Cover

Von und mit Tatjana Kruse

Tannenduft mit Todesfolge

Kein bisschen besinnliche Weihnachtskrimis

Vormord

Immer wieder an Ostern sitzen überall in der Welt Krimiautor*innen an ihren Schreibtischen, essen Marzipan-Eier und schreiben … Weihnachtsgeschichten. Aus verlagsablaufbedingten Gründen ist die Abgabe meist auf Ende April terminiert, wenn die Weihnachtsanthologie noch rechtzeitig zum Fest erscheinen soll.

Um mich in Stimmung zu bringen, höre ich in Endlosschleife meine liebsten Weihnachtslieder, entzünde die Kerzen in meinem Weihnachtskarussell aus dem Erzgebirge und knabbere nebenher die Reste des selbstgebackenen (nicht von mir) Stollens. Dann fällt es mir leicht, trotz der knospenden Natur vor meinem Fenster an diese magische Zeit des Jahres zu denken, zu der der Geist der Weihnacht Familien zusammenbringt, um Plätzchen zu essen, Geschenke auszutauschen, von Schnee zu träumen und unschuldig ermordete Bäume in der Vertikalen festzuzurren und mit Kugeln und Lametta zu behängen. Letzteres ist in meinen Geschichten natürlich nicht das einzige Verbrechen: Es wimmelt nur so vor diebischen Elfen, falschen Santa Kläusen, die sinistre Vorsätze umsetzen wollen, und bösen Verwandten, die die Weihnachtsgans in Gift marinieren.

In diesem Buch sind all meine Weihnachtsgeschichten endlich an einem Ort beisammen. Und wir lernen daraus vor allem eines: Mit mir will man am Fest der Liebe besser nicht zusammen sein …

Herzlich-mörderisch, Tatjana

Süßer die Fäuste nie fliegen …

Zugbegleiter Jasper Fietz (34) hatte sich freiwillig für den Dienst an diesem 24. Dezember gemeldet. Am Mittag des Heiligabends mit dem IC Kohlbrand – ein Intercity alter Bauart – von der Landeshauptstadt einmal quer durch die hinterste Provinz. Das war noch echtes Abenteuer! An einem Tag wie diesem war alles möglich: Schwarzfahrer, Falschfahrer, verwirrte Erstfahrer, Rentiere. Was für ein Kick im sonst so eintönigen Alltagseinerlei.

In der zweiten Klasse – sie war relativ gut besetzt – kam er auch voll auf seine Kosten. Eine Oma, die im falschen Zug saß und unter viel ojemineee, ojemineee ihre Sachen zusammenraffte, um beim nächsten Haltebahnhof in den Gegenzug umzusteigen. Zwei bockige Minderjährige ohne gültige Fahrausweise und ohne Manieren. Und im Bordbistro feierten einige Jungmänner vorzeitig Bescherung mit viel Bier und wenig Besinnlichkeit. Fietz gab sich fürsorglich (Oma), streng (Teenager) und autoritär (Jungmänner) – er blühte regelrecht auf.

Doch dann der Waggon der ersten Klasse. Fast leer.

Fietz öffnete die Tür zum ersten Abteil. Eine Familie inmitten von Geschenkebergen, sichtlich auf der Heimkehr vom Weihnachtsshopping. Vater, Mutter, Knirps mit Elektronikteil. Familienticket. Besorgniserregend besonderheitenlos.

Das nächste Abteil war leer.

Dann stieß Fietz auf drei Männer in der festlichen Verkleidung von Rauschgoldengeln. Weiße Wallegewänder über den grobschlächtigen Körpern, strohblonde Wallelocken auf den kantigen Schädeln. Drei Einzelfahrscheine. Hatte alles seine Gültigkeit. Dass zwei der Männer je einen Glühweinbecher in der Hand hielten, war an sich noch keine zu ahndende Ordnungswidrigkeit. Jasper Fietz seufzte.

Wieder ein leeres Abteil und schließlich ein junger Mann mit Akne und dicker Brille, typischer Nerd, der ein kleines Köfferchen mit Atemschlitzen auf dem schmalen Schoß balancierte. „Mein Hamster“, rief der Brillenjüngling schon, da hatte Fietz noch gar nicht ganz die Abteiltür geöffnet. Das Köfferchen auf dem Schoß wackelte. Vorauseilender Gehorsam. Solche wie der hatten immer gültige Fahrausweise. Dieser folglich auch.

