im eigenen Land.« Er wolle nicht in die Vergangenheit, sondern nach vorne blicken: »Ich hoffe darauf, umgesiedelt zu werden. Ich möchte aber nach Amerika«, ergänzt er.