Für Giulia & Emilio auf ihren Wegen

Einleitung

„Ich teile mit, dass ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau um wie viel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisteszimmer verließ, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen. (…) Alles, was ich erblickte, machte mir den angenehmen Eindruck der Freundlichkeit, Güte und Jugend. Rasch vergaß ich, dass ich oben in meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. (…) Freudig war ich auf alles gespannt, was mir auf dem Spaziergang etwa begegnen oder entgegentreten könnte.“2

(Robert Walser, deutsch-schweizerischer Schriftsteller)

Es geht uns heute so gut wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und doch erleben wir Stress, körperliche Probleme, Einsamkeit, Selbstzweifel und seelische Krisen. Technisierung, Kapitalismus und Beschleunigung bestimmen unsere moderne Lebensform. Unsere Alles-ist-möglich-Mentalität weckt hohe Erwartungen: Man muss mitmachen, auf dem Laufenden bleiben, immer up to date sein. Ständige Selbstoptimierung wird zur Norm. Möglichst viel, möglichst schnell, möglichst speziell – mit nur wenigen Mausklicks kein Problem. Wir vergleichen uns unbarmherzig mit anderen und versuchen, mit dem Tempo der digitalisierten Welt Schritt zu halten. Dabei werden nicht wir immer schneller, sondern die Dinge um uns herum. Das macht müde. Zur Erholung lenken wir uns ab: Wir können aus einer unüberschaubaren Fülle von Informationen, Freizeitaktivitäten und Bildungsmöglichkeiten wählen. Die Zerstreuung in der digitalen Welt ist via Handy und Co. jederzeit möglich. Wir fliegen in die entlegensten Winkel dieses Planeten in der Hoffnung, für eine Weile Abstand zu bekommen und uns vom täglichen Lauf im Hamsterrad zu erholen. Vor Ort verlangen wir als Erstes nach dem WLAN-Passwort und wundern uns, dass wir nicht „runterkommen“ können. Zu sehr ist das Getriebensein, ist das Schaffenwollen in uns drin. Und wenig später landen wir wieder im Alltag, um dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben.

Ich möchte mit meinem Buch einen deutlichen Kontrapunkt setzen zu dieser Beschleunigung, dem Abhaken nicht enden wollender To-do-Listen, dem zwanghaften Streben nach Wachstum und immer neuen Höhepunkten auf der Suche nach dem Glück. Es soll unsere erhitzten Gemüter ein wenig beruhigen und dazu einladen, Spazieren als praktische Lebenskunst wiederzuentdecken: als eine Möglichkeit der umsichtigen Erkundung unserer Umwelt, der Selbsterkundung, des Sammelns von Momenten, des Sinnierens, des heiteren Genusses, der Kreativität. Dieses Buch ist ein Plädoyer für diejenige Form von Bewegung, die tief in uns Menschen angelegt ist. Für die „Vermessung der Welt“ mit unserem ureigenen Maß: dem menschlichen Schritt.

Sind Sie selbst bereits Spaziergängerin oder Spaziergänger? Dann wissen Sie um die unvergleichliche Qualität dieser Fortbewegung und möchten diese allenfalls noch besser verstehen. Oder wünschen Sie sich, neue Aspekte rund ums Spazieren kennenzulernen? Warum interessiert Sie das Thema? Möchten Sie eine einfache und jederzeit praktizierbare Methode finden, um

Ein Spaziergang ist ein Quell heilsamer Impulse und kann dies alles und vieles mehr bewirken.

Spazieren ist eine relevante Nebensächlichkeit. Relevant, weil Spazieren in fast jeder Lebenslage guttut (zumindest nicht schadet). Nebensächlich, weil es eine solch alltägliche Beschäftigung darstellt, der viele von uns regelmäßig nachgehen. Jeder von uns macht hin und wieder einen Spaziergang: zur Mittagszeit durch den Park, eine Runde um den Block oder am Wochenende in der Natur. Ein Spaziergang kostet nichts, ist umweltfreundlich und muss nicht groß geplant oder vorbereitet werden. Spaziergänge werden (noch) nicht lautstark beworben und man benötigt weder Ausrüstung noch einen Kurs oder gar ein Diplom.

Relevant ist das Spazieren außerdem, weil es uns auf unspektakuläre Weise wacher werden lässt. Beim Spazieren in Gesellschaft schenken wir unseren Weggefährten unmittelbare Aufmerksamkeit. Wir bewegen uns, während wir miteinander sprechen, ohne dabei ständig die Tastatur oder das Touchpad zu bedienen. Dass ein Spaziergang heilsame Wirkung entfalten kann, wird dabei unterschätzt. Dabei ist er ganz ohne Nebenwirkungen und Belastung der Krankenkassen.

Ein positiver Nebeneffekt beim Schreiben des Buches war, dass ich während dieser Zeit noch mehr als sonst spazieren gegangen bin – allein oder mit anderen, auch im beruflichen Kontext. Ich schulte meine Wahrnehmungsfähigkeit und lernte, dass ich dabei auf mein Innenleben Einfluss nehmen konnte. Vielfach wurde ich beschenkt – mit Eindrücken, Einsichten oder einfach mit Entspannung. Ich bin heute noch beglückt – und beschämt zugleich, auf Spaziergängen, die ich schon x-mal unternommen habe, so viel Unbekanntes entdeckt zu haben, was mir zuvor durchgegangen ist. Spazierengehen bereichert mein Leben, Tag für Tag aufs Neue. Das möchte ich gerne mit Ihnen teilen.

