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Über das Buch

Amina wächst zwei Tagesreisen von Kabul entfernt auf. Wann aus ihr Amin wurde, weiß sie nicht – das Thema ist in ihrer Familie tabu. Als »Bacha Posh« genießt sie alle Freiheiten, die ein Junge in Afghanistan hat: Fahrrad fahren oder Fußball spielen, während ihre Schwestern nur verschleiert und in Begleitung nach draußen gehen dürfen. Auch hilft sie ihrem Vater auf dem Feld aus und verdient ein bisschen Geld. Doch jetzt mit 16 Jahren findet ihre Mutter, dass aus ihr wieder Amina werden soll. Der Vater hingegen will seinen Sohn nicht verlieren und plant sogar, einer Familie Geld zu geben, damit deren Tochter seinen Sohn Amin heiratet. Zum Schein. Und Amina? Was will sie?

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Nur wenn der Mensch des Äußeren
beraubt wird wie im Winter,
besteht Hoffnung, dass sich
ein neuer Frühling in ihm entwickelt
.

Rumi

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

GLOSSAR

HISTORISCHER ABLAUF

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»Pssst.« »Er wacht auf!«

»Er ist eine Sie!«

»Pssst! Seid leise! Sonst erschreckt er sich!«

Die wispernden Stimmen, die von allen Seiten um ihn herumschwirrten wie ein hungriger Schwarm Sandmücken, waren das Erste, was Amin wahrnahm. Er versuchte, seine Augen zu öffnen. Sehen konnte er nichts. Es war dunkel, und seine Augen waren so geschwollen, dass er selbst bei Licht nichts gesehen hätte. Er wollte sich aufrichten, fiel aber leise stöhnend vor Schmerzen auf den Boden zurück.

»Bleib liegen!«, flüsterte eine der Stimmen. Sie erinnerte ihn an seine Großmutter, klang zärtlich besorgt und doch sehr bestimmt.

Jemand drückte ihm etwas Kaltes, Nasses auf die Stirn. Wassertropfen liefen über sein Gesicht.

Amin zuckte zusammen, schrie auf und drehte seinen Kopf mit einem Ruck zur Seite.

»Schsch! Nicht bewegen!«, wisperte es.

Amin leckte mit der Zunge die Wassertropfen auf, die über seinen Mund liefen.

»Er hat Durst!«, rief eine Stimme.

»Sie hat Durst!«

Jemand hob vorsichtig seinen Kopf ein wenig hoch. Kaltes Wasser tropfte auf seine Lippen, er öffnete den Mund. Jede Bewegung tat weh, selbst das Schlucken. Das Wasser lief ihm seitlich wieder aus dem Mund.

»Du musst etwas trinken«, wisperte es. »Versuch es!«

Er wusste nicht, wo er war, wie er hierhergekommen war, wem die wispernden Stimmen gehörten.

Es war nicht wichtig.

Alles, was er fühlte, war der Schmerz, der in seinem Kopf, seinen Armen und Beinen, seinem Bauch und seinem Rücken, einfach überall wohnte. Vor allem in seinem Kopf. Nichts zählte als der Schmerz und das Wissen, dass die wispernden Stimmen ihn nicht vergrößern würden.

Die wispernden Stimmen waren keine bösen Dschinn, sie waren freundliche Geister.

Er schloss die Augen.

Als er sie das nächste Mal öffnete, blendete ihn die Mittagssonne, sodass er blinzeln musste.

»Er wacht auf!«

»Er ist eine Sie!«

Amin schaute in dunkle Augen, die ihn neugierig und besorgt betrachteten. Immer neue Augen tauchten über ihm auf.

»Er schaut schon viel besser aus.«

»Sie muss trinken!«

»Und etwas essen.«

»Lass ihn in Ruhe! Er ist noch viel zu schwach.«

Es gab nur ihre Augen und ihre Stimmen, die Gesichter waren hinter ihren Schleiern verborgen.

Als Amin versuchte, sich aufzurichten, und vor Schmerz zusammenzuckte, streckten sich viele Hände aus, um ihm zu helfen. Sie lehnten ihn mit dem Rücken an eine Wand und hockten sich schweigend vor ihn, ihre nackten Füße unter ihren weiten Kleidern versteckt.

Eine reichte ihm eine Schale mit Wasser, damit er sich das Gesicht, die Hände und die Füße waschen konnte, eine andere ein großes Stück naan und eine weitere Schale mit Wasser zum Trinken.