Fietz war enttäuscht. Er hatte auf einen Sucht-Raucher gehofft, der sich in der Ersten-Klasse-Toilette verschanzte. Auf einen Greis, der seine Fahrkarte nicht finden und den er abmahnen konnte. Aber nein. Ihn atmete die pure Langeweile an. Lauter vorbildliche Bürger. Na, vielleicht stieg am nächsten Haltebahnhof noch ein rauchender Schwarzfahrer zu.

Die Hoffnung stirbt ja immer zuletzt …

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„Rauschgoldengel! Echt ey, voll daneben!“

Murat Arslan schüttelte den Kopf. Seine blonden Polyesterlocken knisterten. Nicht nur er war geladen, seine Plastikhaare auch.

Kevin Schmüller schmollte. „Alles andere war schon weg.“

„Weihnachtsmänner. Wir sollten Weihnachtsmänner sein!“ Murat wollte Bart und Bauch haben und in männlichen, roten Samt gehüllt sein. Nicht in einen weißen Baumwollfetzen mit Puffärmeln und Goldbordüre. Er sah aus wie die Barbie-Puppe seiner kleinen Schwester.

„Ich sag doch, es gab sonst nichts mehr!“ Kevin verschränkte die muskulösen Arme in dem niedlichen weißen Rauschgoldkleid mit Schleifchen im Ausschnitt.

Heino Adam sagte nichts. Er fand sein schneeweißes Engels-Kostüm toll. Wenn er gekonnt hätte, er hätte leise und wohlig vor sich hingesummt und sich dabei die blonden Locken gestreichelt.

Mmmmmh …

„So kann doch kein Mensch arbeiten!“ Murat war noch längst nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er entstammte einer langen Reihe osmanischer Krieger, da stülpte man sich nicht einfach ein Kleid über und tat so, als wäre nichts. Man tat seinen Unmut kund. Oral und durch eine große Geste. Murats große Geste bestand darin, seinen Becher mit dem mittlerweile kalten Glühwein einfach in den Flur zu werfen. Eine Glühweinlache breitete sich aus und verbreitete ihren festlichen Duft nach billigem Südwein, Zimt und Gewürznelken.

„Nächstes Mal kannst du ja die Kostüme besorgen“, maulte Kevin.

„Und du kannst sicher sein, dass ich dann nicht mit billigen Frauenfummeln ankomme! Wir sehen aus wie Drag Queens auf dem Weg zu einer Christopher-Street-Day-Parade. Mensch, wenn mich wer sieht, der mich kennt, dann ist das doch voll peinlich!“

„Der Witz ist ja gerade, dass dich in dem Outfit keiner erkennt!“, hielt Kevin dagegen. Das war das letzte Mal, dass er mit diesem Macho Murat gemeinsame Sache machte. „Sag du doch auch mal was, Heino!“, verlangte er von seinem alten Kindergartenfreund.

Doch Heino schwebte in anderen Sphären.

mmmmmmmh …

Kevin sah wieder zu Murat. „Ich verstehe echt nicht, warum du dich so anstellst! Hat doch alles super geklappt. Außerdem konnte man unter den Kleidern die Pumpguns nicht erkennen. Ich find’s gar nicht so übel! Eigentlich find ich’s sogar genial!“

Murat brummte. Er presste sich die Tasche mit der halben Million Euro an den Rauschgoldengelbauch.

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Ingo Klein atmete regelmäßig. Regelmäßiges Atmen war total wichtig, wenn es um die seelische Harmonie seines Kleinen ging. Stoßatmung machte seinen Süßen wuschig. Ingo wusste, dass er sein Schoßtier eigentlich nicht im Zug hätte transportieren dürfen. Die Gesetzeslage und die anderen Reisenden waren ihm dabei schnurzegal, aber für seinen Kleinen war so eine Fahrt einfach zu stressig. Er würde bestimmt wieder tagelang nichts fressen. Aber Ingo konnte ihn unmöglich allein zu Hause lassen, während er die Weihnachtsfeiertage bei seinem verwitweten Vater urlaubte. Das brachte er nicht übers Herz. Sie waren unzertrennlich, er und sein Zorro.

Wobei Zorro natürlich kein Hamster war. Das war frech gelogen. Bitte, welcher erwachsene Mann hielt sich schon einen Hamster? Das hatte er dem Schaffner nur gesagt, damit der sich nicht aufregte.

Zorro war kein Hamster.

Zorro war ein hochgiftiger australischer Küstentaipan, die zweitgefährlichste Giftschlange der Welt.