Dieses Buch ist keine Anleitung, wie man „richtig“ spazieren geht, auch kein Ratgeber. Es wäre paradox, dies anleiten oder beraten zu wollen. Und doch möchte ich nicht darauf verzichten, Ihnen die eine oder andere Idee, was man beim Spazieren so alles anstellen kann, zu vermitteln. Es wäre schön, wenn die Lektüre dieses Buches in Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ein bisschen Vorfreude auf den nächsten Spaziergang wecken würde oder auch Lust, etwas Altbekanntes wiederzuentdecken.

Im ersten Teil habe ich Wissenswertes aus unterschiedlichen Disziplinen (z. B. Geschichte, Medizin, Psychologie, Literatur) und Perspektiven zum Spazierengehen zusammengetragen.

Im zweiten Teil finden Sie praktische Anregungen, die die Theorie des ersten Teils erlebbar machen. Sie laden dazu ein, auf eigene Faust und ganz unkompliziert die hier dargestellten Zusammenhänge beim Spazieren selbst zu entdecken: 20 verschiedene Spaziergänge für Kopf und Herz ermuntern dazu, sein Augenmerk neu auszurichten, während man zu Fuß unterwegs ist.

Wir können die Kraft des Gehens für die eigene Lebensgestaltung nutzen – egal ob beim frühmorgendlichen Spaziergang in der Natur, beim Gang von der Bushaltestelle ins Büro, beim Schlendern in der Mittagspause, wenn man in der Stadt unterwegs ist, einen Behördengang zu erledigen hat oder eine Nachtwanderung wagt.

Im dritten Teil schließlich können Sie die Ergebnisse meiner kleinen Spaziergangs-Umfrage nachlesen. Ich wollte wissen, wie andere Menschen spazieren und was sie dabei erleben. Diese Erfahrungen aus erster Hand machen die zitierten wissenschaftlichen Studien fassbarer.

Wenn Sie tiefer ins Thema eintauchen, werden Sie möglicherweise wie Honoré de Balzac in seiner Theorie des Gehens ausrufen: „Oh! Die Fragen stoben nur so auf wie die Heuschrecken. Wundervolles Thema!“3 Genau so erging es mir jedenfalls, als ich mich mehr und mehr in die Materie „Spazieren“ vertiefte und ich für meine Einblicke auf unzähligen Spaziergängen ein Echo der Bestätigung suchte. Es gelang mir bis heute nicht, die vielschichtige und reichhaltige Natur von Spaziergängen vollends zu erfassen. Balzac muss es inmitten der Studien seiner Theorie des Gehens wohl ganz ähnlich ergangen sein, als er konstatierte: „Als ich alles gelernt hatte, wusste ich nichts – und ich ging!“4

Um es kurz zu halten: Machen wir uns auf den Weg. Gehen wir spazieren.

Willkommen im leichtfüßigen Vergnügen!

7. Spektakulär unspektakulär: Spazieren als Gewohnheit

„Wenn jemand aus Liebe zum Wald regelmäßig einen halben Tag darin spazieren geht, muss er damit rechnen, für einen Müßiggänger gehalten zu werden, aber wenn er seine Zeit als Spekulant verbringt und die Wälder abholzt und die Erde vorzeitig kahl macht, dann sieht man ihn als einen fleißigen, unternehmensfreudigen Mitbürger.114

(Erich Fromm, deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe)

Wie Sie in den vorangegangenen Kapiteln erfahren konnten, tut das Spazierengehen Körper und Psyche richtig gut und ist zudem nur mäßig anstrengend sowie immer und überall ohne großen Aufwand durchführbar. Spazierengehen wirkt außerdem in unserer eiligen, reizüberfluteten Welt auf wohltuende Art normalisierend und damit ausgleichend. Warum sollte man sich also nicht künftig den ein oder anderen Spaziergang im Alltag gönnen? Als Alternative zu den Neujahrsvorsätzen, endlich viel mehr Sport zu treiben und sich öfter zu entspannen, und zwar ohne Alkohol. Als Alternative dazu, sich zu Weihnachten ein teures Abo fürs Fitnessstudio schenken zu lassen, das man nach einigen wenigen Besuchen doch nicht weiter ausschöpft und das dann auch noch für ein schlechtes Gewissen sorgt. Als Alternative zu den Ayurveda-Wochen, die zwar guttun, aber schon nach wenigen Wochen im gewohnten Stress vergessen sind und von den alten Gewohnheiten abgelöst werden. Als Alternative zu den anstrengenden Intensivtrainings, die zwar ein paar Mal in bester Absicht absolviert werden, gefolgt von heftigem Muskelkater, aber schließlich doch nicht zur Routine werden wollen, weil sie überfordern. Als Alternative dazu, die Mittagspause durchzuarbeiten, weil wir effizient sein wollen. Spätestens am Nachmittag holt uns die Erschöpfung dann aber doch ein.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Abenteuerurlaub, Hochleistungssport, ein Yoga-Retreat und Ayurveda sind toll und bereichern unser Leben. Ich möchte das Spazierengehen als Ergänzung dazu als kleine Alltagsoase verstanden wissen, als Ausgleich, mit dem wir uns vielleicht ein wenig davor schützen können, übermäßig schnell wieder urlaubsreif zu werden. „Jeden Tag so viel nur möglich von den kleinen Freuden erleben und die größeren, anstrengenden Genüsse sparsam auf Ferientage und gute Stunden verteilen, das ist, was ich jedem raten möchte, der an Zeitmangel und Unlust leidet. Zur Erholung vor allem, zur täglichen Erlösung und Entlastung sind uns die kleinen, nicht die großen Freuden gegeben“115, rät Hermann Hesse. Am besten funktioniert das, wenn wir aus dem Gehen eine lieb gewonnene und normale Gewohnheit machen. Doch mit Gewohnheiten ist das so eine Sache …

