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JAKOB HORVAT

WELTNAH

RAUS AUS DER KOMFORTZONE,
REIN INS LEBEN

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INHALT

PROLOG

KAPITEL 1Die Macht des Augenblicks

Per Anhalter von Wien nach Südportugal

WELTNAH ZU HAUSE: Das Eis brechen

KAPITEL 2Hinter der Komfortzone liegt die Unendlichkeit

Acht Tage auf dem Segelboot nach Teneriffa

WELTNAH ZU HAUSE: Die Komfortzone erweitern

KAPITEL 3Mit Hippies am Strand, allein im Wald

Advent auf Teneriffa

WELTNAH ZU HAUSE: Waldbaden

KAPITEL 4Alles ist möglich

Bootssuche auf Gran Canaria

WELTNAH ZU HAUSE: Affirmationen

KAPITEL 5Die Angst spüren und es trotzdem tun

In drei Wochen über den Atlantik

WELTNAH ZU HAUSE: Finde deine Werkzeuge

KAPITEL 6Die Suche nach dem Glück

Drei Monate durch Kolumbien

WELTNAH ZU HAUSE: Dankbar sein

KAPITEL 7Stromabwärts in eine andere Welt

Mit Schamanen im Urwald und Kühen am Boot

WELTNAH ZU HAUSE: Leben und leben lassen

KAPITEL 8California Dreaming

Per Anhalter von San Francisco nach San Diego

WELTNAH ZU HAUSE: Anerkennung schenken

KAPITEL 9Achterbahn im Sonnenschein

Zu Besuch bei Freunden in San Diego

WELTNAH ZU HAUSE: Alte Gewohnheiten durch neue ersetzen

KAPITEL 10Der Hund schaut vom Vulkan herab

Maui, Yoga und der »Run to the Sun«

WELTNAH ZU HAUSE: Mach dein Ding

KAPITEL 11Wie ich lernte, mit mir selbst zu feiern

Sechs Tage allein auf Kauai

WELTNAH ZU HAUSE: Werde dein größter Fan

KAPITEL 12Entdecken auf Indisch

Reise durch das Goldene Dreieck

WELTNAH ZU HAUSE: Erwartungen loslassen

KAPITEL 13Namasté Olé

Yogalehrerausbildung in Goa

WELTNAH ZU HAUSE: Mach dich zu deiner besten Version

KAPITEL 14Stille zum Schluss

Rendezvous mit dem Unerklärbaren

EPILOG

DANKE

LITERATURLISTE

WEITERFÜHRENDE LINKS & IMPRESSUM

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PROLOG

»Es liegt eine Weisheit in der Unvernunft, die sich die Vernunft nicht träumen ließe – wenn sie träumen könnte.«

Hans Kruppa

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25. Oktober 2015, Wien. Ich lese die Nachricht von einem guten Freund aus Norwegen. Martin erzählt mir von einer verrückten Idee, die er hat. Für ein Jahr alles zurücklassen und einmal um die Welt reisen, per Anhalter und ohne zu fliegen. Das kommt mir in der Tat ziemlich absurd vor.

In den vergangenen dreißig Jahren habe ich einige Dinge ganz gut hinbekommen. Ich habe Publizistik studiert und einen Job als Fernsehjournalist gefunden, der mir Spaß macht. Ich stehe auf eigenen Beinen und auf meine Wohnung in Wien. Ich liebe meine Familie und habe einige wirklich gute Freunde. Ich kann feiern und gut mit Menschen, treibe regelmäßig Sport und genieße mein Singleleben. Andere Teile von mir mag ich weniger. Ich bin ein Sturkopf und beharre zuweilen aus Prinzip auf meiner Meinung. Dazu ein chronischer Kopfmensch, der Probleme zerdenkt, bevor sie entstehen. Außerdem grüble ich zu oft nach, wie andere über mich denken und mein Ego ist kaum zufriedenzustellen. Hat es das Eine, will es das Nächste. In Summe aber führe ich ein gutes und durchaus glückliches Leben.

Nach einer Woche schreibe ich Martin zurück und bekunde, dass ich zwar noch nicht viel mit seiner Idee anfangen kann, er aber etwas ins Rollen gebracht hat. Wir beschließen, dem Ganzen Zeit zu geben und zu beobachten, wie es sich entwickelt.

Nach einem Monat erzähle ich zum ersten Mal jemandem davon, meiner Familie bei der Geburtstagsfeier meines Vaters. Die verrückte Idee ist mittlerweile zu einer Vision geworden und der Gedanke, möglicherweise schon bald eine Reise zu unternehmen, von der ich bis vor Kurzem nicht zu träumen gewagt hätte, entflammt meine Seele.

Doch halt: Mein Job, meine Familie, meine Freunde, meine Wohnung. Alles zurücklassen? Gar die Zelte abbrechen? Die Realität sorgt für Abkühlung. Aus Angst, mein Chef könnte negativ reagieren, schiebe ich das Gespräch mit ihm zwei Monate lang vor mir her. Was, wenn er Nein sagt? Was, wenn das meiner Karriere schadet? Würde ich bis zum Äußersten gehen und kündigen? Vermutlich nicht.

Im Februar 2016 dann, das erlösende Gespräch. Mein Chef ist nicht sauer, nicht enttäuscht. Im Gegenteil, er erzählt mir von seinen eigenen Reisen, die er früher unternommen hat und bekräftigt, wie wichtig es sei, sich die Welt anzusehen. Er legt bei der Chefredakteurin ein gutes Wort für mich ein. Auch dort grünes Licht, meine Sorgen waren umsonst.

Martin kann sich einige Monate freischaufeln und wird mich auf den ersten Etappen begleiten. Ich beginne mit Recherchen, besuche eine Bootsmesse und unterhalte mich mit erfahrenen Seglern, um herauszufinden, wie realistisch es ist, in einem Jahr ohne Flugzeug um die Welt zu reisen. Möglich durchaus, aber nicht ratsam, wenn ich genießen möchte, was dazwischen liegt. Stress habe ich zuhause auch, dort darf er bleiben. Martin und ich kommen überein, dass es das Beste wäre, ohne Plan aufzubrechen und das Leben zu nehmen, wie es kommt. Um dem Unternehmen dennoch eine Stoßrichtung zu geben, formulieren wir eine Mission: Per Anhalter von Wien nach Amerika. Ohne Flugzeug den Kontinent wechseln, nur mit Hilfe von Fremden. Dann schauen wir weiter.

