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Der flohfarbene Morgenrock

Die eigentümliche Neigung der Erdachse zur Sonnenbahn – dieser Winkel, der hauptverantwortlich zeichnet für unsere geographische Beschaffenheit und damit für unsere geschichtliche Entwicklung – hatte jene Naturerscheinung hervorgerufen, die man in London Sommer nennt. Der herumwirbelnde Erdball hatte gerade seine zivilisierteste Seite von der Sonne abgekehrt und damit über Selwood Terrace, South Kensington, die Nacht hereinbrechen lassen. In Selwood Terrace Nr. 91 brannte Licht im Erdgeschoss und im ersten Stock und bewies lautlos, dass der Erfindungsgeist des Menschen die Natur überlisten kann. Nummer 91 war eines von ungefähr zehntausend gleich aussehenden Häusern zwischen South Kensington Station und Nord End Road. Mit seiner verrußten, stuckverzierten Fassade, seiner Kellerküche, seinen hundert Treppen und Stufen, seiner vollkommenen Unbequemlichkeit und seinem schlechten Gewissen wegen ungezählter Dienstmädchen, die sich hier zu Tode geschuftet hatten, reckte es seine Kaminhauben gen Himmel und erwartete düster brütend das Jüngste Gericht für die Häuser von London, hochmütig die Axial- und Orbitalgeschwindigkeit der Erde und sogar den verwegenen Flug des gesamten Sonnensystems durch das Weltall ignorierend. Man spürte, dass Nummer 91 unglücklich war und dass es nur mit einem Schild »Zu vermieten« im kleinen Vorgärtchen und einem Aushang »Keine Flaschen« in den Kellerfenstern glücklich gemacht werden konnte. Keine dieser Spezifikationen konnte es aufweisen. Wenn es auch in letzter Zeit so gut wie leer stand, war es doch nie ganz unbewohnt. Während seines gesamten vornehmen und ansehnlichen Daseins war es nicht einmal zu vermieten gewesen.

Treten Sie ein und atmen Sie die Atmosphäre eines gelangweilten Hauses, das so gut wie leer, aber nie ganz unbewohnt ist. Alle seine zwölf Zimmer dunkel und verlassen, bis auf zwei; seine Küche im Keller dunkel und verlassen; nur diese zwei Zimmer, eins über dem andern wie aufeinandergesetzte Schachteln, kämpften kläglich gegen die chronische Düsternis der übrigen zehn an! Stellen Sie sich in den dunklen Hausflur und lassen Sie diese Atmosphäre in Ihre Lungen dringen.

Das auffallendste, verblüffendste Stück in dem erleuchteten Zimmer im Erdgeschoss war ein Morgenrock in der Farbe zwischen Heliotrop und Purpur, der vorigen Generation noch als flohfarben bekannt; ein gestepptes Gewand, gefüllt mit Schwanendaunen, leicht wie Wasserstoff – fast – und warm wie das Lächeln eines herzensguten Menschen; alt vielleicht, an den exponierten Stellen möglicherweise etwas abgetragen, und durch die Poren des feinen Satins drang hier und da etwas fedrig weißer Flaum; aber es war ein Morgenrock, von dem man träumen konnte. Er dominierte das unordentliche, sehr spärlich möblierte Zimmer mit seinem großzügigen Faltenwurf, der im Schein der das Sonnenlicht ersetzenden Petroleumlampe schimmerte, die auf einer Zigarrenkiste auf dem schmutzigen Kiefernholztisch stand. Die Lampe hatte einen gläsernen Petroleumbehälter, einen angeschlagenen Zylinder und einen Schirm aus Kartonpapier und hatte wahrscheinlich weniger als zwei Shilling gekostet; der Tisch war nicht mehr als zehn Shilling wert; und die restliche Zimmerausstattung, einschließlich des Lehnsessels, in dem der Morgenrock ruhte, eines Hockers, einer Staffelei, drei Päckchen Zigaretten und eines Hosenspanners hätte man für weitere zwanzig Shilling kaufen können. Oben in den Ecken unter der Decke, verdunkelt vom Schatten des Kartonlampenschirms, zog sich ein kompliziertes System von Spinnweben hin, das zu dem Staub auf dem nackten Fußboden passte.

In dem Morgenrock steckte ein Mann. Dieser Mann hatte das interessante Alter erreicht. Ich meine das Alter, in dem man alle Illusionen der Kindheit verloren zu haben glaubt, in dem man das Leben zu verstehen wähnt und in dem man häufig Vermutungen darüber anstellt, welch köstliche Überraschungen das Dasein noch für einen bereithalten mag; jenes Alter, in summa, das für einen Mann das romantischste – und zugleich anfälligste ist. Ich meine das Alter von fünfzig. Ein Alter, das aller Vernunft widersprechend von jenen missverstanden wird, die es noch nicht erreicht haben! Der äußere Schein trügt hier auf tragische Weise.

