Die Geheimnisse des Großen und des Kleinen,
des Makro- und des Mikrokosmos finden sich
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Kosmos der Philosophen

Er stand auf einer saftigen, dunkelgrünen Wiese, auf der Tausende von bunten Blumen blühten und über die Heerscharen von Schmetterlingen flatterten. Große und kleine, bunte und weiße. Während er noch über diese Pracht staunte, entdeckte er, wie ein alter, kleiner Mann mit Glatze und einem dichten Backenbart ihm freundlich zuwinkte. Es war der Grieche Sokrates, der den kleinen Paul auf dem Kosmos der Philosophen willkommen hieß. Das wusste der Junge aber nicht. Seine Schutzengel hatten es ihm nicht verraten. Jetzt lagen sie neben dem Jungen im Gras, blickten verträumt den Schmetterlingen nach, pflückten Blumen und flochten aus ihnen Kränze.

Der Philosoph sah den Jungen mit seinen klugen, dunklen Augen nachdenklich an.

„Es ist Unrecht, was dir geschehen ist,“ sagte er mit seiner tiefen Stimme.

Der kleine Paul nickte lebhaft.

„Endlich jemand, der das erkennt. Im Grunde war es nicht nur Unrecht, was mir geschah, sondern unerhört. Eine Schlamperei der Himmlischen Seelenkommission. Dabei soll ich zu unrecht über die Straße gelaufen sein, als die Ampel rot zeigte.“

„Du hast kein Unrecht getan, sondern du musstest Unrecht erdulden,“ meinte Sokrates, „das ist der entscheidende Unterschied. Aber lieber Freund: Was ist eine rote Ampel? Ich kenne nur rot gefärbte Lampen, die den Weg zu gewissen Etablissements weisen, wo Männer ihrer fleischlichen Begierde frönen können.“

„Das mit den Ampeln zu erklären, würde jetzt zu weit führen.“ Paulchen sah hilfesuchend zu seinen Begleitern, die sich aber nicht um ihn kümmerten. „Viel interessanter ist doch die Frage, wer Sie sind…?“

„Sokrates,“ antwortete der Grieche und senkte bescheiden die Stimme, „von der Nachwelt, vor allem von meinem Schüler Platon, auf einen Sockel gehoben, dessen Höhe mich schaudern lässt.“

„Ach so,“ meinte das Paulchen und kramte in seinem Schulwissen, „dann ist Ihre Frau diese gefürchtete Xanthippe…?“

Unwillig wische Sokrates diese Frage mit einer heftigen Handbewegung zur Seite.

„Vergiss alles, was Du darüber gehört hast. Meine Frau Xanthippe war eine durchaus ehrbare Frau, die auf Zucht und Ordnung hielt und meinen zu frühen Tod heftig beweinte. Wenn sie hin und wieder Haushaltsgeld anmahnte, Geld, was meine Schüler mir, meine Gutmütigkeit ausnützend, vorenthielten, so war das durchaus ihr gutes Recht.“

Jetzt mischte sich ein zweiter Grieche, auch er mit einem schlohweißen Backenbart, ins Gespräch.

„Ich bitte um Verzeihung, Meister, wenn ich zu widersprechen wage. Euer Weib Xanthippe hatte eine durchaus rustikale Art Honorare einzutreiben, auch wenn dieser unangenehme Eifer Eurem sanften Gemüt zutiefst widersprach.“

Sokrates lächelte milde.

„Platon, mein Lieblingsschüler, ohne dessen Existenz meine Art des Denkens nicht der Nachwelt überliefert worden wäre. Scheute ich mich doch dank meiner angeborenen Bequemlichkeit, Aufzeichnungen über meine Theorien, ganz zu Schweigen von meinen Reden, anzufertigen.“

Er seufzte.

„Traurig für einen Philosophen, vor allem wegen einer zänkischen Ehefrau und die Art seines Todes bekannt zu sein,“ meinte er.

Platon nickte.

„Du hättest dem Scherbengericht und dem Schierlingsbecher durch eine beherzte Flucht entkommen können, die Möglichkeit dazu war dir gegeben.“

Sokrates schüttelte bedächtig den Kopf.