Kann so etwas auch nur irgendjemand wollen, der halbwegs bei Vernunft ist? Die Welt: ein gefährlicher, ein schrecklicher Ort, so kommt mir das oft vor, wenn ich mir die Nachrichten ansehe. Ich bin Politikjournalist und habe das vergangene Jahr beruflich größtenteils damit verbracht, über die sogenannte »Flüchtlingswelle« zu berichten. Und über deren Folgen. Die Angst vor Fremden ist zur Grundstimmung im Land geworden. Rechte Parteien schlagen Kapital daraus, schüren Ängste, jeder vertritt einen Standpunkt und wir Journalisten beobachten neutral und vermitteln sachlich, ohne Partei zu ergreifen, emotionslos. Das ist wichtig, wie sonst soll man sich eine fundierte Meinung bilden können über den Gang der Welt?

Doch die Welt geht auf 7,7 Milliarden Fußpaaren und wird betrachtet aus ebenso vielen Perspektiven. Eine Chance für den, der offen ist. Eine Bedrohung für den, der meint, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Wer will bei so viel Buntem über die Farbe Bescheid wissen? Wer sieht sich imstande zu entscheiden über richtig oder falsch?

Wie war das bis jetzt? Ich wurde geboren, lernte von klein auf, wer ich sein und was ich können soll, wie ich mich zu verhalten habe, welche Gewohnheiten ich pflegen soll und welche besser nicht. Woran ich glauben und welchen Werten und Dogmen ich mich beugen soll. Was mir bis jetzt niemand beigebracht hat, ist, wie ich herausfinde, wer ich wirklich bin. Hinter meiner Konditionierung, hinter dem Gelernten. Warum bin ich hier? Was macht mich glücklich? Ich meine nachhaltig, nicht kurzfristig? Konsum, Partys und ein geregeltes Leben alleine sind es nicht. Das herauszufinden war schwierig genug, war es doch auch unheimlich bequem, die Vorstellungen und Sichtweisen jener zu übernehmen, die schon vor mir da waren. Die es besser wissen. Doch was, wenn mich das Gefühl beschleicht, dass es das noch nicht gewesen sein kann? Soll ich weitermachen wie bisher? Wie soll ich herausfinden, ob etwas anderes besser zu mir passt, wenn ich immer das Gleiche tue?

Meine Neugierde auf das Leben zieht mich in die Welt hinaus, damit ich mit ihr auf Tuchfühlung gehen und die Realitäten von so vielen Menschen wie möglich kennenlernen kann. Will jene suchen und finden, die Gutes tun. Mit Höhen zum Feiern und Tiefen zum Weinen und allem, was dazwischen liegt. Damit ich mir selbst auf die Schliche und meiner eigenen Wahrheit ein Stück näherkommen kann. Nur durch stetes Ausprobieren kann ich sie erfahren, durch Dazulernen und Überprüfen des bisher Gelernten und – ohne geht es nicht – durch das Verlassen meiner Komfortzone. Sprich: über die Grenzen des mir Vertrauten hinaus zu schreiten. Mit meinem Körper, meinem Verstand und meinem Herzen. Das ist das Ziel meiner Reise. Niemanden will ich überzeugen. Niemandem das, was ich als meine Realität erfahre, aufs Auge drücken. Nur anregen zum Forschen. Zum Wachsamsein gegenüber Möglichkeiten, zur Neugierde. Indem ich die Geschichten von Menschen erzähle und meine eigene teile.

Am 10. November 2016 verlassen Martin und ich meine Wohnung in Wien. Wir schlagen mit beiden Händen ein und bitten einen Passanten, ein Foto zu machen. Nächster Halt: Matzleinsdorfer Platz.

KAPITEL 1

DIE MACHT DES AUGENBLICKS

PER ANHALTER VON WIEN NACH SÜDPORTUGAL

»So many of our dreams at first seem impossible.
Then they seem improbable. And then, when we summon the will, they soon become inevitable.«

Nelson Mandela

10. NOVEMBER BIS 4. DEZEMBER 2016

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Viele Gründe fallen mir ein, warum das hier eine Nummer zu groß für mich ist. Jetzt schreien sie lauter denn je, doch der Nachmittagsverkehr übertönt sie. Ich stehe am Wiener Matzleinsdorfer Platz, irgendwo zwischen Würstelstand, Bushaltestelle und Stadtausfahrt. »Arbeiterstrich« heißt dieser Ort im feinen Jargon, weil hier die Tagelöhner frühmorgens auf Jobs warten und darauf hoffen, dass sie einer zur nächsten Baustelle mitnimmt. Der graue November prasselt auf den Regenschutz, den ich vor wenigen Minuten über meinen frisch gepackten Rucksack gespannt habe. Darin hat alles Platz, was ich in den kommenden 14 Monaten brauche. Beinahe alles. Die notwendige Körperkraft, um die 22 Kilo Marschgepäck um die Welt zu schleppen, darf ich mir noch antrainieren. Derzeit fühlen sich meine Schritte noch schwerfällig und steif an – und sehen vermutlich auch so aus. Ich halte ein Kartonschild in die Höhe, das einige Passanten nervös zu machen scheint, als wüssten sie nicht, ob sie den Arzt oder die Polizei rufen sollen. Darauf steht in dicken schwarzen Lettern: Südamerika.

»Cheers!«, sagt Martin mit regennassen Haaren und lässt den Verschluss der Ottakringer-Dose zischen, die er uns zur Feier des Tages von der Tankstelle geholt hat, vor der wir uns positioniert haben. Ich habe den charmanten Norweger vor fünf Jahren in einer Bar in Bangkok kennengelernt. Wir kippten ein paar Drinks, feierten eine wirklich gute Party auf der Khao San Road und besuchten am nächsten Tag den Königspalast. Mehr nicht. Als meine vierjährige Beziehung ein halbes Jahr später zu Ende ging, ich frische Luft brauchte und einen zum Reden, war er da. Er lud mich ein auf einen Roadtrip durch Norwegen, auf Whisky am Lagerfeuer und Campen im Wald. Als ich ihn bat, mir etwas auf Norwegisch beizubringen, kam er daher mit: »Jeg har mange poteter i ryggsekken«. Ich habe viele Kartoffeln in meinem Rucksack. Das wurde zum Running Gag. Denn wann zum Kuckuck soll ich das jemals verwenden?