Der Mann im flohfarbenen Morgenrock hatte einen kurzen, langsam ergrauenden Kinn- und Schnurrbart; sein volles Haar befand sich im Stadium des Übergangs von Pfeffer zu Salz; viele winzige Fältchen zeigten sich in den Vertiefungen zwischen seinen Augen und dem frischen Rot seiner Wangen; und die Augen waren traurig – sehr traurig. Wenn er aufrecht gestanden und lotrecht nach unten geschaut hätte, würde er nicht seine Pantoffeln, sondern einen hervorstehenden Knopf seines Morgenrocks erblickt haben. Verstehen Sie bitte: Ich verheimliche nichts; ich bestätige lediglich die Maßangaben, die sein Schneider sich notiert hat. Er war fünfzig. Doch wie die meisten Männer von fünfzig Jahren war er noch sehr jung, und wie die meisten Junggesellen von fünfzig war er recht hilflos. Er war ziemlich sicher, nicht besonders glücklich gewesen zu sein. Wenn er seine Seele freigelegt hätte, würde er irgendwo tief darin ein schmachtendes, mitleidheischendes Sehnen nach Geborgenheit und Beschütztwerden vor der Unbill und Härte dieser Welt entdeckt haben. Aber er hätte diese Entdeckung nie zugegeben. Von einem Junggesellen um die fünfzig kann man nicht erwarten, dass er zugibt, in dieser Beziehung einem neunzehnjährigen Mädchen zu ähneln. Dennoch ist es eine eigenartige Tatsache, dass die Ähnlichkeit zwischen dem Herzen eines erfahrenen, abenteuerlustigen Junggesellen von fünfzig und dem harmlosen Herzen eines neunzehnjährigen Mädchens größer ist, als Mädchen in diesem Alter sich das vorstellen; besonders wenn der Junggeselle von fünfzig um zwei Uhr nachts einsam und ohne einen Freund in der trostlosen Atmosphäre eines Hauses sitzt, das seine Hoffnungen überlebt hat. Nur Junggesellen von fünfzig werden mich begreifen.

Es ist nie eindeutig geklärt worden, worüber junge Mädchen nachdenken, wenn sie nachdenken; die jungen Mädchen können es selbst nicht sagen. In der Regel sind die einsamen Hirngespinste von Junggesellen mittleren Alters kaum weniger einer Deutung zugänglich. Aber der Fall des Insassen dieses flohfarbenen Morgenrocks bildete eine Ausnahme von dieser Regel. Er wusste und hätte genau sagen können, was er gerade dachte. In jener tristen Stunde, an dem tristen Ort kreisten seine melancholischen Gedanken um den strahlenden, einzigartigen Erfolg im Leben eines begnadeten und berühmten Mannes, den Zeitungen und Völkern der Welt unter dem Namen Priam Farll bekannt.

Ruhm und Reichtum

Zu der Zeit, als die New Gallery noch neu war, hatte ein dort ausgestelltes und mit dem unbekannten Namen Priam Farll signiertes Bild ein so gewaltiges Aufsehen erregt, dass monatelang keine Konversation unter gebildeten Leuten ohne seine Erwähnung in irgendeiner Form als vollständig betrachtet wurde. Dass der Künstler tatsächlich ein sehr großer Maler war, gaben alle bereitwillig zu; die einzige Frage, die zu lösen gebildete Leute als ihre Pflicht ansahen, war die, ob er der größte Maler aller Zeiten oder nur der größte Maler seit Velazquez sei. Gebildete Leute würden vielleicht heute noch über diesen schwierigen Punkt diskutieren, wenn nicht durchgesickert wäre, dass die Royal Academy dieses Bild abgelehnt hatte. Die Kulturwelt Londons vergaß darauf sofort ihren Streit und fiel mit vereinten Kräften über die Royal Academy als eine Institution her, die kein Daseinsrecht besäße. Die Sache kam sogar bis vor das Parlament und nahm drei Minuten der Legislative des Britischen Reiches in Anspruch. Die Royal Academy konnte sich nicht damit herausreden, dass sie das Ölgemälde übersehen hätte, maß das Bild doch ganze fünf mal sieben Fuß; es stellte einen Polizisten dar, einen einfachen Polizisten in Lebensgröße, und es war nicht nur das eindrucksvollste Porträt, das man sich vorstellen konnte, sondern auch die erste Darstellung des Polizisten in der großen Kunst; Kriminelle, hieß es, flohen instinktiv bei seinem Anblick. Nein! Die Royal Academy konnte tatsächlich nicht behaupten, dass sie das Werk übersehen hätte. Und die Royal Academy schützte auch keinesfalls zufällige Unachtsamkeit vor. Sie ließ sich auch nicht auf Diskussionen über ihr eigenes Daseinsrecht ein. Sie diskutierte überhaupt nicht. Sie existierte einfach weiter und kassierte auch weiterhin ungefähr hundertfünfzig Pfund pro Tag in Shillingstücken an ihren blankpolierten Eingangsdrehkreuzen. Und über Priam Farll, dessen Adresse Poste restante, St.Martin’s-le-Grand lautete, waren keine Einzelheiten zu erfahren. Diverse Sammler, getragen von dem tiefen Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit und dem aufrichtigen Wunsch, die britische Kunst zu fördern, waren eifrig bestrebt, dieses Bild für ein paar Pfund zu kaufen; doch diese Kunstbegeisterten mussten erstaunt die schmerzliche Feststellung machen, dass Priam Farll einen Preis von tausend Pfund dafür festgesetzt hatte – den Gegenwert einer höchst seltenen Briefmarke.

Folglich wurde das Bild nicht verkauft; und nachdem eine unternehmungslustige Zeitung erfolglos eine Belohnung für die Identifizierung des abgebildeten Polizisten ausgeschrieben hatte, schlief die ganze Angelegenheit sanft ein, während die Öffentlichkeit ihre Freizeit wie üblich damit verbrachte, über das große Reizthema der ehelichen Beziehungen zu diskutieren.