7.1 Ich weiß ja, dass ich sollte …

Die Macht von Gewohnheiten in unserem Alltag ist nicht zu unterschätzen. Zumeist sind es jedoch die „lasterhaften“ Gewohnheiten, an denen uns das bewusst wird: die tägliche Süßigkeit zum Nachmittagskaffee, die Fahrt mit dem Auto statt mit dem Fahrrad, das Versumpfen vor dem Fernseher etc. Alte Gewohnheiten halten uns zudem oftmals davon ab, neue – und wohltuendere – Gewohnheiten in unseren Alltag zu integrieren. „Ich weiß schon, dass ich mich öfter bewegen sollte. Aber unter der Woche habe ich einfach keine Zeit dazu.“ Solche und ähnliche Argumente, warum es mit der Bewegung an der frischen Luft wieder nicht geklappt hat, kommen Ihnen gewiss bekannt vor. Lassen Sie uns deshalb einmal grundsätzlich über Gewohnheiten nachdenken, darüber, wie diese entstehen und wie wir sie ändern können.

Gewohnheiten bestimmen unser Leben, ob wir wollen oder nicht. Das kommt daher, dass sie gewissermaßen im ganzen Körper abgespeichert sind. Sie werden im Autopilotmodus ausgeführt. Das macht sie so effizient – und schwierig zu verändern. Neurophysiologisch betrachtet sind Gewohnheiten neuronale Verknüpfungen. Je öfter wir eine bestimmte Handlung wiederholen, desto stärker ist sie im Gehirn verankert und desto leichter kann sie durch kleine Reize (ein Geruch, ein Bild, eine Bewegung usw.) aktiviert werden. Hinzu kommt, dass Belohnungsstoffe ausgeschüttet werden, wenn wir gewohnt handeln. Es ist also ein sich selbst aufrechterhaltender Kreislauf. Dies führt dazu, dass wir uns alle möglichen Gewohnheiten aneignen, ohne uns dessen immer bewusst zu sein. Unser Gehirn besteht aus ca. 86 Milliarden Nervenzellen und etwa 100 Billionen Synapsen, die unsere Nervenzellen miteinander verbinden und ununterbrochen ein sich ständig anpassendes Netzwerk bilden.116 Angesichts dieser biologischen Tatsachen erstaunt es nicht, dass es schwierig sein kann, Gewohnheiten nachhaltig zu ändern. Wenn wir etwas Ungewohntes genauer kennen, vertrauter mit ihm werden, fällt es leichter, sich ihm zu öffnen und zu nähern. Das, was wir kennen, mögen wir in der Regel auch mehr. Je mehr wir über eine neue Gewohnheit, die wir uns aneignen wollen, in Erfahrung bringen, desto leichter wird es uns fallen, sie in unser Handlungsrepertoire zu integrieren. Zwei Beispiele: Wenn wir bereits als Kind gelernt haben, bestimmte Blumen-, Baum- oder Vogelarten zu erkennen und zu benennen, haben wir bereits eine Verbindung, eine Beziehung zur Natur aufgebaut und können uns besser auf sie einlassen. Wenn wir uns im Vorfeld unserer geplanten Ernährungsumstellung, z. B. auf einen reduzierten Fleischverzehr, eingelesen und mit den physiologischen Vorgängen und dem gesundheitlichen Nutzen befasst haben, wird uns die Umstellung leichter fallen. Wenn wir also eine Spazierroutine im Alltag entwickeln möchten, kann es hilfreich sein, möglichst viel darüber in Erfahrung zu bringen, z. B. wo in meiner Gegend schöne Spazierwege zu finden sind. Es könnte sich lohnen, auf diese psychologische Dynamik zu setzen.

Es ist schwer, Gewohnheiten zu durchbrechen

Das Problem mit alten Gewohnheiten ist, dass wir kaum absichtsvoll auf sie zugreifen können, weil die Ursprünge dieser Gewohnheiten unserem bewussten Willen nur schwer zugänglich sind. Bei der Ausbildung von Gewohnheiten sind die Handlungen zwar zunächst noch ungewohnt und verlaufen unter Umständen holprig, man vertut sich häufig und denkt viel über das nach, was man tut. Aber später „läuft es immer besser, und zum Schluss tut man ziemlich komplizierte Dinge, ohne nachzudenken. Auch hier findet eine Sinnentleerung statt; die Dinge verselbstständigen sich. Die meisten Menschen tun Dinge, weil sie zu Gewohnheiten geworden sind, und haben den ursprünglichen Anlass dieser Gewohnheiten völlig vergessen“117, so der bekannte Hirnforscher Gerhard Roth. Bei gewohnheitsmäßigen Handlungen müssen wir nicht mehr bewusst überlegen. Da sich viele Verhaltensweisen bereits im Kindesalter zu festigen beginnen, haben wir auch Schwierigkeiten damit, so manche Glaubenssätze unserer Eltern zu durchbrechen oder uns von anerzogenen Gewohnheiten zu lösen.

7.2 Wie es gelingen kann, Gewohnheiten zu verändern

Wenn wir alte Gewohnheiten loswerden wollen, funktioniert dies am besten, indem wir sie durch neue Gewohnheiten ersetzen. Der erste Schritt besteht darin, dass wir uns unserer bisherigen Verhaltensmuster bewusst werden. Ein Beispiel: Wenn ich gestresst von der Arbeit nach Hause komme, mache ich es mir mit einer Packung Kekse (als Belohnung) erst einmal auf dem Sofa (zur Entspannung) gemütlich, checke Nachrichten auf meinem Handy (gegen die Einsamkeit) und schalte den Fernseher ein (zur Ablenkung). Nur wenn wir uns diesen genauen Ablauf und die dahinter steckenden Motive deutlich machen, können wir aktiv eingreifen und unser Verhalten verändern.

