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Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-58-2

null-papier.de/664

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Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Eilf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Die wun­der­li­chen Nach­bars­kin­der

Eilf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

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Erster Teil

Erstes Kapitel

Eduard – so nen­nen wir einen rei­chen Baron im bes­ten Man­nes­al­ter – Eduard hat­te in sei­ner Baum­schu­le die schöns­te Stun­de ei­nes April­nach­mit­tags zu­ge­bracht, um frisch er­hal­te­ne Pfropf­rei­ser auf jun­ge Stäm­me zu brin­gen. Sein Ge­schäft war eben vollen­det; er leg­te die Gerät­schaf­ten in das Fut­te­ral zu­sam­men und be­trach­te­te sei­ne Ar­beit mit Ver­gnü­gen, als der Gärt­ner hin­zu­trat und sich an dem teil­neh­men­den Flei­ße des Herrn er­getz­te.

»Hast du mei­ne Frau nicht ge­se­hen?« frag­te Eduard, in­dem er sich wei­ter­zu­ge­hen an­schick­te.

»Drü­ben in den neu­en An­la­gen«, ver­setz­te der Gärt­ner. »Die Moos­hüt­te wird heu­te fer­tig, die sie an der Fels­wand, dem Schlos­se ge­gen­über, ge­baut hat. Al­les ist recht schön ge­wor­den und muss Euer Gna­den ge­fal­len. Man hat einen vor­treff­li­chen An­blick: un­ten das Dorf, ein we­nig rech­ter Hand die Kir­che, über de­ren Turm­spit­ze man fast hin­weg­sieht, ge­gen­über das Schloss und die Gär­ten.«

»Ganz recht«, ver­setz­te Eduard; »ei­ni­ge Schrit­te von hier konn­te ich die Leu­te ar­bei­ten se­hen.«

»Dann«, fuhr der Gärt­ner fort, »öff­net sich rechts das Tal, und man sieht über die rei­chen Baum­wie­sen in eine hei­te­re Fer­ne. Der Stieg die Fel­sen hin­auf ist gar hübsch an­ge­legt. Die gnä­di­ge Frau ver­steht es; man ar­bei­tet un­ter ihr mit Ver­gnü­gen.«

»Geh zu ihr«, sag­te Eduard, »und er­su­che sie, auf mich zu war­ten. Sage ihr, ich wün­sche die neue Schöp­fung zu se­hen und mich dar­an zu er­freu­en.«

Der Gärt­ner ent­fern­te sich ei­lig, und Eduard folg­te bald.

Die­ser stieg nun die Ter­ras­sen hin­un­ter, mus­ter­te im Vor­bei­ge­hen Ge­wächs­häu­ser und Trei­be­bee­te, bis er ans Was­ser, dann über einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neu­en An­la­gen in zwei Arme teil­te. Den einen, der über den Kirch­hof ziem­lich ge­ra­de nach der Fels­wand hin­ging, ließ er lie­gen, um den an­de­ren ein­zu­schla­gen, der sich links et­was wei­ter durch an­mu­ti­ges Ge­büsch sach­te hin­auf­wand; da, wo bei­de zu­sam­men­tra­fen, setz­te er sich für einen Au­gen­blick auf ei­ner wohl­an­ge­brach­ten Bank nie­der, be­trat so­dann den ei­gent­li­chen Stieg und sah sich durch al­ler­lei Trep­pen und Ab­sät­ze auf dem schma­len, bald mehr bald we­ni­ger stei­len Wege end­lich zur Moos­hüt­te ge­lei­tet.

An der Türe emp­fing Char­lot­te ih­ren Ge­mahl und ließ ihn der­ge­stalt nie­der­sit­zen, dass er durch Tür und Fens­ter die ver­schie­de­nen Bil­der, wel­che die Land­schaft gleich­sam im Rah­men zeig­ten, auf einen Blick über­se­hen konn­te. Er freu­te sich dar­an in Hoff­nung, dass der Früh­ling bald al­les noch reich­li­cher be­le­ben wür­de.

»Nur ei­nes habe ich zu er­in­nern«, setz­te er hin­zu, »die Hüt­te scheint mir et­was zu eng.«

»Für uns bei­de doch ge­räu­mig ge­nug«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Nun frei­lich«, sag­te Eduard, »für einen Drit­ten ist auch wohl noch Platz.«

»Wa­rum nicht?« ver­setz­te Char­lot­te, »und auch für ein Vier­tes. Für grö­ße­re Ge­sell­schaft wol­len wir schon an­de­re Stel­len be­rei­ten.«

»Da wir denn un­ge­stört hier al­lein sind«, sag­te Eduard, »und ganz ru­hi­gen, hei­te­ren Sin­nes, so muss ich dir ge­ste­hen, dass ich schon ei­ni­ge Zeit et­was auf dem Her­zen habe, was ich dir ver­trau­en muss und möch­te, und nicht dazu kom­men kann.«

»Ich habe dir so et­was an­ge­merkt«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Und ich will nur ge­ste­hen«, fuhr Eduard fort, »wenn mich der Post­bo­te mor­gen früh nicht dräng­te, wenn wir uns nicht heut ent­schlie­ßen müss­ten, ich hät­te viel­leicht noch län­ger ge­schwie­gen.«

»Was ist es denn?« frag­te Char­lot­te freund­lich ent­ge­gen­kom­mend.

»Es be­trifft un­sern Freund, den Haupt­mann«, ant­wor­te­te Eduard. »Du kennst die trau­ri­ge Lage, in die er, wie so man­cher an­de­re, ohne sein Ver­schul­den ge­setzt ist. Wie schmerz­lich muss es ei­nem Man­ne von sei­nen Kennt­nis­sen, sei­nen Ta­len­ten und Fer­tig­kei­ten sein, sich au­ßer Tä­tig­keit zu se­hen und – ich will nicht lan­ge zu­rück­hal­ten mit dem, was ich für ihn wün­sche: ich möch­te, dass wir ihn auf ei­ni­ge Zeit zu uns näh­men.«

»Das ist wohl zu über­le­gen und von mehr als ei­ner Sei­te zu be­trach­ten«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Mei­ne An­sich­ten bin ich be­reit dir mit­zu­tei­len«, ent­geg­ne­te ihr Eduard. »In sei­nem letz­ten Brie­fe herrscht ein stil­ler Aus­druck des tiefs­ten Miss­mu­tes; nicht dass es ihm an ir­gend­ei­nem Be­dürf­nis feh­le, denn er weiß sich durch­aus zu be­schrän­ken, und für das Not­wen­di­ge habe ich ge­sorgt; auch drückt es ihn nicht, et­was von mir an­zu­neh­men, denn wir sind uns­re Leb­zeit über ein­an­der wech­sel­sei­tig uns so viel schul­dig ge­wor­den, dass wir nicht be­rech­nen kön­nen, wie un­ser Kre­dit und De­bet sich ge­gen­ein­an­der ver­hal­te – dass er ge­schäft­los ist, das ist ei­gent­lich sei­ne Qual. Das Viel­fa­che, was er an sich aus­ge­bil­det hat, zu and­rer Nut­zen täg­lich und stünd­lich zu ge­brau­chen, ist ganz al­lein sein Ver­gnü­gen, ja sei­ne Lei­den­schaft. Und nun die Hän­de in den Schoß zu le­gen oder noch wei­ter zu stu­die­ren, sich wei­te­re Ge­schick­lich­keit zu ver­schaf­fen, da er das nicht brau­chen kann, was er in vol­lem Maße be­sitzt – ge­nug, lie­bes Kind, es ist eine pein­li­che Lage, de­ren Qual er dop­pelt und drei­fach in sei­ner Ein­sam­keit emp­fin­det.«

»Ich dach­te doch«, sag­te Char­lot­te, »ihm wä­ren von ver­schie­de­nen Or­ten Aner­bie­tun­gen ge­sche­hen. Ich hat­te selbst um sei­net­wil­len an man­che tä­ti­ge Freun­de und Freun­din­nen ge­schrie­ben, und so­viel ich weiß, blieb dies auch nicht ohne Wir­kung.«

»Ganz recht«, ver­setz­te Eduard; »aber selbst die­se ver­schie­de­nen Ge­le­gen­hei­ten, die­se Aner­bie­tun­gen ma­chen ihm neue Qual, neue Un­ru­he. Kei­nes von den Ver­hält­nis­sen ist ihm ge­mäß. Er soll nicht wir­ken; er soll sich auf­op­fern, sei­ne Zeit, sei­ne Ge­sin­nun­gen, sei­ne Art zu sein, und das ist ihm un­mög­lich. Je mehr ich das al­les be­trach­te, je mehr ich es füh­le, de­sto leb­haf­ter wird der Wunsch, ihn bei uns zu se­hen.«

»Es ist recht schön und lie­bens­wür­dig von dir«, ver­setz­te Char­lot­te, »dass du des Freun­des Zu­stand mit so­viel Teil­nah­me be­denkst; al­lein er­lau­be mir, dich auf­zu­for­dern, auch dei­ner, auch un­ser zu ge­den­ken.«