Natürlich erwartete jedermann, dass der geheimnisvolle Priam Farll in Übereinstimmung mit der allgemeingültigen Regel für eine erfolgreiche Karriere in der britischen Kunst im nächsten Jahr ein weiteres Bild eines Polizisten in der New Gallery ausstellen würde – und so weiter für etwa zwanzig Jahre, an deren Ende England gelernt haben würde, ihn als seinen beliebtesten Polizistenmaler anzuerkennen. Aber Priam Farll schickte der New Gallery nichts zum Ausstellen. Augenscheinlich hatte er die New Gallery vergessen: und dies hielt man für unfreundlich, wenn nicht gar undankbar von seiner Seite. Stattdessen schmückte er den Pariser Salon mit einem großen Seestück, das im Vordergrund Pinguine zeigte. Nun, diese Pinguine wurden auf dem Kontinent die Pinguine des Jahres; sie machten den Pinguin zum Modevogel in Paris und (zwölf Monate später) auch in London. Die französische Regierung erbot sich, das Bild für die Republik zu ihrem üblichen Preis von fünfhundert Franc zu kaufen, doch Priam Farll verkaufte es für fünftausend Dollar an den amerikanischen Kunstkenner Whitney C. Witt. Kurz darauf verkaufte er den Polizisten, den er zurückbehalten hatte, für zehntausend Dollar an denselben Kunstkenner. Whitney C. Witt war der Experte, der zweihunderttausend Dollar für eine Madonna mit dem heiligen Joseph von Raffael bezahlt hatte. Die zuvor erwähnte unternehmungslustige Zeitung rechnete aus, dass der wagemutige Kunstkenner für den Polizisten, veranschlagte man die tatsächlich von seinem Körper auf der Leinwand beanspruchte Fläche, zwei Guineen pro Quadratzoll ausgegeben hatte.

Zu diesem Zeitpunkt wachte das gewaltige zeitunglesende Publikum plötzlich auf und verlangte einstimmig zu wissen:

WER IST DIESER PRIAM FARLL?

Obwohl diese Anfrage unbeantwortet blieb, war Priam Farlls Ruf von nun an absolut gesichert, und dies trotz der Tatsache, dass er es unterließ, den von der englischen Gesellschaft aufgestellten Regeln für das Verhalten eines erfolgreichen Malers zu entsprechen. Als Erstes hätte er die elementare Vorkehrung getroffen haben müssen, in den Vereinigten Staaten geboren worden zu sein. Er hätte nach monatelanger Ablehnung aller Interviews schließlich der Zeitung mit der höchsten Auflage ein Exklusivinterview gewährt haben müssen. Er hätte nach England zurückgekehrt sein, sich eine Mähne und einen Pinselschwanz wachsen lassen und König der Tiere werden müssen; oder zumindest an einem Bankett eine Rede über die edle und läuternde Mission der Kunst gehalten haben sollen. Bestimmt aber hätte er, um zu beweisen, dass er kein Snob war, ein Bild von seinem Vater oder Großvater als Künstler malen müssen. Aber nein! Nicht zufrieden damit, jedes seiner Bilder völlig verschieden von allen vorherigen zu malen, missachtete er all die oben genannten Formalitäten – und brachte es dennoch fertig, einen Triumph auf den andern zu häufen. Es gibt ein paar Menschen, von denen man sagen kann, dass ihnen, wie einem Glücksspieler an einem guten Tag, einfach nichts fehlgehen kann. Priam Farll gehörte zu ihnen. In wenigen Jahren war er zur Legende geworden – ein unlösbares Rätsel. Niemand kannte ihn; niemand bekam ihn zu Gesicht; niemand heiratete ihn. Ständig im Ausland lebend, war er laufend Gegenstand einander widersprechender Gerüchte. Selbst Parfitts, seine Londoner Agenten, kannten von ihm nur seine Handschrift – auf der Rückseite von Schecks mit vierstelligen Zahlen. Sie verkauften pro Jahr durchschnittlich fünf große und fünf kleine Bilder für ihn. Diese Bilder kamen irgendwoher aus dem Nichts, und die Schecks gingen irgendwohin ins Nichts.

Junge Künstler, stumm vor Bewunderung für die Meisterwerke seines Pinsels, die alle Nationalgalerien Europas bereicherten (außer, natürlich, der am Trafalgar Square), träumten von ihm, beteten ihn an und stritten erbittert über ihn als das einzige wahre Symbol für Berühmtheit, Wohlleben und makellose Leistung, wobei sie ihn niemals als einen Mann ihresgleichen sahen, mit Schuhen zum Schnüren, einer Palette, die gereinigt werden musste, einem klopfenden Herzen und einer instinktiven Angst vor der Vereinsamung.

Schließlich erfuhr er die allerhöchste Ehrung, den letzten Beweis, dass er anerkannt war. Die Presse macht es sich zur Gewohnheit, seinen Namen ohne erklärenden Kommentar zu nennen. Genauso, wie sie nicht schreibt, »Mr. A. J. Balfour, der hervorragende Staatsmann« oder »Sarah Bernhardt, die berühmte Schauspielerin« oder »Charles Peace, der historische Mörder«, sondern schlicht »Mr. A. J. Balfour«, »Sarah Bernhardt« oder »Charles Peace«, genauso schrieb sie einfach »Mr. Priam Farll«. Und kein Reisender im Raucherabteil eines Morgenzuges nahm je die Pfeife aus dem Mund, um zu fragen: »Wer ist denn dieser Knabe?« Größere Ehre war keinem Manne in England widerfahren. Und Priam Farll war der erste englische Maler, der sich dieser höchsten gesellschaftlichen Anerkennung erfreuen durfte.

Und jetzt steckte er in dem flohfarbenen Morgenrock.

Das schreckliche Geheimnis

Eine Glocke schreckte das einsame Haus auf; ihr lautes, altmodisches Schrillen wurde als Echo von den Kellertreppen zurückgeworfen und traf das Ohr von Priam Farll, der sich halb erhob und (sich) wieder zurücksinken ließ. Er wusste, dass der Ruf an die Haustür dringend war und dass nur er sie öffnen gehen konnte; und dennoch zögerte er.

Wir verlassen jetzt Priam Farll, den großen und wohlhabenden Künstler, und wenden uns einer viel interessanteren Persönlichkeit zu: Priam Farll, dem Privatmann und Menschen. Und sogleich werden wir dem schrecklichen Geheimnis seines Wesens auf die Spur kommen, jenem Charakterzug, der seine merkwürdigen Lebensumstände erklärt. Der Zufall wollte es, dass er als privates menschliches Wesen schüchtern war.