Mit Martin ist mir noch nie fad geworden, wir haben einander immer etwas zu erzählen. Ich bin außerdem fasziniert von seinem wachen Geist und seiner weltoffenen Art. Martin kann auf der Straße eine wildfremde Person ansprechen und mit ihr zwei Minuten später das Paarungsverhalten kongolesischer Berggorillas erörtern. Der Gute hat einmal an einem Seminar teilgenommen, das ihm die Verbesserung seiner Social Skills versprochen hat. Eine der Aufgaben war es, einen Monat lang jeden Tag 50 fremde Menschen anzusprechen. Übung macht den Meister. Er stellt kluge Fragen, findet originelle Lösungen für noch originellere Probleme und glaubt an das Gute in der Menschheit. Neben einem begnadeten Frauenversteher ist Martin auch Lokalpolitiker für die grüne Partei in Norwegen. Der Tausendsassa ist schon mehrmals durch Europa getrampt, ich hingegen stoppte gerade einmal vom Dorffest nach Hause. Es tut gut, diese Reise mit jemandem zu beginnen, der sich auskennt. Von ihm darf ich lernen, nicht nur übers Trampen, auch über Sanftmut und Lebensfreude.

Passanten bummeln vorbei. Einige lachen über unser Kartonschild, einer klopft mir auf die Schulter und sagt: »Viel Glück.« Die grauen Blicke der vorbeifahrenden Autofahrer sprechen zu uns. Mit Mund und Augen weit geöffnet und mitfühlendem Wiener Charme: »Hams denen einbrochen?« Niemand bleibt stehen.

Hermann Hesse hat einst meisterhaft formuliert:

»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.«

Diese Euphorie trägt uns seit vier Stunden stadtauswärts, immer noch zu Fuß. Mittlerweile ist es dunkel und wir sind geschätzte drei Kilometer entlang der Triester Straße in Richtung Autobahn gewandert. Ich glaube nicht, dass uns bis jetzt irgendjemand ernst genommen hat.

Dann, endlich, erbarmt sich einer. Peter kommt gerade von der Arbeit, fährt heim nach Guntramsdorf und nimmt uns bis zur nächsten Raststation mit. Bis dorthin sind es zwar nur siebzehn Kilometer, aber immerhin, wir sind auf der Autobahn. Mit jeder Stunde, die ins Land zieht, ziehen wir ein Stück weiter hinaus.

Raststationen sind die perfekten Hitchhiking-Spots. Sie liegen direkt an der Autobahn und wer hier tankt, hat in der Regel noch eine weitere Strecke vor sich. Nicht per Kartonschild am Straßenrand, sondern im Rahmen eines persönlichen Gespräches an der Zapfsäule um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten, bietet zudem größere Erfolgschancen. Dafür sind aber auch die Zurückweisungen unmittelbarer. Ein Mann im SUV überhört meine Frage absichtlich, dreht sich weg, möchte in Ruhe gelassen werden. Natürlich, es ist nicht jedermanns Sache, zwei fremde Männer in ihrem Auto mitzunehmen. Die Angst sitzt tief bei vielen, auch das bekommen wir zu spüren. Im nächsten Augenblick geht ein junger Mann an mir vorbei, zurück zu seinem Auto mit Grazer Kennzeichen.

»Wo wollt ihr zwei denn hin?«

»Graz wäre fein«, antworte ich.

»Steigt ein, ich nehm euch mit«, sagt der Student und egalisiert damit auf einen Schlag die dutzenden Körbe, die wir uns heute geholt haben. Martin unterhält sich mit ihm, während ich uns eine Schlafgelegenheit in Graz organisiere.

Wir dürfen bei Leandro übernachten, dem ich vom Rücksitz aus auf couchsurfing.org geschrieben habe. Wir kennen einander nicht, doch der Slogan der Online-Plattform, die Gratis-Schlafplätze vermittelt, ist auch in den Köpfen ihrer Nutzer Programm: You have friends everywhere. You just don’t know them yet.

Ein Grazer Einkaufszentrum, Tag zwei von vierhundertzwei. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er enden wird.

Die Menschen begegnen uns mit Neugierde, Schaulust und Wohlwollen. Die Tankstellenfrau gibt uns Tipps, wie wir zu einem geeigneten Spot kommen, die Dame am Postschalter schenkt uns einen Karton, auf den wir das nächste Ziel schreiben können: Mailand.

Wir wandern zu einer Tankstelle in der Nähe der Autobahnauffahrt und stellen uns an den Kreisverkehr. Wir dachten, das sei eine gute Idee. Die Anfangseuphorie ist zurück, Martin macht einen Kopfstand am Straßenrand. Ich tanze zur Musik in meinem Headset und halte den lachenden Autofahrern mit breitem Grinsen das Schild entgegen. Manche hupen als Zeichen ihrer Anteilnahme, andere winken. Die Interaktionen mit den Passanten machen Spaß, eine Party am Kreisverkehr. Für ein paar Augenblicke vergesse ich, dass wir den ganzen Zirkus veranstalten, um irgendwohin zu kommen. Als ginge es allein darum, hier zu sein. In diesem Moment. An der Tankstelle in Graz.

Vier Stunden später kann ich die Tankstelle nicht mehr sehen, das Gehupe nicht mehr hören, die Füße tun mir weh und das Tanzen ist mir vergangen. Zwar sind ein paar Autos stehengeblieben, doch sie fuhren entweder in die falsche Richtung oder nicht weit genug, als dass es sich ausgezahlt hätte, den Ort zu wechseln. Wir nehmen ein Taxi zur nächsten Autobahnraststätte. Von dort geht es dann endlich weiter in Richtung Süden, bis zu einer kleinen Raststation kurz vor Klagenfurt. Hier ist wenig los, nur alle paar Minuten lenkt einer sein Auto herein. Ein Wiener bleibt stehen und steigt aus seinem kleinen, roten Auto.