»Das habe ich ge­tan«, ent­geg­ne­te ihr Eduard. »Wir kön­nen von sei­ner Nähe uns nur Vor­teil und An­nehm­lich­keit ver­spre­chen. Von dem Auf­wan­de will ich nicht re­den, der auf alle Fäl­le ge­ring für mich wird, wenn er zu uns zieht, be­son­ders wenn ich zu­gleich be­den­ke, dass uns sei­ne Ge­gen­wart nicht die min­des­te Un­be­quem­lich­keit ver­ur­sacht. Auf dem rech­ten Flü­gel des Schlos­ses kann er woh­nen, und al­les an­de­re fin­det sich. Wie viel wird ihm da­durch ge­leis­tet, und wie man­ches An­ge­neh­me wird uns durch sei­nen Um­gang, ja wie man­cher Vor­teil! Ich hät­te längst eine Aus­mes­sung des Gu­tes und der Ge­gend ge­wünscht; er wird sie be­sor­gen und lei­ten. Dei­ne Ab­sicht ist, selbst die Gü­ter künf­tig zu ver­wal­ten, so­bald die Jah­re der ge­gen­wär­ti­gen Päch­ter ver­flos­sen sind. Wie be­denk­lich ist ein sol­ches Un­ter­neh­men! Zu wie man­chen Vor­kennt­nis­sen kann er uns nicht ver­hel­fen! Ich füh­le nur zu sehr, dass mir ein Mann die­ser Art ab­ge­ht. Die Land­leu­te ha­ben die rech­ten Kennt­nis­se; ihre Mit­tei­lun­gen aber sind kon­fus und nicht ehr­lich. Die Stu­dier­ten aus der Stadt und von den Aka­de­mi­en sind wohl klar und or­dent­lich, aber es fehlt an der un­mit­tel­ba­ren Ein­sicht in die Sa­che. Vom Freun­de kann ich mir bei­des ver­spre­chen; und dann ent­sprin­gen noch hun­dert an­de­re Ver­hält­nis­se dar­aus, die ich mir alle gern vor­stel­len mag, die auch auf dich Be­zug ha­ben und wo­von ich viel Gu­tes vor­aus­se­he. Nun dan­ke ich dir, dass du mich freund­lich an­ge­hört hast; jetzt sprich aber auch recht frei und um­ständ­lich und sage mir al­les, was du zu sa­gen hast; ich will dich nicht un­ter­bre­chen.«

»Recht gut«, ver­setz­te Char­lot­te; »so will ich gleich mit ei­ner all­ge­mei­nen Be­mer­kung an­fan­gen. Die Män­ner den­ken mehr auf das Ein­zel­ne, auf das Ge­gen­wär­ti­ge, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wir­ken be­ru­fen sind, die Wei­ber hin­ge­gen mehr auf das, was im Le­ben zu­sam­men­hängt, und das mit glei­chem Rech­te, weil ihr Schick­sal, das Schick­sal ih­rer Fa­mi­li­en an die­sen Zu­sam­men­hang ge­knüpft ist und auch ge­ra­de die­ses Zu­sam­men­hän­gen­de von ih­nen ge­for­dert wird. Lass uns des­we­gen einen Blick auf un­ser ge­gen­wär­ti­ges, auf un­ser ver­gan­ge­nes Le­ben wer­fen, und du wirst mir ein­ge­ste­hen, dass die Be­ru­fung des Haupt­man­nes nicht so ganz mit un­sern Vor­sät­zen, un­sern Pla­nen, un­sern Ein­rich­tun­gen zu­sam­men­trifft.

Mag ich doch so gern un­se­rer frühs­ten Ver­hält­nis­se ge­den­ken! Wir lieb­ten ein­an­der als jun­ge Leu­te recht herz­lich; wir wur­den ge­trennt; du von mir, weil dein Va­ter, aus nie zu sät­ti­gen­der Be­gier­de des Be­sit­zes, dich mit ei­ner ziem­lich äl­te­ren, rei­chen Frau ver­band; ich von dir, weil ich, ohne son­der­li­che Aus­sich­ten, ei­nem wohl­ha­ben­den, nicht ge­lieb­ten, aber ge­ehr­ten Man­ne mei­ne Hand rei­chen muss­te.

Wir wur­den wie­der frei; du frü­her, in­dem dich dein Müt­ter­chen im Be­sitz ei­nes großen Ver­mö­gens ließ; ich spä­ter, eben zu der Zeit, da du von Rei­sen zu­rück­kamst.

So fan­den wir uns wie­der. Wir freu­ten uns der Erin­ne­rung, wir lieb­ten die Erin­ne­rung, wir konn­ten un­ge­stört zu­sam­men­le­ben. Du drangst auf eine Ver­bin­dung; ich wil­lig­te nicht gleich ein, denn da wir un­ge­fähr von den­sel­ben Jah­ren sind, so bin ich als Frau wohl äl­ter ge­wor­den, du nicht als Mann. Zu­letzt woll­te ich dir nicht ver­sa­gen, was du für dein ein­zi­ges Glück zu hal­ten schienst. Du woll­test von al­len Un­ru­hen, die du bei Hof, im Mi­li­tär, auf Rei­sen er­lebt hat­test, dich an mei­ner Sei­te er­ho­len, zur Be­sin­nung kom­men, des Le­bens ge­nie­ßen; aber auch nur mit mir al­lein. Mei­ne ein­zi­ge Toch­ter tat ich in Pen­si­on, wo sie sich frei­lich man­nig­fal­ti­ger aus­bil­det, als bei ei­nem länd­li­chen Auf­ent­hal­te ge­sche­hen könn­te; und nicht sie al­lein, auch Ot­ti­li­en, mei­ne lie­be Nich­te, tat ich dort­hin, die viel­leicht zur häus­li­chen Ge­hil­fin un­ter mei­ner An­lei­tung am bes­ten her­an­ge­wach­sen wäre. Das al­les ge­sch­ah mit dei­ner Ein­stim­mung, bloß da­mit wir uns selbst le­ben, bloß da­mit wir das früh so sehn­lich ge­wünsch­te, end­lich spät er­lang­te Glück un­ge­stört ge­nie­ßen möch­ten. So ha­ben wir un­sern länd­li­chen Auf­ent­halt an­ge­tre­ten.

Ich über­nahm das In­ne­re, du das Äu­ße­re und was ins Gan­ze geht. Mei­ne Ein­rich­tung ist ge­macht, dir in al­lem ent­ge­gen­zu­kom­men, nur für dich al­lein zu le­ben; lass uns we­nigs­tens eine Zeit lang ver­su­chen, in­wie­fern wir auf die­se Wei­se mit­ein­an­der aus­rei­chen.«

»Da das Zu­sam­men­hän­gen­de, wie du sagst, ei­gent­lich euer Ele­ment ist«, ver­setz­te Eduard, »so muss man euch frei­lich nicht in ei­ner Fol­ge re­den hö­ren oder sich ent­schlie­ßen, euch recht zu ge­ben; und du sollst auch recht ha­ben bis auf den heu­ti­gen Tag. Die An­la­ge, die wir bis jetzt zu un­serm Da­sein ge­macht ha­ben, ist von gu­ter Art; sol­len wir aber nichts wei­ter dar­auf bau­en, und soll sich nichts wei­ter dar­aus ent­wi­ckeln? Was ich im Gar­ten leis­te, du im Park, soll das nur für Ein­sied­ler ge­tan sein?«

»Recht gut!« ver­setz­te Char­lot­te, »recht wohl! Nur dass wir nichts Hin­dern­des, Frem­des her­ein­brin­gen! Be­den­ke, dass uns­re Vor­sät­ze, auch was die Un­ter­hal­tung be­trifft, sich ge­wis­ser­ma­ßen nur auf un­ser bei­der­sei­ti­ges Zu­sam­men­sein be­zo­gen. Du woll­test zu­erst die Ta­ge­bü­cher dei­ner Rei­se mir in or­dent­li­cher Fol­ge mit­tei­len, bei die­ser Ge­le­gen­heit so man­ches da­hin Ge­hö­ri­ge von Pa­pie­ren in Ord­nung brin­gen und un­ter mei­ner Teil­nah­me, mit mei­ner Bei­hil­fe aus die­sen un­schätz­ba­ren, aber ver­wor­re­nen Hef­ten und Blät­tern ein für uns und an­de­re er­freu­li­ches Gan­ze zu­sam­men­stel­len. Ich ver­sprach, dir an der Ab­schrift zu hel­fen, und wir dach­ten es uns so be­quem, so ar­tig, so ge­müt­lich und heim­lich, die Welt, die wir zu­sam­men nicht se­hen soll­ten, in der Erin­ne­rung zu durch­rei­sen. Ja, der An­fang ist schon ge­macht. Dann hast du die Aben­de dei­ne Flö­te wie­der vor­ge­nom­men, be­glei­test mich am Kla­vier; und an Be­su­chen aus der Nach­bar­schaft und in die Nach­bar­schaft fehlt es uns nicht. Ich we­nigs­tens habe mir aus al­lem die­sem den ers­ten wahr­haft fröh­li­chen Som­mer zu­sam­men­ge­baut, den ich in mei­nem Le­ben zu ge­nie­ßen dach­te.«

»Wenn mir nur nicht«, ver­setz­te Eduard, in­dem er sich die Stir­ne rieb, »bei alle dem, was du mir so lie­be­voll und ver­stän­dig wie­der­holst, im­mer der Ge­dan­ke bei­gin­ge, durch die Ge­gen­wart des Haupt­manns wür­de nichts ge­stört, ja viel­mehr al­les be­schleu­nigt und neu be­lebt. Auch er hat einen Teil mei­ner Wan­de­run­gen mit­ge­macht; auch er hat man­ches, und in ver­schie­de­nem Sin­ne, sich an­ge­merkt: wir be­nutz­ten das zu­sam­men, und als­dann wür­de es erst ein hüb­sches Gan­ze wer­den.«