Er war ein völlig anderer Mensch als Sie und ich. Wir entwickeln nie heimliche Angstgefühle bei der Aussicht, einen Fremden zu treffen oder Zimmer in einem Grandhotel zu beziehen oder zum ersten Mal ein großes Haus zu betreten; oder durch einen Raum voller sitzender Leute gehen zu müssen, oder einen Dienstboten zu entlassen, oder uns mit einer arroganten, herrischen Postbeamtin am Schalter auseinanderzusetzen, oder an einem Laden vorbeispazieren zu müssen, wo wir Geld schuldig geblieben sind. Bei einer so einfachen, alltäglichen Sache rot zu werden, sich zu verdrücken oder auch nur verlegen auszusehen – der Gedanke an ein so kindisches Benehmen würde uns erst gar nicht kommen. Wir verhalten uns unter allen Umständen natürlich – denn warum sollte ein vernünftiger Mensch sich anders verhalten? Priam Farll verhielt sich anders. Der Gedanke, die Augen der Weltöffentlichkeit direkt auf seine Existenz zu lenken, bereitete ihm Seelenqualen.

In einem Brief jedoch konnte er regelrecht unverschämt werden. Drücken Sie ihm einen Federhalter in die Hand, und er wird furchtlos.

Jetzt wusste er, dass er würde gehen und die Haustür öffnen müssen. Sowohl Menschlichkeit wie eigenes Interesse drängten ihn, es unverzüglich zu tun. Denn der Besucher war unzweifelhaft der Arzt, der endlich gekommen war, um nach dem kranken Mann im Zimmer eine Treppe höher zu sehen. Der kranke Mann war Henry Leek, und Henry Leek war Priam Farlls schlechte Gewohnheit. Zwar war Leek ein kleiner Gauner (wie sein Herr vermutete), aber nichtsdestoweniger ein perfekter Kammerdiener. Wie Sie und ich war er niemals schüchtern. Was natürlich war, tat er stets auf ganz natürliche Weise. Nach und nach war er für Priam Farll unentbehrlich geworden, das einzige lebende Kommunikationsmittel zwischen Priam Farll und der gesamten Menschenwelt. Die Schüchternheit des Herrn, der eines Rehes gleich, ließ die beiden fast immer außerhalb Englands weilen, und auf ihren dauernden Reisen stand der Diener unentwegt zwischen dieser empfindsamen Befangenheit und der Welt. Leek besuchte jeden, der besucht werden musste, und tat alles, was mit einer persönlichen Kontaktnahme verbunden war. Und als schlechte Gewohnheit hatte er natürlich mehr und mehr Einfluss auf Priam Farll gewonnen, und so war seit einem Vierteljahrhundert Farlls Schüchternheit mit seinem Reichtum und seinem Ruhm Jahr für Jahr weitergewachsen. Glücklicherweise wurde Leek nie krank. Das heißt, er war nie krank gewesen bis zu diesem Tag ihrer plötzlichen, unerkannten Ankunft zu einem kurzen Aufenthalt in London. Er hätte sich kaum einen unangenehmeren, unpassenderen Zeitpunkt dafür ausgesucht haben können; denn London war von allen Orten derjenige, wo Priam Farll, auch in diesem geerbten, so selten benutzten Haus in Selwood Terrace, am wenigsten ohne Leeks Hilfe im täglichen Leben auskommen konnte. Diese Erkrankung Leeks war wirklich unangenehm und störend im höchsten Grade. Der Bursche hatte sich anscheinend bei der Überfahrt mit der Nachtfähre erkältet. Er hatte seit etlichen Stunden gegen die Anzeichen der heimtückischen Krankheit gekämpft und, während er weiter seine Einkäufe machte, im Vorbeigehen einen Arzt aufgesucht; und dann hatte er, ohne jede Vorwarnung und beim Herrichten von Priam Farlls Bett, den Kampf aufgegeben und sich, da sein eigenes Bett gerade nicht zur Stelle war, in das seines Herrn fallen lassen. Die natürlichen Dinge tat er eben immer auf natürliche Weise. Und Farll hatte sich gezwungen gesehen, ihm beim Auskleiden zu helfen!

Von diesem Augenblick an war Priam Farll, so reich und berühmt er auch sein mochte, in eine tragische Kraftlosigkeit versunken. Er konnte nichts für sich selbst tun; und er konnte auch für Leek nichts tun, denn Leek verweigerte die Annahme von Brandy und Sandwiches, und in der Speisekammer gab es nur Brandy und Sandwiches. Der Mann lag eine Treppe höher in komatösem Zustand, stumm, regungslos, und wartete auf den Arzt, der einen Abendbesuch versprochen hatte. Und der Sommertag war dem Dunkel eines Sommerabends gewichen.

Der Gedanke, in die Welt hinausgehen und persönlich Essen für sich selbst oder Hilfe für Leek holen zu müssen, hatte für Priam Farll den Anschein des Unmöglichen: Er hatte noch nie so etwas getan. Für ihn war ein Laden eine uneinnehmbare Festung, verteidigt von menschenfressenden Ungeheuern. Außerdem wäre es notwendig gewesen, zu »fragen«, und »fragen« war für ihn die höchste aller Qualen. So war er eifrig besorgt und hilflos die Treppen hinauf und hinunter gelaufen, bis schließlich Leek, der aufhörte, ein Diener zu sein, und sich zu einem verfallenden menschlichen Organismus zurückentwickelte, mit schwacher, aber entschiedener Stimme gebeten hatte, in Ruhe gelassen zu werden, und im Übrigen sei alles in Ordnung. Worauf der beneidetste aller Maler, das Symbol künstlerischen Glanzes und Triumphs, in den bekannten flohfarbenen Morgenrock des Kammerdieners geschlüpft war und sich für eine unbequeme Nacht in dem harten Sessel niedergelassen hatte.