Auch während Amin aß und trank, langsam, weil das Schlucken immer noch wehtat, saßen sie schweigend da und beobachteten ihn mit ihren großen schwarzen Augen.

»Wie heißt du?«, fragte schließlich eine, als er das Brot aufgegessen hatte.

»Amin.« Seine Stimme erschreckte ihn, es war nicht mehr als ein Krächzen, kaum zu verstehen.

»Also doch ein Junge.«

»Wie alt bist du?«

»Warum hat man dich hierhergebracht?«

Ihre Fragen prasselten wie kleine Geschosse aus einem Maschinengewehr auf ihn ein. Amin zog seine Beine an den Körper, legte den Kopf darauf und die Arme schützend um sich.

Es wurde still im Raum, ganz still. Aber er spürte, dass sie noch da waren und auf eine Antwort warteten.

Nach einer Weile hob er den Kopf und flüsterte: »Wo bin ich? Was ist das für ein Haus? Ich will hier raus. Ich will nach Hause … mein Kopf …«

»Wir wollen alle raus«, sagte eine der Stimmen. »Aber nicht nach Hause. Dies hier ist nur der Vorhof der Hölle, die Hölle war unser Zuhause.«

Sie hob ihren Schleier hoch, sodass Amin ihr Gesicht sehen konnte. Sie war vielleicht so alt wie seine Mutter. Über ihre linke Gesichtshälfte zogen sich von der Stirn bis zum Hals weiße Narben. Das linke Auge war ganz unter einer großen Narbe verschwunden.

Sie lächelte, als sie Amins erschrockenen Blick sah, nahm seine Hand und strich damit über ihr Gesicht.

»Keine Angst, es tut nicht mehr weh. Mein Mann dachte, ich würde ihn mit einem Kollegen betrügen. Er ist sehr eifersüchtig. Er hat mir nicht geglaubt, dass das nicht stimmt. Dann hat er mir Säure ins Gesicht geschüttet und mich wegen Ehebruch angezeigt … Jetzt bin ich hier. Im Gefängnis.« Sie stockte.

Amin fragte nicht weiter. Er wusste, dass die Frau noch Glück gehabt hatte, weil sie lebte. Bei Ehebruch, auch wenn es nur ein Verdacht war und nicht bewiesen werden konnte, wurden Frauen häufig zu Tode gesteinigt.

»Warum bist du hier, Amin?«

Er überlegte.

»Ich weiß es nicht … Ich … ich kann mich nicht erinnern.«

Die Frauen steckten die Köpfe zusammen. Er hörte ihre wispernden Stimmen.

»Er hat einen Schlag auf seinen Hinterkopf bekommen.«

»Vielleicht hat er dabei sein Gedächtnis verloren.«

»Oder er hat etwas so Schlimmes erlebt, dass seine Seele die Tür zu seinem Gedächtnis verschlossen hat.«

»Und wie öffnet man sie wieder?«

»Mit ganz viel Geduld. Bei meiner Schwester war es auch so, nachdem sie mit ansehen musste, wie ihr kleiner Sohn auf eine Landmine getreten ist und vor ihren Augen zerfetzt wurde.«

Amin schloss die Augen, er war müde, so unendlich müde. Jede Bewegung tat weh.

Die Frauen tuschelten aufgeregt miteinander.

»Ich sage euch, er ist ein Mädchen.«

»In Jungenkleidern?«

»Dies ist ein Frauengefängnis, sie hätten nie einen Jungen hierhergebracht.«

Das Wispern hörte auf.

Amin öffnete seine Augen.

»Wo kommst du her, Amin? An irgendetwas musst du dich doch erinnern. Was ist vor zwei Tagen passiert? Denk nach!«

Zwei Tage war er also schon hier. Er hatte keine Ahnung, was passiert war. Was hatte er getan, dass man ihn hier eingesperrt hatte?

»Du erinnerst dich doch sicher an deine Eltern«, sagte die Frau mit der Narbe und der dunklen Stimme. Amin hörte sie gern sprechen. »Fang da an. Wer sind sie und wo kommt ihr her? Hast du Geschwister? Wie heißen sie? Wie alt bist du? Fang am Anfang an. Erzähle das, was dir einfällt. Dann kommt alles andere vielleicht zurück. ›Ich heiße Amin …‹, und wie geht es weiter?«

Amin überlegte. Er hatte Kopfschmerzen, aber er wollte die Frauen, die vor ihm saßen und ihn besorgt ansahen, nicht enttäuschen. Dann begann er langsam, immer wieder stockend, zu erzählen.