»So lass mich denn dir auf­rich­tig ge­ste­hen«, ent­geg­ne­te Char­lot­te mit ei­ni­ger Un­ge­duld, »dass die­sem Vor­ha­ben mein Ge­fühl wi­der­spricht, dass eine Ah­nung mir nichts Gu­tes weis­sagt.«

»Auf die­se Wei­se wä­ret ihr Frau­en wohl un­über­wind­lich«, ver­setz­te Eduard, »erst ver­stän­dig, dass man nicht wi­der­spre­chen kann, lie­be­voll, dass man sich gern hin­gibt, ge­fühl­voll, dass man euch nicht weh tun mag, ah­nungs­voll, dass man erschrickt.«

»Ich bin nicht aber­gläu­bisch«, ver­setz­te Char­lot­te, »und gebe nichts auf die­se dunklen An­re­gun­gen, in­so­fern sie nur sol­che wä­ren; aber es sind meis­ten­teils un­be­wuss­te Erin­ne­run­gen glück­li­cher und un­glück­li­cher Fol­gen, die wir an ei­ge­nen oder frem­den Hand­lun­gen er­lebt ha­ben. Nichts ist be­deu­ten­der in je­dem Zu­stan­de als die Da­zwi­schen­kunft ei­nes Drit­ten. Ich habe Freun­de ge­se­hen, Ge­schwis­ter, Lie­ben­de, Gat­ten, de­ren Ver­hält­nis durch den zu­fäl­li­gen oder ge­wähl­ten Hin­zu­tritt ei­ner neu­en Per­son ganz und gar ver­än­dert, de­ren Lage völ­lig um­ge­kehrt wur­de.«

»Das kann wohl ge­sche­hen«, ver­setz­te Eduard, »bei Men­schen, die nur dun­kel vor sich hin­le­ben, nicht bei sol­chen, die, schon durch Er­fah­rung auf­ge­klärt, sich mehr be­wusst sind.«

»Das Be­wusst­sein, mein Liebs­ter«, ent­geg­ne­te Char­lot­te, »ist kei­ne hin­läng­li­che Waf­fe, ja manch­mal eine ge­fähr­li­che für den, der sie führt; und aus die­sem al­len tritt we­nigs­tens so­viel her­vor, dass wir uns ja nicht über­ei­len sol­len. Gön­ne mir noch ei­ni­ge Tage, ent­schei­de nicht!«

»Wie die Sa­che steht«, er­wi­der­te Eduard, »wer­den wir uns auch nach meh­re­ren Ta­gen im­mer über­ei­len. Die Grün­de für und da­ge­gen ha­ben wir wech­sels­wei­se vor­ge­bracht; es kommt auf den Ent­schluss an, und da wär es wirk­lich das Bes­te, wir gä­ben ihn dem Los an­heim.«

»Ich weiß«, ver­setz­te Char­lot­te, »dass du in zwei­fel­haf­ten Fäl­len ger­ne wet­test oder wür­felst; bei ei­ner so ernst­haf­ten Sa­che hin­ge­gen wür­de ich dies für einen Fre­vel hal­ten.«

»Was soll ich aber dem Haupt­mann schrei­ben?« rief Eduard aus; »denn ich muss mich gleich hin­set­zen.«

»Ei­nen ru­hi­gen, ver­nünf­ti­gen, tröst­li­chen Brief«, sag­te Char­lot­te.

»Das heißt so­viel wie kei­nen«, ver­setz­te Eduard.

»Und doch ist es in man­chen Fäl­len«, ver­setz­te Char­lot­te, »not­wen­dig und freund­lich, lie­ber nichts zu schrei­ben, als nicht zu schrei­ben.«

Zweites Kapitel

Eduard fand sich al­lein auf sei­nem Zim­mer, und wirk­lich hat­te die Wie­der­ho­lung sei­ner Le­bens­schick­sa­le aus dem Mun­de Char­lot­tens, die Ver­ge­gen­wär­ti­gung ih­res bei­der­sei­ti­gen Zu­stan­des, ih­rer Vor­sät­ze sein leb­haf­tes Ge­müt an­ge­nehm auf­ge­regt. Er hat­te sich in ih­rer Nähe, in ih­rer Ge­sell­schaft so glück­lich ge­fühlt, dass er sich einen freund­li­chen, teil­neh­men­den, aber ru­hi­gen und auf nichts hin­deu­ten­den Brief an den Haupt­mann aus­dach­te. Als er aber zum Schreib­tisch ging und den Brief des Freun­des auf­nahm, um ihn noch­mals durch­zu­le­sen, trat ihm so­gleich wie­der der trau­ri­ge Zu­stand des treff­li­chen Man­nes ent­ge­gen; alle Emp­fin­dun­gen, die ihn die­se Tage ge­pei­nigt hat­ten, wach­ten wie­der auf, und es schi­en ihm un­mög­lich, sei­nen Freund ei­ner so ängst­li­chen Lage zu über­las­sen.

Sich et­was zu ver­sa­gen, war Eduard nicht ge­wohnt. Von Ju­gend auf das ein­zi­ge, ver­zo­ge­ne Kind rei­cher El­tern, die ihn zu ei­ner selt­sa­men, aber höchst vor­teil­haf­ten Hei­rat mit ei­ner viel äl­te­ren Frau zu be­re­den wuss­ten, von die­ser auch auf alle Wei­se ver­zär­telt, in­dem sie sein gu­tes Be­tra­gen ge­gen sie durch die größ­te Frei­ge­big­keit zu er­wi­dern such­te, nach ih­rem bal­di­gen Tode sein eig­ner Herr, auf Rei­sen un­ab­hän­gig, je­der Ab­wechs­lung, je­der Ver­än­de­rung mäch­tig, nichts Über­trie­be­nes wol­lend, aber viel und vie­ler­lei wol­lend, frei­mü­tig, wohl­tä­tig, brav, ja tap­fer im Fall – was konn­te in der Welt sei­nen Wün­schen ent­ge­gen­ste­hen!

Bis­her war al­les nach sei­nem Sin­ne ge­gan­gen, auch zum Be­sitz Char­lot­tens war er ge­langt, den er sich durch eine hart­nä­cki­ge, ja ro­ma­nen­haf­te Treue doch zu­letzt er­wor­ben hat­te; und nun fühl­te er sich zum ers­ten Mal wi­der­spro­chen, zum ers­ten Mal ge­hin­dert, eben da er sei­nen Ju­gend­freund an sich her­an­zie­hen, da er sein gan­zes Da­sein gleich­sam ab­schlie­ßen woll­te. Er war ver­drieß­lich, un­ge­dul­dig, nahm ei­ni­ge­mal die Fe­der und leg­te sie nie­der, weil er nicht ei­nig mit sich wer­den konn­te, was er schrei­ben soll­te. Ge­gen die Wün­sche sei­ner Frau woll­te er nicht, nach ih­rem Ver­lan­gen konn­te er nicht; un­ru­hig wie er war, soll­te er einen ru­hi­gen Brief schrei­ben; es wäre ihm ganz un­mög­lich ge­we­sen. Das Na­tür­lichs­te war, dass er Auf­schub such­te. Mit we­nig Wor­ten bat er sei­nen Freund um Ver­zei­hung, dass er die­se Tage nicht ge­schrie­ben, dass er heut nicht um­ständ­lich schrei­be, und ver­sprach für nächs­tens ein be­deu­ten­de­res, ein be­ru­hi­gen­des Blatt.

Char­lot­te be­nutz­te des an­de­ren Tags auf ei­nem Spa­zier­gang nach der­sel­ben Stel­le die Ge­le­gen­heit, das Ge­spräch wie­der an­zu­knüp­fen, viel­leicht in der Über­zeu­gung, dass man einen Vor­satz nicht si­che­rer ab­stump­fen kann, als wenn man ihn öf­ters durch­spricht.

Eduar­den war die­se Wie­der­ho­lung er­wünscht. Er äu­ßer­te sich nach sei­ner Wei­se freund­lich und an­ge­nehm; denn wenn er, emp­fäng­lich wie er war, leicht auf­lo­der­te, wenn sein leb­haf­tes Be­geh­ren zu­dring­lich ward, wenn sei­ne Hart­nä­ckig­keit un­ge­dul­dig ma­chen konn­te, so wa­ren doch alle sei­ne Äu­ße­run­gen durch eine voll­kom­me­ne Scho­nung des an­de­ren der­ge­stalt ge­mil­dert, dass man ihn im­mer noch lie­bens­wür­dig fin­den muss­te, wenn man ihn auch be­schwer­lich fand.