Die Glocke läutete erneut, und ein beeindruckendes, lautes Klopfen an der Tür hallte schauerlich und unheilverkündend durch das einsame Haus. Es hörte sich an, als klopfe der Tod an die Tür. Es erzeugte den schrecklichen Verdacht: »Wenn er nun tatsächlich ernsthaft erkrankt ist?« Priam Farll sprang angsterfüllt auf und wappnete sich, Klinglern und Klopfern entgegenzutreten.

Kur gegen Schüchternheit

Draußen vor der Tür, in Gehrock und Zylinderhut, stand unschlüssig ein großer, dürrer, müder Mann, der seit genau zwanzig Stunden in Erfüllung seiner täglichen Pflicht, eingebildete Unpässlichkeiten mit Medizin und Suggestion zu heilen und echte Leiden der Natur mit Hilfe gefärbten Wassers zu überlassen, auf den Beinen war. Der medizinischen Profession gegenüber hatte er eine etwas sardonische Einstellung, teils weil er überzeugt war, dass nur die Völlerei von South Kensington ihm seinen Lebensunterhalt gewährleisten könnte, mehr aber noch, weil seine Frau und seine zwei voll erblühten Töchter zu viel für ihre Garderobe ausgaben. Seit Jahren hatten sie vergessen, dass er eine unsterbliche Seele besaß, und ihn wie einen Frühstücksautomaten behandelt: Sie schoben ein Frühstück in den Schlitz, drückten einen Knopf an seiner Weste und holten ein paar Banknoten aus ihm heraus. Überdies hatte er weder einen Partner oder Assistenten noch einen Wagen oder einen Feiertag: Seine Frau und seine Töchter konnten sich diesen Luxus mit ihm nicht leisten. Er war fähig, gewissenhaft, chronisch müde, kahlköpfig und fünfzig. Er war außerdem, so seltsam das anmuten mag, schüchtern; er hatte sich jedoch schon daran gewöhnt, wie ein Mann sich an einen hohlen Zahn oder ein Aal sich ans Häuten gewöhnt. Doch keineswegs fanden sich Eigenschaften des Herzens des jungen Mädchens im Herzen von Dr. Cashmore! Ihm war wirklich nichts Menschliches fremd, und er träumte von nichts Paradiesischerem als von einer Sonntagseskapade im Pullmanwagen nach Brighton.

Priam Farll öffnete die Tür, die diese beiden zaudernden Männer trennte, und sie sahen einander im Licht der Gaslaterne, denn der Hausflur lag im Dunkeln.

»Ist dies Mr. Farlls Haus?«, fragte Dr. Cashmore mit der unabsichtlichen Schroffheit des Schüchternen.

Die Enthüllung seines Namens durch Leek war für Priam ein Schock, der ihm fast den Schweiß aus den Poren trieb. Die Hausnummer allein hätte es sicher auch getan.

»Ja«, gab er zu, halb schüchtern und halb verärgert. »Sind Sie der Arzt?«

»Ja.«

Dr. Cashmore trat in die Dunkelheit des Hausflurs. »Wie geht es dem Kranken?«

»Darüber kann ich Ihnen kaum etwas sagen«, antwortete Priam. »Er liegt im Bett, ist sehr ruhig.«

»Das ist gut so«, erklärte der Arzt. »Als er heute Morgen in meine Praxis kam, riet ich ihm, sich hinzulegen.«

Es folgte eine kurze, verlegene Pause, während der Priam Farll sich räusperte und der Arzt sich die Hände rieb und Teile einer Melodie summte.

»Bei Jupiter!«, zuckte es Farll durch den Kopf, »dieser Knabe scheint schüchtern zu sein!« Und der Arzt dachte gleichzeitig: »Noch so einer, das reinste Nervenbündel!«

Sogleich wurden beide, aus reiner, gutmütiger Leutseligkeit zueinander, völlig ungezwungen.

Die Spannung hatte sich gelöst. Priam schloss die Tür und schloss damit auch das Licht der Straßenlaterne aus.

»Ich fürchte, wir haben hier kein Licht«, sagte Dr. Cashmore.

»Ich werde gleich ein Streichholz anzünden«, meinte Priam.

Das Auflodern eines Wachshölzchens beleuchtete die Pracht des flohfarbenen Morgenrocks. Doch Dr. Cashmore zuckte nicht mit der Wimper. Er konnte sich rühmen, in Sachen Morgenröcke nichts lernen zu müssen.

»Übrigens, was fehlt ihm Ihrer Meinung nach eigentlich?«, fragte Priam Farll mit seiner jungenhaftesten Stimme.

»Ich weiß es nicht. Erkältung. Er hatte ein etwas lautes Herzgeräusch. Könnte alles sein. Deshalb hatte ich gesagt, ich würde auf jeden Fall heute Abend vorbeikommen. Konnte nicht eher. Bin heute schon seit sechs Uhr früh auf den Beinen. Sie kennen das sicher – der Tag eines praktischen Arztes.«

Er lächelte grimmig vor Müdigkeit.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte Priam Farll voll warmer, lebhafter Sympathie. Er besaß die erstaunliche Gabe, sich hervorragend in die Lage anderer Menschen hineindenken zu können.

»Ganz und gar nicht!«, murmelte der Arzt. Er war ziemlich gerührt. Um seine Rührung zu verbergen, riss nun er ein Zündholz an. »Wollen wir nach oben gehen?«

Im Schlafzimmer brannte eine Kerze auf einem leeren staubigen Toilettentisch. Dr. Cashmore schob ihn näher ans Bett, das wie eine dezent arrangierte Oase in der trostlosen Wüste des Zimmers wirkte; dann beugte er sich über den kranken Kammerdiener, um ihn zu untersuchen.

