Louis Weinert-Wilton

Die Panther

(1930)

 

 

 

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1

„Spang,“ fragte Oberinspektor Murphy und wischte sich das Naß aus den Fettpolstern um die schimmernden Äuglein, „lesen Sie denn auch wirklich den ‚Sunday-Narrator‘, wie ich Ihnen empfohlen habe? Da ist jetzt wieder eine Geschichte drin“ – Murphys dicke Unterlippe zuckte und er schneuzte sich nachdrücklich – „bei der man aus dem Weinen nicht herauskommt.“

Der Sergeant wollte zwar den Chef wegen einer anderen Sache sprechen, blinzelte aber sofort verständnisvoll und dämpfte seine dünne Stimme zu einem vertraulichen Flüstern.

„Jawohl, Sir. – ‚Der Vampyr von Deptford‘ …“

„Furchtbar aufregend, was?“ schnaufte der gemütvolle Murphy. „Wie das arme Ding von dem verdammten Schurken gehetzt und ausgebeutet wird!“

„Ich glaube, er wird es nicht mehr lange treiben,“ tuschelte Spang ebenso erregt. „Höchstens noch zwei oder drei Fortsetzungen. Die Polizei ist ihm ja schon auf den Fersen, und er wird wahrscheinlich gehenkt werden.“

„Unbedingt,“ entschied der Oberinspektor mit einem neuerlichen Schneuzer, aber plötzlich bekam sein gerührtes Gesicht einen höchst mißmutigen Ausdruck, und er ließ seine schaufelartige Rechte klatschend auf den geliebten „Sunday-Narrator“ fallen.

„Finden Sie es in Ordnung, Spang,“ knurrte er, „daß unsereiner erst solche Romane lesen muß, wenn er etwas erleben will? Ich glaube, es ist schon eine Ewigkeit her, daß wir so etwas selbst mitgemacht haben.“

„Ungefähr drei Monate, Sir. Sie wissen, die gewisse Geschichte mit dem desertierten Matrosen, der mit seiner Bande die ganze Umgebung bis hinunter nach Surrey unsicher gemacht hat. Wir sind dann auch im Gefängnishof mit dabeigewesen und noch auf der Falltür hat er Ihnen eine lange Nase gedreht.“

Murphy erinnerte sich und nickte melancholisch.

„Es war ein schöner Frühlingsmorgen, aber verdammt kalt. Ich habe mir damals einen Schnupfen geholt, den ich wochenlang nicht loswerden konnte. Aber bei solchen Gelegenheiten wird man sich wenigstens bewußt, wozu man eigentlich da ist und hat seine Befriedigung. Armselige Defraudanten und lausige Diebe zu fangen, ist kein Beruf, und etwas anderes gibt es nicht mehr zu tun. – Höchstens noch solche verrückte Geschichten, wie jene in Essex.“

Der Sergeant fand endlich Gelegenheit, anzubringen, weshalb er eigentlich gekommen war.

„Mr. Hearson möchte Sie sprechen, Sir. Er ist aus Chesterhills, und vielleicht hängt es mit dem gewissen Falle zusammen.“

Der Oberinspektor nickte und wackelte einige Male mit seinen fleischigen Ohren, was bei ihm ein Zeichen erwachenden Interesses bedeutete. Er erwartete zwar von dem Besuche nichts Besonderes, aber man konnte schließlich nicht wissen …

Mr. Hearson, ein gut gebauter Mann von kaum fünfzig Jahren, kam in seiner Eigenschaft als Mitglied des Grafschafts rates, aber es schien sich doch nicht um den eigenartigen Vorfall zu handeln, der sich vor einigen Tagen in der unmittelbarsten Nähe seines Wohnsitzes abgespielt hatte.

„Ich muß vielmals um Vergebung bitten, daß ich Sie wegen einer Auskunft in Anspruch nehme,“ entschuldigte er sich in seiner überaus höflichen und bescheidenen Art und rückte pedantisch an seiner Brille. „Bei der Grafschaft wissen wir uns jedoch in diesem nicht alltäglichen Falle keinen rechten Rat, und im Ministerium, wo ich eben vorsprach, hat man mich an Sie gewiesen. Ihre besonderen Vollmachten sollen sich ja auch auf unseren Distrikt erstrecken.“

Der schlanke, tadellos gekleidete Herr mit dem Gelehrtengesicht machte eine kleine Pause. Er schien von dem Oberinspektor irgendeine Aufmunterung zu erwarten, aber dieser saß mit einem breiten Lächeln da und drehte beschaulich die dicken Daumen. Es war sein Grundsatz, die Leute vorerst einmal ausreden zu lassen, und sein Besucher schien dies zu erraten, denn er fuhr nun mit geschäftsmäßiger Knappheit fort.

„Die Frage, um die es sich handelt, ist folgende: Ist es bei uns einer Privatperson gestattet, auf ihrem Grund und Boden wilde Tiere zu halten? Wir haben nämlich seit kurzem einen Mann mit dieser seltsamen Liebhaberei in unserer Gegend, und es ist möglich, daß wir uns vielleicht schon heute oder morgen von Amts wegen mit dieser Sache werden befassen müssen. Selbstverständlich möchten wir dabei nicht gerne einen Mißgriff tun.“

Die Ohren Murphys bewegten sich unmerklich, und seine kleinen Augen begannen zu funkeln.

„Wilde Tiere …! Schau, schau,“ murmelte er überrascht. „Und die läßt er so frei herumlaufen?“

„Das eben nicht,“ erklärte Mr. Hearson mit ernstem Gesicht. „Sie sind in einem großen Park in einem regelrechten Zwinger untergebracht, aber …“

„Natürlich,“ fiel der Oberinspektor verständnisvoll ein, „das will gar nichts besagen. Mit diesen wilden Tieren ist das so eine Sache. Ich habe einmal gelesen, daß zum Beispiel so ein Elefant einen riesigen Baum mit derselben Leichtigkeit ausreißt, wie unsereiner einen Rettich. Da sind ein paar Gitterstäbe für ihn die reinsten Zahnstocher.“

„Es handelt sich um schwarze Panther,“ erklärte der Herr aus Chesterhills mit Nachdruck, und Murphy ließ ein überraschtes Schnalzen hören und wiegte bedenklich mit dem dicken Kopfe.

„Auch das noch! Ich habe mir sagen lassen, daß das besonders heimtückische und gefährliche Viecher sein sollen.“

Hearson nickte bestätigend.

„Sehr richtig. Es könnte ein furchtbares Unglück geben. – Ich vertrete daher die Ansicht, daß man die Tiere unschädlich machen sollte.“

Er sah den Oberinspektor fragend an, und dieser war dafür Feuer und Flamme.

„Unbedingt. Sobald sie jemanden gefressen haben, muß man sie schleunigst umbringen. Kurzweg erschießen. Oder noch besser, vergiften. Diese großen Katzen sollen ja ein schrecklich zähes Leben haben!“ Er dämpfte plötzlich seine Schneidigkeit und zog nachdenklich an seiner schwammigen Nase. „Aber das ist eigentlich nicht Sache der Polizei,“ meinte er bedächtig. „Davon verstehen wir nichts. Da müßte sich Ihr Sheriff schon einen Tierbändiger oder einen Wärter aus einer Menagerie verschreiben.“

Der besorgte Mr. Hearson war von dieser Auffassung offenbar etwas enttäuscht und ließ seine kalten Augen forschend auf dem seltsamen Beamten haften.