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„Gott, ist das öde!“

Jaqueline Berger stand auf. In ihrer Jugend war sie auf der alljährlichen Kirmes drei Mal in Folge zur schönsten Frau Helmhausens gewählt worden. Sie war immer noch eine schöne Frau. Aber sie meinte förmlich zu spüren, wie ihr das Leben als Hausfrau und Mutter Tag für Tag Unze um Unze ihres Sexappeals wegzufressen drohte. Sie hatte sich Hotte Berger geangelt, der aber schon längst nicht mehr „hot“ war, sondern nur noch Herr Berger, Sparkassenfilialleiter mit Bauchansatz und Schütterhaar. „Ich hole mir im Bordbistro etwas zu trinken!“

Sie waren auf dem Weg zu seiner Mutter, einem unerträglichen alten Schrapnell. Aber nicht unvermögend. Solange sie noch lebte, wollte sie zu allen Festtagen ihren Enkelsohn sehen. Also hatten sie wie immer bergeweise hässlichen Krimskrams erstanden, den sie in wenigen Stunden optisch augenfällig unter der Nordmanntanne ihrer Schwiegermutter drapieren würden, um sich dann den Magen mit viel zu fetter Gans vollzuschlagen. Bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag mussten sie mit der Alten auf gute Laune machen. Hoffentlich fiel sie bald tot um. Oder bekam wenigstens Alzheimer, damit man sie ins Heim stecken konnte.

Jaqueline seufzte, strich sich eine blondierte, gehighlightete Extension-Strähne aus dem Gesicht und schritt hüftwackelnd zum Bistro.

Dort wurde sie von den wilden Hurra-Rufen der angetrunkenen Jungmänner begrüßt.

Jaqueline blühte auf.

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Der Schneefall nahm an Intensität zu. Bedrohlich dräuend erstreckte sich die Landschaft im festen Griff des Winters. Es war viel zu dunkel für die Uhrzeit.

Zugbegleiter Jasper Fietz blickte aus dem Fenster. Auf diesem Streckenabschnitt fuhr der Intercity sonst viel schneller. Na ja, der Lokführer würde sich schon bei ihm melden, wenn es Schwierigkeiten geben sollte. Aber was sollte es schon für Schwierigkeiten geben? Sie würden ja wohl kaum einschneien.

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Um exakt 14 Uhr 12 schneiten sie ein. Der Lokführer verständigte die Leitstelle und gleich darauf Zugbegleiter Fietz, dass aufgrund von null Sicht und meterhohen Schneeverwehungen die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Fietz fand das toll. Abenteuer pur! Knatternd teilte er diesen Umstand über die Sprechanlage seinen Gästen mit. Man konnte es im IC Kohlbrand kollektiv aufjaulen hören.

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„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

Murat tigerte in dem Erste-Klasse-Abteil auf und ab. Da er ein sehr großer Mann und das Abteil vergleichsweise winzig war, bestand das Tigern in einem Schritt nach vorn, umdrehen, ein Schritt zurück und fertig. Die Tasche mit dem Geld hatte er sich unter das Rauschgoldkleid geschoben. Er sah schwanger aus. Hochschwanger.

Kevin Schmüller schmollte immer noch wegen der Rauschgoldkostümsache. „Wir hätten eben nicht im Zug abhauen sollen. Welcher Bankräuber haut schon im Zug ab? Man nimmt einen Fluchtwagen, das weiß doch jeder. Der Cousin vom Heino hat einen Maserati, den hätte er uns bestimmt geliehen. Man flieht immer im Auto!“

„Eben! Weil es jeder so macht, machen wir es anders. Die Bullen werden nie auf die Idee kommen, in einem Zug nach uns zu suchen.“

„Jetzt sitzen wir hier aber fest. Und die Kostüme haben wir auch noch nicht entsorgt. Sobald hier einer auf seinem Smartphone die Lokalnachrichten abruft, fliegen wir auf.“ Kevin klang beinahe triumphal. Wenn Murat für seine kurzsichtige Planung eins auf die Schnauze bekäme, wäre ihm das sogar einen Knastaufenthalt wert. „Bist du nicht auch besorgt, Heino?“, erkundigte er sich bei seinem alten Freund.

Heino kuschelte sich in seinem Traum in Weiß ganz tief in das Sitzpolster.

mmmmmmh …

„Heino!“, rief Kevin.