»Er zittert ja!«, entfuhr es dem Arzt leise.

Die Haut von Henry Leek war in der Tat leicht blau, obgleich außer Bettdecken noch ein beachtlicher Stapel grober, wollener Reisedecken auf dem Bett lag und die Nacht warm war. Sein alterndes Gesicht (denn er war der dritte Mann von fünfzig in diesem Zimmer) hatte einen angstvollen Ausdruck. Doch er rührte sich nicht und sagte kein Wort beim Anblick des Arztes, starrte nur stumm vor sich hin. Bloß sein eigenes mühsames Atmen schien ihn zu interessieren.

»Keine Frauen hier?«

Der Arzt drehte sich plötzlich und heftig zu Priam Farll um, der erschrocken zusammenzuckte.

»Außer uns ist niemand im Haus«, antwortete er.

Ein weniger erfahrener Mann als Dr. Cashmore, dem die geheimen Absonderlichkeiten der vornehmen Welt Londons nicht fremd waren, wäre bei dieser Information erstaunt gewesen. Aber Dr. Cashmore zuckte genauso wenig mit einer Wimper wie zuvor beim Anblick des flohfarbenen Morgenrocks.

»Dann beeilen Sie sich und machen Sie etwas heißes Wasser!«, sagte er in diktatorischem und aggressivem Ton. »Schnell, bitte! Und holen Sie Brandy! Und mehr Decken! Und stehen Sie nicht länger hier ’rum! Los! Ich begleite Sie in die Küche. Zeigen Sie mir den Weg!« Er ergriff die Kerze, und sein Gesichtsausdruck sagte: »Ich sehe schon, Sie taugen nichts in einer Krise!«

»Mit mir geht’s wohl zu Ende, Doktor«, tönte ein schwaches Flüstern vom Bett her.

»So ist es, mein Junge!«, murmelte der Arzt leise, während er hinter Priam Farll die Treppe hinunterstolperte. »Wenn ich nicht bald etwas Heißes in dich hineingieße!«

Herr und Diener

»Wird es eine Leichenschau geben?«, fragte Priam Farll gegen sechs Uhr morgens.

Er hatte sich entnervt in den harten Sessel im Erdgeschoss fallen lassen. Der unentbehrliche Henry Leek war nun für immer für ihn verloren. Er konnte sich nicht vorstellen, was in Zukunft aus ihm werden sollte. Er konnte sich ein Leben ohne Leek nicht vorstellen. Und schlimmer noch, die unmittelbare Aussicht unbekannter Schrecken durch Publizität als Folge von Leeks Tod überwältigte ihn.

»Nein!«, erwiderte der Arzt heiter. »O nein! Ich war ja anwesend. Akute doppelseitige Lungenentzündung! Manchmal geht das so rasch! Ich kann einen Totenschein ausstellen. Aber natürlich werden Sie sich zum Standesamt begeben und den Tod registrieren lassen müssen.« Selbst ohne eine Leichenschau würde diese Angelegenheit, wie Priam voraussah, unvorstellbar quälend sein. Er hatte das Gefühl, dass es ihn umbringen würde, und schlug die Hand vors Gesicht.

»Wo findet man die Verwandten von Mr. Farll?«, fragte der Arzt.

»Die Verwandten von Mr. Farll?«, fragte Priam Farll verständnislos.

Doch dann verstand er. Dr. Cashmore hielt Henry Leek für Farll! Und all die angsterfüllte Empfindsamkeit in Priam Farlls Charakter griff gierig nach dieser verrückten Chance, jeder Art öffentlichen Auftretens als Priam Farll zu entgehen. Warum sollte er die Welt nicht im Glauben lassen, dass er und nicht Henry Leek plötzlich um fünf Uhr morgens in Selwood Terrace gestorben war? Er würde frei sein, vollkommen frei!

»Ja«, sagte der Arzt. »Sie müssen natürlich informiert werden.«

Priam ging in Gedanken rasch die Liste seiner Angehörigen durch. Ihm fiel kein näherer Verwandter als ein gewisser Duncan Farll ein, ein Vetter zweiten Grades.

»Ich glaube nicht, dass er irgendwelche hatte«, erwiderte er, und seine Stimme bebte dabei vor Erregung über die launische Übereiltheit seines Tuns. »Vielleicht gab es entfernte Vettern. Aber Mr. Farll hat nie von ihnen gesprochen.«

Was auch stimmte.

Er konnte kaum die Worte »Mr. Farll« aussprechen. Doch nachdem sie ihm einmal über die Lippen gekommen waren, spürte er, dass die Tat irgendwie endgültig geworden war.

Der Arzt musterte Priams Hände, die rauen, aufgesprungenen Hände eines Malers, die ständig in Farben und Staub herumwühlen.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Arzt. »Ich nehme an, dass Sie sein Diener sind – oder … «

»Ja«, antwortete Priam Farll.

Damit war es besiegelt.

»Wie hieß Ihr Herr mit vollem Namen?«, verlangte der Arzt zu wissen.

Und Priam Farll lief ein Schauer über den Rücken.

»Priam Farll«, antwortete er mit schwacher Stimme.

»Doch nicht der –?«, entfuhr es laut dem Arzt, den die Launen des Lebens in London endlich einmal verblüfften.

Priam nickte.

»Also nein!«, machte der Arzt seinen Gefühlen Luft. In Wahrheit jedoch gefiel ihm diese besondere Laune des Londoner Lebens sehr, schmeichelte ihm, gab ihm ein bedeutendes Gefühl in dieser Welt und ließ ihn seine Müdigkeit und erlittenes Unrecht vergessen.