„Sie glauben also nicht, daß schon jetzt irgendwelcher behördliche Zwang zur Abschaffung der Tiere erfolgen könnte? Es ist doch einigermaßen unverantwortlich, zuzuwarten, bis etwas geschieht.“

„Sehr unverantwortlich sogar,“ pflichtete Murphy lebhaft bei. „Dasselbe sage ich auch immer, weil wir unsere schweren Jungens erst aufknüpfen dürfen, wenn sie einen um die Ecke gebracht haben.“

Der Herr aus Chesterhills zuckte mit den Achseln und machte Miene, sich zu erheben.

„Ich hätte gerne einen anderen Bescheid mitgenommen. Unsere Bevölkerung ist nämlich sehr beunruhigt, und ich kann dies nach den letzten Vorkommnissen einigermaßen verstehen.“

Der Oberinspektor wedelte wieder einmal ganz leicht mit den Ohren.

„Haben Sie Vorkommnisse gehabt? Was Sie nicht sagen!“ meinte er leichthin, und als der andere ihn mit einem etwas überraschten Seitenblick streifte, begegnete er einem so nichtssagenden, interesselosen Gesicht, daß er ganz verwirrt wurde.

„Ich dachte, daß Sie davon wüßten. Man spricht ja bei uns sogar davon, daß Ihnen der Fall übertragen worden sei. – Die gewisse Sache von dem Schwerverletzten,“ fügte er erklärend hinzu, „der vor einigen Tagen bei Kelvedon aufgefunden wurde, aber spurlos verschwunden war, als man ihn bergen wollte.“

Murphy sah einige Sekunden völlig verständnislos drein, dann schlug er sich plötzlich an die breite Stirn, daß es nur so klatschte.

„Richtig,“ platzte er triumphierend heraus, um jedoch sofort in einen etwas wehmütigen Seufzer überzugehen. „Mit dem Gedächtnis hatte ich leider schon immer mein Kreuz. Aber wenn man ihm etwas nachhilft, geht es schon. Sie werden sofort sehen.“ Er kniff die winzigen Äuglein noch mehr zusammen und starrte krampfhaft nach der Decke, als ob es dort schwarz auf weiß geschrieben stünde. „Am verflossenen Samstag,“ begann er dann den amtlichen Bericht herunterzuleiern, „also vor vier Tagen, kurz nach ein Uhr nachts, stieß eine Straßenpatrouille der Automobile Association etwa eine Meile südwestlich von Kelvedon auf einen verlassenen Wagen. Als der Motorradfahrer anhielt, vernahm er plötzlich aus einem kleinen Gehölz neben der Straße einen wilden Schrei und im selben Augenblick auch einen Schuß. Er eilte der Stelle zu und fand nach etwa hundertfünfzig Schritten einen bewußtlosen Mann mit einer tiefen, schweren Wunde, die vom Hinterkopfe bis zur rechten Schulter lief. Der Patrouillenfahrer legte dem Schwerverletzten in aller Eile einen Notverband an und machte sich dann schleunigst auf den Weg, um ärztliche Hilfe und einen Krankenwagen herbeizuholen. Als er in dieser Begleitung nach etwa einer halben Stunde zurückkehrte, war jedoch der so arg zugerichtete Mann nicht mehr aufzufinden, und es ist bisher nicht gelungen, über sein Verbleiben und seine Person irgendwelche Anhaltspunkte zu gewinnen. Nur soviel steht fest, daß er selbst sich nicht entfernen konnte und daß in der fraglichen Zeit kein Auto und auch kein anderes Fahrzeug die betreffende Straßenstrecke passiert hat. Der führerlose Ford-Wagen befand sich noch immer auf seinem Platze, aber er trug keine Nummer und enthielt auch nicht die geringste Kleinigkeit, die einen Schluß auf seinen Besitzer zugelassen hätte. – Nun,“ schloß der Oberinspektor und blinzelte seinen Besucher selbstgefällig an, „habe ich die Geschichte im Kopfe, ha?“

„Vollkommen,“ gab Mr. Hearson verbindlich zu. „Es ist tatsächlich alles, was bisher über den eigenartigen Vorfall bekannt geworden ist. Was sonst noch gesprochen wird, sind natürlich ganz unkontrollierbare Gerüchte. Die Leute entwickeln bei solchen Gelegenheiten immer eine sehr rege Phantasie. So will beispielsweise ein Forstwart in dem betreffenden Gehölz die Fährte von großen Raubtieren entdeckt haben“– der Herr aus Chesterhills rückte wieder an seiner Brille und lächelte nachsichtig – „und es sind nun die wildesten Gerüchte im Umlauf. – Deshalb wäre es uns sehr angenehm gewesen, wenn wir in der gewissen Sache, wegen der ich Sie bemüht habe, etwas hätten tun können. Unsere ganze Gegend lebt in einer geradezu panikartigen Furcht und niemand traut sich mehr aus seinen vier Mauern.“

„Diese verdammten Löwen!“ knurrte Murphy verzweifelt, aber Hearson korrigierte ihn höflich.

„Panther. Schwarze Panther.“

„Selbstverständlich. Ich habe mich nur versprochen. Das passiert mir öfters. Und schließlich ist es ja auch ganz egal, ob den Mann Löwen oder Panther verspeist haben. Jedenfalls ist er weg, und wir haben nun die Scherereien. Ich werde wohl selbst einmal hinausschauen müssen, obwohl ich kein Freund von solchen Landpartien bin. Aber mit den Bestien möchte ich auf keinen Fall in Berührung kommen. Wo sind sie denn und wem gehören sie?“

„In Spittering Farm. Der Besitzer dieses alten Landhauses soll ein gewisser Aubrey Rayne sein. Er hält sich aber, soviel ich weiß, die meiste Zeit in London auf und draußen haust ein Mann, der sich Forge nennt. Ich kenne aber weder den einen, noch den anderen persönlich und vermag leider keine weitere Auskunft zu geben.“

Einige Minuten nachdem Mr. Hearson aus Chesterhills sich empfohlen hatte, veränderten sich die Züge des Oberinspektors mit einem Schlage, und er sah mit verkniffenen Augen und gespitzten Lippen vor sich hin. Dann holte er aus seiner dickleibigen Brieftasche einen arg zerknitterten und verwaschenen Papierfetzen hervor und betrachtete ihn zum soundsovielten Male innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden eingehend von allen Seiten. Dieses beschmutzte Stückchen Papier war so ziemlich die einzige Ausbeute der Nacht, die er geopfert hatte, um sich völlig allein auf dem Schauplatz der rätselhaften Begebenheit in Essex umzusehen. Er wußte aber zur Stunde noch immer nicht, ob sein Fund mit dieser Sache überhaupt zusammenhing. Das segmentförmige Schnitzel war offenbar vom Rande eines Schriftstückes abgerissen, und nur die unverkennbaren Blutspuren gaben ihm einige Bedeutung. Die wenigen unzusammenhängenden Worte in Maschinenschrift, die es enthielt, waren völlig belanglos und bloß die deutlich lesbare Stelle „… der kleinen Lady mit der Pantherkatze …“ gab Murphy plötzlich zu denken.