„Dann hätte ich mich ins Unrecht gesetzt.“ Der Philosoph hatte jetzt eine sonderbar ernste, ja belehrende Miene aufgesetzt. „Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden, mein Platon, wie oft habe ich das schon im Schatten der Akropolis gelehrt. Oder hätte ich Unrecht tun, fliehen, Gesetze verletzen sollen? Was aber geschieht, wenn jeder meint, die ordnenden Gesetze nach eigenem Wohl und Meinung interpretieren zu können?“

Sokrates liebte solche Dialoge, in dem er durch Fragen sein Gegenüber bloß stellen konnte, ganz wie er es in seinem Prozess gegen den Ankläger Meletos getan hatte.

Paulchen sah bewundernd auf den alten Mann.

„Aber Sie hätten doch nicht den Giftbecher trinken müssen, Sie hätten doch um Gnade bitten können. Vielleicht wäre dann vieles in der Geschichte Athens anders gekommen.“

Sokrates spitzte die Lippen und begann wieder zu referieren.

„Der Richter nimmt nicht seinen Platz ein, um das Recht nach Wohlwollen zu verschenken, sondern um das gerechte Urteil zu finden. Er hat geschworen, nicht gefällig zu sein, wenn er gerade will, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen.“

Platon schüttelte resigniert den Kopf und seufzte, zog es aber vor zu schweigen. Zu oft hatte er mit Sokrates wegen der Umstände seines Todes diskutiert. Da mischte sich ein anderer Herr mit einem gewaltigen Schnauzbart ins Gespräch.

„Was bedeutet schon Wahrheit? Sie, verehrter Meister, hätten vor dem Scherbengericht alles, was man Ihnen vorwarf, leugnen müssen. Der verehrte Herr Kollege,“ er wies mit einem Kopfnicken zu Sokrates, „hat schlicht herrschende Moralvorstellungen übernommen statt eigene zu errichten. Er, im Besitz der Herrenmoral, hätte sich nicht mit Sklavenmoral gemein machen müssen.“

Es war Friedrich Nietzsche, der herrisch, keinen Widerspruch duldend, dröhnend das Wort ergriffen hatte.

„Ich hatte Mitleid mit meinen Anklägern,“ verteidigte sich Sokrates schwach.

„Mitleid ist eine Gefahr,“ entgegnete Nietzsche schroff, „es vermehrt das Leiden in der Welt. Aktive Mitfreude ist ein höherer und wichtigerer Wert.“ Der deutsche Freidenker verfiel in ein mürrisches Schweigen.

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind,“ murmelte ein älterer Herr, der sich zur der Gruppe gesellt hatte.

Platon blickte bewundernd zu ihm.

„Das ist Immanuel von Kant,“ sagte er zum Paulchen gewandt, „ein großer Aufklärer. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ war brillant, eine Sternstunde der Philosophie. Aber auch er hatte die Bürde der meisten Philosophen zu tragen: Die Zeit war noch nicht reif, um ihn wirklich zu verstehen.“

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen,“ bemerkte Kant leise.

Das Paulchen war fasziniert. So etwas Kluges hatte er noch nie gehört.

„Das geht schon seit über 200 Jahren so,“ seufzte Platon, zu dem Jungen gewandt.

„Unsinn,“ fuhr Nietzsche auffahrend dazwischen, „wir sind doch erst seit zwei Wochen hier.“

Platon schwieg und sah bedeutungsvoll zu Sokrates. Der legte seinen linken Zeigefinger auf die wulstigen Lippen. Es war offensichtlich, dass die beiden Griechen ihren Kollegen Nietzsche, der in seinen letzten Erdenjahren dem Wahnsinn verfiel, nicht reizen wollten.

René Descartes, der große französische Philosoph, der keuchend über die Wiese gelaufen kam und fast über die noch im Gras liegenden Schutzengel gestolpert wäre, schüttelte, schwer atmend, betrübt den Kopf.

„Ein trauriger Fall,“ rief er, „so ein klarer Denker, so ein tragisches Schicksal.“

Als der Franzose wieder zu Atem gekommen war, fügte er hinzu:

„Fast so tragisch wie das meinige.“

„Was war denn so tragisch an Ihrem Schicksal?“ fragte der kleine Paul neugierig.