»Willkommen in Kärnten«, begrüße ich ihn.

»Danke, wohin wollt ihr denn?«

»Südamerika«, antworte ich, »aber fürs Erste reicht Italien. Wohin fährst du?«

»Mailand«, sagt der junge, bärtige Mann.

»Jackpot«, denke ich.

»Angst«, denkt er. Zumindest schließe ich das aus dem, was er als Nächstes sagt.

»Ich würde euch ja gerne mitnehmen, aber ich kenne euch nicht.«

»Das können wir ändern«, sage ich und reiche ihm die Hand. »Jakob, freut mich.«

Er scheint nicht sonderlich beeindruckt. »Ich gehe zahlen und überlege es mir derweil.« Ein letzter Funke Hoffnung. Dann kommt er wieder.

»Es geht nicht. Ich kenne euch nicht. Ihr könntet Kriminelle sein auf der Flucht.«

Ich lache.

Er fährt. Zu seiner Freundin nach Mailand, eine Fernbeziehung. Woher ich, der Fremde, das weiß? Er hat es mir erzählt.

Am späten Nachmittag rollt ein schwarzer Sattelschlepper mit rumänischem Kennzeichen an die Zapfsäule. Der Fahrer spricht kein Englisch. Mit Händen, Füßen und Kartonschild mache ich mich verständlich. Er zeigt auf seinen Beifahrersitz, dort ist Platz, aber nur für einen von uns. Wie weit er fährt, könne er noch nicht sagen. Drei Stunden, dann sei Schluss für heute. Er müsse die Ruhezeit einhalten, sonst drohen horrende Strafen. Ich verabschiede mich von Martin, in Mailand wollen wir einander wieder treffen. Ein komisches Gefühl und doch eine unerwartet reizvolle, weil abenteuerliche Wendung. Für Martin wird es heute noch länger dauern, bis er hier wegkommt. Ich hingegen rolle mit Trucker Dany und vierzig Tonnen im Rücken durch die Abenddämmerung. Bald passieren wir die italienische Grenze. Ich spüre, dass es an der Zeit ist, mein Heimatland zu verlassen. Ich werde es in den nächsten dreizehn Monaten nicht wiedersehen.

Dany hat in seinem nagelneuen Truck einen Wasserkocher, ein Bett und einen Laptop für Filme. Sogar eine kleine Herdplatte gehört zum Inventar. Der kleine Rumäne mit freundlichem Lächeln fährt 17.000 Kilometer pro Monat quer durch Europa, verbringt oft auch die Wochenenden im Führerhaus. Da darf er nicht fahren, muss dennoch auf der Raststätte bleiben, weil sonst das Risiko zu groß wäre, dass ihm einer den Diesel aus dem parkenden LKW klaut. Die Verständigung ist kompliziert, doch Dany bemüht sich, tippt immer wieder in seine Übersetzungs-App, um mir dann den Satz auf Englisch zu zeigen. Bald kann ich mulțumesc und noroc, Danke und Prost. Die beiden wichtigsten Wörter in jeder Sprache.

»Was gefällt dir am Truckfahren?«, frage ich Dany.

»Schau her«, sagt der 28-Jährige, ein paar Wörter gehen dann doch. Er lenkt seinen LKW leicht nach links und rechts. »Ich muss nichts machen außer fahren, schlafen und essen. Ein sehr gemütlicher Job.«

»Fühlst du dich einsam?«

»Ja, sehr. Meinen achtjährigen Sohn und meine Frau sehe ich das nächste Mal zu Weihnachten.«

Das ist in eineinhalb Monaten.

Dany fragt mich, warum ich nicht nach Amerika fliege, ob das nicht einfacher wäre. Er ist nicht der Erste, der das wissen möchte.

»Ich mag Abenteuer«, antworte ich. Dany kennt das englische Wort nicht.

»Was ist ein Abenteuer?«

»Wenn du nicht weißt, was als Nächstes passiert«, versuche ich mich an einer Erklärung und merke schnell, dass ihn diese Antwort nicht zufriedenstellt.

Ich muss pinkeln. Dany hält bei nächster Gelegenheit an einem einsamen Rastplatz. Im T-Shirt springe ich raus in die neblige Herbstnacht und stelle mich zum nächsten Baum. Hinter mir brummt der Motor des Trucks. Plötzlich schießt ein Gedanke durch meine Synapsen und mir wird schlagartig anders. Alles, außer das Gewand, das ich trage, ist im Lastwagen. Mein Rucksack, meine Geldbörse, mein Reisepass. Nicht einmal mein Handy habe ich eingesteckt. Wenn Dany Gas gibt, ist meine Reise zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat.

Im Eiltempo steige ich zurück in den Truck. Dany wartet geduldig und lächelt mich an. Wir fahren weiter, mit blauem Neonlicht unter der Windschutzscheibe und rumänischer Volksmusik im Ohr. Ich starte nun einen zweiten Versuch, auf Danys Frage von vorhin zu antworten.

»Ein Abenteuer ist es, wenn ich einem völlig fremden Mann mein gesamtes Reiseleben anvertraue. Oder wenn du einem völlig fremden Mann vertraust, dass er dich nicht rausschmeißt und mit deinem Truck abhaut.«

Dany lacht. Ich glaube, das hat ihn überzeugt.

Ende der gemeinsamen Fahrt bei einer betriebsamen Tankstelle irgendwo in Norditalien. Dany muss rasten. Ich habe Glück und darf mit einer Partie Jungspunde mit nach Mailand. Martin wird irgendwo in der Pampa in einem überteuerten Hotel mit miserablem Frühstücksbuffet nächtigen. Davon erzählt er mir, als wir uns am nächsten Tag im Zentrum von Mailand wiedersehen.