Wenn er dazu noch das sorgfältig ausgestochene Lehmstück mit dem ungewöhnlichen Fährtenabdruck nahm, das er ebenfalls von seinem nächtlichen Ausflug mitgebracht, und die Angelegenheit, die den ängstlichen Mr. Hearson aus Chesterhills eben zu ihm geführt hatte, so fand er, daß es um ihn mit einem Male bedenklich von unheimlichen Großkatzen wimmelte.

2

Schon in der nächsten halben Stunde sollte Murphy nochmals diese Feststellung machen können.

Wenn Ben Kitson gerade ein reines Gewissen hatte, hielt er es für überflüssig, sich der Polizei gegenüber jener respektvollen Höflichkeit zu befleißigen, die er sonst vor diesen gefürchteten Herren an den Tag zu legen pflegte.

„Es ist ein Skandal, wie bei uns zu Lande ein Gentleman, der nicht das Geringste ausgefressen hat, behandelt wird,“ sagte er entrüstet und zog mit einem energischen Ruck wieder einmal die Hosen hoch, die an den hageren Lenden keinen rechten Halt hatten. „Wenn ich ein Lord oder ein Rothschild wäre …“

Er vollendete nicht, was dann wäre, denn Spang war eben damit beschäftigt, die verschiedenen Dinge in Augenschein zu nehmen, die man fürsorglich aus seinen Taschen gezogen hatte, und Ben fand es geraten, sich dieses Inventar rasch noch einmal einzuprägen. Erstens, damit er auch wirklich alles zurückerhielt, wenn man ihn wieder laufen ließ, und zweitens, um nicht durch eine unangenehme Frage überrascht zu werden, falls vielleicht doch die eine oder die andere verfängliche Kleinigkeit darunter sein sollte. Aber seine Raubvogelaugen entdeckten unter den mageren Schätzen wirklich nichts, was ihn hätte in Verlegenheit bringen können, und nur der kunstvoll gebogene Stahlhaken hätte gerade nicht dabei sein müssen. Aber schließlich konnte er ja nicht dafür, daß der Schlüssel zu seiner Gartentür eine so primitive Form hatte, und solch eine Kleinigkeit rechtfertigte noch lange nicht, daß man seine beschauliche Sommerwanderung in Essex gestern rücksichtslos unterbrochen und ihn nach Scotland Yard hereingeschleift hatte. Er sollte bei einer großen Sache mitgetan haben, die vor etwa acht Tagen gedreht worden war, aber er hatte draußen in der Grafschaft ein zwanzigfaches Alibi, an dem selbst die mißtrauische und heimtückische Polizei nicht rütteln konnte. Lauter ehrenwerte, mildtätige Honoratioren, bei deren Nennung der anfangs so eklige Sergeant immer kleiner geworden war. Er sprach auch plötzlich nicht mehr von der lächerlichen Geschichte, und Ben sammelte seine Empörung, um sich einen glanzvollen Abgang zu schaffen.

„Was haben Sie denn hier für eine Kostbarkeit?“ fragte da Spang plötzlich und kramte unter den Habseligkeiten ein Ding hervor, das nur um weniges größer als eine Patronenkapsel war und auch genau so kupfrig schimmerte. Aber trotz der Winzigkeit mußte etwas Besonderes daran sein, denn der Sergeant besah es von allen Seiten, bog und putzte daran herum und nahm dann sogar eine Lupe zur Hand.

„Wie sind Sie dazu gekommen, Kitson?“

Der Landstreicher war auf alles eher gefaßt, als auf diese Frage, aber sie gab ihm seine gute Laune vollends wieder. Von diesem Stückchen Blech, das er eines Tages fast verschluckt und dann mechanisch in die Westentasche geschoben hatte, konnte ihm keine Gefahr drohen.

„Ein Taufgeschenk von meinem seligen Herrn Paten,“ erklärte er mit einem herausfordernden Grinsen. „Sie können sich denken, was für ein zarter Junge ich gewesen sein muß, wenn das Ringlein gepaßt hat. Natürlich bloß am kleinen Finger.“

Der Polizist lächelte etwas dünn und ließ noch immer kein Auge von dem verbogenen Metallstreifen.

„Passen Sie auf, daß Sie nicht auch noch ein Paar Armbänder dazu bekommen. Ich glaube, Mr. Murphy wird sich ein bißchen mit Ihnen unterhalten wollen. Jedenfalls werde ich ihn fragen.“

Ben riß wieder einmal heftig an seinen Hosen, aber sein Gesicht verriet diesmal nichts von Entrüstung, sondern arge Bestürzung. In seinen Kreisen bekam man so etwas wie Vitriolgeschmack im Munde, wenn der Name fiel, den er eben gehört hatte. Man nannte Tybald Murphy „die heulende Daumenschraube,“ und wer etwas auf dem Kerbholz hatte, wußte, daß seine Stunde geschlagen hatte, wenn er es mit ihm zu tun bekam.

Der Stromer fühlte sich schuldlos wie ein neugeborenes Kind, aber trotzdem schlotterten ihm ein wenig die Knie und seine hageren, stoppligen Wangen waren etwas fahl, als er eine Weile später vor dem Gefürchteten stand.

Murphy saß mit dem gleichen lebhaften Interesse über dem winzigen Kupferblättchen, wie vordem sein Gehilfe, und seine Mienen wurden immer strahlender, je genauer er es sich besah. Die eingeprägte Figur war unzweifelhaft ein zum Sprung geducktes Katzentier und daneben stand die Ziffer 5. Auf der Rückseite aber war ein R eingeritzt und darunter in winzigen Buchstaben, aber deutlich lesbar „Murphy.“

Der Oberinspektor konnte sich an diesem Namen nicht genug sattsehen, und als er endlich das feiste Gesicht hob, lag darauf so leutselige Milde, daß der wanderlustige Tagedieb seine Beklemmung sofort los wurde. Die schweren Jungen, die überhaupt in allem ein etwas großes Maul hatten, schienen von der „heulenden Daumenschraube“ viel zu viel Wesens zu machen, und schon die ersten Worte des freundlichen Mannes bestätigten ihm dies.

„Mr. Ben Kitson? Ich freue mich immer sehr, wenn ich eine neue Bekanntschaft mache.“ Murphy wedelte mit seiner großen Hand, und seine Äuglein leuchteten vor ehrlichem Vergnügen. „Wahrscheinlich werden wir uns aber nun öfter sehen. Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf. Heute ist es ein Täubchen, morgen ein Fasan,“ seine Stimme wurde immer nachdrücklicher, „übermorgen ein Hirsch und das nächste Mal ein Wildhüter. – Natürlich nur aus Versehen, ich weiß. Man kann so einen ausgewachsenen, zähen Mann ja nicht verspeisen, wie ein zartes Täubchen. Ich esse Täubchen auch sehr gerne,“ gestand er und schmatzte mit seiner dicken Unterlippe. „Meine Wirtin kauft sie, glaube ich, immer auf dem Geflügelmarkte in Hoxton. Dort sollen die schmackhaftesten zu haben sein. – Wie sind denn Sie zu dem Tierchen mit dem kleinen Blechring gekommen?“

Er blinzelte Kitson schelmisch an, und dieser bekam es wieder mit seiner guten Laune zu tun.