„Nun, da du mich so direkt danach fragst, werde ich es dir mit Vergnügen berichten,“ begann Descartes gespreizt. „Ich war im Spätsommer 1649 an den Hof der schwedischen Majestät Christina geladen, um ihr meine philosophischen Kenntnisse darzulegen. Doch die Herrscherin weilte nicht in Stockholm, und erst in der zweiten Januarhälfte des kommenden Jahres geruhte mich ihre Majestät zu empfangen. Meist um fünf Uhr früh. Einer für mich höchst ungewöhnlichen Uhrzeit. Auch bekam das schreckliche Klima in Schweden meiner Gesundheit ganz und gar nicht. Ich erkrankte an einer Lungenentzündung und starb mit nur 54 Jahren. Viel zu früh.“ Descartes schnäuzte sich vor Rührung über seinen frühen Tod mit einem riesigen Taschentuch geräuschvoll die Nase, Seine Augen waren gerötet.

„Das tut mir aufrichtig leid,“ sagte Paul.

„Mitleid ist eine Gefahr,“ rügte ihn Nietzsche streng, „sagte ich das nicht bereits?“

„Nun seien Sie doch nicht so streng mit dem Jungen,“ mahnte ihn ein älterer Herr. Er stand mit einer blutgetränkten Tunika hinter dem deutschen Philosophen.

„Ich, Seneca, Senator, Römer von Geburt und Stand, habe mir auf Befehl des Kaisers Nero ohne zu zögern die Pulsadern aufgeschnitten und meinen Tod friedlich im Kreise meiner Freunde erwartet. Und ich jammere nicht so wie Sie, mein Herr,“ fügte er mit einem strengen Blick auf den Franzosen hinzu.

„Kaiser Nero war doch Ihre Kreation,“ bemerkte Descartes, „schließlich haben Sie den späteren blutrünstigen Tyrannen erzogen. Oder soll ich besser verzogen sagen?“

„Ganz so verhält es sich nicht,“ verteidigte sich Seneca, „schließlich zählte Nero bereits 16 Lebensjahre, als ich aus der Verbannung von der Insel Korsika zurückkehrte, um seine Erziehung zu übernehmen. Da war die Persönlichkeit Neros schon stark ausgebildet, auch seine Anlagen zur Tyrannei und Brutalität konnten nicht unbemerkt bleiben. Ich ermahnte ihn vergeblich zur Milde.“

Der große Seneca bedeckte vor Kummer seine Augen mit der rechten Hand.

„Sie sind eben ein klassischer Stoiker,“ bemerkte Zenon von Kition, zufrieden, sich auch einmal zu Wort melden zu können.

„Ganz sicher suchte unser Freund Seneca die Seelenruhe im Jenseits,“ bemerkte Epikur und nickte Zenon zu. Die beiden Griechen wirkten nicht nur wegen ihrer Ähnlichkeit wie Zwillinge. Sie traten auf dem Kosmos der Philosophen auch immer gemeinsam auf.

„Alles Humbug.“ Wie aus dem Boden gewachsen stand Jean-Jacques Rousseau in der Mitte der Männer. Seine Nasenflügel bebten vor Zorn.

„Vergiss alles, was Du bisher gehört hast, mein Junge. Erwachsene Menschen sind verlogen und schlecht, dabei sind sie von Natur aus gut. Es ist die Gesellschaft der anderen, die ihre Charaktäre verdirbt. Wahre Erfüllung wirst du nur in der Natur finden, wo dich nichts dazu verleitet, dein edles Gemüt zu verleugnen oder dich zu verbiegen. Sorge für dein Wohl mit dem geringfügigsten Schaden für die anderen, dann tust du recht. Denn der Mensch ist für Geselligkeit nicht geschaffen.“

„Hört, hört,“ sagte Kant.

„Niemals!“ bellte Nietzsche.

„Skandalös,“ fauchte Platon.

Nur Sokrates blieb ruhig und blickte mit der Gelassenheit eines Weisen auf Rousseau.

„Gott oder die Schöpfung oder die Natur hat uns mit Vernunft ausgestattet,“ nachdenklich blickte er vor sich hin, „was aber sollten wir mit der Vernunft anfangen, wenn wir sie nicht im Umgang mit unseres Gleichen einsetzen können oder sollen?“ Fragend sah er in die Runde.

Die Männer verstummten und dachten über die Worte des großen Philosophen, der die Abkehr von der Naturphilosophie bewirkt hatte, nach.

Plötzlich trat ein untersetzter, vollbärtiger Mann, der bisher stumm den Ausführungen seiner Kollegen gelauscht hatte, in den Kreis der Männer.

Nietzsche stöhnte auf.