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Bis vor einigen Jahren lebten wir alle in einem kleinen Dorf ungefähr zwei Tagesreisen von Kabul entfernt. Um unser Haus herum gab es eine zwei Meter hohe Mauer aus verputztem Lehm mit einem Tor, das Baba jeden Abend abschloss, obwohl weder die Mauer noch das Tor uns bei einem Angriff wirklich geschützt hätten. Gegen die Flugzeuge, die ihre Bomben auf Kabul warfen und manchmal auch auf unser Dorf, schützten sie sowieso nicht. Durch unser Dorf zogen seit vielen Jahren immer wieder Soldaten mit oder ohne Panzer. Und wenn sie auf feindliche Soldaten trafen, dann wurde geschossen. Unsere Mauer hat schon viele Einschusslöcher.

»Man kann die Geschichte Afghanistans daran ablesen«, sagte Baba immer. Er hat versucht, uns zu erklären, wer gegen wen kämpft. Aber das Einzige, was ich damals verstanden habe, war, dass es seit über vierzig Jahren keinen Frieden gab und dass Baba die Hoffnung längst aufgegeben hatte.

Wenn man durch das Tor in der Mauer geht, kommt man in einen Innenhof, der zu drei Wohnungen führt. In der einen wohnte meine Familie mit meinen Eltern, mir, meinen älteren Schwestern Nila und Najiba und meinen zwei jüngeren Schwestern. Daneben wohnten Onkel Achmed und Tante Filiz mit ihren vier Kindern, und in der dritten Wohnung, die nur aus zwei kleinen Zimmern besteht, lebte meine Großmutter mit Tante Zohra.

Im Innenhof gibt es einen Brunnen und einen Ofen aus Lehm, auf dem die Frauen unser Essen gekocht haben. Meine Cousins und ich mussten dafür sorgen, dass immer genügend Feuerholz da war. Baba hatte auch einen Gaskocher gekauft, aber das Gas dafür konnten wir uns nur leisten, wenn er mit einem seiner Kampfhähne ein gutes Geschäft gemacht hatte.

Meist kochten alle Familien zusammen in einem großen Topf: pulao und bolani mit Kartoffelfüllung, sehr selten auch mal Lammkebab mit Reis. Zu jeder Mahlzeit gab es frisch gebackenes naan. Manchmal kauften Vater oder Onkel Achmed einige Hühner, die dann im Innenhof herumliefen.

Der Innenhof gehörte den Frauen. Nach dem Essen machten meine älteren Schwestern und meine Cousinen in großen Plastikschüsseln den Abwasch oder wuschen unsere Wäsche. Sie redeten und lachten dabei, als hätten sie großen Spaß. Meine Mutter und meine Tanten machten täglich frisches naan im Ofen. Der Duft zog durch den ganzen Hof über die Mauer und begrüßte uns, wenn meine Cousins und ich abends nach Hause kamen. Für meine kleinen Schwestern war der Innenhof ihr Spielplatz, wo sie singen, hüpfen und herumlaufen konnten.

Auf dem Dach unseres Hauses lebten Babas Tauben. Jeden Abend, wenn er vom Feld zurückkam, wusch er sich und ging dann zu ihnen, um sie zu füttern. Ich durfte ihm manchmal helfen. Er öffnete die Käfige und ließ sie eine Weile fliegen. Sie sahen aus wie kleine weiße Drachen. Und als würde Baba sie an einer Schnur festhalten, flogen sie nicht davon, sondern kreisten in der Luft über unserem Haus.

»Sie wissen genau, dass sie nur hier etwas zu fressen bekommen«, sagte mein Vater immer und lachte und wedelte mit einem Fächer durch die Luft.

Wenn er bei seinen Tauben war, dann war er glücklich und vergaß seinen zerschossenen Arm und seinen Zorn auf den Mann, der dafür verantwortlich war und der seit Jahren versuchte, diese Schuld mit Tausenden von Afghani abzuzahlen.