„Es ist mir zugeflogen, Sir,“ erklärte er ernsthaft, und der Oberinspektor nickte ebenso ernsthaft zurück.

„Wie ich es mir gedacht habe. – Nachdem Sie ihm mit der Schleuder eins hinaufgebrannt hatten. – Wann war denn das und wo?“

Der Landstreicher schubste mit den Hosen und in seine Mienen trat kühle Abwehr. Nach seiner Gesetzeskenntnis war die Geschichte mit der Taube eine Sache, die niemanden etwas anging, und er wollte sich deshalb nicht schikanieren lassen. „Die heulende Daumenschraube“ sollte einmal an den Unrechten geraten sein.

„Nicht die Idee mehr,“ meinte er obenhin und zuckte bedauernd mit den Achseln. „Unsereiner erlebt so viel, wenn er über Land reist …“

Wieder nickte Murphy verständnisvoll und klappte dabei die ausgiebigen Finger seiner Rechten langsam auf und zu. Dann schloß er sie zur Faust und sah Kitson so mitleidsvoll an, daß diesem plötzlich höchst unbehaglich wurde.

„Junge,“ sagte er und seine gefühlvolle Stimme vibrierte, „es gibt kein größeres Unglück, als ein schlechtes Gedächtnis. Meines ist ja auch nicht gerade das beste, aber wenn es sein muß, bekomme ich es schon heran. Schade, daß Sie mit dem Ihren nicht auch so umspringen können.“ Seine Augen hafteten traurig auf Kitsons etwas unsicherem Gesicht und seine Faust bewegte sich wie ein Schmiedehammer gemessen auf und nieder. „Denn was wird geschehen, du Grashüpfer? – Wenn du dich binnen zwei Minuten nicht ganz genau an den Tag und den Ort erinnerst, wird dir meine Hand in den faulen Mund fahren, daß deine schönen Zähne wie Erbsen im ganzen Zimmer herumkollern werden. Und dein ganzes weiteres Leben wird selbst das weicheste Täubchen für dein armes Gebiß zu hart sein.“

Ben Kitson war kein Held. Er sah noch, wie der Oberinspektor seine große silberne Taschenuhr bedächtig auf den Tisch legte, dann begannen seine langen dünnen Beine wie Rohre zu schwanken und er mußte sich krampfhaft die Hosen halten.

„Bei Chesterhills, Euer Gnaden,“ stieß er hastig hervor. „Auf einem Hügel mit einer hohen Föhre. Vorgestern, gerade so um Mittag herum.“

„Woher kam sie?“ fragte Murphy sanft.

„Von der Küste. Ich sah sie schon von weitem heranstreichen. Sie flog etwas unsicher und nicht sehr hoch, und ich dachte mir, daß dem Tier wohl etwas fehlen dürfte.“

Der Landstreicher hoffte, daß der ungemütliche Mann mit dem freundlichen Gesicht damit zufrieden sein werde, denn mehr hatte er wirklich nicht zu sagen. Aber der Oberinspektor saß mit geschlossenen Lidern und vorgeschobener Unterlippe regungslos da, als ob er ein kleines Schläfchen hielte und auch als er endlich blinzelnd erwachte, blieb er zunächst völlig stumm und machte sich nur umständlich in seinen Taschen zu schaffen. Dann legte er zwei Schillinge auf den Tisch und dazu aus einer Aschenschale zwei Zigarrenstummel von der ansehnlichen Dicke und Länge seines Daumens.

„Mr. Ben Kitson,“ sagte er dabei höflich und mit väterlichem Wohlwollen, „ich nehme an, daß Ihnen bei Ihrer Sommerreise das Geld ausgegangen sein dürfte. Hier haben Sie eine Kleinigkeit, damit Sie sich sattessen und durch einen Schluck stärken können, aber wenn Sie alles versaufen sollten, werden Sie in des Teufels Küche geraten. Sie sind bereits dreimal wegen Landstreicherei abgestraft und wenn Sie die Polizei ein viertes Mal erwischt, werde ich dafür sorgen, daß Sie eine dauernde Anstellung im Arbeitshaus bekommen. Ich meine es gut mit Ihnen, und deshalb gebe ich Ihnen auch noch zwei Zigarren. Es ist ein vorzügliches Kraut, aber sie haben keinen rechten Zug. Vielleicht versuchen Sie es, ihnen mit Ihrem Sperrhaken Luft beizubringen. Wenn es nicht geht, so kauen Sie sie einfach. Und gegen Abend suchen Sie Sam Waterstone in Stepney auf. Er wird Ihnen eine Unterkunft verschaffen und Sie etwas ausstaffieren, denn morgen fahren wir beide über Land. Sie werden pünktlich um neun Uhr beim Holborn Viadukt sein. Und wenn Sie zu irgend jemandem auch nur ein Wort von dem fallen lassen, worüber wir beide uns unterhalten haben, so prügele ich Sie windelweich. Es würde mir zwar schrecklich leid tun“ – er bekam nasse Äuglein und seine Stimme wurde unsicher – „aber Sie können Gift darauf nehmen, daß ich es tun werde.“

Erst in gehöriger Entfernung von Scotland Yard wagte es Ben Kitson, seine eiligen Schritte zu hemmen, um zunächst einmal eine der Zigarren Mr. Murphys mit zitternden Händen in Brand zu setzen. Er brauchte dazu ziemlich lange, aber dafür qualmte dann der Stengel wie ein nasser Heuschober, und der Landstreicher konnte darangehen, sich die Ratschläge und Aufträge der „heulenden Daumenschraube“ noch einmal nachdrücklich einzuprägen. Er wußte, daß diese verdammt ernst gemeint waren, und er hatte plötzlich das Gefühl, als ob er an einem Wendepunkte seines bisher wenig erfreulichen Lebens stünde.

Unterdessen war Murphy eifrig damit beschäftigt, die beiden Besucher der letzten Stunde seiner Kartothek einzuverleiben. Wer immer mit ihm in Berührung kam, mußte es sich gefallen lassen, auf einem Stück Pappendeckel verewigt zu werden, und der Oberinspektor nahm diese Arbeit äußerst genau. Er notierte nicht nur alles, was er über den Betreffenden wußte und in Erfahrung bringen konnte, sondern auch alles, was er über ihn dachte, und das waren zuweilen sehr unangenehme und gefährliche Dinge. Glücklicherweise vermochte sie aber niemand zu lesen, denn die Schriftzeichen der „heulenden Daumenschraube“ bestanden nur aus ungefähr millimeterstarken Schattenstrichen von verschiedener Größe und jede der schiefen Zeilen ähnelte einem abgenagten Staketenzaun.