„Karl Marx. Der Philosoph, der mit seinen unausgegorenem dialektischen Materialismus ganze Nationen ins Unglück gestürzt hat.“

Marx räusperte sich.

„Wie üblich urteilen Sie indifferent, Herr Nietzsche,“ sagte er tadelnd. „Missbrauch gibt es, seit Menschen die Erde bevölkern. Wenn jemand mit dem Bierkrug einen Menschen erschlägt, so ist nicht der Bierkrug der Schuldige, sondern der Mensch, der die Tat begangen hat.“

„Das leuchtet mir natürlich ein,“ meinte Kant, „aber Sie, der den Klassenkampf predigte, haben Zeit Ihres Lebens weder eine Fabrik von innen gesehen, noch die Armut in den Wohnbehausungen der Arbeiter von Manchester gerochen.“

„Nun,“ rechtfertigte sich Marx, „in Paris, Brüssel und London musste auch ich mit den Meinen oft das Brot der Entbehrung teilen. Wenn mein treuer Freund Friedrich Engels mir finanziell nicht immer wieder unter die Arme gegriffen hätte, es wäre schlimm ausgegangen mit uns.“

Nietzsche war noch immer nicht zu beruhigen: „Die größten Massenmörder der Geschichte, Mao Tse Tung, Stalin, Pol Pot – sie alle, mögen sie sich auf dem benachbarten Kosmos ihre blutrünstigen Schädel einschlagen – haben sich auf Sie berufen, während ihre Untertanen verhungerten oder abgeschlachtet wurden.“

„Ich will mich ungern wiederholen,“ sagte Karl Marx, nunmehr schon leicht gereizt, „ich habe stets nur immer wieder die Theorie vertreten, dass die Produktionsmittel den Arbeitern gehören sollten, desgleichen der Mehrwert, der durch ihrer Hände Arbeit geschaffen wurde. Natürlich habe ich gegen imperialistische Ausbeutung agitiert…“

„Sie waren naiv,“ mischte sich jetzt Rousseau mit gewohnter Heftigkeit ins Gespräch, „Sie, werter Monsieur Marx, hätten voraussehen müssen, dass, wenn Sie schrankenlosen Kommunismus predigen, durch die Aufhebung der Klassengegensätze, eine neue Klasse entstehen würde, die der Funktionäre. Schlimmer, brutaler, unmenschlicher als alle anderen zuvor.“

„In der Tat habe ich das nicht bedacht,“ Marx kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr, „vielleicht war es geschichtlich gesehen auch nicht ganz glücklich, dass ausgerechnet im reaktionären Russland meine Theorie ihre erste Bewährungsprobe erfahren sollte. Zudem konnte ich auch nicht voraus sehen, dass die kapitalistischen Staaten, von den kommunistischen nunmehr heraus gefordert, ungeahnte Sozialleistungen über die bis dahin ausgebeuteten Arbeitermassen verstreuten. Ohne diese Herausforderung, durch meine Theorien erst möglich gemacht, hätten die Kapitalisten die Arbeiterheere weiterhin in Knechtschaft und Abhängigkeit gehalten, davon bin ich fest überzeugt. Also habe auch ich durch meine Theorien, durch mein Wirken Positives bewirkt.“

„Alles gut und schön,“ meinte Nietzsche spöttisch, „Ihr Klassenstandpunkt hat Sie aber nicht davon abgehalten, selbst für Erzkapitalisten zu arbeiten. Waren Sie nicht für einige Zeit der Europa-Korrespondent der New York Tribune?“

Marx nickte. Seine Miene blieb unbewegt.

„In der Tat. Ich habe vor allem politische Analysen per Kabel nach New York geliefert. Lohnschreiberei eben. Einerseits ließ ich mich von den Wall-Street-Kapitalisten ausbeuten. Andererseits nutzte ich die publizistische Plattform, die mir geboten wurde, zur Agitation. Vom klassischen, von dem mir definierten Tauschwert her war ich derjenige, der profitierte. Zudem war es mir peinlich, fortwährend von Engels Geld erbitten zu müssen.“

„Nun ja,“ plötzlich wirkte Nietzsche, der einen hellen Augenblick erwischt hatte, versöhnlich, denn er bedauerte inzwischen Marx so zugesetzt zu haben, „zumindest in punkto Religionskritik sind wir ja einer Meinung. Ja, ich möchte sogar sagen, dass Ihre mutigen Äußerungen mir den Weg gewiesen haben. Stammt nicht der Satz: Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, von Ihnen?“

Marx nickte.