Etwas einfacher, als eine alte Gewohnheit abzulegen, ist, eine neue Gewohnheit zu etablieren. Das Erfolgsrezept: Das gewünschte neue Verhalten, vielleicht ein Abendspaziergang nach der Arbeit, muss mit einem deutlichen Auslösereiz gekoppelt und dann durch Belohnung verstärkt werden: Ein Spaziergänger etwa könnte sich die bequemen Schuhe direkt neben die Eingangstür stellen und sie gleich abends, nach der Rückkehr vom Arbeitsplatz, anziehen. Am Anfang muss das ganz bewusst gemacht werden.

Ziel dabei ist, dass unser Gehirn das Nachhausekommen und den Anblick der Schuhe mit dem Spazierengehen verknüpft und wir daraufhin automatisch handeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Belohnung. Die Belohnung muss dabei konkret sein und direkt erfolgen. Im genannten Beispiel kann eine Belohnung beispielsweise darin bestehen, die unbequemen Büroschuhe gegen die bequemen Wanderschuhe zu tauschen, die schöne neue Outdoorjacke anzuziehen sowie sich nach dem Spaziergang einen duftenden Tee und eine wohltuende Dusche zu gönnen.

Hat man die erste Hürde geschafft und einen neuen Auslösereiz etabliert, wird die Handlung zur Gewohnheit und mit der Zeit zum „Selbstläufer“. Was beim Etablieren einer neuen Gewohnheit ebenfalls hilft, ist Druck von außen, indem man sich zum Beispiel mit anderen zum Spazierengehen in der Mittagspause verabredet. Zudem kann ein konkreter kleinschrittiger Handlungsplan helfen:

Das Ziel wird somit klarer und vorstellbar. Und was wir uns vorstellen können, können wir auch in die Tat umsetzen.

Einen Stolperstein sollten wir uns jedoch noch vor Augen führen: Es liegt in der Natur eines jeden Lebewesens, Unangenehmes vermeiden zu wollen und Angenehmes zu suchen. In unserem Beispiel wäre das Unangenehme vielleicht das ungemütliche Regenwetter draußen vor der Tür und das Angenehme die wohlige Wärme der Kuscheldecke auf dem Sofa. Unser Gehirn hat gelernt, dass in Stresszeiten das Aufschieben von Unangenehmem (Nässe und Kälte) und das Vorziehen von Angenehmem (auf dem Sofa chillen, im Internet surfen, Alkohol trinken oder etwas essen), zu einer kurzfristigen (!) Reduktion von Stress führt. Dies wird als Belohnung abgespeichert und aktiviert das Lust- und Belohnungszentrum im Hirn, was mit der Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin assoziiert wird. Wenn wir dann erneut gestresst sind, erinnert sich unser Hirn, dass dieses Verhalten beim letzten Mal geholfen hat, den unangenehmen Zustand zu beenden. Es lässt das Bedürfnis entstehen, diese Handlung zu wiederholen, um den angenehmen Zustand herbeizuführen. Ein uralter Mechanismus, bestehend aus den drei Elementen Auslöser (Stress) – Verhalten (Sofa) – Belohnung (sich gut fühlen). Wenn dieser oft genug wiederholt wird, entstehen starke Gewohnheiten oder auch eine Sucht.

Was im Gegensatz dazu leider nicht automatisch abläuft, ist die Überprüfung der nachhaltigen, langfristigen Wirksamkeit dieser Gewohnheiten. Dazu brauchen wir Aufmerksamkeit und unsere Fähigkeit, unser Verhalten zu reflektieren.

Durch die Beantwortung der beiden folgenden Fragen haben wir die Chance, unser Hirn „zu hacken“ und schlechte Gewohnheiten abzustellen:

  1. Was bringt mir das gewohnte Verhalten langfristig wirklich (z. B. mich bei Stress regelmäßig mit Internet, Handy, TV, Essen oder Alkohol abzulenken bzw. zu dämpfen)?
  2. Wie fühlt sich dies im Körper an?

Wenn mir meine Gewohnheit langfristig gar nichts bringt außer weitere unangenehme Gefühle und negative Konsequenzen (bis hin zu Übergewicht, Internet- oder Alkoholsucht), und ich dies am eigenen Körper erfahre, wird mein Gehirn motiviert sein, die alte Gewohnheit nicht mehr als Belohnung, sondern als „unangenehm“ einzustufen. Und Unangenehmes versuchen wir ja zu vermeiden.

Natürlich brauchen gut eintrainierte schädliche Gewohnheiten ebenso gut eintrainierte neue Gewohnheiten. Das Ändern von Gewohnheiten ist also ein langwieriger, aber dafür ein nachhaltiger Prozess des Umlernens. Als Schlüsselkompetenz zählt dabei, eigene Bedürfnisse (z. B. Bedürfnis nach Stressreduktion) und Gefühle (z. B. gestresst sein) wahrzunehmen, ohne sofort danach handeln zu müssen (z. B. auf dem Sofa chillen und im Internet surfen). Wenn wir uns selbst gegenüber aufmerksam und aufrichtig sind, können wir uns unserer Bedürfnisse bewusst werden, um weise Entscheidungen zu fällen, was langfristig hilfreich ist.

Wem das alles zu kompliziert ist, hier die pragmatische Alternative: Schaffen Sie sich eine kleine Regel für den Alltag, die Sie Tag für Tag umsetzen. Der Vorteil von Regeln: Man muss nicht mehr darüber nachdenken und entscheiden, ob man nun geht – oder doch nicht.