Bei Mr. Hearson aus Chesterhills nahm der Oberinspektor sein abgegriffenes „Who’s who?“ zu Hilfe und je länger er an den verschiedenen Würden und Ehrenstellen und den Klubs zu schreiben hatte, desto ehrerbietiger wurde sein rundes Gesicht.

Als er endlich damit fertig war, beutelte er einige Male höchst nachdenklich an seiner Nase und setzte dann mit fester Hand noch zwei Reihen dicker Pflöcke hinzu.

Als auf sein Klingelzeichen Spang lautlos wie ein Fuchs ins Zimmer geschnürt kam und den Chef stumm und melancholisch in das riesige Tintenfaß starren sah, glaubte er etwas für dessen Zerstreuung tun zu müssen.

„Ich meine,“ sagte er mit geheimnisvoller Wichtigkeit, indem er den „Sunday-Narrator“ aus der Tasche zog, „daß wir mit dem alten Manne, der im letzten Kapitel plötzlich aufgetaucht ist, eine große Überraschung erleben werden. Es kommt mir ganz so vor, als ob …“

Er konnte nicht vollenden, denn Murphys große Hand fuhr mit einem raschen Griff nach dem „Sunday-Narrator“, zerknüllte ihn und warf ihn verächtlich in eine Ecke.

„Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, Spang, als Beamter von Scotland Yard solchen albernen Schund zu lesen,“ rügte der Oberinspektor würdevoll und streng. „Sie scheinen zu wenig zu tun zu haben, aber ich werde Sie schon in Schwung bringen. – Stellen Sie fest, wo ein gewisser Aubrey Rayne wohnt, und dann machen Sie sich fertig, mich zu begleiten.“

Der Sergeant war an die wechselnden Ansichten und Launen seines Chefs gewöhnt und trollte sich eiligst.

6

Peter Forge stieß zwischen den verräucherten Zähnen und der ebenso verräucherten Dauerbrandpfeife einige unartikulierte Laute hervor und diese mußten Fürchterliches bedeuten, da das gelbhäutige Gesicht, das sich eben wieder einmal in dem Torspalt gezeigt hatte, blitzschnell verschwand.

Dann nahm er wieder seinen schwerfälligen Spaziergang längs der verwitterten Mauer von Spittering Farm auf und blickte dabei ungeduldig den Fahrweg entlang, der in einer Entfernung von etwa einer Meile in die Landstraße mündete. Weiter reichte sein Auge nicht, da die Gegend hügelig und mit Waldparzellen bestanden war, und Peter Forge bekam es immer mehr mit der Unruhe zu tun. Das Teufelsding, durch das man von hier bis hinein nach London und, wie er sich hatte sagen lassen, sogar noch viel weiter sprechen konnte, hatte ihn wieder einmal nervös gemacht, und er wäre froh gewesen, wenn er Mr. Aubrey Rayne schon an der Seite gehabt hätte.

Er watschelte in seinen weiten Beinkleidern, der losen Leinwandjacke und dem offenen Hemd breitspurig und unbeholfen wie ein Tanzbär den ausgetretenen Rasenpfad auf und ab, und seine Pfeife qualmte wie der Rauchfang einer Lokomotive. Er ähnelte dem mächtigen Strunk eines Urwaldbaumes mit vier abstehenden Aststümpfen, und es war nicht so recht zu unterscheiden, wo der kurze dicke Hals aufhörte und der gewaltige Schädel mit den ergrauenden langen Haarsträhnen ansetzte. Von den Schläfen lief um das Kinn ein schütterer Schifferbart und das übrige Gesicht bedeckten viertelzöllige Stoppeln. Auf keinen Fall sah der Mann vertrauenerweckend aus, und wenn er zuweilen mit einem kräftigen Knüppel in der Rechten durch die Gegend wanderte, wich ihm alles auf hunderte von Schritten aus. Peter Forge merkte das sehr wohl und in seine harten Züge kam dann ein Grinsen, das sie noch wilder erscheinen ließ.

Nach einer langen weiteren Viertelstunde wirbelte auf der Landstraße eine dichte Staubwolke heran, und nachdem Peter für Sekunden die Augen verkniffen hatte, steckte er vier Finger gegabelt in den Mund, und durch die Luft schnitt ein gellender Pfiff, der alles ringsumher in Aufruhr brachte. An dem wuchtigen Holztor schlug polternd der starke Riegelbalken empor, und der halbnackte Malaye stemmte sich gegen die Flügel, die in ihren Angeln kreischten. Hinter der Mauer schien eine Schar von unterschiedlichstem Federvieh in lärmende Rebellion geraten zu sein, und dazwischen klang, wie aus unendlicher Ferne, ein seltsamer langgezogener Ton, der plötzlich all das lärmende Leben lähmte.

Aubrey Rayne lenkte seinen großen Tourenwagen bis vor das einstöckige Wohnhaus mit dem seltsamen hohen Dachaufbau und zum ersten Male hatte er ein Auge dafür, daß Spittering Farm ein sehr verwahrlostes und höchst unfreundliches Stück Erde war. Das Wohngebäude an sich ging zwar an, denn es war erst kürzlich frisch gestrichen worden und im Innern hatte eine Partie italienischer Arbeiter wochenlang gegraben, durchbrochen und gemauert, aber was ringsherum war, sah trostlos aus. Der ausgedehnte Komplex innerhalb der Umfassungsmauer war halb Hof, halb Garten und halb Park und mit dem Gras zwischen den Pflastersteinen wucherten die Büsche und Bäume wild durcheinander. Hie und da stand in diesem Gewirr ein altes Wirtschaftsgebäude mit schiefem Dach und brüchigem Mauerwerk, in dessen Ritzen Büschel von Unkraut trieben.

Peter Forge stapfte eilig heran und in seinem gegerbten Gesicht lag lebhafte Spannung, aber der große Mann in dem weißen Staubmantel machte es sich erst auf der rohen Holzbank neben den Stufen bequem und ließ ihn eine ziemliche Weile warten. Und als er endlich zu sprechen begann, war es etwas ganz anderes, als Peter erwartet hatte.

„Sie sind schon wieder einmal nicht rasiert, Forge,“ sagte er mit ernstem Tadel. „Ich schätze, mindestens acht Tage. Das dulde ich nicht. Wir sind augenblicklich in England und nicht auf Java und es ist gar nicht notwendig, daß Sie hier als Leuteschreck herumlaufen. Man schenkt uns ohnehin bereits zuviel Aufmerksamkeit. Die Polizei …“

„Die englische Polizei kann mich …“‚ erlaubte sich Peter ungeduldig und respektlos einzuflechten. aber er verstummte sofort, als er einen Blick aus den halbgeschlossenen Augen des anderen auffing.

„Die Polizei war heute bereits bei mir,“ fuhr Aubrey mit Nachdruck fort, „und sie wird sich heute oder morgen auch in Spittering Farm ein bißchen umsehen. Darauf können Sie sich verlassen. Und der erste, den sie fassen wird, werden Sie sein. Dann kommen Sie mindestens eine Stunde unter eine heiße Dusche und man wird Sie mit harten Bürsten bearbeiten, als ob Sie eine Tanzdiele werden sollten. Und Ihr ausgefranster Bart und Ihre Mähne werden auch zum Teufel gehen.“

Das waren schlimme Aussichten, und Forge war davon so betroffen, daß er die neue Pfeifenfüllung, die er in der hohlen Hand hielt, achtlos zu Boden rinnen ließ.