Baba hatte, nachdem die Russen 1979 unser Land besetzt hatten, zusammen mit den Mudschaheddin gegen die Kommunisten gekämpft. Es war ein Dschihad, ein heiliger Krieg, denn die Kommunisten glauben nicht an Gott, und so war es die Pflicht eines jeden gläubigen Muslim, sie zu vertreiben, erzählte Baba oft.

Sein Kommandant war damals Khan Najibullah gewesen. Der hatte eines Tages einen Angriff auf einen Vorort von Kabul befohlen, wo sich ein feindlicher Trupp befand. Jeder wusste, dass der Feind in der Überzahl war, auch seine Offiziere warnten ihn, aber Khan Najibullah interessierte das nicht. Und so wurde aus dem Angriff eine furchtbare Niederlage, die den meisten aus der Truppe den Tod brachte.

Baba befand sich in der Nähe des Kommandanten, als der Khan von einer feindlichen Kugel getroffen wurde. Es gelang meinem Vater, ihn in Sicherheit zu bringen und ihm so das Leben zu retten, auch wenn er selbst dabei an der Schulter getroffen wurde. Seitdem kann er seinen linken Arm nicht mehr bewegen.

Aus Dankbarkeit gab Khan Najibullah meinem Vater später seine jüngste Tochter zur Frau. Sie war bei der Hochzeit erst zwölf Jahre alt und ist bei der Geburt ihrer Tochter, meiner ältesten Schwester Nila, gestorben. Khan Najibullah war sehr traurig und schickte uns seitdem jedes Jahr zum Neujahrsfest Geld, Geschenke für die ganze Familie und neue Kleider für seine Enkelin. Außerdem nahm er Baba das Versprechen ab, dass er Nila nicht verheiraten durfte, bevor sie sechzehn Jahre alt war.

Ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete mein Vater erneut, meine Mutter.

Mit dem Geld und den Geschenken von Nilas Großvater konnte Baba auch unsere Wohnung einrichten. Im Wohnraum lag ein dicker roter Teppich auf dem Boden, an den Wänden gab es rote Polster aus Samt, auf denen wir beim Essen saßen und Baba und ich in der Nacht auch schliefen. An der Wand stand ein Regal, auf dem nur ein Buch lag: der Koran, in grünen Samt eingewickelt. Kein anderes Buch sollte über ihm stehen. Dabei war es sowieso das einzige Buch in unserem Haus außer unseren Schulbüchern.

Dann gab es noch ein Zimmer für meine Mutter und meine Schwestern. Vor diesem Zimmer hing ein Vorhang, der immer, wenn Fremde kamen, zugezogen wurde.

Auch der Gaskocher wurde mit dem Geld von Nilas Großvater gekauft, die ersten Tauben und Babas Kampfhähne, seine Aprikosenbäume und einige zusätzliche Felder. Onkel Achmed und Großmutter bekamen immer einen Teil von Khan Najibullahs jährlichen Geschenken.

So wurde unser Haus zum schönsten Haus und Baba zum mächtigsten Mann im ganzen Dorf.

Jedes Jahr zu Beginn des Nowruzfestes, sobald der Geldbote von Nilas Großvater gekommen war, lud Baba das ganze Dorf ein. Meine Mutter und die anderen Frauen aus meiner Familie hatten vorher schon tagelang zusammen mit den Frauen aus dem Dorf gekocht und gebacken: simenak, haft mewah und andere Gerichte, die es nur beim Neujahrsfest gab.

Einmal, kurz vor meiner Geburt, Nila war gerade fünf Jahre alt, besuchte uns Khan Najibullah persönlich, um die Geschenke zu bringen und seine Enkelin zu sehen. Er kam mit einem riesigen Gefolge. Das gab eine große Aufregung im Dorf. Noch heute erzählen alle davon.

Für unsere Familie, vor allem für Baba, war der Besuch des berühmten Kommandeurs eine große Ehre. Khan Najibullah war sehr zufrieden mit allem und umarmte Baba zum Abschied feierlich vor sämtlichen Männern des Dorfes, aber er wünschte ihm auch mit seiner lauten Stimme, dass Allah ihm bald einen Sohn schenken möge.

»Jeder Mann braucht einen Sohn«, fügte er hinzu. Das war für meinen Vater eine schlimme Demütigung, denn er hatte ja nur zwei Töchter.

Baba hatte große Hoffnung, dass ich dieser Sohn werden würde, denn ein Sohn ist wichtig für das Ansehen eines Mannes. Stattdessen wurde ich, Amina, geboren. Aber ich wurde zu Amin, dem Sohn, den mein Vater sich immer gewünscht hatte.