„Auch die Erkenntnis, Religion sei Opium für das Volk, habe ich formuliert. Die Kritik an der Religion ist Voraussetzung aller Kritik. Das ist meine feste Überzeugung.“

„Alles Teufelswerk.“ Der alte Mann, den das Paulchen bisher gar nicht bemerkt hatte, war erregt aufgesprungen, aus seinen dunklen Augen schienen Blitze zu zucken. „Ohne Gott seid ihr alle nichts,“ donnerte er in die Versammlung und setzte sich betont würdig auf einen Sessel, der aus gehärtetem Harz zu bestehen schien.

Der kleine Paul wandte sich fragend dem blonden Engel zu. Der nickte lächelnd und begann zu erklären:

„Das ist der Augustinus von Hippo, ein berühmter Kirchenlehrer. Er hat viele bedeutende theologische Schriften verfasst, die das Christentum enorm beeinflusst haben. Sein Kernsatz hieß: glaube, damit Du erkennst. Seine Philosophie enthält von Platon stammende, jedoch im christlichen Sinn modifizierte Elemente. Er hat das Denken des Abendlandes wesentlich geprägt.

Augustinus wurde 354 in der nordafrikanischen Stadt Thagaste in der römischen Provinz Numidien geboren. 384 ging er als Rhetoriklehrer nach Mailand, wo damals Kaiser Valentinian II. residierte. Eine seiner Aufgaben bestand darin, die öffentlichen Ehrenreden auf Kaiser und Konsuln zu halten. Doch schon bald hatte er sein Bekehrungserlebnis. Er hat es selbst beschrieben.

Zwei Jahre nach seinem Eintreffen in Mailand verließ er eines Tages, von einem Zustand religiöser Unruhe ergriffen, das Haus, in dem er zu Gast war, und ging in den Garten. Als ihm sein religöses Elend klar war, brach er in Tränen aus, legte sich unter einen Feigenbaum und sprach zu Gott. Plötzlich hörte er eine Kinderstimme, die immer wieder rief: „Nimm und lies“. Er verstand.

Gott gab ihm den Befehl, ein Buch aufzuschlagen und die Seite zu lesen, auf die sein Blick als erstes fallen würde. Er schlug die Paulusbriefe auf und las: Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wolllust und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern den Genügsamen zieht den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste. Nach dem Lesen dieser Stelle strömte in Augustinus das Licht der Gewissheit in sein Herz. Und als er weiter las: Des Schwachen im Glauben aber nehmt euch an, da wusste er um seine Bestimmung. Er zog mit einigen Freunden in die Nähe des Comer Sees und verfasste zahlreiche Schriften. Erst jetzt ließ er sich taufen und beschloss, fortan asketisch zu leben. Er kehrte nach Nordafrika zurück und die Gläubigen von Hippo drängten ihn, sich zum Priester taufen zu lassen. Dort, in Hippo, gründete er auch das erste Kloster auf afrikanischen Boden. 396 wurde er zum Bischof von Hippo berufen. Er führte weiterhin ein Leben in Armut und bekämpfte konkurrierende christliche Strömungen. Er diktierte Buch auf Buch. Am Ende seines Lebens waren es mehr als 100 Werke. Ungeheures Aufsehen erregten seine 22 Bücher „De civitate Dei“, einem wahrhaft weltgeschichtlichen Werk. In ihnen vertritt er die These, dass die Menschheitsgeschichte ein zusammen hängender Ablauf sei, ein ewiger Kampf zwischen Hochmut und Gehorsam. Zwei „Bürgerschaften“, die „civitqas dei“ und die „civitas diaboli“ stehen laut Augustinus vom Beginn der Welt an, seit der Ermordung Abels durch Kain, einander gegenüber. Vor allem sei das römische Reich und das in seiner Geschichte zutage tretende, rücksichtslose Streben nach Macht Inbegriff des Teufels. Aber der in der Kirche versammelten Schar der frommen Gläubigen, den Guten also, werde irgendwann der endgültige Sieg zufallen.