Auf eine sol­che Wei­se brach­te er Char­lot­ten die­sen Mor­gen erst in die hei­ters­te Lau­ne, dann durch an­mu­ti­ge Ge­sprächs­wen­dun­gen ganz aus der Fas­sung, so­dass sie zu­letzt aus­rief: »Du willst ge­wiss, dass ich das, was ich dem Ehe­mann ver­sag­te, dem Lieb­ha­ber zu­ge­ste­hen soll. We­nigs­tens, mein Lie­ber«, fuhr sie fort, »sollst du ge­wahr wer­den, dass dei­ne Wün­sche, die freund­li­che Leb­haf­tig­keit, wo­mit du sie aus­drückst, mich nicht un­ge­rührt, mich nicht un­be­wegt las­sen. Sie nö­ti­gen mich zu ei­nem Ge­ständ­nis. Ich habe dir bis­her auch et­was ver­bor­gen. Ich be­fin­de mich in ei­ner ähn­li­chen Lage wie du und habe mir schon eben die Ge­walt an­ge­tan, die ich dir nun über dich selbst zu­mu­te.«

»Das hör ich gern«, sag­te Eduard; »ich mer­ke wohl, im Ehe­stand muss man sich manch­mal strei­ten, denn da­durch er­fährt man was von­ein­an­der.«

»Nun sollst du also er­fah­ren«, sag­te Char­lot­te, »dass es mir mit Ot­ti­li­en geht, wie dir mit dem Haupt­mann. Höchst un­gern weiß ich das lie­be Kind in der Pen­si­on, wo sie sich in sehr drücken­den Ver­hält­nis­sen be­fin­det. Wenn Lu­cia­ne, mei­ne Toch­ter, die für die Welt ge­bo­ren ist, sich dort für die Welt bil­det, wenn sie Spra­chen, Ge­schicht­li­ches und was sonst von Kennt­nis­sen ihr mit­ge­teilt wird, so wie ihre No­ten und Va­ria­tio­nen vom Blat­te weg­spielt; wenn bei ei­ner leb­haf­ten Na­tur und bei ei­nem glück­li­chen Ge­dächt­nis sie, man möch­te wohl sa­gen, al­les ver­gisst und im Au­gen­bli­cke sich an al­les er­in­nert; wenn sie durch Frei­heit des Be­tra­gens, An­mut im Tan­ze, schick­li­che Be­quem­lich­keit des Ge­sprächs sich vor al­len aus­zeich­net und durch ein an­ge­bor­nes herr­schen­des We­sen sich zur Kö­ni­gin des klei­nen Krei­ses macht, wenn die Vor­ste­he­rin die­ser An­stalt sie als klei­ne Gott­heit an­sieht, die nun erst un­ter ih­ren Hän­den recht ge­deiht, die ihr Ehre ma­chen, Zu­trau­en er­wer­ben und einen Zuf­luss von an­de­ren jun­gen Per­so­nen ver­schaf­fen wird, wenn die ers­ten Sei­ten ih­rer Brie­fe und Mo­nats­be­rich­te im­mer nur Hym­nen sind über die Vor­treff­lich­keit ei­nes sol­chen Kin­des, die ich denn recht gut in mei­ne Pro­se zu über­set­zen weiß: so ist da­ge­gen, was sie schließ­lich von Ot­ti­li­en er­wähnt, nur im­mer Ent­schul­di­gung auf Ent­schul­di­gung, dass ein üb­ri­gens so schön her­an­wach­sen­des Mäd­chen sich nicht ent­wi­ckeln, kei­ne Fä­hig­kei­ten und kei­ne Fer­tig­kei­ten zei­gen wol­le.

Das we­ni­ge, was sie sonst noch hin­zu­fügt, ist gleich­falls für mich kein Rät­sel, weil ich in die­sem lie­ben Kin­de den gan­zen Cha­rak­ter ih­rer Mut­ter, mei­ner wer­tes­ten Freun­din, ge­wahr wer­de, die sich ne­ben mir ent­wi­ckelt hat und de­ren Toch­ter ich ge­wiss, wenn ich Er­zie­he­rin oder Auf­se­he­rin sein könn­te, zu ei­nem herr­li­chen Ge­schöpf her­auf­bil­den woll­te.

Da es aber ein­mal nicht in un­sern Plan geht und man an sei­nen Le­bens­ver­hält­nis­sen nicht so­viel zup­fen und zer­ren, nicht im­mer was Neu­es an sie her­an­zie­hen soll, so trag ich das lie­ber, ja ich über­win­de die un­an­ge­neh­me Emp­fin­dung, wenn mei­ne Toch­ter, wel­che recht gut weiß, dass die arme Ot­ti­lie ganz von uns ab­hängt, sich ih­rer Vor­tei­le über­mü­tig ge­gen sie be­dient und uns­re Wohl­tat da­durch ge­wis­ser­ma­ßen ver­nich­tet.

Doch wer ist so ge­bil­det, dass er nicht sei­ne Vor­zü­ge ge­gen an­de­re manch­mal auf eine grau­sa­me Wei­se gel­tend mach­te! Wer steht so hoch, dass er un­ter ei­nem sol­chen Druck nicht manch­mal lei­den müss­te! Durch die­se Prü­fun­gen wächst Ot­ti­li­ens Wert; aber seit­dem ich den pein­li­chen Zu­stand recht deut­lich ein­se­he, habe ich mir Mühe ge­ge­ben, sie an­der­wärts un­ter­zu­brin­gen. Stünd­lich soll mir eine Ant­wort kom­men, und als­dann will ich nicht zau­dern. So steht es mit mir, mein Bes­ter. Du siehst, wir tra­gen bei­der­seits die­sel­ben Sor­gen in ei­nem treu­en, freund­schaft­li­chen Her­zen. Lass sie uns ge­mein­sam tra­gen, da sie sich nicht ge­gen­ein­an­der auf­he­ben!«

»Wir sind wun­der­li­che Men­schen«, sag­te Eduard lä­chelnd. »Wenn wir nur et­was, das uns Sor­ge macht, aus un­se­rer Ge­gen­wart ver­ban­nen kön­nen, da glau­ben wir schon, nun sei es ab­ge­tan. Im gan­zen kön­nen wir vie­les auf­op­fern, aber uns im ein­zel­nen her­zu­ge­ben, ist eine For­de­rung, der wir sel­ten ge­wach­sen sind. So war mei­ne Mut­ter. So­lan­ge ich als Kna­be oder Jüng­ling bei ihr leb­te, konn­te sie der au­gen­blick­li­chen Be­sorg­nis­se nicht los wer­den. Ver­spä­te­te ich mich bei ei­nem Aus­ritt, so muss­te mir ein Un­glück be­geg­net sein; durchnetz­te mich ein Re­gen­schau­er, so war das Fie­ber mir ge­wiss. Ich ver­reis­te, ich ent­fern­te mich von ihr, und nun schi­en ich ihr kaum an­zu­ge­hö­ren. Be­trach­ten wir es ge­nau­er«, fuhr er fort, »so han­deln wir bei­de tö­richt und un­ver­ant­wort­lich, zwei der edels­ten Na­tu­ren, die un­ser Herz so nahe an­ge­hen, im Kum­mer und im Druck zu las­sen, nur um uns kei­ner Ge­fahr aus­zu­set­zen. Wenn dies nicht selbst­süch­tig ge­nannt wer­den soll, was will man so nen­nen! Nimm Ot­ti­li­en, lass mir den Haupt­mann, und in Got­tes Na­men sei der Ver­such ge­macht!«

»Es möch­te noch zu wa­gen sein«, sag­te Char­lot­te be­denk­lich, »wenn die Ge­fahr für uns al­lein wäre. Glaubst du denn aber, dass es rät­lich sei, den Haupt­mann mit Ot­ti­li­en als Haus­ge­nos­sen zu se­hen, einen Mann ohn­ge­fähr in dei­nen Jah­ren, in den Jah­ren – dass ich dir die­ses Schmei­chel­haf­te nur ge­ra­de un­ter die Au­gen sage –, wo der Mann erst lie­be­fä­hig und erst der Lie­be wert wird, und ein Mäd­chen von Ot­ti­li­ens Vor­zü­gen?«

»Ich weiß doch auch nicht«, ver­setz­te Eduard, »wie du Ot­ti­li­en so hoch stel­len kannst! Nur da­durch er­klä­re ich mir’s, dass sie dei­ne Nei­gung zu ih­rer Mut­ter ge­erbt hat. Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich er­in­ne­re mich, dass der Haupt­mann mich auf sie auf­merk­sam mach­te, als wir vor ei­nem Jah­re zu­rück­ka­men und sie mit dir bei dei­ner Tan­te tra­fen. Hübsch ist sie, be­son­ders hat sie schö­ne Au­gen; aber ich wüss­te doch nicht, dass sie den min­des­ten Ein­druck auf mich ge­macht hät­te.«

»Das ist löb­lich an dir«, sag­te Char­lot­te, »denn ich war ja ge­gen­wär­tig; und ob sie gleich viel jün­ger ist als ich, so hat­te doch die Ge­gen­wart der äl­tern Freun­din so vie­le Rei­ze für dich, dass du über die auf­blü­hen­de, ver­spre­chen­de Schön­heit hin­aus­sa­hest. Es ge­hört auch dies zu dei­ner Art zu sein, des­halb ich so gern das Le­ben mit dir tei­le.«

Char­lot­te, so auf­rich­tig sie zu spre­chen schi­en, ver­hehl­te doch et­was. Sie hat­te näm­lich da­mals dem von Rei­sen zu­rück­keh­ren­den Eduard Ot­ti­li­en ab­sicht­lich vor­ge­führt, um die­ser ge­lieb­ten Pfle­ge­toch­ter eine so große Par­tie zu­zu­wen­den; denn an sich selbst in Be­zug auf Eduard dach­te sie nicht mehr. Der Haupt­mann war auch an­ge­stif­tet, Eduar­den auf­merk­sam zu ma­chen; aber die­ser, der sei­ne frü­he Lie­be zu Char­lot­ten hart­nä­ckig im Sin­ne be­hielt, sah we­der rechts noch links und war nur glück­lich in dem Ge­fühl, dass es mög­lich sei, ei­nes so leb­haft ge­wünsch­ten und durch eine Rei­he von Er­eig­nis­sen schein­bar auf im­mer ver­sag­ten Gu­tes end­lich doch teil­haft zu wer­den.