Es ist ein großer Tag für den Nachwuchspolitiker. In Kürze entscheidet sich, ob er nächsten Herbst für die Grünen bei den norwegischen Parlamentswahlen antreten oder mit mir um die Welt reisen wird. Abends klingen die Biergläser, die Mehrheit seiner Parteikollegen steht hinter ihm. Das verkürzt seine Reisezeit auf wenige Monate. Ich lasse ihn zwar ungern ziehen. Doch einer wie er soll als Politiker erfolgreich werden. Die Welt braucht weltwache Menschenfreunde an den Schalthebeln. Dringend.

Auf dem Weg von Mailand nach Frankreich. Auf einer Raststation lernen wir Renaud und Ornella kennen. Ein hübsches, frisch verliebtes Paar aus Nizza, das gerade am Heimweg von seinem ersten gemeinsamen Urlaub am Comer See ist. Wir dürfen mit. Im Alfa Romeo streicheln die Turteltauben einander die Hände, werfen sich immer wieder verknallte Blicke zu. Wenn Liebe in der Luft liegt, ist das Atmen eine Freude.

Mir fällt Renauds Tätowierung am Unterarm auf, Definitely maybe, sein Lieblingsalbum von Oasis. Renaud spielt einen Song der britischen Band vor, Little by Little. Was für ein Titel, passt nicht nur für Rocksongs, sondern auch für Weltreisen.

»Mein bester Freund ist bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen und meine Beziehung ist unschön zu Ende gegangen«, erzählt Renaud. »Und jetzt sitze ich hier, bin überglücklich, mit meiner umwerfenden neuen Freundin neben mir und zwei Fremden auf dem Rücksitz. Im Leben kann alles passieren, nichts ist sicher. Keine Liebe, kein Job, kein Besitz. Alles eben definitely maybe. Besser ist es, wenn man das akzeptiert und lieber den Moment lebt, genießt, was ist.« Ornella küsst Renaud auf die Wange.

Genießen, was ist. Welch edler Vorsatz. In der vierten Nacht meiner Weltreise landen wir in einem Hostel in Nizza. Die Rezeptionistin ist eine Augenweide, ihr hinreißendes Lächeln und ihr freundlicher Blick fallen sowohl Martin auf als auch mir. Ein Amerikaner initiiert ein Trinkspiel mit Karten, Angela sitzt zwischen Martin und mir. Je mehr Karten am Boden liegen, desto eindeutiger werden ihre Zuneigungen. Als das Spiel vorbei ist, lädt sie uns in ihr Zimmer ein. Ihr erster Dreier, wie sie später erzählt. Meine Hemmungen sind auf Reisen tendenziell niedriger und liegen nach einem unerhört fröhlichen Trinkspiel deutlich unter Hüfthöhe.

Irgendwann wache ich auf, muss aufs Klo, stehe auf und torkle nackt aus dem Schlafzimmer. Es ist finster und mein Orientierungssinn vom Trinkspiel beeinträchtigt. Ich habe keine Ahnung, wo das Klo ist. Ich finde eine Türe, öffne sie, gehe drei Schritte hinaus und stehe im Stiegenhaus zwischen Staff-Area und Gästebereich. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss – ohne Staff-Schlüssel nicht mehr zu öffnen. Da stehe ich nun in der Morgendämmerung, ausgesperrt, splitternackt, restfett und ohne Ideen. Da geht bei der Rezeption die Türe auf und ich mache einen Satz hinter die viel zu kleine Pflanze, die neben mir steht. Rezeptionist Francesco biegt um die Ecke, sieht mich sofort, prustet los und kann sich vor Lachen nicht mehr halten. Ich spare mir jeglichen Kommentar. Den Moment genießen? Himmel, ich habe gerade andere Sorgen. Lieber schnurstracks in mein Zimmer, vorbei an der Rezeption und zwei Gästen, die soeben einchecken.

Marseille, zwei Tage später. Die Luft riecht nach Meer, das saukalte Morgenrot bricht sich im Smog der Großstadt. Ein Arzt im Sportwagen und ein Ingenieur im kleinen Peugeot, beide auf dem Weg zur Arbeit, bringen uns an einen Kreisverkehr außerhalb der Stadt. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages wärmen mein Gesicht. Porcelain von Moby im Ohr, manchmal darf es kitschig sein. Ich tanze mit dem Karton in der Hand. Tagesziel: Barcelona.

Was diesen Moment so besonders macht? Er ist so zufällig, so ungeplant, so echt. Es ist einer dieser lebensnahen Augenblicke, die mich schweben lassen, die ich in voller Präsenz wahrnehme, in denen ich nicht nur sein will, sondern bin.

Das registrieren auch die Passanten. Lachende Gesichter sind im Morgenverkehr kein allzu häufiger Anblick, wie der gelernte Österreicher weiß. Aber auch die Pendler in Südfrankreich erwecken in mir auf den ersten Blick nicht den Eindruck, als würden sie es vor Glück nicht mehr aushalten hinterm Steuer. Trotzdem – oder gerade deshalb – wärmt es jedes Mal mein Herz, wenn sich die vorbeifahrende Granitmimik verändert, weil zwei Clowns am Straßenrand in der aufgehenden Sonne tanzen und grinsend den Daumen in die Höhe halten. Nicht, dass viele stehen bleiben. Aber manchmal reicht es als Belohnung, wenn man einen daran erinnern darf, dass ein dämmernder Tag ein Geschenk ist und keine Strafe.

Spannend am Hitchhiken: Man weiß selten, was als Nächstes kommt. Nicht einmal zehn Minuten stehen wir neben dem Mautschranken, da hält ein glatzköpfiger Franzose an und drückt das Fenster seines Golfs herunter. Regis bietet uns eine Fahrt bis nach Perpignan an, das sind knapp dreihundert Kilometer bis knapp vor die spanische Grenze. Jackpot.

Regis leitet ein Luxushotel im französischen Katalonien.

»Du musst deinen Job lieben, wenn du Hotelmanager bist, sonst gehst du zugrunde. Die Gäste bezahlen für tolle Emotionen und mein Job ist es, sie glücklich zu machen. Trotzdem, es ist eine Show und natürlich bin ich nicht immer glücklich. Aber schlechte Stimmung ist etwas für zu Hause.«

Wir unterhalten uns über verständnisvolle Ehefrauen, meine bevorstehende Atlantiküberquerung und die sagenhafte Landschaft, durch die wir fahren. Das Meer links, ein See rechts, die Herbstsonne knallt durch die Windschutzscheibe und in der Ferne die Silhouette der Pyrenäen.