„Mach jetzt hier bloß nicht auf Meuterei, Alter“, wandte Murat ein. „Wir müssen unser weiteres Vorgehen überlegen.“

„Was denn für’n Vorgehen? Wir müssen warten, bis der Zug weiterfährt. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Ich stapf doch nicht in der Pampa durch den Schnee!“

„Siehst du, deswegen bin ich der Kopf unserer Bande. Weil du nicht von A nach B denken kannst“, lästerte Murat.

„Ach, und du denkst wohl bis C, ja? Was soll denn C sein? Willst du den Zug entführen? Mit dem Intercity über den Brenner nach Italien durchbrennen, was?“, konterte Kevin verächtlich.

Murat baute sich vor ihm auf.

Kevin erhob sich.

Testosteron lag in der Luft.

mmmmmmh … machte Heino.

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„Ich will aber die neue Spielekonsole von Nintendo“, verlangte Fipps Berger alias Berger junior von seinem Vater. „Die alte ist voll doof.“

„Die alte tut es noch.“ Wolfgang Berger blätterte eine Seite um. Er hatte einige Personalakten mit in den Urlaub genommen. Zum neuen Jahr standen Freisetzungen an. Im Grunde hätte er sich nicht die Mühe einer Aktendurchsicht machen müssen, er könnte auch einfach Dartpfeile werfen oder würfeln. Er hatte fünfzehn Mitarbeiter in seiner Filiale, und zwei mussten weg. Die Müller natürlich, die nahm immer zu viel Parfüm. Und der Schmittke. Aus keinem besonderen Grund. Einfach nur, weil er der Schmittke war.

„Aber der Arbeitsspeicher der alten ist zu klein!“, erklärte Berger junior.

Berger senior brummte. „Ja, ja.“

„Papa, du hörst gar nicht zu!“, protestierte Fipps stinkig.

„Was?“ Berger schaute auf. „Natürlich höre ich dir zu! Wieso geht es denn nicht weiter? Warum steht der Zug? Und wo ist deine Mutter?“

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Verdammt, wo war Zorro?

Ingo Klein befand sich kurz vor dem Atemstillstand. Zorro war weg! Er hatte nur kurz einen Blick in den Transportkoffer werfen wollen, um sicherzustellen, dass sein Kleiner nicht unterkühlte, und da gähnte ihm das Innere des Köfferchens absolut leer entgegen.

Ingo sprang auf. Er hatte keine Angst, gebissen zu werden. Taipane waren scheue Kreaturen und sie bissen nur zu, wenn sie sich akut bedroht fühlten. Aber jetzt, da der Zug in der Schneewehe feststeckte, war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Heizung versagte. Und dann? Dann würde Zorro erfrieren!

„Zorro!“, rief Ingo besorgt und klopfte auf die Sitzpolster seines Abteils. „Zorro! Komm zu Herrchen!“

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Zugbegleiter Jasper Fietz marschierte durch die Wagen der zweiten Klasse. Er hatte seinen Elektro-Taser aus seinem Rucksack gefischt, um notfalls mit Gewalt für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aber er hatte sich zu früh auf Randale gefreut. Es war der Heilige Abend, den Menschen ein Wohlgefallen. Keiner regte sich auf. Wie so oft in Katastrophensituationen wuchsen die Betroffenen über sich hinaus. Wer etwas zu essen dabeihatte – Weihnachtsplätzchen, Christstollen, braunfleckige Bananen –, teilte es mit seinen Mitreisenden. Eine Gruppe übergewichtiger Matronen betätigte sich als Sternsingertruppe und intonierte inbrünstig sämtliche gängigen Weihnachtslieder, allen voran natürlich Last Christmas. Ein blasser Student bastelte Luftballontiere für die Kleinkinder in der Spiele-Ecke von Wagen fünf.

Fietz war enttäuscht. Aber noch war Hoffnung. Der Schneefall nahm immer mehr zu. Sie würden sicher noch eine Weile festsitzen. Mal sehen, wie die Massen drauf waren, wenn in ein paar Stunden der Strom ausfiel …

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Jaqueline Berger wusste nicht, wer die süßen Jungs waren oder wie sie hießen. Völlig egal. Endlich hatte sie wieder das Gefühl, eine betörend schöne Femme fatale zu sein, der die Männer reihenweise zu Füßen lagen. Buchstäblich. Zwei der Biertrinker konnten sich nämlich nicht mehr auf den Beinen halten und kauerten dümmlich grinsend unter dem Bistrotisch.

Der Kellner brachte noch eine Runde Bier.

„Auf ex!“, tirilierte Jaqueline.