„Verdammt!“ brummte er kleinlaut. „Was ist los?“

Aubrey Rayne zündete sich gelassen eine Zigarette an.

„Was ich ihnen vorhergesagt habe, als Sie sich damals in den Kopf setzten, mit den Katzen auszurücken. Man hat die Fährte entdeckt und wenn man damit auch nicht viel beweisen kann, so wird man uns nun jedenfalls scharf im Auge behalten. Und das können wir gerade jetzt weniger denn je brauchen. Wenn alles glatt abläuft, wird das Mädchen schon in der nächsten Stunde hier sein …“ Er erinnerte sich plötzlich an eine andere Sache, die nicht weniger arge Unannehmlichkeiten bereiten konnte und seine Frage klang hastig und besorgt. „Wie geht es ihm heute?“

Peter fingerte an seinen dünnen Barthaaren und wiegte mit dem mächtigen Schädel.

„Ein niederträchtiger Hieb, Sir,“ meinte er ausweichend. „Alles bis auf die Knochen zerfleischt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist fast genau so, als ob ihn eine wilde Bestie gerissen hätte. Einen Zoll höher und es wäre mit ihm aus gewesen. Aber er scheint noch rechtzeitig den Kopf geduckt zu haben, und der Schlag ist hauptsächlich auf die Schulter gegangen. Dort ist alles kaputt.“

„Hat er schon gesprochen?“

„Kein Wort. Nicht einmal die Augen hat er bisher aufgemacht. Er hält ja etwas aus, aber es war doch zu viel Blut, was er hat lassen müssen.“

„Wir sollten unbedingt einen Arzt beiziehen, Forge,“ meinte Rayne bedenklich und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. „Die Verantwortung ist zu groß.“

Peter wußte, daß der feine Herr vor ihm das nicht leiden mochte, aber er mußte zunächst einmal durch den linken Mundwinkel in weitem Bogen ausspucken, um deutlich zu erkennen zu geben, was er von dieser Idee hielt. Und dann kleidete er seine Ansicht hierüber in Worte.

„Sir, wenn ich ihn nicht wieder zusammenflicke und hochbringe, dann kann auch so ein bebrillter Bader mit seiner Schulweisheit nichts ausrichten,“ meinte er entschieden. „Wir haben uns siebzehn Jahre in allen möglichen Winkeln der Sunda-Inseln herumgetrieben und haben hie und da einen gehörigen Puff abgekriegt, aber was man einen Doktor nennt, haben wir nie gebraucht. Sie wissen es ja selbst am besten. Wenn Sie damals, statt uns, so einem studierten Kopf in die Hände gekommen waren, hätte er einfach die Achseln gezuckt und gesagt: ‚Einscharren‘. – Und wie stehen Sie nun da, ha?“ Der Alte ließ seinen Blick mit einer gewissen Genugtuung auf dem stattlichen Aubrey ruhen und rieb sich umständlich die Stoppeln. „Was Aber Al betrifft, so ist die Sache so: Wir haben heute den fünften Tag und er bekommt alle drei Stunden einen Umschlag von unserem Kräuterwasser. Übermorgen oder überübermorgen wird ihm das die Hitze ausgetrieben haben, und ich kalkuliere, es wird dann mit ihm rasch bergauf gehen. – Und wenn ich mich um ihn bekümmern dürfte, statt des Frauenzimmers …“

Rayne schüttelte sehr energisch mit dem Kopfe.

„… So würden Sie ihm den Rauch Ihrer Pfeife ununterbrochen in die Nase blasen und er läge in einer Räucherkammer. Ich kenne Sie. Da ist schon Mrs. Fanny besser am Platze.“

Der vierschrötige Mann spitzte neuerlich den linken Mundwinkel, ließ es aber dabei bewenden.

„Er hat in seinem Leben Frauenzimmer nie gemocht.“ Knurrte er widerspenstig. „Genau so wie ich. Und meine Pfeife würde ihn gewiß nicht umbringen. Im Gegenteil, da er den Tabak ebenso gerne hat wie ich, würde es ihm sicher nur recht sein, wenn er wenigstens etwas davon zu riechen bekäme.“

Mr. Peter Forge war sehr gekränkt und gereizt und das kupferbraune Gesicht mit den schwarzen Augen und der platten Nase erschien noch grimmiger und tückischer als sonst, aber Rayne kümmerte sich nicht weiter darum, sondern sah mit verkniffenen Lippen nach seiner Uhr. Eben jetzt mußte Tom mit der Ausführung seines heiklen Auftrages beschäftigt sein und von dessen Gelingen hing zuviel ab, um die Nerven des jungen Mannes nicht aufs äußerste anzuspannen. Seit Monaten war alles bis aufs kleinste für diesen Fall vorbereitet worden, und er hatte selbst mit seinem scharfen Verstand und seiner kühlen Ruhe alle erdenklichen Möglichkeiten erwogen und ihnen Rechnung getragen. Das ganze Unternehmen war zeitraubend und mühsam gewesen, und nur, weil es vielleicht auch höchst abenteuerlich werden konnte, harte er sich dafür gewinnen lassen.

Nun war das erste Abenteuer vor einigen Tagen tatsächlich eingetreten, aber es war gleichzeitig auch die erste arge Schlappe gewesen. Der Schwerverwundete in Spittering Farm war eine Sache, die er nicht ins Kalkül gezogen harte und nun stimmten plötzlich alle Berechnungen und Pläne nicht. Es war irgend etwas geschehen, was er sich nicht zu erklären wußte, und solange der Mann nicht sprach, gab es eine unbekannte drohende Gefahr, die jäh hereinbrechen konnte, ohne daß er die Möglichkeit einer Abwehr sah. Wenn aber „die Lady mit der Pantherkatze“ sich erst in seinen Händen befand, so war wenigstens das Wichtigste getan. Unbedingt aber mußte Al Evans wieder auf die Beine gebracht werden, und er beschloß, selbst nach ihm zu sehen.

„Benachrichtigen Sie mich, wenn Tom in Sicht kommt,“ sagte er, indem er die wenigen Stufen zur Haustür mit einem Satze nahm, „aber lassen Sie sich in diesem Aufzuge nicht blicken. Das Mädchen soll nicht mehr geängstigt werden, als unbedingt notwendig ist.“

Er betrat die Diele, deren frischer Bretterboden mit einem dicken Läufer belegt war, und Peter erwischte unter einem halblauten Fluche gerade noch mit der Fußspitze die Kehrseite des gelbhäutigen Burschen, der eben an ihm vorüberflitzte.