Und ebenso pragmatisch:

Spazieren als neue Gewohnheit und Gewohnheitsbrecher

Spazieren gehen ist so einfach, denn …

Es liegt also geradezu auf der Hand, öfter mal loszugehen: Entweder um das Spazieren als neue Gewohnheit in den Alltag zu integrieren. Dies vielleicht mit dem Ziel, sich regelmäßig Zugang zu Naturerlebnissen zu ermöglichen oder eine angenehme Bewegungsroutine im Alltag zu entwickeln. So baut man die heilsame Wirkung des Spazierens in den Alltag ein – und es wird nach und nach zu einer Gewohnheit, auf die man nicht mehr verzichten will. Oder sogar um dabei zu helfen, eine schlechte Gewohnheit zu ersetzen: Spazieren kann hierbei als eine Art friendly reminder oder Stopp-Zeichen bzw. als Ersatzhandlung fungieren: Statt sich bei Ärger und Stress zu Hause auf die Couch zu legen und eine böse Mail an jemanden zu schreiben (um seinem Frust Luft zu machen), geht man spazieren, lüftet den Kopf, regt sich erst einmal ab, gewinnt Distanz und baut den Stress ab. Spazieren wird damit zum Zwischenraum, in dem reflektiert und in Ruhe über Lösungen nachgedacht werden kann.

8. Auf dem Weg

8.1 Aufbruch: der erste Schritt

„Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt.“

(Konfuzius, chinesischer Philosoph)

„Gehen wir“, sagte mein Vater zu meiner Schwester und mir, während er sich langsam erhob. Gerade hatte er sich von seiner geliebten Frau, unserer Mutter, verabschiedet, die Stunden zuvor aufgehört hatte, zu atmen. Er wagte den ersten Schritt in sein neues Leben als Witwer.

„Der erste Schritt“ stellt den Beginn eines Übergangs oder bereits dessen Ende dar. Denn der Entscheidungsprozess, sich aufzumachen und einen ersten Schritt zu tun, kommt genau mit diesem ersten Schritt zu seinem Ende. Ein Aufbruch nach Lebenskrisen, nach Krankheiten oder aus dem alten Trott: Dies können Beweggründe sein, um aufzubrechen und zu gehen. Oder aber das Bedürfnis nach Abkehr: von Problemen, von Zukunftsangst, von einer Zivilisation, die immer schneller, unberechenbarer und anonymer wird.

Ohne bewusste Entscheidung ist der erste Schritt die Folge eines Impulses. Etwas Innerliches oder Äußerliches veranlasst uns, in Bewegung zu kommen.

Unser buchstäblich erster Schritt, der Schreitreflex als Kind, wird uns in die Wiege gelegt und muss nicht wie das Schwimmen, Schlittschuh- oder Fahrradfahren speziell erlernt werden:

„Von Händen gestützt und auf eine flache Unterlage gestellt, beginnen Neugeborene an Ort und Stelle zu gehen. Der Schreitreflex wird durch den Druck der Fußsohle gegen den Boden ausgelöst, als ob der Fuß bei jedem Schritt ein Stück Boden greifen wolle. Selbstständig gehen können Neugeborene noch nicht: Ein Jahr unermüdlichen ‚Selbststudiums‘ genügt ihnen in der Regel. Eine absolute Rekordzeit, um so komplexe Bewegungsprogramme wie Laufen und Springen zu erlernen.“118

Der Beginn des Gehens bedeutet für Kleinkinder einen grundlegenden Entwicklungsschritt. Die erstmalige Möglichkeit, sich nach den Erfahrungen des Rollens, Kriechens und Krabbelns auf dem Boden frei auf den eigenen zwei Beinchen bewegen zu können, eröffnet dem Kind eine ganz neue Selbstständigkeit, einen neuen Blick, und ist die Grundlage für eine intensivere Wechselbeziehung zu seiner Umwelt. Der Soziolinguist und Kinderliedermacher Fedrik Vahle erläutert: „Wenn das Kind zum Gehen herangereift ist, kommt mit der Körperbewegung auch die Geistesbewegung, die Sprache.“119

Wie beglückend das bewusste Erfahren der ersten Schritte als Beginn einer neuen Entwicklungsphase sein kann, durfte ich bei meinen beiden Kindern erleben, die dieses Ereignis jeweils auf ganz eigene Art vollzogen. Unsere Erstgeborene tat ihre ersten, eher späten aufrechten Schritte barfuß auf dem weichen Rasen im Garten der Großeltern, umgeben von liebevollen Helfern, die unserer Tochter durch Loslassen die neue Freiheit ermöglichten. Die unbändige Herzensfreude, mit nackten Füßchen in schneller Schrittfolge von einem zum anderen zu laufen, beim Umfallen zu lachen und sich unermüdlich wieder von Neuem aufzurappeln, war ansteckend. Wir Erwachsene konnten ihre überglückliche, kindliche Freude über den neuen Lebensabschnitt mitfühlen.

Unser Sohn hatte es eiliger mit dem aufrechten Gang. Für ihn waren die ersten Schritte ein regelrechter Befreiungsschlag nach Monaten der Unzufriedenheit und Ungeduld. Nach dem Abendessen saßen wir alle im Spielzimmer auf dem Teppich, als er über beide Backen strahlend erwartungsfroh vom einen zum anderen blickte, sich mithilfe seiner beiden Hände aufrichtete und strümpfig abwechselnd in die Arme von uns Eltern, seiner Oma und seiner Schwester rannte. Er hatte offensichtlich gewartet, bis er alle um sich hatte, um in seinen neuen Lebensabschnitt zu starten.