Sie hatte seit Tagen nichts gegessen. Der fetten Gans ihrer Schwiegermutter musste mit konsequenter Null-Diät begegnet werden, sonst ging der Reißverschluss ihrer Jeans in Größe 36 nicht mehr zu, wie letztes Weihnachten.

Im Grunde hätte sie keinen Alkohol trinken dürfen, der ging sofort ins Blut. Und wenn schon Alkohol, dann kein Bier, höchstens eine Weißweinschorle mit viel Schorle und wenig Weißwein. Aber es fühlte sich großartig an, endlich wieder als Frau wahrgenommen zu werden. Sie war ja immer nur mit ihrem Sohn daheim und ging allenfalls zum Sport, und ihr Yogalehrer war schwul. Diese Jungs hier nicht. Sie spürte eine Hand auf ihrem Hintern.

„Prösterchen!“, quietschte sie und war glücklich.

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„Zorro! Komm zu Herrchen! Zorrolein!“

Ingo Klein hatte die Abteiltür geöffnet und sah erst nach links, dann nach rechts. Vorhin bei der Fahrkartenkontrolle, da musste ihm sein Zorro entwischt sein. Hm, mal nachdenken: Wenn er eine gefährliche Giftschlange wäre, wohin würde er sich schlängeln? Schlangen konnten kaum sehen oder hören, ihre Orientierung funktionierte über Vibrationen. Ingo legte sich auf den Boden und presste seine Wange auf das Linoleum. Ja, ja, es vibrierte …

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„Die Besoffenen liegen schon im Gang“, sagte Murat und schloss die Abteiltür wieder. „Wir sind hier sicher. Falls Bullen kommen, machen wir auf betrunken.“

„Toller Plan.“ Kevin schälte sich aus dem Rauschgoldengelkleid und nahm die Perücke ab. Das heißt, er wollte sie abnehmen. Aber sie wehrte sich. Ihm fiel wieder ein, dass sie ihm vor dem Bruch in der Bank ständig vom kahlrasierten Schädel zu rutschen drohte. Da hatte er sie eben fixiert. Hm. Er hätte keinen Sekundenkleber verwenden sollen.

Die beiden Männer standen sich immer noch auf 180 genervt gegenüber. Aus Heinos Ecke kam ein leise summendes mmmmmmh 

„Weißt du, mir reicht es allmählich, dass du an allem herumstänkerst. Wir sind jetzt eine halbe Million reicher als noch heute Morgen beim Aufwachen, dafür kann ich doch wohl mal ein Dankeschön erwarten.“ Murat war sauer. Seine Vorfahren im osmanischen Reich hatten sich zweifelsohne nicht mit derart undankbaren Subalternen herumschlagen müssen. Und falls doch, dann wären sie kurzerhand gepfählt worden. Der Gedanke an den gepfählten Kevin Schmüller ließ ihn grinsen. Dann fiel sein Blick auf Heino, der mit seinen fetten Wurstfingern zärtlich über die Goldkante seines Engelkostüms strich und sich im Sitz förmlich zu räkeln schien.

mmmmmmh …

„Großer Gott, was hat der denn?“

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Zugbegleiter Jasper Fietz patrouillierte durch seinen Intercity. Jeden Moment konnte die Stimmung kippen. Der Intercity stand nun schon fast eine Dreiviertelstunde im Schneegestöber, und das am Heiligen Abend. Gleich würde irgendjemand die Nerven verlieren, würde toben und rasen und verlangen, rechtzeitig zur Bescherung nach Hause zu kommen. Fietzens Finger umklammerten den Taser in seiner Tasche. Er war gewappnet.

Im Bordbistro knutschte eine nicht mehr ganz taufrische Blondine mit dem einzigen der biertrinkenden Jungmänner, der sich noch auf den Beinen halten konnte. Betonung auf noch.

Fietz betrat den Wagen der ersten Klasse. Der Brillenträger mit der Akne lag im Flur auf dem Boden. „Alles in Ordnung?“, fragte Fietz. „Suchen Sie Ihren Hamster? Ausgebüxt, was?“ Fietz griente.

Der Nerd sah auf. „Ja“, sagte er, obwohl sichtlich nichts in Ordnung war. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Haar klebte ihm an der verschwitzten Stirn. Fietz hätte die Angst riechen können, aber er roch nur Glühwein.