Eben stand das Ehe­paar im Be­griff, die neu­en An­la­gen her­un­ter nach dem Schlos­se zu ge­hen, als ein Be­dien­ter ih­nen has­tig ent­ge­gen­stieg und mit la­chen­dem Mun­de sich schon von un­ten her­auf ver­neh­men ließ: »Kom­men Euer Gna­den doch ja schnell her­über! Herr Mitt­ler ist in den Schloss­hof ge­sprengt. Er hat uns alle zu­sam­men­ge­schri­en, wir sol­len Sie auf­su­chen, wir sol­len Sie fra­gen, ob es not tue. ›Ob es not tut‹, rief er uns nach, ›hört ihr? aber ge­schwind, ge­schwind!‹«

»Der drol­li­ge Mann!« rief Eduard aus; »kommt er nicht ge­ra­de zur rech­ten Zeit, Char­lot­te? – Ge­schwind zu­rück!« be­fahl er dem Be­dien­ten; »sage ihm, es tue not, sehr not! Er soll nur ab­stei­gen. Ver­sorgt sein Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Früh­stück vor! Wir kom­men gleich.

Lass uns den nächs­ten Weg neh­men!« sag­te er zu sei­ner Frau und schlug den Pfad über den Kirch­hof ein, den er sonst zu ver­mei­den pfleg­te. Aber wie ver­wun­dert war er, als er fand, dass Char­lot­te auch hier für das Ge­fühl ge­sorgt habe. Mit mög­lichs­ter Scho­nung der al­ten Denk­mä­ler hat­te sie al­les so zu ver­glei­chen und zu ord­nen ge­wusst, dass es ein an­ge­neh­mer Raum er­schi­en, auf dem das Auge und die Ein­bil­dungs­kraft ger­ne ver­weil­ten.

Auch dem äl­tes­ten Stein hat­te sie sei­ne Ehre ge­gönnt. Den Jah­ren nach wa­ren sie an der Mau­er auf­ge­rich­tet, ein­ge­fügt oder sonst an­ge­bracht; der hohe So­ckel der Kir­che selbst war da­mit ver­man­nig­fal­tigt und ge­ziert. Eduard fühl­te sich son­der­bar über­rascht, wie er durch die klei­ne Pfor­te her­ein­trat: er drück­te Char­lot­ten die Hand, und im Auge stand ihm eine Trä­ne.

Aber der när­ri­sche Gast ver­scheuch­te sie gleich. Denn die­ser hat­te kei­ne Ruh im Schloss ge­habt, war sporn­streichs durchs Dorf bis an das Kirch­hof­tor ge­rit­ten, wo er still hielt und sei­nen Freun­den ent­ge­gen­rief: »Ihr habt mich doch nicht zum bes­ten? Tuts wirk­lich not, so blei­be ich zu Mit­ta­ge hier. Hal­tet mich nicht auf! Ich habe heu­te noch viel zu tun.«

»Da Ihr Euch so weit be­müht habt«, rief ihm Eduard ent­ge­gen, »so rei­tet noch vollends her­ein; wir kom­men an ei­nem ernst­haf­ten Orte zu­sam­men; und seht, wie schön Char­lot­te die­se Trau­er aus­ge­schmückt hat!«

»Hier her­ein«, rief der Rei­ter, »komm ich we­der zu Pfer­de, noch zu Wa­gen, noch zu Fuße. Die­se da ru­hen in Frie­den, mit ih­nen habe ich nichts zu schaf­fen. Ge­fal­len muss ich mirs las­sen, wenn man mich ein­mal, die Füße vor­an, her­ein­schleppt. Also ists Ernst?«

»Ja«, rief Char­lot­te, »recht Ernst! Es ist das ers­te­mal, dass wir neu­en Gat­ten in Not und Ver­wir­rung sind, wor­aus wir uns nicht zu hel­fen wis­sen.«

»Ihr seht nicht da­nach aus«, ver­setz­te er, »doch will ichs glau­ben. Führt ihr mich an, so lass ich euch künf­tig ste­cken. Folgt ge­schwin­de nach! Mei­nem Pfer­de mag die Er­ho­lung zu­gut kom­men.«

Bald fan­den sich die dreie im Saa­le zu­sam­men; das Es­sen ward auf­ge­tra­gen, und Mitt­ler er­zähl­te von sei­nen heu­ti­gen Ta­ten und Vor­ha­ben. Die­ser selt­sa­me Mann war frü­her­hin Geist­li­cher ge­we­sen und hat­te sich bei ei­ner rast­lo­sen Tä­tig­keit in sei­nem Amte da­durch aus­ge­zeich­net, dass er alle Strei­tig­kei­ten, so­wohl die häus­li­chen als die nach­bar­li­chen, erst der ein­zel­nen Be­woh­ner, so­dann gan­zer Ge­mein­den und meh­re­rer Guts­be­sit­zer zu stil­len und zu schlich­ten wuss­te.

So­lan­ge er im Diens­te war, hat­te sich kein Ehe­paar schei­den las­sen, und die Lan­des­kol­le­gi­en wur­den mit kei­nen Hän­deln und Pro­zes­sen von dort­her be­hel­li­get. Wie nö­tig ihm die Rechts­kun­de sei, ward er zei­tig ge­wahr. Er warf sein gan­zes Stu­di­um dar­auf und fühl­te sich bald den ge­schick­tes­ten Ad­vo­ka­ten ge­wach­sen. Sein Wir­kungs­kreis dehn­te sich wun­der­bar aus; und man war im Be­griff, ihn nach der Re­si­denz zu zie­hen, um das von oben her­ein zu vollen­den, was er von un­ten her­auf be­gon­nen hat­te, als er einen an­sehn­li­chen Lot­te­rie­ge­winst tat, sich ein mä­ßi­ges Gut kauf­te, es ver­pach­te­te und zum Mit­tel­punkt sei­ner Wirk­sam­keit mach­te, mit dem fes­ten Vor­satz oder viel­mehr nach al­ter Ge­wohn­heit und Nei­gung, in kei­nem Hau­se zu ver­wei­len, wo nichts zu schlich­ten und nichts zu hel­fen wäre. Die­je­ni­gen, die auf die Na­mens­be­deu­tun­gen aber­gläu­bisch sind, be­haup­ten, der Name Mitt­ler habe ihn ge­nö­tigt, die­se selt­sams­te al­ler Be­stim­mun­gen zu er­grei­fen.

Der Nach­tisch war auf­ge­tra­gen, als der Gast sei­ne Wir­te ernst­lich ver­mahn­te, nicht wei­ter mit ih­ren Ent­de­ckun­gen zu­rück­zu­hal­ten, weil er gleich nach dem Kaf­fee fort müs­se. Die bei­den Ehe­leu­te mach­ten um­ständ­lich ihre Be­kennt­nis­se; aber kaum hat­te er den Sinn der Sa­che ver­nom­men, als er ver­drieß­lich vom Ti­sche auf­fuhr, ans Fens­ter sprang und sein Pferd zu sat­teln be­fahl.

»Ent­we­der ihr kennt mich nicht«, rief er aus, »ihr ver­steht mich nicht, oder ihr seid sehr bos­haft. Ist denn hier ein Streit? Ist denn hier eine Hil­fe nö­tig? Glaubt ihr, dass ich in der Welt bin, um Rat zu ge­ben? Das ist das dümms­te Hand­werk, das ei­ner trei­ben kann. Rate sich je­der selbst und tue, was er nicht las­sen kann. Gerät es gut, so freue er sich sei­ner Weis­heit und sei­nes Glücks; läufts übel ab, dann bin ich bei der Hand. Wer ein Übel los sein will, der weiß im­mer, was er will; wer was Bes­sers will, als er hat, der ist ganz star­blind – Ja ja! lacht nur – er spielt Blin­de­kuh, er er­tappts viel­leicht; aber was? Tut, was ihr wollt: es ist ganz ei­ner­lei! Nehmt die Freun­de zu euch, lasst sie weg: al­les ei­ner­lei! Das Ver­nünf­tigs­te habe ich miss­lin­gen se­hen, das Ab­ge­schmack­tes­te ge­lin­gen. Zerbrecht euch die Köp­fe nicht, und wenns auf eine oder die an­de­re Wei­se übel ab­läuft, zerbrecht sie euch auch nicht! Schickt nur nach mir, und euch soll ge­hol­fen wer­den. Bis da­hin euer Die­ner!«

Und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaf­fee ab­zu­war­ten.