Dieses Werk, mein lieber Junge, ein Lieblingsbuch des Mittelalters, erregte schon zu Lebzeiten des Theologen großes Aufsehen. Es verlangte von den Zeitgenossen eine Revolution des Denkens, wurden doch in ihm die heiligsten Traditionen des glorreichen römischen Reiches grundsätzlich über Bord geworfen. Als Augustinus 430 starb, wurde seine Stadt seit Monaten von den germanischen Vandalen belagert. Kurz nach seinem Tod stürmten die wilden Krieger die Stadt und richteten ein blutiges Gemetzel an.“

Der Engel schwieg lange, dann wies er auf Augustinus und sprach: „Ohne ihn gäbe es die christliche Kirche, wie wir sie heute kennen, nicht.“

Das Paulchen wirkte nachdenklich. Für ihn bestand die Religion nur aus Geboten und Verboten. Er war katholisch getauft worden und hatte nie verstanden, warum er von seiner Mutter jeden Sonntag in die Kirche geschleppt wurde und etwas erdulden musste, was er im Grunde gar nicht verstand. Außerdem wurde ihm vom Weihrauch regelmäßig schlecht. Einmal hatte er sich sogar während des Gottesdienstes übergeben müssen. Das war seiner Mutter schrecklich peinlich gewesen und die Betenden um ihn herum hatten ihn entrüstet angestarrt. Seine Mama war, als es um die Verteidigung ihres einzigen Sohnes ging, richtig kratzbürstig geworden. Das hatte ihm gut getan. War er sich jetzt doch ganz sicher, dass seine Mutter immer auf seiner Seite stehen würde, auch wenn er etwas tat, das seiner Umwelt Abscheu einflößte. Von seinem Vater konnte er das nicht behaupten. Der hatte sich gleich nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht. Die Alimentenzahlungen kamen auch immer mit Verzögerungen.

Aber diese ganze, langweilige Liturgie in der Messe, die verhasste Beichte, die ihm besonders schwer fiel, wenn er wieder einmal Kleingeld aus der Börse seiner Mutter geklaut oder gotteslästerlich geflucht hatte; all’ das war ihm aus tiefstem Herzen zuwider. Er wusste zwar, was böse und gut war, aber brauchte es dafür einen Heiland, zudem noch einen gekreuzigten? Nein, mit Religion und alles, was damit zusammen hing, konnte das Paulchen nicht viel anfangen.

„Der Menschheit wäre ohne Jesus Christus und seiner Lehre viel erspart geblieben,“ murrte Karl Marx und ein wenig sprach er dem kleinen Paul aus der Kinder-Seele. Der revolutionäre Philosoph war einfach auf Krawall gebürstet.

Da meldete sich plötzlich ein kleiner Mann mit tiefen Augenringen zu Wort. Er hatte die Diskussion die ganze Zeit über aufmerksam verfolgt.

„Mein lieber Herr Marx,“ sagte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, denn um den handelte es sich, „Sie haben immer behauptet, auf meiner Philosophie aufzubauen. Dabei habe ich doch stets betont, dass die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen ausschließlich mit ihrer geschichtlichen Entwicklung zusammen hängt. Der von Ihnen so geschmähte, ja ich möchte sogar sagen verteufelte Kapitalismus gehört jedenfalls auch dazu.“

„Ein hundertprozentiger überzeugter Anhänger Ihrer Lehre war ich nie,“ verteidigte sich Marx, „stets habe ich das Staatstragende, das überproportional geschichtliche in Ihrer Philosophie abgelehnt.“

„Im Gegensatz zu Ihnen habe ich auch das Christentum nie so verdammt,“ bemerkte Hegel heiter, „deshalb protestiere ich auch auf diesem Kosmos unermüdlich dagegen, dass Sie sich auf mich berufen, wenn Sie Ihre abenteuerlichen Theorien, die im Übrigen so viel Leid über die Menschheit gebracht haben, verteidigen.“

„Marx kann nichts dafür,“ bemerkte der stark schielende Jean-Paul Sartre, „durch den Zufall seiner Geburt wurde er in seine Existenz geworfen und hat aktiv versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben.“

„Sie mit Ihrem ewigen Existentialismus,“ bemerkte Platon süffisant, „eine parfümierte Lehre, lediglich dem Zeitgeist entsprungen.“

„Aber er hat Prinzipien,“ verteidigte ihn Marx. „Ich zum Beispiel hätte den Nobelpreis angenommen, wenn er mir angeboten worden wäre. Diese finanzielle Unabhängigkeit hätte mir schon gefallen.“