Aus den Augenwinkeln nahm Fietz eine Bewegung wahr. In dem Abteil direkt neben ihm stapelten sich kitschig verpackte Geschenkkartons. Dazwischen ein Mann mittleren Alters im Anzug, der in irgendwelchen Papieren blätterte. Daneben ein kleiner Junge mit einem Elektronikteil. Der Junge sah ihn intensiv an und legte das Elektronikteil zur Seite. Dann nahm er einen Stift und einen Schreibblock und schrieb etwas. Fietz wollte schon weitergehen, da hob das Kind den Block nach oben.

Das ist nicht mein Vater!, stand darauf geschrieben.

Die Lippen des Jungen formten nur ein Wort.

„Hilfe!“

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„Spinnst du, oder was? Lass gefälligst dieses obszöne Summen sein!“, befahl Murat.

„Lass den Heino in Ruhe!“, verlangte Kevin, der sich wieder hingesetzt hatte und an seinem Glühwein nippte.

Murat wirbelte herum. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit dieser ununterbrochenen Provokation war jetzt Schluss. Beim Herumwirbeln löste sich allerdings die Tasche mit der Beute und plumpste zu Boden. Murat wollte sich bücken und sie aufheben, da machte es ratsch.

Sein Rauschgoldengelkleid, das einen Tick zu eng saß, war im Rücken aufgeplatzt.

Kevin kicherte.

„Das hast du doch absichtlich gemacht!“, brüllte Murat.

„Was denn?“ Kevin grinste breit.

„Du hast absichtlich mein Kleid eine Nummer kleiner gekauft!“ Murat hatte einen knallroten Kopf. Gleich würde er explodieren. Oder er verschaffte sich Erleichterung. „Steh auf, wenn du ein Mann bist!“, brüllte er.

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Zugbegleiter Fietz wusste, was er zu tun hatte. Er nickte dem Knaben zu und formte mit den Lippen die Worte: „Keine Angst, Junge, alles wird gut, ich sorge für deine Sicherheit.“

Es waren eigentlich keine geformten Worte, mehr ein Auf- und Zuschnappen der Lippen wie bei einem Karpfen, und nicht einmal ein geübter Lippenleser mit jahrzehntelanger Erfahrung an einer Taubstummenschule hätte auch nur ansatzweise verstehen können, was Fietz meinte, aber das war Berger junior auch vollkommen egal. Fipps wollte sich nur an seinem verknöcherten Vater rächen. Dafür, dass er nie zuhörte. Dafür, dass er ihm nie die neuesten Gadgets schenkte. Und für einfach alles.

Fietz holte tief Luft, ließ erst die linke, dann die rechte Schulter kreisen und zog seinen Taser aus der Jackentasche.

Diesem perversen, pädophilen Kidnapper würde er es zeigen, den würde er mit 10.000 Volt in die Umnachtung schicken.

Fietz riss die Abteiltür auf.

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„N E I N!“, gellte Ingo Klein.

In dem Moment, als er seinen geliebten Zorro entdeckte – der sich ganz flach an die Bodenleiste im Gang drückte, völlig verschreckt, wie Ingo fand, aber auch so gut wie unsichtbar, da farbidentisch mit der Leiste –, wurden zwei Abteiltüren aufgerissen.

Vorn packte der Zugbegleiter einen mittelalten Mann am Revers und zerrte ihn in den Gang, während gleichzeitig Blitze aufzuleuchten schienen. Der Mann schrie wie am Spieß, der Zugbegleiter auch.

Zwei Abteile weiter wurde die Tür von zwei grobschlächtigen Kerlen geöffnet, die ihre Gesichter gegenseitig mit riesigen Fäusten malträtierten. Alle vier wurden in dem Augenblick zu einem einzigen Menschenknäuel zusammengewirbelt, als der Intercity Kohlbrand einen heftigen Ruck nach vorn machte. Die zentrale Leitstelle hatte eine weitere Lok geschickt, die den Zug aus dem Schnee ziehen sollte. Besagte Lok dockte derb an.

Fietz, Berger senior, Murat und Kevin landeten unsanft in der Glühweinlache auf dem Waggonboden.

Die Vibration ließ Zorro zu neuem Leben erwachen. Der Flur war sein Flur. Er züngelte.

„Nicht bewegen!“, kreischte Ingo aus Angst, die prügelnden Männer könnten seinen Zorro platt quetschen.

„Eine Schlange!“, kreischte Jaqueline Berger. Der letzte Jungmann war unter dem kombinierten Ansturm von zehn Flaschen Bier und den Zungenküssen der fremden Blondine zu Boden gegangen, da hatte sie sich ihrer Familie erinnert. Und nun stand sie im Gang und zeigefingerte auf die züngelnde Giftschlange.