Der erste Schritt bedeutet wörtlich und im übertragenen Sinn, etwas Altes hinter sich zu lassen und etwas Neues unter die Füße zu nehmen. Und dabei gibt es so viele erste Schritte: ob es der buchstäblich erste Schritt im Leben ist, ein erster Schritt in die Unabhängigkeit (von den Eltern oder in die berufliche Unabhängigkeit), der erste angstvolle Schritt nach einer Operation vom Rand des Krankenbettes aus oder vom Traualtar hinein ins Eheleben. Der erste Schritt ist nicht immer leicht, denn er unterbricht die Ordnung und die Sicherheit dessen, was vorher war.

Damit dieser Übergang vom Alten zum Neuen gelingt, kann es hilfreich sein, „den ersten Schritt“ physisch zu tun: Eine Grenze, dargestellt als Linie am Boden, in Form einer Türschwelle oder eines Astes, muss bewusst überschritten werden. Althergebrachte Rituale greifen dieses Prinzip auf, wie etwa der frisch gebackene Ehemann, der die Frau über die Schwelle trägt. Dabei kann symbolhaft etwas Altes auf der anderen Seite in Dankbarkeit zurückgelassen werden. Wenn solche Schritte seelisch nicht vollzogen werden, bleibt man oft im Alten verhaftet und kommt nicht so recht im Neuen an. Das Gute daran: Der erste Schritt kann immer und überall nachgeholt werden, am besten mit vertrauten Menschen als Begleiter.

Ein erster Schritt kann auch noch geprägt sein von der Last der Entscheidung, ihn wirklich zu tun. Das Zweifeln, ob die richtige Entscheidung getroffen, der richtige Weg eingeschlagen wurde, lässt den Schritt wohlmöglich zu einer großen Herausforderung werden.

Der erste Schritt wird schwer, wenn wir etwas Liebgewonnenes hinter uns lassen müssen. Er kann beschwingt und von Vorfreude geprägt sein, wenn positive Erwartungen mit Weg und Ziel verknüpft sind. Hermann Hesse bringt in seinem bekannten Gedicht „Stufen“ (1941) die Natur des Aufbruchs folgendermaßen zum Ausdruck:

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“120

 Ideen für einen Spaziergang „Aufbruch – der erste Schritt“

Neubeginn

Falls für Sie in der nächsten Zeit eine Veränderung oder ein Vorhaben ansteht, auf das Sie sich vorbereiten möchten, unternehmen Sie Ihren Spaziergang am besten am frühen Morgen. Vielleicht mögen Sie einen Ort wählen, der für Sie Aufbruch und Neubeginn symbolisiert, beispielsweise das Meer (neue Horizonte), ein Ort mit guter Fernsicht oder wo Sie den Sonnenaufgang beobachten können, die unterste Stufe einer Treppe, der Beginn eines Wanderwegs, eine Quelle.

Lassen Sie unterwegs die Gedanken schweifen, wie Ihr gewünschtes Ziel, Ihre Sehnsüchte aussehen. Wohin möchten Sie gerne gehen? Was möchten Sie neu in Ihr Leben lassen? Was soll hinter Ihnen zurückbleiben? Was wünschen Sie sich? Wer oder wie möchten Sie sein?

Mit diesem Zukunftsbild im Herzen bleiben Sie einige Augenblicke stehen.

Atmen Sie ein, verbinden Sie Ihren Geist mit Ihrem Körper. Gehen Sie einen ersten Schritt und kommen im Hier und Jetzt an. Da ist Ihr Leben, der Himmel, der Boden, die Luft zum Atmen. Gehen Sie nun jeden Schritt, als sei es Ihr erster Schritt auf dieser neuen Stufe Ihres Lebens. Jeder Schritt bringt Sie ins Hier und Jetzt Ihrer nächsten Lebensstufe. Kommen Sie mit jedem Schritt neu an. Sinnieren Sie darüber, wie diese ersten Schritte sind und was sie für Sie und Ihr Leben bedeuten. Spüren Sie nach, inwieweit Ihre realen ersten Schritte, die Sie bewusst gehen, für Ihre inneren ersten Schritte bedeutsam werden. Indem wir losgehen und die ersten Schritte wagen, sind wir bereits in Bewegung. Die Vergangenheit liegt hinter uns. Wir sind angekommen.

Frühere erste Schritte

Unternehmen Sie einen Spaziergang an einem Ort, an dem Sie in der Vergangenheit einen neuen Lebensabschnitt begonnen haben: Das kann Ihr früherer Kindergarten sein, Ihre Schule, der Sportplatz, die Uni, ein Ort, an dem Sie einen wichtigen Menschen getroffen haben, ein früherer Arbeitsplatz, eine Kirche, ein Krankenhaus, ein früherer Wohnort etc. Sinnieren Sie unterwegs darüber, wie Sie damals den Übergang vom einen zum nächsten Lebensabschnitt erlebt haben und wie Sie ihn heute sehen. Erinnern Sie sich an Ihre ersten Schritte an diesem für Sie besonderen Ort in den nächsten Lebensabschnitt hinein? Von was waren diese ersten Schritte geprägt? Was bedeutet das heute für Sie?