»Hier siehst du«, sag­te Char­lot­te, »wie we­nig ei­gent­lich ein Drit­ter fruch­tet, wenn es zwi­schen zwei nah ver­bun­de­nen Per­so­nen nicht ganz im Gleich­ge­wicht steht. Ge­gen­wär­tig sind wir doch wohl noch ver­worr­ner und un­ge­wis­ser, wenns mög­lich ist, als vor­her.«

Bei­de Gat­ten wür­den auch wohl noch eine Zeit lang ge­schwankt ha­ben, wäre nicht ein Brief des Haupt­manns im Wech­sel ge­gen Eduards letz­ten an­ge­kom­men. Er hat­te sich ent­schlos­sen, eine der ihm an­ge­bo­te­nen Stel­len an­zu­neh­men, ob sie ihm gleich kei­nes­wegs ge­mäß war. Er soll­te mit vor­neh­men und rei­chen Leu­ten die Lan­ge­wei­le tei­len, in­dem man auf ihn das Zu­trau­en setz­te, dass er sie ver­trei­ben wür­de.

Eduard über­sah das gan­ze Ver­hält­nis recht deut­lich und mal­te es noch recht scharf aus. »Wol­len wir un­sern Freund in ei­nem sol­chen Zu­stan­de wis­sen?« rief er. »Du kannst nicht so grau­sam sein, Char­lot­te!«

»Der wun­der­li­che Mann, un­ser Mitt­ler«, ver­setz­te Char­lot­te, »hat am Ende doch recht. Alle sol­che Un­ter­neh­mun­gen sind Wa­ge­stücke. Was dar­aus wer­den kann, sieht kein Mensch vor­aus. Sol­che neue Ver­hält­nis­se kön­nen frucht­bar sein an Glück und an Un­glück, ohne dass wir uns da­bei Ver­dienst oder Schuld son­der­lich zu­rech­nen dür­fen. Ich füh­le mich nicht stark ge­nug, dir län­ger zu wi­der­ste­hen. Lass uns den Ver­such ma­chen! Das ein­zi­ge, was ich dich bit­te: es sei nur auf kur­ze Zeit an­ge­se­hen. Er­lau­be mir, dass ich mich tä­ti­ger als bis­her für ihn ver­wen­de und mei­nen Ein­fluss, mei­ne Ver­bin­dun­gen eif­rig be­nut­ze und auf­re­ge, ihm eine Stel­le zu ver­schaf­fen, die ihm nach sei­ner Wei­se ei­ni­ge Zufrie­den­heit ge­wäh­ren kann.«

Eduard ver­si­cher­te sei­ne Gat­tin auf die an­mu­tigs­te Wei­se der leb­haf­tes­ten Dank­bar­keit. Er eil­te mit frei­em, fro­hem Ge­müt, sei­nem Freun­de Vor­schlä­ge schrift­lich zu tun. Char­lot­te muss­te in ei­ner Nach­schrift ih­ren Bei­fall ei­gen­hän­dig hin­zu­fü­gen, ihre freund­schaft­li­chen Bit­ten mit den sei­nen ver­ei­ni­gen. Sie schrieb mit ge­wand­ter Fe­der ge­fäl­lig und ver­bind­lich, aber doch mit ei­ner Art von Hast, die ihr sonst nicht ge­wöhn­lich war; und was ihr nicht leicht be­geg­ne­te, sie ver­un­stal­te­te das Pa­pier zu­letzt mit ei­nem Tin­ten­fleck, der sie är­ger­lich mach­te und nur grö­ßer wur­de, in­dem sie ihn weg­wi­schen woll­te.

Eduard scherz­te dar­über, und weil noch Platz war, füg­te er eine zwei­te Nach­schrift hin­zu: der Freund sol­le aus die­sen Zei­chen die Un­ge­duld se­hen, wo­mit er er­war­tet wer­de, und nach der Eile, wo­mit der Brief ge­schrie­ben, die Eil­fer­tig­keit sei­ner Rei­se ein­rich­ten.

Der Bote war fort, und Eduard glaub­te sei­ne Dank­bar­keit nicht über­zeu­gen­der aus­drücken zu kön­nen, als in­dem er aber- und aber­mals dar­auf be­stand, Char­lot­te sol­le zu­gleich Ot­ti­li­en aus der Pen­si­on ho­len las­sen.

Sie bat um Auf­schub und wuss­te die­sen Abend bei Eduard die Lust zu ei­ner mu­si­ka­li­schen Un­ter­hal­tung auf­zu­re­gen. Char­lot­te spiel­te sehr gut Kla­vier, Eduard nicht eben­so be­quem die Flö­te; denn ob er sich gleich zu­zei­ten viel Mühe ge­ge­ben hat­te, so war ihm doch nicht die Ge­duld, die Aus­dau­er ver­lie­hen, die zur Aus­bil­dung ei­nes sol­chen Ta­len­tes ge­hört. Er führ­te des­halb sei­ne Par­tie sehr un­gleich aus, ei­ni­ge Stel­len gut, nur viel­leicht zu ge­schwind; bei an­de­ren wie­der hielt er an, weil sie ihm nicht ge­läu­fig wa­ren, und so wär es für je­den an­de­ren schwer ge­we­sen, ein Duett mit ihm durch­zu­brin­gen. Aber Char­lot­te wuss­te sich dar­ein zu fin­den; sie hielt an und ließ sich wie­der von ihm fort­rei­ßen und ver­sah also die dop­pel­te Pf­licht ei­nes gu­ten Ka­pell­meis­ters und ei­ner klu­gen Haus­frau, die im gan­zen im­mer das Maß zu er­hal­ten wis­sen, wenn auch die ein­zel­nen Pas­sa­gen nicht im­mer im Takt blei­ben soll­ten.

Drittes Kapitel

Der Haupt­mann kam. Er hat­te einen sehr ver­stän­di­gen Brief vor­aus­ge­schickt, der Char­lot­ten völ­lig be­ru­hig­te. So­viel Deut­lich­keit über sich selbst, so­viel Klar­heit über sei­nen ei­ge­nen Zu­stand, über den Zu­stand sei­ner Freun­de gab eine hei­te­re und fröh­li­che Aus­sicht.

Die Un­ter­hal­tun­gen der ers­ten Stun­den wa­ren, wie un­ter Freun­den zu ge­sche­hen pflegt, die sich eine Zeit lang nicht ge­se­hen ha­ben, leb­haft, ja fast er­schöp­fend. Ge­gen Abend ver­an­lass­te Char­lot­te einen Spa­zier­gang auf die neu­en An­la­gen. Der Haupt­mann ge­fiel sich sehr in der Ge­gend und be­merk­te jede Schön­heit, wel­che durch die neu­en Wege erst sicht­bar und ge­nieß­bar ge­wor­den. Er hat­te ein ge­üb­tes Auge und da­bei ein ge­nüg­sa­mes; und ob er gleich das Wün­schens­wer­te sehr wohl kann­te, mach­te er doch nicht, wie es öf­ters zu ge­sche­hen pflegt, Per­so­nen, die ihn in dem Ih­ri­gen her­um­führ­ten, da­durch einen üb­len Hu­mor, dass er mehr ver­lang­te, als die Um­stän­de zulie­ßen, oder auch wohl gar an et­was Voll­komm­ne­res er­in­ner­te, das er an­ders­wo ge­se­hen.

Als sie die Moos­hüt­te er­reich­ten, fan­den sie sol­che auf das lus­tigs­te aus­ge­schmückt, zwar nur mit künst­li­chen Blu­men und Win­ter­grün, doch dar­un­ter so schö­ne Bü­schel na­tür­li­chen Wei­zens und an­de­rer Feld- und Baum­früch­te an­ge­bracht, dass sie dem Kunst­sinn der An­ord­nen­den zur Ehre ge­reich­ten. »Ob­schon mein Mann nicht liebt, dass man sei­nen Ge­burts- oder Na­mens­tag fei­re, so wird er mir doch heu­te nicht ver­ar­gen, ei­nem drei­fa­chen Fes­te die­se we­ni­gen Krän­ze zu wid­men.«

»Ein drei­fa­ches?« rief Eduard. – »Ganz ge­wiss!« ver­setz­te Char­lot­te; »un­se­res Freun­des An­kunft be­han­deln wir bil­lig als ein Fest; und dann habt ihr bei­de wohl nicht dar­an ge­dacht, dass heu­te euer Na­mens­tag ist. Heißt nicht ei­ner Otto so gut als der an­de­re?«

Bei­de Freun­de reich­ten sich die Hän­de über den klei­nen Tisch. »Du er­in­nerst mich«, sag­te Eduard, »an die­ses ju­gend­li­che Freund­schafts­stück. – Als Kin­der hie­ßen wir bei­de so; doch als wir in der Pen­si­on zu­sam­men­leb­ten und man­che Ir­rung dar­aus ent­stand, so trat ich ihm frei­wil­lig die­sen hüb­schen, la­ko­ni­schen Na­men ab.«

»Wo­bei du denn doch nicht gar zu groß­mü­tig warst«, sag­te der Haupt­mann. »Denn ich er­in­ne­re mich recht wohl, dass dir der Name Eduard bes­ser ge­fiel, wie er denn auch, von an­ge­neh­men Lip­pen aus­ge­spro­chen, einen be­son­ders gu­ten Klang hat.«

Nun sa­ßen sie also zu drei­en um das­sel­be Tisch­chen, wo Char­lot­te so eif­rig ge­gen die An­kunft des Gas­tes ge­spro­chen hat­te. Eduard in sei­ner Zufrie­den­heit woll­te die Gat­tin nicht an jene Stun­den er­in­nern, doch ent­hielt er sich nicht zu sa­gen: »Für ein Vier­tes wäre auch noch recht gut Platz.«

Wald­hör­ner lie­ßen sich in die­sem Au­gen­blick vom Schloss her­über ver­neh­men, be­jah­ten gleich­sam und be­kräf­tig­ten die gu­ten Ge­sin­nun­gen und Wün­sche der bei­sam­men ver­wei­len­den Freun­de. Still­schwei­gend hör­ten sie zu, in­dem je­des in sich selbst zu­rück­kehr­te und sein ei­ge­nes Glück in so schö­ner Ver­bin­dung dop­pelt emp­fand.