»Ich möchte euch gerne meine Familie vorstellen«, sagt Regis. »Wenn ihr wollt, fahren wir zu mir nach Hause.« Regis würde dafür einen Umweg von dreißig Minuten pro Richtung in Kauf nehmen und verspricht, uns später wieder zurück zur Autobahn zu führen. Seine Einladung berührt mich. Wir nehmen an, lernen bald Regis’ Frau kennen sowie seine Töchter Lea und Julie, vier Monate und fünf Jahre alt. Regis kredenzt frisches Baguette und französische Salami, und als er den Ricard in die Gläser gießt, knacken die Eiswürfel.

»Der beste Sound der Welt«, sagt Regis. Die Welt braucht mehr von seiner Sorte.

Mein Wecker läutet mich um 5:30 Uhr wach, ich liege auf der Couch von Mareia. Die Freundin einer Freundin hat uns drei Nächte lang in ihrer WG in Barcelona schlafen lassen.

Frühstück in der U-Bahn, Joghurt und Nüsse. Auf den Pappdeckel aus dem Supermarkt schreibe ich Valencia. Mein Sitznachbar sieht mir dabei zu und lässt mich dann wissen, dass er auch auf dem Weg dorthin sei. Er treffe in Kürze sein BlaBlaCar, eine per App ausgemachte Mitfahrgelegenheit gegen Bezahlung. Zwei Plätze wären noch frei. Ich sehe Martin fragend an.

»Es wäre sehr komfortabel, aber ich denke, wir schaffen das auch so«, sagt mein Kompagnon. Er hat Recht, es wäre zu einfach und wir wollen ja nicht schummeln. Ein Gefühl verrät mir, dass wir diesen Optimismus heute noch bereuen werden.

Im Internet gibt es eine Website namens hitchwiki.org. Eine unerlässliche Ressource, denn sie beschreibt akkurat, wo sich der Hitchhiker am besten positioniert, um eine Fahrt in die gewünschte Richtung zu ergattern – mit Informationen über tausende Städte der Welt. In unserem Fall soll das ein Kreisverkehr bei einer Autobahnauffahrt nach Tarragona sein. Als wir dort ankommen, scheint der Platz aber ungeeignet. Wenig Verkehr in unsere Richtung und für die Fahrer ein ungünstiger Ort zum Halten. Wir probieren es fünfzehn Minuten lang bei einer Tankstelle, dann zehn Minuten bei einer Kreuzung. Wir wechseln zu oft die Strategie. Haben wir überhaupt eine? Nächster Fehler: Wir nehmen den Bus zum Flughafen.

»Du bekommst nicht viele Möglichkeiten im Leben, um deine Zeit so zu verschwenden, wie wir das gerade tun«, so Martin.

Ich lache. Diese positive Einstellung zum Leben fasziniert mich an ihm, seit ich ihn kenne. Er erinnert mich mit Sätzen wie diesen immer wieder daran, wie einfach das Leben sein kann, wenn man es lässt.

Nun sitzen wir in einer Wiese vor Terminal 3, neben uns die sechsspurige Flughafenausfahrt mit jeder Menge Platz zum Stehenbleiben. Es ist mittlerweile zehn Uhr. Bis wir draufkommen, dass diese Ausfahrt niemand nimmt, der in Richtung Süden möchte, ist es zwölf.

Ein Lokalbus bringt uns in die nahegelegene Ortschaft Sitges. Wieder ein Kreisverkehr, die Sonne brät mein Gesicht. Wir sind mittlerweile seit acht Stunden auf den Beinen und haben es nur vierzig Kilometer weit geschafft. Martin sitzt an ein Straßenschild gelehnt, die Augen geschlossen. Ich bin mir nicht sicher, ob er schläft oder meditiert. Doch eines weiß ich: mein Geduldsfaden ist dem Reißen nahe.

»Wir hätten wirklich dieses blöde BlaBlaCar nehmen sollen«, rufe ich Martin zu.

Er nickt. Mehr nicht.

Ich ärgere mich über Martin, der faulenzt, anstatt sich zu bemühen. Über die Spanier und ihr Misstrauen gegenüber Fremden, über die Situation im Allgemeinen. Vor allem aber ärgere ich mich über mich selbst, weil ich mich ärgere. Wieder einmal driften Erwartungen und Realität kilometerweit auseinander.

Eckhart Tolle, Großmeister der angewandten Spiritualität, hat einmal notiert: »Das Leben ist der Tänzer und du bist der Tanz.« Immer wieder erliege ich der Illusion, dass es umgekehrt ist und deshalb fällt es mir so schwer, dem gegenwärtigen Moment das Sein zu erlauben. Mein Verstand will ihn kontrollieren, ihn festhalten oder wegdrängen, ihn mit nackter Gewalt verändern. Ein Patentrezept für innere Unzufriedenheit und Seelenleid. Der streitbarste Teil meines Verstandes ist mein Ego. Es benennt und beurteilt, was ist, unterteilt in Gut und Böse, will der Tänzer sein und ganz sicher nicht der Tanz.

»Wenn deine Handlungen aus einer Akzeptanz heraus entstehen und nicht aus Widerstand, fließt eine andere Energie in das, was du tust«, so Tolle. Eine Energie, schwanger mit Leben, schwanger mit Möglichkeiten.

Wahre Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen also, welch ritterliches Ziel, welch sagenhafter Zinnober.

Zeit für eine Pause. Wir verlassen den Kreisverkehr und schleppen unsere Rucksäcke die Straße entlang. Da, rechts, denke ich, ein Bistro. Ich spreche es nicht aus und eine Sekunde später biegt Martin ein. Als hätten wir es ausgemacht, als ziehe uns etwas hinein ins El Tros Restaurante.