8.2 Der Weg und das Ziel

„Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben (…).“
121

(Christian Morgenstern, Dichter)

Christian Morgenstern drückt in seinem Gedicht „Wer vom Ziel nichts weiß“ die Bedeutung des Ziels als sinngebendes Element für den Weg aus. Nur wer sein Ziel bewusst und frei gewählt habe, könne, wenn er seinen Weg geht, Sinn erleben. Auch die bekannte, vom chinesischen Philosophen Konfuzius geprägte Redensart „Der Weg ist das Ziel“ zeigt die Verbundenheit von Gehen und Leben auf: Das Gehen eines Weges bedeutet viel mehr als nur das räumliche Überwinden von Distanzen zwischen den Punkten A und B. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die sprachliche Verwendung des Wortes „Weg“: Er kann für die individuelle Lebensführung bzw. Lebenseinstellung stehen (z. B. „Ich gehe meinen Weg mit Entschlossenheit“) oder mit dem jeweiligen Lebensziel und der entsprechenden Ausrichtung verbunden sein (z. B. „Ich habe diesen Weg eingeschlagen, um meine Familie zusammenzuhalten“). Das Gehen eines Weges, z. B. des Lebensweges als Metapher, kann hoffnungsvoll und zielsicher sein, aber auch voller Hindernisse und Mühsal oder aber als eine einzige Absurdität erfahren werden. Auch in nahezu allen Religionen taucht der Weg-Begriff auf, nämlich als die Art der Lebensführung, die zum Ziel, letztendlich zu Gott, zur Erlösung oder zur Erleuchtung führt. Auf der konkreten Handlungsebene geht man rituell einen bestimmten Weg, etwa auf Pilgerschaft oder in Prozessionen. Im Buddhismus ist das Gehen selbst sogar eine Form der Meditation.

Manche Menschen haben den Gedanken „Der Weg ist das Ziel“ zu ihrem Lebensmotto gemacht. Einige davon rechtfertigen damit eine gewisse Unverbindlichkeit in ihrem Alltag. Häufig steckt dahinter jedoch die Erfahrung, dass pure Zielstrebigkeit und Leistungsorientierung zu innerer Leere und Erschöpfung führt. Diese Menschen ahnen oder wissen, dass wir früher oder später krank werden, wenn wir psychisch nie wirklich da sind, wo wir uns physisch gerade befinden. Vielleicht haben manche auch Versagensängste und befürchten, das Ziel nicht erreichen zu können. Kein Wunder, dass viele Zeitgenossen Mühe mit dem Wort „Ziel“ haben, besonders dann, wenn es uns von außen vorgegeben wird und wir es nicht zu unserem eigenen machen.

Doch Ziele sind notwendig. Ohne Zielvorstellung weiß niemand, wo er wirklich hin möchte. Ziele machen uns zu Menschen, die ihr Leben bewusst in die Hand nehmen. Deshalb ist es hilfreich, sich Ziele zu setzen, die im Einklang mit unserem innersten Selbst stehen.122 Das können kurzfristige und / oder langfristige Ziele sein, vielleicht auch ein Lebensziel. Dabei ist es nicht wichtig, möglichst schnell und ohne Umwege ein Ziel zu erreichen. Wenn wir es klar benennen können und es erreichbar ist, können wir das Ziel sogar in gewisser Weise loslassen und aufmerksam verfolgen, wohin uns unser „Weg zum Ziel“ tatsächlich führt. Zugleich müssen wir nicht jedes Ziel erreichen. Wenn wir unterwegs merken, dass das ursprüngliche Ziel nicht mehr stimmig ist, sind wir eingeladen, es zu hinterfragen, es neu zu formulieren und uns neu auszurichten. Unser Ziel gibt uns die Richtung vor und stiftet Lebenssinn, nur so ist Orientierung möglich.

„Der Weg ist das Ziel“ bedeutet, dort zu sein, wo man gerade ist. Damit ist nicht entwederoder gemeint, sondern beides. Das Ziel dient dabei als Leitstern, der verlässlich strahlt und uns Orientierung gibt, während wir unseren Weg in unserem eigenen Tempo gehen und aufmerksam registrieren, was sich am Wegesrand ereignet und wie wir uns dadurch verändern und entwickeln. Der Weg ist das Ziel und das Ziel ist der Weg.

Der Weg führt zu allen Orten, an denen man vorbeikommt. Dabei sind wir aufgefordert, uns der stetig verändernden Kraft eines Weges zu stellen. Hindernisse, Umwege, Sackgassen, Durststrecken, „auf dem Holzweg sein“ – all das gehört dazu. Ebenso wie Traumpfade, Wege der Erkenntnis, Gipfelfreuden, Rastplätze und das schöne Gefühl, angekommen zu sein. Erst durch die Berge und Täler auf unserer Route bekommt der Weg seine Bedeutung und das Ziel seine Wertigkeit. Das Ziel wird umso bedeutsamer, je anspruchsvoller der Weg dorthin war. Wie flüchtig kann ein Gipfelerlebnis sein, wenn ich die vielen Höhenmeter bequem mit der Sesselbahn überwunden habe. Wenn ich im Vergleich dazu jeden einzelnen Höhenmeter zu Fuß mit Geschicklichkeit und Willenskraft überwunden haben, ist das Erreichen des Gipfelkreuzes ein Fest.

Das Leben gelingt besser, wenn wir uns nicht nur auf das Ziel, sondern auch auf den Weg dorthin konzentrieren. Denn falls die Zielerreichung misslingt, wird uns dies mehr zu schaffen machen, wenn wir ausschließlich das Ziel vor Augen hatten. Ein Beispiel aus dem Alltag: ein beruflicher Stellenwechsel. Wer in der Vorbereitung nur auf das Ziel „einen neuen Job haben“ fixiert ist, wird bei jeder abgelehnten Bewerbung große Enttäuschung erleben. Wer die Vorbereitung auch als Standortbestimmung oder Prozess der Selbsterkenntnis nutzt, wird zwar auch enttäuscht sein, wenn er bei der Stellenvergabe leer ausgegangen ist. Doch er wird zugleich aufmerksam bleiben für das, was gut gelaufen ist, für die Lehren, die er aus den Vorstellungsgesprächen ziehen kann, etc. und diese Informationen bei nächster Gelegenheit nutzen können. Seinen Weg bewusst zu beschreiten lässt uns schmerzhafte Enttäuschungen besser verkraften.