Eduard un­ter­brach die Pau­se zu­erst, in­dem er auf­stand und vor die Moos­hüt­te hin­austrat. »Lass uns«, sag­te er zu Char­lot­ten, »den Freund gleich völ­lig auf die Höhe füh­ren, da­mit er nicht glau­be, die­ses be­schränk­te Tal nur sei un­ser Erb­gut und Auf­ent­halt; der Blick wird oben frei­er und die Brust er­wei­tert sich.«

»So müs­sen wir dies­mal noch«, ver­setz­te Char­lot­te, »den al­ten, et­was be­schwer­li­chen Fuß­pfad er­klim­men; doch, hof­fe ich, sol­len mei­ne Stu­fen und Stei­ge nächs­tens be­que­mer bis ganz hin­auf­lei­ten.«

Und so ge­lang­te man denn über Fel­sen, durch Busch und Ge­sträuch zur letz­ten Höhe, die zwar kei­ne Flä­che, doch fort­lau­fen­de, frucht­ba­re Rücken bil­de­te. Dorf und Schloss hin­ter­wärts wa­ren nicht mehr zu se­hen. In der Tie­fe er­blick­te man aus­ge­brei­te­te Tei­che, drü­ben be­wach­se­ne Hü­gel, an de­nen sie sich hin­zo­gen, end­lich stei­le Fel­sen, wel­che senk­recht den letz­ten Was­ser­spie­gel ent­schie­den be­grenz­ten und ihre be­deu­ten­den For­men auf der Ober­flä­che des­sel­ben ab­bil­de­ten. Dort in der Schlucht, wo ein star­ker Bach den Tei­chen zu­fiel, lag eine Müh­le halb ver­steckt, die mit ih­ren Um­ge­bun­gen als ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen er­schi­en. Man­nig­fal­tig wech­sel­ten im gan­zen Halb­krei­se, den man über­sah, Tie­fen und Hö­hen, Bü­sche und Wäl­der, de­ren ers­tes Grün für die Fol­ge den fül­le­reichs­ten An­blick ver­sprach. Auch ein­zel­ne Baum­grup­pen hiel­ten an man­cher Stel­le das Auge fest. Be­son­ders zeich­ne­te zu den Fü­ßen der schau­en­den Freun­de sich eine Mas­se Pap­peln und Pla­ta­nen zu­nächst an dem Ran­de des mitt­le­ren Tei­ches vor­teil­haft aus. Sie stand in ih­rem bes­ten Wachs­tum, frisch, ge­sund, em­por und in die Brei­te stre­bend.

Eduard lenk­te be­son­ders auf die­se die Auf­merk­sam­keit sei­nes Freun­des. »Die­se habe ich«, rief er aus, »in mei­ner Ju­gend selbst ge­pflanzt. Es wa­ren jun­ge Stämm­chen, die ich ret­te­te, als mein Va­ter, bei der An­la­ge zu ei­nem neu­en Teil des großen Schloss­gar­tens, sie mit­ten im Som­mer aus­ro­den ließ. Ohne Zwei­fel wer­den sie auch die­ses Jahr sich durch neue Trie­be wie­der dank­bar her­vor­tun.«

Man kehr­te zu­frie­den und hei­ter zu­rück. Dem Gas­te ward auf dem rech­ten Flü­gel des Schlos­ses ein freund­li­ches, ge­räu­mi­ges Quar­tier an­ge­wie­sen, wo er sehr bald Bü­cher, Pa­pie­re und In­stru­men­te auf­ge­stellt und ge­ord­net hat­te, um in sei­ner ge­wohn­ten Tä­tig­keit fort­zu­fah­ren. Aber Eduard ließ ihm in den ers­ten Ta­gen kei­ne Ruhe; er führ­te ihn über­all her­um, bald zu Pfer­de, bald zu Fuße, und mach­te ihn mit der Ge­gend, mit dem Gute be­kannt; wo­bei er ihm zu­gleich die Wün­sche mit­teil­te, die er zu bes­se­rer Kennt­nis und vor­teil­haf­te­rer Be­nut­zung des­sel­ben seit lan­ger Zeit bei sich heg­te.

»Das ers­te, was wir tun soll­ten«, sag­te der Haupt­mann, »wäre, dass ich die Ge­gend mit der Ma­gnet­na­del auf­näh­me. Es ist das ein leich­tes, hei­te­res Ge­schäft, und wenn es auch nicht die größ­te Ge­nau­ig­keit ge­währt, so bleibt es doch im­mer nütz­lich und für den An­fang er­freu­lich; auch kann man es ohne große Bei­hil­fe leis­ten und weiß ge­wiss, dass man fer­tig wird. Denkst du ein­mal an eine ge­naue­re Aus­mes­sung, so lässt sich dazu wohl auch noch Rat fin­den.«

Der Haupt­mann war in die­ser Art des Auf­neh­mens sehr ge­übt. Er hat­te die nö­ti­ge Gerät­schaft mit­ge­bracht und fing so­gleich an. Er un­ter­rich­te­te Eduar­den, ei­ni­ge Jä­ger und Bau­ern, die ihm bei dem Ge­schäft be­hilf­lich sein soll­ten. Die Tage wa­ren güns­tig; die Aben­de und die frühs­ten Mor­gen brach­te er mit Auf­zeich­nen und Schraf­fie­ren zu. Schnell war auch al­les la­viert und il­lu­mi­niert, und Eduard sah sei­ne Be­sit­zun­gen auf das deut­lichs­te aus dem Pa­pier wie eine neue Schöp­fung her­vor­ge­wach­sen. Er glaub­te sie jetzt erst ken­nen­zu­ler­nen, sie schie­nen ihm jetzt erst recht zu ge­hö­ren.

Es gab Ge­le­gen­heit, über die Ge­gend, über An­la­gen zu spre­chen, die man nach ei­ner sol­chen Über­sicht viel bes­ser zu­stan­de brin­ge, als wenn man nur ein­zeln, nach zu­fäl­li­gen Ein­drücken, an der Na­tur her­um­ver­su­che.

»Das müs­sen wir mei­ner Frau deut­lich ma­chen«, sag­te Eduard.

»Tue das nicht!« ver­setz­te der Haupt­mann, der die Über­zeu­gun­gen an­de­rer nicht gern mit den sei­ni­gen durch­kreuz­te, den die Er­fah­rung ge­lehrt hat­te, dass die An­sich­ten der Men­schen viel zu man­nig­fal­tig sind, als dass sie, selbst durch die ver­nünf­tigs­ten Vor­stel­lun­gen, auf einen Punkt ver­sam­melt wer­den könn­ten. »Tue es nicht!« rief er, »sie dürf­te leicht irre wer­den. Es ist ihr wie al­len de­nen, die sich nur aus Lieb­ha­be­rei mit sol­chen Din­gen be­schäf­ti­gen, mehr dar­an ge­le­gen, dass sie et­was tue, als dass et­was ge­tan wer­de. Man tas­tet an der Na­tur, man hat Vor­lie­be für die­ses oder je­nes Plätz­chen; man wagt nicht, die­ses oder je­nes Hin­der­nis weg­zuräu­men, man ist nicht kühn ge­nug, et­was auf­zu­op­fern; man kann sich vor­aus nicht vor­stel­len, was ent­ste­hen soll, man pro­biert, es ge­rät, es miss­rät, man ver­än­dert, ver­än­dert viel­leicht, was man las­sen soll­te, lässt, was man ver­än­dern soll­te, und so bleibt es zu­letzt im­mer ein Stück­werk, das ge­fällt und an­regt, aber nicht be­frie­digt.«

»Ge­steh mir auf­rich­tig«, sag­te Eduard, »du bist mit ih­ren An­la­gen nicht zu­frie­den.«

»Wenn die Aus­füh­rung den Ge­dan­ken er­schöpf­te, der sehr gut ist, so wäre nichts zu er­in­nern. Sie hat sich müh­sam durch das Ge­stein hin­auf­ge­quält und quält nun je­den, wenn du willst, den sie hin­auf­führt. We­der ne­ben­ein­an­der noch hin­ter­ein­an­der schrei­tet man mit ei­ner ge­wis­sen Frei­heit. Der Takt des Schrit­tes wird je­den Au­gen­blick un­ter­bro­chen; und was lie­ße sich nicht noch al­les ein­wen­den!«

»Wäre es denn leicht an­ders zu ma­chen ge­we­sen?« frag­te Eduard.