Das Innere des Hauses war von peinlicher Sauberkeit und duftete nach harzigem Holz und dem Lack der Türen und der reichen Täfelungen, die zu dem bescheidenen Äußeren nicht recht passen wollten. Die erste Tür zur Linken stand halb offen und gewährte Einblick in eine geräumige Küche mit blitzblankem Metallgeschirr und dann kam noch eine weitere Tür und zur Rechten gab es ebenfalls zwei Eingänge. Die Wände waren bis zur Decke mit gebeiztem Holz verschalt und eine Treppe aus demselben Material führte in das Obergeschoß.

Den Flur schloß ein schmaler Gang ab, der quer durch das ganze Haus lief, und Aubrey Rayne wandte sich nach rechts und schob sich nach einem leisen Klopfen geräuschlos durch die nächste Tür.

Eine große stattliche Frau mit flachsblondem Haar wandte etwas unwillig ihr gesundes Gesicht, schnellte aber sofort von ihrem Sitze auf, als sie den Eintretenden erkannte. Der junge Mann nickte ihr flüchtig zu und sein erster Blick galt dem einfachen Feldbett, das in der Ecke neben dem vergitterten Fenster stand. Unter der Decke zeichneten sich die Umrisse einer unendlich langen Gestalt ab, und auf den Polstern ruhte ein umfangreiches Leinwandbündel, aus dem nichts weiter als eine mächtige Hakennase, ein Paar geschlossener Augen und ein eingefallener Mund mit blutleeren Lippen blickten. Es war kaum mehr ein Anzeichen des Lebens in diesem fahlen Gesicht, und Raynes Sorge stieg aufs höchste. Er gab der Frau einen Wink, ihm zu folgen, aber erst, als sie vorne im Flur angelangt waren, wagte er die Frage zu tun, die ihm auf dem Herzen lag.

„Sie haben doch gewisse Erfahrungen in solchen Dingen, Mrs. Fanny – glauben Sie, daß es sehr schlimm steht?“

Er sah ihr forschend in das noch immer recht hübsche, sommersprossige Gesicht, aber sie schüttelte sofort entschieden mit dem flachsblonden Kopfe und begann umständlich ihre umfangreiche Schürze glattzustreichen.

„Von sehr schlimm kann man nicht mehr reden, Euer Gnaden,“ meinte sie bestimmt. „Er hat kein Fieber und der Puls wird von Tag zu Tag besser. Und heute mittag habe ich ihm sogar schon einige Löffel Brühe einträufeln können, und er hat sie behalten. Auch kommt es mir vor, als ob er sich hie und da schon ein bißchen rühren würde.“ Sie zog plötzlich die Stirne kraus und sandte einen wenig freundlichen Blick durch die Tür auf den Hof. „Man kann ja von dem Pavian, den Sie Mr. Forge nennen, denken, wie man will, aber auf Heilkräuter scheint er sich zu verstehen. Aber sonst soll er seine Hand von dem Kranken lassen. Ich muß das Euer Gnaden sagen,“ fügte sie mit großer Zungengeläufigkeit und einem bedrohlichen Unterton in ihrer tiefen Stimme hinzu, „weil es sonst leicht ein Unglück geben könnte. Nicht für mich, sondern für diesen Wilden, der zu glauben scheint, daß er noch immer unter seinen Affen und sonstigen vierbeinigen Geschöpfen ist. Daß er so tut, als ob ich einfach Luft wäre und mir immer den Rücken zeigt, wenn er an mir vorüberkommt, daraus mache ich mir gar nichts, denn er ist von der hinteren Seite viel schöner als von der vorderen. Aber daß er sich fortwährend vor der Tür des Krankenzimmers herumtreibt und mir zufaucht, was ich machen soll, das paßt mir nicht. Heute vormittag hat er es so arg getrieben, daß ich ihm einen Topf Wasser über den Kopf schütten mußte. Und ich weiß nicht, Euer Gnaden, ob mir beim nächsten Male nicht auch der Topf mit aus der Hand fliegen wird. Es wäre zwar schade darum, aber ich kann mir nicht helfen.“

Die resolute Frau faltete die kräftigen Hände, und der Blick ihrer wasserblauen Augen verhieß nichts Gutes. Peter Forge war nun einmal nicht ihr Liebling, und so oft Rayne nach Spittering Farm kam, mußte er aus ihrem beredten Munde immer irgendeine Klage hören, die mit einer Drohung schloß, an deren Ernst nicht zu zweifeln war. Die robuste Mrs. Fanny machte den Eindruck, als ob sie sich selbst vor dem Teufel nicht fürchtete und um des lieben Friedens willen hatte der junge Mann anfangs einige Male den Versuch unternommen, ein halbwegs leidliches Verhältnis herzustellen. Seine Vermittlung war aber auf keiner Seite sonderlich günstig aufgenommen worden. Fanny hatte entschiedenst erklärt, daß man ihr als ehrlicher Christin nicht zumuten könne, einen ungewaschenen und verstockten Heiden wie ihresgleichen zu behandeln, und Peter hatte darauf überhaupt nur die gewisse wortlose Erwiderung aus dem linken Mundwinkel gehabt.

So war es bis heute beim alten geblieben, aber trotzdem ging das Leben auf Spittering Farm seinen geregelten Gang, und Rayne wußte, daß dies vor allem der Tüchtigkeit und Tatkraft von Mrs. Fanny zuzuschreiben war. Er kannte die Frau seit vielen Jahren, obwohl er nicht wünschte, daß davon gesprochen werden sollte, und er hatte sie schon vor Monaten eigens zu dem Zwecke nach der Farm gebracht, um für das junge Mädchen eine weibliche Hilfe zur Hand zu haben, falls sie einmal hier untergebracht werden sollte. Daß Fanny sich in ihrer energischen Art sofort des ganzen Hauswesens angenommen hatte und daß sie zur Stelle gewesen war, als man einer geschulten und verschwiegenen Krankenpflegerin bedurfte, war sehr gelegen gekommen, aber ihre eigentliche Aufgabe sollte erst jetzt beginnen, und Aubrey Rayne fand es angezeigt, ihr dieselbe in allen Einzelheiten klarzumachen.

„Das Mädchen wird vielleicht in der ersten Zeit etwas schwierig zu behandeln sein,“ meinte er und vermied es, dem forschenden Blicke der wasserblauen Augen zu begegnen. „aber auf keinen Fall dürfen Sie die Geduld verlieren. Sie ist ganz als Dame zu nehmen, und ich hoffe, daß wir an nichts vergessen haben, was eine solche benötigt. Nur ihr Zimmer soll sie bis auf weiteres nicht verlassen, und ich wünsche auch nicht, daß sie erfährt, wo sie sich befindet. Im übrigen werde ich nun einige Tage hier bleiben, und Sie können sich daher jederzeit an mich wenden.“

Fanny war eine brave und rechtliche Frau, und an der Sache war ihr, wie an so vielem in Spittering Farm, nicht alles klar, aber wenn Mr. Rayne etwas anordnete, war sie ohne Bedenken dafür zu haben.