Weg und Ziel stehen also in einer Wechselbeziehung. Ohne Weg gibt es kein Ziel. Ohne Ziel gibt es keinen Weg. Mit jedem Schritt entwickelt und wandelt sich unsere Beziehung zu Weg und Ziel. Weg und Ziel verändern uns. Vielleicht sind wir unterwegs ruhiger oder selbstbewusster geworden. Vielleicht haben wir unsere Erschöpfung gespürt oder haben innere Klarheit erfahren. Zugleich werden Weg und Ziel am Ende ihre Bedeutung für uns verändert haben: Vielleicht war der zunächst beschwerlich erscheinende Weg schließlich doch machbar, die Aussicht am Ziel jedoch weniger spektakulär als vermutet. War die Anstrengung deswegen nur ein unnötiger Kraftakt? Ich meine Nein. Hat uns der Weg doch gezeigt, wie ausdauernd wir sein können und wie viel wir schaffen können, wenn wir es nur wollen.

Mein mühevoller und gefährlicher Weg in Richtung Piz Bernina vor einigen Jahren (eindeutig kein Spaziergang!), den ich wegen meiner schwindenden Kräfte und eines Wetterumschwungs vorzeitig abbrechen musste, veränderte meinen Blick auf mein damaliges Ziel. Der höchste Berg Graubündens, den ich so gerne bestiegen hätte, ließ mich unterwegs meine Grenzen spüren, sodass ich mein Ziel korrigieren musste und mich seither an seinem puren Anblick erfreuen darf, statt ihn selbst zu besteigen. Was ich unmittelbar nach dem Abbruch der Tour als Rückschlag erlebte, erfüllt mich heute mit Dankbarkeit, es wenigstens probiert zu haben und auch ohne Gipfelglück eine Extremsituation in archaischer Natur heil bestanden zu haben. Mein umsichtiger Bergführer123, der in seinem Leben 13 von 14 Achttausendern bestiegen hatte, ist kurze Zeit später am Piz Bernina tödlich verunglückt.

Am Ende ist es die innere Haltung des Gehenden, die wesentlich ist. Wie gehen Sie mit Rückschlägen, Sackgassen oder auch geglückter Zielerreichung um? Antoine de Saint-Exupéry124 dichtet:

„Auf die Haltung kommt es an.

Denn nur sie allein ist von Dauer und nicht das Ziel,

das nur ein Trugbild des Wanderers ist,

wenn er von Grat zu Grat fortschreitet,

als ob dem erreichten Ziel ein Sinn innewohnt.“

 Ideen für einen Spaziergang „Der Weg und das Ziel“

Vielleicht möchten Sie herausfinden, wie unterschiedlich es sich anfühlt, ob Sie mit oder ohne Ziel auf Ihrem Weg unterwegs sind. Erfahren, dass der Weg zum Ziel manches Mal aufschlussreicher ist als das Ziel selbst. Ein Gespür für die Bedeutung der Kleinigkeiten unterwegs entwickeln, die sich oftmals erst im Nachhinein offenbaren. Neue Sichtweisen werden sich eröffnen, die sich im Vorbeihasten nicht gezeigt hätten.

Gehen Sie Ihre bekannte Wegstrecke dreimal hintereinander, dabei jedes Mal mit einem anderen Fokus:

Nehmen Sie sich jeweils am Ende Ihres Spaziergangs Zeit, um Ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse zu reflektieren. Vielleicht möchten Sie Ihre Erfahrungen aufschreiben. So können Sie sie später vergleichen oder auch mit einer anderen Person besprechen.

Was haben Sie festgestellt in Bezug auf Ihr Gehtempo, Ihre Körperhaltung, Ihre innere Haltung, Ihre Befindlichkeit? Was bedeutet Ihnen Ihr Weg? Was bedeutet Ihnen Ihr Ziel? Gab es unterschiedliche Bedeutungen von Ziel und Weg zu Beginn des Spaziergangs und am Ende?

Wenn ich frühmorgens mit Patientinnen und Patienten unserer Klinik spazieren gehe und wir mit unterschiedlichem Fokus unterwegs sind, zeigen sich die Unterschiede deutlich: Mit einem Ziel vor Augen sind wir gewöhnlich schneller unterwegs, bündeln unsere Kräfte und nehmen ringsherum weniger wahr. Wir sind gedanklich bereits in der Zukunft und weniger im gegenwärtigen Moment. Wenn wir uns nur auf den Weg konzentrieren, sind wir oft sehr langsam unterwegs, dafür werden wir immer wieder neu mit Details unserer Umgebung überrascht. Als Ideal hat sich Folgendes herausgestellt: Wir wählen als Ziel eine kürzere Strecke, die alle ohne große Kraftanstrengung erreichen können. Die frei gewordene Zeit nutzen wir für einen ruhigen Start, eine Achtsamkeitsübung sowie dem bewussten Ankommen mit einer kurzen Reflexion. Dann haben wir „den Fünfer und das Weggli“125: das bewusste Erleben des gemeinsamen Weges und die Zufriedenheit bei Erreichung unseres Zieles. Jedes Mal kommen wir von diesen Morgenspaziergängen ein wenig anders zurück, als wir losgegangen sind. Der Weg und das Ziel haben uns verändert.

8.3 Herumstreunen – so ganz ohne Ziel

„Nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt.“

(Dalai-Lama, buddhistischer Mönch)