»Gar leicht«, ver­setz­te der Haupt­mann; »sie durf­te nur die eine Fel­se­n­e­cke, die noch dazu un­schein­bar ist, weil sie aus klei­nen Tei­len be­steht, weg­bre­chen, so er­lang­te sie eine schön ge­schwun­ge­ne Wen­dung zum Auf­stieg und zu­gleich über­flüs­si­ge Stei­ne, um die Stel­len her­auf­zu­mau­ern, wo der Weg schmal und ver­krüp­pelt ge­wor­den wäre. Doch sei dies im engs­ten Ver­trau­en un­ter uns ge­sagt; sie wird sonst irre und ver­drieß­lich. Auch muss man, was ge­macht ist, be­ste­hen las­sen. Will man wei­ter Geld und Mühe auf­wen­den, so wäre von der Moos­hüt­te hin­auf­wärts und über die An­hö­he noch man­cher­lei zu tun und viel An­ge­neh­mes zu leis­ten.«

Hat­ten auf die­se Wei­se die bei­den Freun­de am Ge­gen­wär­ti­gen man­che Be­schäf­ti­gung, so fehl­te es nicht an leb­haf­ter und ver­gnüg­li­cher Erin­ne­rung ver­gan­ge­ner Tage, wor­an Char­lot­te wohl teil­zu­neh­men pfleg­te. Auch setz­te man sich vor, wenn nur die nächs­ten Ar­bei­ten erst ge­tan wä­ren, an die Rei­se­jour­na­le zu ge­hen und auch auf die­se Wei­se die Ver­gan­gen­heit her­vor­zu­ru­fen.

Üb­ri­gens hat­te Eduard mit Char­lot­ten al­lein we­ni­ger Stoff zur Un­ter­hal­tung, be­son­ders seit­dem er den Ta­del ih­rer Park­an­la­gen, der ihm so ge­recht schi­en, auf dem Her­zen fühl­te. Lan­ge ver­schwieg er, was ihm der Haupt­mann ver­traut hat­te; aber als er sei­ne Gat­tin zu­letzt be­schäf­tigt sah, von der Moos­hüt­te hin­auf zur An­hö­he wie­der mit Stüf­chen und Pfäd­chen sich em­por­zu­ar­bei­ten, so hielt er nicht län­ger zu­rück, son­dern mach­te sie nach ei­ni­gen Um­schwei­fen mit sei­nen neu­en Ein­sich­ten be­kannt.

Char­lot­te stand be­trof­fen. Sie war geist­reich ge­nug, um schnell ein­zu­se­hen, dass jene recht hat­ten; aber das Ge­ta­ne wi­der­sprach, es war nun ein­mal so ge­macht; sie hat­te es recht, sie hat­te es wün­schens­wert ge­fun­den, selbst das Ge­ta­del­te war ihr in je­dem ein­zel­nen Tei­le lieb; sie wi­der­streb­te der Über­zeu­gung, sie ver­tei­dig­te ihre klei­ne Schöp­fung, sie schalt auf die Män­ner, die gleich ins Wei­te und Gro­ße gin­gen, aus ei­nem Scherz, aus ei­ner Un­ter­hal­tung gleich ein Werk ma­chen woll­ten, nicht an die Kos­ten den­ken, die ein er­wei­ter­ter Plan durch­aus nach sich zieht. Sie war be­wegt, ver­letzt, ver­drieß­lich; sie konn­te das Alte nicht fah­ren las­sen, das Neue nicht ganz ab­wei­sen; aber ent­schlos­sen wie sie war, stell­te sie so­gleich die Ar­beit ein und nahm sich Zeit, die Sa­che zu be­den­ken und bei sich reif wer­den zu las­sen.

In­dem sie nun auch die­se tä­ti­ge Un­ter­hal­tung ver­miss­te, da in­des die Män­ner ihr Ge­schäft im­mer ge­sel­li­ger be­trie­ben und be­son­ders die Kunst­gär­ten und Glas­häu­ser mit Ei­fer be­sorg­ten, auch da­zwi­schen die ge­wöhn­li­chen rit­ter­li­chen Übun­gen fort­setz­ten, als Ja­gen, Pfer­de­kau­fen, -tau­schen, -be­rei­ten und -ein­fah­ren, so fühl­te sich Char­lot­te täg­lich ein­sa­mer. Sie führ­te ih­ren Brief­wech­sel auch um des Haupt­manns wil­len leb­haf­ter, und doch gab es man­che ein­sa­me Stun­de. De­sto an­ge­neh­mer und un­ter­hal­ten­der wa­ren ihr die Be­rich­te, die sie aus der Pen­si­ons­an­stalt er­hielt.

Ei­nem weit­läu­fi­gen Brie­fe der Vor­ste­he­rin, wel­cher sich wie ge­wöhn­lich über der Toch­ter Fort­schrit­te mit Be­ha­gen ver­brei­te­te, war eine kur­ze Nach­schrift hin­zu­ge­fügt nebst ei­ner Bei­la­ge von der Hand ei­nes männ­li­chen Ge­hil­fen am In­sti­tut, die wir bei­de mit­tei­len.

Nach­schrift der Vor­ste­he­rin

»Von Ot­ti­li­en, mei­ne Gnä­di­ge, hät­te ich ei­gent­lich nur zu wie­der­ho­len, was in mei­nen vo­ri­gen Be­rich­ten ent­hal­ten ist. Ich wüss­te sie nicht zu schel­ten, und doch kann ich nicht zu­frie­den mit ihr sein. Sie ist nach wie vor be­schei­den und ge­fäl­lig ge­gen an­de­re; aber die­ses Zu­rück­tre­ten, die­se Dienst­bar­keit will mir nicht ge­fal­len. Euer Gna­den ha­ben ihr neu­lich Geld und ver­schie­de­ne Zeu­ge ge­schickt. Das ers­te hat sie nicht an­ge­grif­fen, die an­de­ren lie­gen auch noch da, un­be­rührt. Sie hält frei­lich ihre Sa­chen sehr rein­lich und gut und scheint nur in die­sem Sinn die Klei­der zu wech­seln. Auch kann ich ihre große Mä­ßig­keit im Es­sen und Trin­ken nicht lo­ben. An un­serm Tisch ist kein Über­fluss; doch sehe ich nichts lie­ber, als wenn die Kin­der sich an schmack­haf­ten und ge­sun­den Spei­sen satt es­sen. Was mit Be­dacht und Über­zeu­gung auf­ge­tra­gen und vor­ge­legt ist, soll auch auf­ge­ges­sen wer­den. Dazu kann ich Ot­ti­li­en nie­mals brin­gen. Ja, sie macht sich ir­gend­ein Ge­schäft, um eine Lücke aus­zu­fül­len, wo die Die­ne­rin­nen et­was ver­säu­men, nur um eine Spei­se oder den Nach­tisch zu über­ge­hen. Bei die­sem al­len kommt je­doch in Be­trach­tung, dass sie manch­mal, wie ich erst spät er­fah­ren habe, Kopf­weh auf der lin­ken Sei­te hat, das zwar vor­über­geht, aber schmerz­lich und be­deu­tend sein mag. So­viel von die­sem üb­ri­gens so schö­nen und lie­ben Kin­de.«

Bei­la­ge des Ge­hil­fen

»Un­se­re vor­treff­li­che Vor­ste­he­rin lässt mich ge­wöhn­lich die Brie­fe le­sen, in wel­chen sie Beo­b­ach­tun­gen über ihre Zög­lin­ge den El­tern und Vor­ge­setz­ten mit­teilt. Die­je­ni­gen, die an Euer Gna­den ge­rich­tet sind, lese ich im­mer mit dop­pel­ter Auf­merk­sam­keit, mit dop­pel­tem Ver­gnü­gen; denn in­dem wir Ih­nen zu ei­ner Toch­ter Glück zu wün­schen ha­ben, die alle jene glän­zen­den Ei­gen­schaf­ten ver­ei­nigt, wo­durch man in der Welt em­por­steigt, so muss ich we­nigs­tens Sie nicht min­der glück­lich prei­sen, dass Ih­nen in Ih­rer Pfle­ge­toch­ter ein Kind be­schert ist, das zum Wohl, zur Zufrie­den­heit an­de­rer und ge­wiss auch zu sei­nem ei­ge­nen Glück ge­bo­ren ward. Ot­ti­lie ist fast un­ser ein­zi­ger Zög­ling, über den ich mit un­se­rer so ver­ehr­ten Vor­ste­he­rin nicht ei­nig wer­den kann. Ich ver­ar­ge die­ser tä­ti­gen Frau kei­nes­we­ges, dass sie ver­langt, man soll die Früch­te ih­rer Sorg­falt äu­ßer­lich und deut­lich se­hen; aber es gibt auch ver­schlos­se­ne Früch­te, die erst die rech­ten, kern­haf­ten sind und die sich frü­her oder spä­ter zu ei­nem schö­nen Le­ben ent­wi­ckeln. Der­glei­chen ist ge­wiss Ihre Pfle­ge­toch­ter. So­lan­ge ich sie un­ter­rich­te, sehe ich sie im­mer glei­chen Schrit­tes ge­hen, lang­sam, lang­sam vor­wärts, nie zu­rück. Wenn es bei ei­nem Kin­de nö­tig ist, vom An­fan­ge an­zu­fan­gen, so ist es ge­wiss bei ihr. Was nicht aus dem Vor­her­ge­hen­den folgt, be­greift sie nicht. Sie steht un­fä­hig, ja stöckisch vor ei­ner leicht fass­li­chen Sa­che, die für sie mit nichts zu­sam­men­hängt. Kann man aber die Mit­tel­glie­der fin­den und ihr deut­lich ma­chen, so ist ihr das Schwers­te be­greif­lich.

Bei die­sem lang­sa­men Vor­schrei­ten bleibt sie ge­gen ihre Mit­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­