Er sah, dass in dem flohfarbenen Morgenrock ein Mann steckte, der am Ende seiner Kräfte und seines Lateins angelangt war, und mit seiner Gutmütigkeit, die keine Mühsal hatte zerstören können, erbot er sich, die notwendigen ersten Formalitäten zu erledigen. Dann ging er.

Ein Monatslohn

Priam Farll hatte nicht die Absicht einzuschlafen; er wollte über die Situation nachdenken, in die er sich so unüberlegt gebracht hatte; doch er schlief ein – und in dem harten Sessel! Er wurde von einem gewaltigen Gepolter geweckt, als würde das Haus bombardiert, und Ziegelsteine sausten um seine Ohren. Nachdem er ganz zu sich gekommen war, klärte sich dieses Bombardement als nichts Schlimmeres als ein lautes, stürmisches Dauerklopfen an der Haustür auf. Er erhob sich und erblickte eine schlampige, ungepflegte, flohfarbene Gestalt in dem schmutzigen Spiegel über dem Kamin. Mit steifen Gliedern dirigierte er seine müden Füße zur Haustür.

Dr. Cashmore stand vor der Tür, und mit ihm noch ein Mann von fünfzig, eine streng blickende, untersetzte Person mit blau schimmerndem Kinn in tiefer, perfekter Trauerkleidung, einschließlich der schwarzen Handschuhe.

Diese Person musterte Priam Farll mit kaltem Blick.

»Ah!«, rief der Trauergast aus.

Und er trat ein, Dr. Cashmore folgte ihm.

Beim Betreten der Fußmatte hinter der Tür erspähte der Mann in Trauerkleidung ein weißes Rechteck auf dem Fußboden. Er hob es auf, inspizierte es sorgfältig und überreichte es dann Priam Farll.

»Ich nehme an, dies ist für Sie«, sagte er.

Priam nahm den Briefumschlag und sah, dass er in weiblicher Handschrift an »Henry Leek, Esq., 91 Selwood Terrace, SW« adressiert war.

»Es ist doch für Sie, nicht wahr?«, beharrte der Trauernde mit harter Stimme.

»Ja«, erklärte Priam.

»Ich bin Mr. Duncan Farll, Rechtsanwalt, ein Vetter Ihres verstorbenen Arbeitgebers«, fuhr die metallische Stimme fort, die durch ein Gehege großer weißer Zähne drang. »Welche Dispositionen haben Sie während des Tages getroffen?«

Priam stotterte: »Keine. Ich habe geschlafen.«

»Sie besitzen keinerlei Respekt«, stellte Duncan Farll fest.

Das war also sein Vetter zweiten Grades, dem er nur einmal als Kind begegnet war! Er hätte Duncan niemals wiedererkannt. Augenscheinlich kam auch Duncan nicht in den Sinn, wer er sein könnte. Im Lauf von vierzig Jahren verändern die Menschen sich, so dass man sie oft nicht wiedererkennt.

Duncan Farll ging mit großen Schritten durch das Erdgeschoss des Hauses und rief auf jeder Zimmerschwelle: »Ah!« oder »Rah!« Dann stieg er mit dem Arzt die Treppe hoch. Priam blieb untätig und äußerst verwirrt im Hausflur zurück.

Schließlich kam Duncan Farll wieder herunter.

»Kommen Sie mit, Leek, hier herein«, forderte Duncan ihn auf.

Und Priam folgte ihm bescheiden in das Zimmer, in dem der harte Sessel stand. Duncan Farll ließ sich in ihm nieder.

»Wie hoch ist Ihr Lohn?«

Priam versuchte sich zu erinnern, wieviel er Henry Leek gezahlt hatte.

»Einhundert im Jahr«, sagte er.

»Ah! Ein guter Lohn. Wann wurden Sie zuletzt bezahlt?«

Priam erinnerte sich, dass er Leek vor zwei Tagen Geld gegeben hatte.

»Vorgestern«, sagte er.

»Ich muss wiederholen, Sie sind ziemlich respektlos«, erklärte Duncan Farll, während er seine Brieftasche hervorzog. »Dennoch, hier sind acht Pfund sieben Shilling, ein Monatslohn als Kündigungsentschädigung. Sammeln Sie Ihre Sachen zusammen und gehen Sie. Ich habe keine weitere Verwendung für Sie. Mehr zu dieser Sache habe ich nicht zu sagen. Aber seien Sie bitte so gut und ziehen Sie sich an – es ist drei Uhr nachmittags – und verlassen Sie dann auf der Stelle das Haus. Aber ehe Sie gehen, lassen Sie mich einen Blick in Ihren Koffer oder Ihre Koffer werfen.«

Als Priam Farll eine Stunde später bei bereits abnehmendem Tageslicht vor seiner eigenen Haustür stand, flankiert von Henry Leeks schwerer Reisetasche auf der einen und Henry Leeks Blechkoffer auf der anderen Seite, ging es ihm auf, dass die Ereignisse in seinem Leben mit immenser Geschwindigkeit in Bewegung gerieten. Frei hatte er sein wollen, und frei war er nun. Völlig frei! Doch es erschien ihm außerordentlich bedeutsam, dass so viel in so kurzer Zeit als Resultat einer bloßen, einer impulsiven Eingebung folgenden Wahrheitsverdrehung geschehen konnte.