Baba wollte das so und keiner protestierte. Selbst meine Mutter sagte nichts, denn sie wusste, dass eine Frau, die keinen Jungen gebären kann, keinen Wert hat. Außerhalb der Familie wusste niemand, dass ich nicht Babas Sohn war, sondern nur eine weitere Tochter. Es sollte so lange wie möglich ein Familiengeheimnis bleiben, denn von Babas Ansehen im Dorf hing auch das Ansehen der ganzen Familie ab.

Ich war vielleicht fünf Jahre alt, als ich auf der Hochzeit einer Cousine neben meiner Großmutter saß und sie in ihrem bunten wunderschönen Kleid neugierig anstarrte. Großmutter hat mir die Geschichte später immer wieder erzählt.

»Gefällt es dir? Möchtest du auch so ein Kleid haben?«, fragte sie mich plötzlich.

»Jungen tragen keine Kleider«, sagte ich.

»Spätestens bei deiner eigenen Hochzeit wirst du auch eins tragen.«

Ich habe laut gelacht. »Ich bin Amin, Großmutter.«

Ich dachte, sie machte einen Scherz, wie sie das oft tat, um mich zu necken. Aber diesmal zwinkerte sie mir nicht zu, sondern sah mich ganz ernst an, strich mir über die Haare und zeigte dann auf den Regenbogen, der in leuchtenden Farben über dem Feld stand.

»Beeil dich! Lauf unter ihm durch! Und wenn du Glück hast, wird aus dir ein richtiger Junge.« Als ich sie verwirrt anstarrte, gab sie mir einen kleinen Stoß.

»Na los, beeil dich! Er wird nicht ewig auf dich warten.«

Ich verstand zwar nicht, was sie meinte, aber da sie so ernst schaute, rannte ich los. Ich war nicht der Einzige. Auch andere Kinder, manche größer, manche kleiner als ich, rannten so schnell sie konnten über das Feld. Dass es alles nur Mädchen waren, fiel mir nicht auf. Als ich am anderen Ende angekommen war und zum Himmel schaute, war der Regenbogen verschwunden.

Ich war nicht sicher, ob ich tatsächlich unter ihm durchgelaufen war, aber es war ja eigentlich auch nicht wichtig. Schließlich war ich ein Junge und das Ganze nur ein Spiel, ein sehr dummes Spiel. Die anderen Jungen lachten mich aus.

»Was machst du? Möchtest du ein Mädchen werden? Wer durch den Regenbogen läuft, ändert sein Geschlecht. Kein Junge macht so etwas!«

Als ich meinem Vater von Großmutter und dem Regenbogen erzählte, sagte er ein wenig verärgert: »Hör nicht auf das Geschwätz der Frauen. Du bist Amin, mein Sohn. Du brauchst den Regenbogen nicht.«

Am Abend hörte ich, wie sich meine Mutter und meine Großmutter draußen auf dem Hof stritten.

»Wie lange wollt ihr sie noch in Hosen herumlaufen lassen?«, schimpfte meine Großmutter.

»So lange, wie sein Vater es möchte und wie es Amin selbst gefällt«, erwiderte meine Mutter.

Ich verstand nicht, worum es eigentlich ging, nur dass meine Großmutter nicht wollte, dass ich in Hosen herumlief. Dabei waren sie so viel bequemer als die langen, dunklen Kleider meiner Mutter und meiner Schwestern, die bis zum Boden reichten.

»Vergiss den Regenbogen nicht!«, flüsterte Großmutter mir zu, bevor sie in ihr Zimmer ging.

Am Rande des Dorfes, etwas entfernt von den übrigen Häusern, wohnte in einer Lehmhütte ein alter Mann. Er war kurz vor meiner Geburt in unser Dorf gekommen. Mutter hat mir oft erzählt, wie er eines Tages dort stand, barfuß, auf seinen Wanderstab gestützt, mit einem Flickenmantel bekleidet, den Gebetsketten um den Hals und einem weißen Turban auf dem Kopf. Er war ein Malang, ein heiliger Mann, der sein Leben lang von einem Schrein zum anderen wanderte, auf der Suche nach Gott.

Kurz vor unserem Dorf war er gestolpert und so böse gestürzt, dass er nur noch humpeln konnte. Deshalb ließ ihn Baba auch in einer Hütte auf einem seiner Felder wohnen. Allerdings sollte das nur vorübergehend sein, bis sein Fuß geheilt war.