An den Wänden hängen das Ölgemälde eines Baumes, eine E-Gitarre und Bilder von Motorrädern. Fliesen aus Terracotta, einfache Holzgarnituren und eine Fensterfront, die viel Licht hereinlässt. Sieht aus wie eine Musikbar aus den Fünfzigern. Aus ungefähr diesen Jahrgängen müssen auch die drei Damen ein, die hinter dem Tresen stehen. Sie wirken herzlich und begrüßen uns, die verlorenen Seelen, mit einem mitfühlenden Lächeln. Wir nehmen auf zwei Barhockern Platz, einen Moment später liegt mein Kopf auf den ausgestreckten Armen. Meine Energie reicht kaum, um einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Wir bestellen Bocadillos mit Brie, bald kann ich die gefüllten Weißbrote nicht mehr sehen.

Die drei Damen lachen viel, scherzen miteinander und mit zwei Gästen, die an einem der Tische Bier süffeln. Ich verstehe nur Fetzen davon, mein Spanisch steckt noch in den Kinderschuhen und überhaupt bin ich gerade zu erschöpft, um mich auf eine Fremdsprache zu konzentrieren. Doch hier liegt eine herzhafte Wärme in der Luft, das spüre ich auch so. Ein Mann setzt sich zu uns, Holzfällerhemd, dunkler Bart, gutaussehend. Er ist der Ehemann einer der drei Frauen, fragt, wohin wir wollen und hilft uns bei der Orientierung. Vilafranca sollen wir auf den Karton schreiben, von da aus kämen wir gut weiter.

Wir bestellen Whisky. Manchmal braucht man Whisky. Er inspiriert Martin zu einem ergreifenden Gedanken.

»Ich musste gerade an Dany denken, den Truckfahrer aus Rumänien, von dem du mir erzählt hast. Er arbeitet so hart, dass er seine Familie erst zu Weihnachten wiedersieht. So viele Menschen quälen sich durchs Leben. Schau uns an, Alter, schau mal, wie verdammt gut es uns geht.« Wir stoßen an, umarmen uns. Ein intensives Glücksgefühl durchfährt meinen Körper. Ich möchte die Welt umarmen.

Tag 20, Lissabon. Ich habe mich Hals über Kopf in eine Frau verliebt, nennen wir sie Naomi. Ein Wochenende lang tanzten, turtelten und torkelten wir liebestrunken durch die bunten Straßen von Lissabon. Naomi ist aus Wien angereist, um mich zu besuchen, mich noch einmal zu sehen, bevor ich über den Atlantik segle. Wir lernten uns erst kurz vor meiner Abreise auf einer Party kennen, eine folgenlose Affäre im Rausch der Nacht hätte es sein sollen. Ich wusste nicht, worauf ich mich einließ. Naomi hätte den weiteren Verlauf der Reise durchaus beeinflussen können, wenn sie keinen Freund gehabt hätte. Dann hätte ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie so bald als möglich wiederzusehen. Doch wir waren unerreichbar füreinander, sie in einer Beziehung, ich auf Weltreise. Nur mein Herz wollte das nicht akzeptieren. Ihres auch nicht.

Naomi wird in den kommenden Monaten einen empfindlichen Teil meiner Gedanken und Gefühle einnehmen.

Naomi ist gestern heimgeflogen, zurück nach Wien. Nach meiner kurzen Liebesauszeit vom Reisen jetzt also zurück ins Abenteuer. Katerfrühstück mit Martin auf der Sonnenterrasse eines Lissabonner Hostels. Ich bin emotional angeschlagen und habe versucht, meinen Liebeskummer in Bier und Vodka zu ertränken. Schnapsidee. Auch beim Frühstück schweben meine Gedanken noch durch die Romantik der vergangenen Tage, haften an Naomis Küssen. Martins Gedanken drehen sich darum, wie wir am besten nach Südportugal kommen.

»Wir könnten versuchen, in drei Tagen und drei Nächten nach Südportugal zu kommen«, schlägt Martin vor. »Ohne einen Cent auszugeben.«

Schon wieder eine verrückte Idee. Hält sich das Risiko, Gesetz oder Knochen zu brechen, in Grenzen, dann stehen die Chancen schlecht, dass ich zu so etwas Nein sage.

Wir stehen an einer Autobahnauffahrt am Stadtrand von Lissabon. Ein junger, bärtiger Student namens Henrique nimmt uns mit in seinen Heimatort Palmela, nur 30 Minuten von Lissabon entfernt. Henrique ist äußerst zuvorkommend, betont mehrmals, dass wir uns bei ihm melden sollen, falls wir noch was brauchen. Als wir uns von ihm verabschieden, wirkt er, als hätte er gerne noch mehr Zeit mit uns verbracht.

Es ist bereits dunkel, als wir auf altem Kopfsteinpflaster durch die engen Gassen wandern. Wo wir hingehen, wissen wir nicht. Es ist auch niemand da, den wir fragen könnten. Palmela wirkt wie ausgestorben. Dann eine Sportbar, davor lehnt einer lässig an der Hausmauer. Martin und ich sehen einander fragend an. Wie fragt man einen Fremden auf der Straße, ob man bei ihm übernachten dürfe?

»Hi. Wir haben hier so ein verrücktes Projekt am Laufen«, lautet unser Versuch.

»Schön, das ist ein guter Anfang«, sagt der junge Mann mit kurzen Haaren und überraschend neugierigem Unterton. Er stellt sich als Gabriel vor und wir erzählen ihm mehr. Dann die Überraschung.

»Ich habe einen Schlafplatz für euch.«

Zehn Minuten später sperrt er uns seine Wohnung auf, gibt uns den Schlüssel und sagt, bevor er zurück in die Bar geht:

»Ihr könnt in meinem Bett schlafen, da ist mehr Platz für euch beide. Ich werde mich auf die Couch legen.«

Ich traue meinen Ohren nicht, kann nicht fassen, was passiert. Gabriel versichert sich, dass wir alles haben, was wir brauchen. Ich nicke perplex, grinse breit, sage gefühlte zwanzigmal:

»Obrigado, Gabriel!«

Wer ohne Geld reist, sollte eines nicht haben – Berührungsängste mit Fremden. Denn jeder Mensch könnte einer sein, der weiterhilft. Nicht mit Geld, das hätten wir nicht angenommen. Sondern mit Tipps, Mitfahrgelegenheiten oder, wie Gabriel, mit einem Schlafplatz. Ohne Geld zu reisen ist eine hervorragende Übung für das Loslassen von zweierlei: Erwartungen, wie irgendetwas zu sein hat, und Stereotype, wie irgendjemand zu sein hat. Beides sagt sich leichter, als es sich tut.