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Ein Eimer

Aus der Tasche von Leeks leichtem Mantel schaute ein zusammengefaltetes Exemplar des Daily Telegraph hervor. Priam Farll war ein wenig ein Dandy, und wie alle normal denkenden Dandys und alle Schneider mochte er die fließende Linie eines Kleidungsstückes nicht durch freien Gebrauch der Taschen gestört sehen. Der Mantel selbst und der Anzug darunter waren noch recht gut; denn obwohl sie das Eigentum des verstorbenen Henry gewesen waren, passten sie Priam Farll ausgezeichnet und hatten vor noch nicht langer Zeit ihm gehört, da Leek es sich angewöhnt hatte, sich gänzlich aus der Garderobe seines Herrn zu kleiden. Geistesabwesend zog der Dandy den Telegraph aus der Tasche, und das Erste, was ihm in die Augen sprang, war dies: »Ein wunderschönes Privathotel der höchsten Klasse. Luxuriös möbliert. Bequemlichkeit der Gäste oberstes Gebot. Schönste Lage in London. Hervorragende Küche. Das Richtige für höhergestellte Persönlichkeiten. Badezimmer. Elektrisches Licht. Einzeltische. Keine ärgerlichen Sonderzuschläge. Einzelzimmer ab 2½, Doppelzimmer ab 4 Guineen pro Woche. 250 Queen’s Gate.« Und darunter las er noch eine weitere Mitteilung: »Keine gewöhnliche Pension. Ein hochherrschaftliches Haus. Vierzig Gästezimmer. Prachtvolle Gesellschaftszimmer. Pariser Küchenchef. Einzeltische. Vier Badezimmer. Kartenspielzimmer, Billardzimmer, große Halle. Junge, fröhliche, musikliebende Gesellschaft. (Kleiner) Bridgezirkel. Hervorragende sanitäre Einrichtungen. Schönste Lage in London. Keine ärgerlichen Sonderzuschläge. Einzelzimmer ab 2½, Doppelzimmer ab 4 Guineen pro Woche. Telefon 10,073 Western. Trefusis Mansion, W.«

In diesem Augenblick zockelte gemächlich ein Hansom an Selwood Terrace entlang.

Impulsiv rief Priam die zweirädrige Droschke an.

»Schon zur Stelle, Chef«, sagte der Droschkenkutscher, der mit geübtem Auge erkannte, dass Priam Farll nicht gewohnt war, mit Gepäck zu hantieren. »Geb’n Sie dem Dienstburschen da ’nen Penny, damit er Ihn’ bei Ihr’m Gepäck hilft. Sie sind wohl nich’ der Kräftigste.«

Ein kleiner, ausgemergelter Bursche mit den historischen Überresten einer Zigarette zwischen den Lippen sprang wie ein Affe die Stufen hoch und schnappte, ohne auf eine Aufforderung dazu zu warten, Priam den Koffer aus der Hand. Priam gab ihm für seine Kraftanstrengung eines von Leeks Sixpence-Stücken, und der Junge spuckte großzügig auf die Münze, ohne dabei die von geheimnisvollen Kräften an seiner Unterlippe festgehaltene Zigarettenkippe zu verlieren. Mit einer noblen Geste hob der Droschkenkutscher die Zügel, und Priam musste sich entschließen und in den Hansom steigen.

»250 Queen’s Gate«, sagte er.

Während er, den Kopf auf die Seite gelegt, um den Zügeln auszuweichen, den aufmerksam gespitzten Ohren des Kutschers über das Dach der Droschke hinweg die Anweisung gab, spürte er plötzlich, dass er seine Nationalität wiedergewonnen hatte, dass er durch und durch Engländer in einer durch und durch englischen Atmosphäre war.

Er hatte 250 Queen’s Gate gewählt, weil es ihm wie der Hort heiterer Gelassenheit und Diskretion vorkam. Er hatte das Gefühl, er könnte in 250 Queen’s Gate wie in ein Federbett sinken. Die andere Adresse machte ihm Angst. Sie erinnerte ihn an die Schrecken eines Hotels auf dem Kontinent. Auf seinen Reisen hatte er viel unter der jungen, fröhlichen und musikliebenden Gesellschaft in glanzvollen Hotels gelitten, und Bridge (in kleiner Runde) übte auf ihn keinen Reiz aus.

Während die Droschke durch die vertrauten Cañons stuckverzierter Häuser rollte, schaute er weiter in den Telegraph. Er war recht erstaunt, mehr als eine Spalte mit Angeboten so verlockender Paläste zu finden, jeder in schönster Lage Londons; ganz London schien sich in einmaliger, prächtiger Lage zu befinden. Und es war so angenehm, so gern gesehen, so erwünscht, sich deiner Bequemlichkeit, deines Essens, deines Bades, deiner Hygiene so betont anzunehmen! Er erinnerte sich an die alten Pensionen der achtziger Jahre. Jetzt hatte sich alles zum Besseren gewandelt. Der Telegraph war voll von diesem Besseren, dicht gepackt in mehreren Spalten. Das Bessere stieg strahlend aus den Spaltenköpfen der ersten Seite und sogar noch über den Titel des Blattes hinaus. Zum Beispiel sah er links neben dem Titel ein neues, kultiviertes Teehaus am Piccadilly Circus erwähnt, im Besitz und unter Leitung von Damen von Stand und Bildung, wo man echten Tee und echte Butterbrote und echtes Teegebäck in einem echten Salon bekam.

Es war schon erstaunlich.

Die Droschke hielt an.

»Ist dies das Haus?«, fragte er den Kutscher.

»Nummer 250, Sir.«

Es stimmte. Doch das Haus hatte keine Ähnlichkeit mit einem Privathotel. Es glich aufs Haar einem Privathaus, hoch und schmal und zwischen seinen Geschwistern eingeklemmt: Priam Farll war verblüfft, bis ihm die Lösung dieses Rätsels einfiel. »Aber natürlich«, sagte er sich: »Dies ist die Ruhe, die Diskretion. Das wird mir sehr gefallen.« Er sprang aus dem Wagen.

»Warten Sie, ich behalte Sie«, rief er dem Droschkenkutscher in der überlieferten Formulierung zu – er war stolz, dass er sich aus seiner Jugend daran erinnerte – , als sei der Droschkenkutscher etwas, das er sozusagen auf Probe bestellt hatte.

Telegraph