Aber der Malang war schon sehr alt und einfach zu müde, um weiterzuziehen. Also blieb er in der Hütte meines Vaters. Die Menschen in unserem Dorf versorgten ihn mit Essen, dafür bekamen sie seinen Rat und seine Hilfe.

Meine Mutter und die meisten Frauen im Dorf glaubten fest daran, dass er die Zukunft voraussehen konnte und magische Kräfte besaß. Mutter hoffte, durch seine Magie endlich einen Sohn zu bekommen, andere wünschten sich einen guten Mann für ihre Tochter oder baten um Hilfe bei Problemen mit ihren Ehemännern.

Unserem Mullah und den Männern im Dorf gefiel das gar nicht.

»Ein richtiger Muslim verabscheut den Aberglauben. Es gibt nur den Glauben an Allah. Für Magie ist da kein Platz«, sagte Baba und verbot meiner Mutter, zu ihm zu gehen.

Aber der Glaube an die magischen Kräfte des Malang war stärker, und so ging sie, wie die meisten Frauen aus dem Dorf, heimlich zu ihm. Ich begleitete sie oft. Anfangs hatte ich große Angst vor ihm, denn in seiner Hütte war es dunkel, es roch seltsam nach Weihrauch, und seine Augen waren so scharf, dass ich Angst hatte, sie würden mich durchbohren.

Als er mich das erste Mal sah, nahm er meine Hand und schaute ganz tief in meine Augen. Dann sagte er, dass ich eine lange Reise machen müsse, bevor ich wüsste, wer ich bin und wer ich sein wollte. Ich wusste nicht, was er damit meinte, es war mir unheimlich. Ich war Amin, Babas Sohn. Warum sollte ich eine Reise machen?

Mutter bekam von ihm immer einen Talisman, ein taweez aus Papier, worauf er geheimnisvolle Zeichen gemalt hatte. Sie trug ihn an einer Kette um den Hals. Geholfen hat es bis jetzt nicht. Genauso wenig wie das gelbe Pulver, das er ihr jedes Mal mitgab, eingewickelt in ein Kräuterblatt.

Wenig später erfuhr ich die ganze Wahrheit über mich. Ich hatte mich schon darüber gewundert, dass Baba, immer wenn meine Mutter ein Mädchen zur Welt brachte, sehr enttäuscht und ärgerlich auf sie war. Sie solle sich mehr Mühe geben, schimpfte er dann, denn bei uns ist immer die Frau schuld, wenn sie keinen Jungen bekommt.

Nila behauptet, das liegt eigentlich am Mann. Das hat sie in der Schule gelernt. Ich habe sie angefleht, so etwas niemals laut zu sagen. Denn dann würde unser Vater sie sicher verprügeln, obwohl er sie sonst wie etwas Besonderes behandelte. Solange es ihr gut ging, konnte unsere Familie weiterhin mit dem Geld von Khan Najibullah rechnen, der inzwischen in der Regierung in Kabul zu einem mächtigen Mann geworden war.

Eines Abends schickte mich mein Vater zu meinen Schwestern, damit sie ihm seinen grünen Tee kochten und ins Wohnzimmer brachten.

Normalerweise gehorchten sie mir immer, aber Nila hatte an diesem Tag schlechte Laune und sagte nur patzig: »Warum machst du das nicht? Ich muss das Abendessen vorbereiten.«

»Teekochen ist Frauenarbeit«, erwiderte ich.

»Genau! Das kannst du ja schon mal üben.«

»Was soll ich üben?«

»Na, die Frauenarbeit!«, antwortete sie. »Glaubst du etwa, du bist etwas Besonderes, nur weil du eine Hose trägst? Es wird nicht mehr lange dauern, dann stehst du hier mit uns und machst den Abwasch, Amina!«

In diesem Moment kam unsere Mutter. Sie hatte Nilas letzte Worte gehört, aber statt mit ihr zu schimpfen, weil sie so respektlos mit mir redete, legte sie nur den Finger auf den Mund und sagte leise: »Sie hat recht, Amina.«

Und dann erklärte sie mir, dass ich gleich nach meiner Geburt zu dem Sohn gemacht worden war, den mein Vater so unbedingt haben wollte, den sie ihm aber nicht schenken konnte.