Zeit, die Perspektive zu wechseln. Ich glaube an Karma, an die Verantwortung jedes Einzelnen für seine Worte und Taten und daran, dass alles im Leben zurückkommt. Wenn nicht gleich, dann später. Ich bin ein großer Fan von Couchsurfing, als Gast wie auch als Gastgeber. In meiner Wiener Wohnung nächtigten bereits dutzende Menschen kostenlos. Fremde, zunächst, die nicht selten zu Freunden wurden. Ich konnte die eine oder andere Gutschrift auf meinem Karmakonto verbuchen. Stelle ich mir die Frage, ob ich das, was uns heute gegeben wurde, auch selbst geben würde, kann ich sie ehrlich mit Ja beantworten. Das macht das Nehmen leichter.

Ein Freund von Gabriel hätte uns vor einer Stunde mitnehmen sollen in den Süden, doch wir haben die Mitfahrgelegenheit vor unseren Computern vertrödelt. Wenn wir es bis übermorgen nach Südportugal schaffen wollen, sollten wir in die Gänge kommen. Mit Haube, Handschuhen und allen Schichten Kleidung, die unsere Rucksäcke hergeben, haben wir uns auf die härteste Variante eingestellt, die das Reisen per Anhalter bereithält: einen night tramp ohne Geld mit der durchaus wahrscheinlichen Option, die kommende Nacht im Freien zu verbringen. Denn wer, der halbwegs bei Trost ist, sammelt in der Dunkelheit zwei fremde Männer vom Rand der Landstraße auf?

Ich schreibe Henrique, ob er uns noch einmal helfen und uns zur Autobahn bringen könne. Zehn Minuten später biegt er in seinem Renault um die Ecke.

»Wollt ihr das wirklich tun?«, fragt der Besorgte, als sehe er, dass meine Zehen seit Stunden kalt sind. »Nachts durch die Kälte trampen, vielleicht bei fünf Grad im Freien schlafen? Oder wollt ihr erst morgen loslegen, ausgeruht bei Tagesanbruch? Ihr könnt bei mir übernachten, mein Vater kocht und der Kamin ist auch schon angeheizt.« Henrique freut sich sichtlich, als wir sein Angebot annehmen.

Jeder Bissen des traditionellen Reisgerichts mit Fisch und Oliven ist ein Ausdruck der Dankbarkeit. Jeder Schluck vom Rotwein, den Henriques Vater Daniel aufgemacht hat, eine demütige Geste vor der herzlichen Güte dieser Familie.

Henrique legt Holz in den Kamin und Daniel schenkt eine Runde Whisky ein. Dann zeigt Daniel uns Fotos von den Schlössern in der Region. Portugiesische Geschichte und Fotografie sind seine großen Leidenschaften.

Bald erzählen wir von unseren. Vom Reisen, vom Menschen kennenlernen, von Augenblicken wie diesen, mit denen man nicht rechnen konnte. Genau hier liegt der Zauber versteckt. In einer Welt, die vor Angst erfriert, bricht Vertrauen das Eis. Es muss nur einer anfangen. Wie freundlich die Welt sein kann, wenn man ihr Freund sein möchte. Durch echtes Interesse an der Geschichte des Anderen und teilhaben lassen an der eigenen. Durch Kennenlernen. Immer wieder bringen Martin und ich unsere Dankbarkeit zum Ausdruck.

»Es ist nichts Besonderes, was wir hier tun«, sagt Henrique bescheiden.

Als er sich bei uns bedankt, glaube ich, mich verhört zu haben. Habe ich nicht.

»Ich möchte auch einmal so reisen wie ihr, ohne große Pläne das Abenteuer suchen und die Welt kennenlernen. Dann weiß ich, dass es da draußen Menschen gibt, die mir helfen werden. Das ist ein schönes Gefühl.«

Ich gewinne in diesen Tagen so viel Glauben an die Menschheit, dass es noch für lange Zeit reichen soll.

https://www.youtube.com/watch?v=vWoMGkwzgho

WELTNAH ZU HAUSE

DAS EIS BRECHEN

Trete mit deinen Mitmenschen in Kontakt. Grüße eine Woche lang jeden Morgen die ersten beiden Personen, die dir unterkommen. Egal, ob sie neun Jahre alt sind oder neunzig. Ein freundliches »Guten Morgen« reicht fürs Erste. Beobachte die Reaktion und dann das Gefühl, das in dir entsteht.

Als ich dieses Experiment einen Monat lang in Wien gemacht habe, war ich überrascht über die vielen positiven Reaktionen. Die meisten grüßen freundlich zurück, vielen ist ihre positive Überraschung anzumerken. Gerade in Städten leben wir so nahe beisammen und doch beachten wir einander kaum. Starren lieber in unsere Telefone, als den anderen eines Blickes zu würdigen, geschweige denn einer freundlichen Geste.

Zu Beginn kommt einem das willkürliche Ansprechen fremder Menschen komisch vor. Es ist wie ein Muskel, den man trainiert. Anfangs ist er schwach, nach einer Woche schon stärker. Es ist eine simple Geste, die viel bewirken kann. In uns selbst und in der anderen Person. Niemand weiß, wie es ihr gerade geht, was sie durchmacht. Ein einfaches, lieb gemeintes »Guten Morgen« kann einen aus dem grauen Kopfkino holen und den Tag positiv beeinflussen. Halte Türen auf. Wirkt einer verloren, frag ihn, ob du helfen kannst. Mach Fremden Komplimente.

Wenn du am Land lebst, wo man einander ohnehin grüßt, gehe einen Schritt weiter und frage nach dem Befinden. Für die Städter das nächste Level ab Woche zwei. Vertrauen in Fremde schaffen wir, indem wir damit anfangen. Ist dir ein »Guten Morgen« zu viel des Guten, starte mit einem Lächeln.

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KAPITEL 2

HINTER DER KOMFORTZONE LIEGT DIE UNENDLICHKEIT