Das Männerknäuel, in dem Lichtblitze aufleuchteten, weil Fietz den Taser im Dauerbetrieb betätigte, womit er einfach nicht aufhören konnte, weil er einen Krampf in der Hand hatte, rollte unaufhaltsam auf Zorro zu. Blonde Plastikhaare knisterten, Fäuste flogen. Von fern hörte man die Sternsingertruppe Süßer die Glocken nie klingen singen.

Zorro richtete sich auf und gab zischend eine letzte Warnung von sich.

Jaqueline fiel in Ohnmacht.

Ingo Klein stürzte nach vorn.

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Gemütlich zuckelte der Intercity Kohlbrand mit seinen beiden Loks durch die verschneite Landschaft. Vorbei an Einfamilienhäusern, die mit Lichterketten geschmückt waren und aus deren Kaminen sich weiße Rauchsäulen in den Himmel erhoben.

Allüberall herrschte Weihnacht.

Im Waggon der ersten Klasse herrschte Stille.

Tödliche Stille.

Jaqueline Berger war immer noch ohnmächtig.

Der Taser von Zugbegleiter Fietz hatte seinen Saft verschossen. Vier Männer lagen reglos im Glühwein. Hin und wieder zuckten unwillkürlich irgendwelche Gliedmaßen, Sabberfäden hingen ihnen aus den Mundwinkeln.

Ingo Klein hielt Zorro mit fester Hand direkt hinter dem Kopf und streichelte seinen kleinen Liebling. Hatte er zugebissen? Wenn ja, wen? Er stopfte Zorro liebevoll in das Transportköfferchen. Dann tastete er sich ab. Setzten schon erste Lähmungserscheinungen ein?

Fipps Berger lugte in den Flur. Dann stieg er über den bewusstlosen Körper seiner Mutter, den zuckenden Körper seines Vaters und schaute in das Abteil, in dem ein Mann in einem weißen Rauschgoldkleid mit strohgelben Locken saß und mmmmmmh machte. Auf dem Boden des Abteils stand eine Tasche. Geldscheine lugten aus dem nicht ganz geschlossenen Reißverschluss.

Fipps musste nicht lange überlegen. Seine neue Spielekonsole war gesichert …

Peng – und dann herrscht „Stille Nacht“

Der erste Schuss traf ihn schräg links neben dem Herzen, der zweite unmittelbar oberhalb des Bauchnabels. Er krümmte sich und schrie vor Schmerz wie ein waidwundes Tier. Gleich darauf zogen sich rote Schlieren nach unten, die auf dem frisch gestärkten Hemd umso deutlicher zu sehen waren. Der dritte Schuss ging voll in die Weichteile. Sein Schreien wurde noch animalischer. Der letzte Schuss streifte zwar nur seine Stirn, aber der Aufprall riss seinen Kopf zur Seite und ließ ihn heftig gegen die Backsteinmauer prallen. Dann war es still.

Maurizio Scarpettini, 54, Oberkellner bei einem Sterne-Italiener, verheiratet, vier Kinder, ging wie in Zeitlupe zu Boden.

Und stand nicht mehr auf.

Knecht Ruprecht schob seine martialische Waffe in den Sack auf seinem Rücken, in dem er auch die Mandarinen, Lebkuchen, Erdnüsse und Schokoladenküsse verstaut hatte. Dann strich er sich über den dunklen Rauschebart, rückte die Rute an seinem Gürtel zurecht, sah nach links, dann nach rechts und lief mit knirschenden Schritten durch den Neuschnee davon.

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Kommissar Stadlmayr kniete sich neben die reglose Männergestalt und seufzte.

Scarpettini war nun schon das vierte Opfer seit dem Vorabend des Nikolaustages. Und dabei war heute erst der siebte Dezember.

Immer waren es öffentliche Orte, an denen die ruchlosen Taten geschahen: eine Gasse, ein Vorgarten, ein Busbahnhof und jetzt die Raucherecke eines Szenelokals. Und jedes Mal wurde der Täter von mehreren Menschen gesehen und eindeutig identifiziert: Es war Knecht Ruprecht. Genau so, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt: im Fellmantel mit Bart, grimmig guckend, die Hand an der Rute. Stets bereit, unartigen Kindern eins überzuziehen. Nur hatte er sich für eine nachhaltigere Methode als die Reisigrute entschieden. „Orgien in Blutrot“, so hatte ein Streifenbeamter die Tatorte genannt.