„Ich verstehe, Euer Gnaden,“ sagte sie und machte sich wieder angelegentlich an ihrer Schürze zu schaffen. „Der jungen Lady soll es an nichts fehlen. Und auch das übrige werde ich schon besorgen. Aber der scheußliche Waldmensch darf mir dabei natürlich nicht in die Quere kommen. Bläuen Sie ihm das gehörig in den unfrisierten Schädel, Euer Gnaden.“

Sie war schon wieder bei Mr. Forge angelangt, der das Um und Auf ihrer Sorgen und ihres Ärgers bildete, und Aubrey hob etwas ungeduldig die Hand.

„Das habe ich bereits getan,“ bemerkte er, und Fanny konnte fast noch in derselben Sekunde zu ihrer größten Genugtuung feststellen, daß es wirklich sehr gründlich geschehen zu sein schien. Peter polterte nämlich in diesem Augenblicke mit einem gewaltigen Satze zur Haustür herein und stürmte in förmlicher Flucht nach rückwärts. Sein Gesicht glühte vor Erregung und seine Augen funkelten, aber als er an den beiden vorüberflog, wandte er grimmig den Kopf ab und stieß nur keuchend die Worte hervor: „Der Wagen …“ Dann hörte man irgendwo in dem Quergang eine Tür ziemlich unsanft ins Schloß fallen und einen Riegel kräftig einschnappen.

„Es wird gut sein, Mrs. Fanny,“ sagte der junge Mann mit gelassener Ruhe „wenn Sie für alle Fälle vor dem Hause warten.“

Die stattliche Frau strich sich hastig einige Male ordnend über das glatte Haar und eilte dann mir wiegenden Hüften ins Freie, während Rayne durch eine der Türen im Flur hastig verschwand.

3

Der Assistent am Zoologischen Garten besah sich das Lehmstück, das ihm Oberinspektor Murphy ohne weitere Erklärung behutsam auf den Tisch gelegt hatte, sehr lange und eingehend, dann gab er Auftrag, einen bestimmten Aufseher zu rufen.

„Meiner Ansicht nach ist das entschieden die Fährte einer Großkatze,“ meinte er, „ich möchte mich jedoch auf mein Urteil nicht ganz verlassen. Aber der Mann, der kommen wird, wird es uns mit unfehlbarer Sicherheit sagen. Er hat sich jahrelang in allen Weltteilen herumgetrieben und gerade diese Tiere sind seine Spezialität.“

Der kleine ausgetrocknete Mann hatte aus seinen geschlitzten Augen auch kaum einen Blick auf den scharf umrissenen Abdruck geworfen, als er bereits im Bilde war.

„Die linke Vorderpranke eines Panthers. Es ist aber kein ausgewachsenes Exemplar.“

Murphys Äuglein funkelten und seine Ohren gingen wie Wedel hin und her.

„Eines schwarzen Panthers?“

„Es kann auch ein gefleckter gewesen sein,“ erklärte der alte Jäger mit einem Achselzucken.

„Wollen Sie sich vielleicht unsere Tiere ansehen?“ fragte der Assistent entgegenkommend, und Murphy war von diesem Vorschlage sofort begeistert. Er hatte an diesem Vormittage schon so viel von diesen gefährlichen Bestien zu hören bekommen, daß es ihn gelüstete, sie näher kennenzulernen. Seine zoologischen Kenntnisse und Vorstellungen waren sehr verschwommener Art, wenn er aber mit einer Sache irgendwie zu tun bekam, liebte er es, darüber völlig im klaren zu sein.

Er stapfte breitspurig an der Seite des Aufsehers einher, aber so gedrungen und massiv sein Körper war, verriet er doch eine außerordentliche Beweglichkeit. Nur die steife Melone, die am äußersten Rande seines umfangreichen Kopfes saß, gab ihm zu schaffen, und er mußte sie auf den schattenlosen Wegen immer wieder abnehmen, um sich die Stirne zu wischen und Kühlung zuzufächeln.

Der kleine dünne Spang schlürfte teilnahmslos hinter ihm drein, wie ein wohldressierter Hund hinter seinem Herrn. Er hatte keine Ahnung, worum es sich bei dieser seltsamen Exkursion eigentlich handelte und Neugierde kannte er nicht. Er wußte, daß ihm eine vorzeitige Frage höchstens eine saftige Grobheit seines Chefs eintragen konnte. Wenn es an der Zeit war, würde ihn dieser schon auf die Fährte setzen und dann begann seine Arbeit. Er war kein Geisteslicht, und Probleme und Kombinationen lagen ihm nicht, aber wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, entfaltete er einen geradezu unfehlbaren Instinkt.

In dem ausgedehnten Raubtierhause äugelte der Oberinspektor lebhaft nach allen Seiten, aber er mußte sich eine ziemliche Weile gedulden, ehe sie an Ort und Stelle waren. Man hatte die drei schwarzen Sundapanther, zwei alte Tiere und ein junges, sogar von ihren gefleckten Artgenossen abgesondert, da ihre unzähmbare Wildheit jede Verträglichkeit ausschloß. Sie hatten auch kaum die kleine Gruppe vor ihren Gitterstäben erblickt, als sie die langgestreckten Leiber aufschnellten und mit federnden Gelenken und fliegenden Flanken einen erregten Rundgang begannen.

Murphy hielt seine Melone mit beiden Händen an die Brust gedrückt und wandte keinen Blick von den fast tiefschwarzen wiegenden Körpern und den kleinen Köpfen mit den schillernden, tückischen Lichtern. Es schien, als wollte er jede Bewegung der geschmeidigen Katzen festhalten, und erst nach langen Minuten wandte er langsam den Kopf und winkte den Sergeanten ganz nahe heran.

„Sehen Sie sich das genau an, Spang,“ raunte er. „Das sind sehr bösartige wilde Tiere. Ich mache Sie darauf aufmerksam, weil man bei Ihrer Einfalt nie vorsichtig genug sein kann. Sie wären imstande, solch ein Vieh für einen niedlichen großen Kater zu halten und ihm das Fell zu krauen. Dann könnte ich Sie stückweise aus seinen Zähnen herausklauben.“

Spang riß gehorsam die Augen auf und nickte krampfhaft, wie er es immer tat, wenn er absolut nicht wußte, was sein Chef eigentlich von ihm wollte.

Erst als sie den Regents Park schon längst passiert hatten und in einer klapprigen Autodroschke gegen Süden fuhren, öffnete der schläfrige Oberinspektor wieder den Mund, und der arme Sergeant mußte abermals eine wenig schmeichelhafte Kritik seiner geistigen Fähigkeiten über sich ergehen lassen.

„Wenn ich nicht wüßte, daß es bei Ihrer Beschränktheit ganz zwecklos ist, möchte ich Sie fragen, weshalb Sie mir eigentlich diesen Tagedieb Kitson mit seinem Stückchen Blech herangeschleift haben. Wissen Sie überhaupt, was das für ein Ding war?“

Der Sergeant machte sich so dünn als möglich und blinzelte seinen Vorgesetzten forschend von der Seite an. Wenn dieser so gesprächig und ausfallend wurde, war gewöhnlich etwas los, und Spang machte seine Hechtschnauze noch spitziger als sie ohnehin schon war.

„Ich dachte, es wäre ein Ring von einer Brieftaube,“ bemerkte er etwas unsicher. „Jedenfalls kam mir das Zeug verdächtig vor.“