Die Opfer waren ausnahmslos harmlose, gar als liebenswert zu bezeichnende Personen: eine ältliche Buchhändlerin, die in ihrer Freizeit einen Kinderchor leitete. Eine junge Hausfrau und Mutter, die außer ihren Sommersprossen nichts Auffälliges an sich hatte. Ein jovialer Busfahrer, ehemaliger Opernsänger, der die Fahrgäste mit seiner exzellent ausgebildeten Tenorstimme zu unterhalten pflegte. Und jetzt dieser Kellner, der bei seinen Kollegen als stets gut gelaunt und fröhlich galt.

Weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick gab es zwischen den Opfern irgendeine Verbindung. Der Fall war ein einziges Rätsel.

„Wer macht so was?“, fragte Stadlmayr kopfschüttelnd.

Er legte Scarpettini die Hand auf die rot getränkte Brust. „Wer, um Himmels willen?“, fragte Stadlmayr mit Blick in Richtung Himmel, aber von oben kam keine Antwort.

Dafür von unten.

„Isch ’abe keine Feinde“, erklärte Scarpettini aus der tiefer gelegten Horizontalen.

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Der Sanitäter ließ seinen Erste-Hilfe-Koffer zuschnappen und sagte: „Vermutlich Gehirnerschütterung, zwei angeknackste Rippen, Blutergüsse. Der wird wieder. Sicherheitshalber nehmen wir ihn aber zur Beobachtung mit ins Krankenhaus.“ Er winkte seinem Kollegen mit der Trage.

Stadlmayr wischte sich die rote Paintballfarbe mit einem Zellstofftaschentuch ab.

Scarpettini hatte es von allen am schlimmsten erwischt. Die ersten drei hatten nur Blutergüsse an den Extremitäten erlitten. So ein Paintball konnte ein gefährliches Geschoss sein.

„Das ist typisch für einen Serientäter – die Taten nehmen an Heftigkeit zu. Die Spirale der Gewalt wird schließlich unweigerlich in eine Erschießung münden“, dozierte Lennart Mäckler, Kommissar zur Ausbildung. Er trug immer einen Anzug. Mit Krawatte. Und Krawattennadel. Nur einer von vielen Hinweisen darauf, dass er in naher Zukunft Polizeichef zu werden gedachte. „Irgendwann reicht ihm Paintball nicht mehr, dann wird es ernst. Noch vor dem Fest wird er ins Einkaufszentrum laufen und im Blutrausch alle niederschießen. Denken Sie an meine Worte!“ Mäckler schürzte die Lippen und schaute kassandrisch, aber seine apodiktische Prophezeiung fand kein Gehör.

„Wir sind hier nicht in Amerika.“ Stadlmayr erhob sich mühsam – zwanzig Kilo zu viel, und das schon vor dem Fest –, während Scarpettini auf die Trage gehievt wurde.

„Sie haben also nichts gesehen, was uns einen Hinweis auf die Identität des Täters geben könnte?“, fragte Stadlmayr den stöhnenden Italiener. „Eine Tätowierung? Ein Muttermal?“

„Nein, er kame von ’inten. Isch ’abe eine geraucht und dabei vor misch ’in gesummt, als diese Schweinehund misch umgenietet ’at.“ Scarpettini fluchte noch ein wenig auf Italienisch. Das war gut gegen den Kopfschmerz. Sein Schädel brummte höllisch. Verdammte Backsteinmauer.

Die Sanitäter schoben ihn in den Krankenwagen.

Mäckler sah dem Krankenwagen, der sich mit Blaulicht, aber ohne Sirene entfernte, kopfschüttelnd nach. „Um was wetten wir, dass unser Täter in immer kürzeren Abständen um sich ballern wird? Das ist heute nicht das letzte Opfer.“

Er sollte recht behalten.

Stadlmayr ärgerte das maßlos. Noch mehr sogar als die Tatsache, dass ein Spinner seine Stadt unsicher machte.

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„Ich tippe auf Ausländerfeindlichkeit“, erklärte Mäckler keine zwei Stunden später.

Nur drei Straßen weiter hatte Knecht Ruprecht mit seinem Paintballgewehr einen jungen Tamilen umgenietet, der arglos vor einem Maronistand angestanden hatte. Seine Berufsschulhefte, sein iPod und eine Ansammlung angebissener Esskastanien lagen wild verstreut vor dem kleinen Holzstand.