„Ich wäre einem gesellschaftlichen Zwang unterworfen gewesen,“ erklärte Sartre müde, „in dieses kalte Stockholm fahren, mich in einen Frack zwängen, eine Rede halten, mich bedanken. Nein Danke. Allein das wäre schon gegen meine Natur gewesen.“

„Seine Bücher verkauften sich ziemlich gut,“ leichter Neid war aus Hegels Stimme heraus zu hören, „von den Auflagen hätten wir, werter Herr Marx, zu unserer Zeit nur träumen können.“

„Sartre und seine Seelenfreundin Simone de Beauvoir waren Salon-Kommunisten,“ es war Nietzsche, der sich wieder einmal energisch zu Wort gemeldet hatte, „sie hatten so wenig Ahnung vom wirklichen Leben der Arbeiter wie unser Freund Marx. Sie besaßen keine Augen, um zu sehen, keine Ohren, um zu hören. Sartre ließ sich kritiklos von Stalin einlullen und brach erst mit dem Sowjet-Kommunismus, als russische Panzer durch Budapest rollten und ein Blutbad unter den nach Freiheit dürsternden Ungarn anrichteten. Sogar Mao war für ihn und seine Gefährtin ein Held.“

„Ich habe mich immer für die Entrechteten dieser Welt eingesetzt.“ Sartre klang resigniert.

„Das mag stimmen,“ meinte Hegel milde, „aber immer schön kommod – von Ihrem Schreibtisch aus. Ihre Zeitgenossen hielten Sie stets für einen kleinbürgerlichen linken Intellektuellen, unbrauchbar für militärische Aktionen oder tatkräftigen Widerstand. Damit lagen sie wohl auch ziemlich richtig.“

Beleidigt begann Sartre Blumen zu pflücken und summte aus Trotz die „Marseillaise“, die französische Nationalhymne, vor sich hin.

„Ich war immer ein Patriot,“ bemerkte er bissig zwischendurch.

„Eben,“ sagte Nietzsche und sah sich Beifall heischend um.

Das Paulchen war verwirrt. So viele kluge Männer um ihn herum und ein jeder vertrat eine andere Meinung. Dabei waren sie doch alle berühmte Philosophen. Und doch konnten sie sich nicht auf eine Formel einigen. Sozusagen eine alles umfassende Weltformel.

„Meine Herren,“ der Junge nahm seinen ganzen Mut zusammen, „können Sie mir bitte eine Frage beantworten?“

„Wir werden uns bemühen,“ entgegnete freundlich Sokrates, dem von seinen Kollegen der meiste Respekt entgegen gebracht wurde.

„Warum können Sie sich nicht vertragen und eine Lösung ausarbeiten, die für alle Zeiten Frieden auf die Erde bringt?“

„Nun ja,“ Sokrates blickte milde auf das Paulchen, „kannst du mir verraten, warum du dich mit deinem Mitschüler Lothar geprügelt hast?“

„Weil er mich geärgert hat,“ entgegnete das Paulchen trotzig.

„Siehst du,“ bemerkte Sokrates, „da sind wir schon viel weiter. Wir prügeln uns nicht, sondern benutzen unseren Verstand, nicht unsere Fäuste, wenn wir unsere gegenseitigen Ansichten vorbringen. Geh’ auf den Kosmos der Diktatoren, dort wirst du Menschen treffen, die es anders gemacht haben.“

Fragend blickte das Paulchen zu seinen beiden Begleitern. Die nickten.

„Wenn du keine Angst hast,“ sagte der blonde Engel, „dann bringen wir dich dort hin, ohne Rücksprache mit dem Himmlischen Chefbuchhalter zu halten.“

„Wir nehmen es auf unsere Kappe,“ meinte der andere.

Als die Engel das Paulchen in die Mitte nahmen und entschwebten winkten ihnen die Philosophen nach.

„Ein angenehmer Besuch.“ Karl Marx lächelte still in sich hinein.

„Wie kann ein Besuch angenehm sein,“ erwiderte mürrisch Sartre, „doch höchstens die Person des Besuchers. Und die wiederum…“

Mehr hörte das Paulchen schon nicht mehr.

Kosmos der Diktatoren

Waren Stunden oder Minuten vergangen? Wie durch eine lange Röhre war das Paulchen geflogen, die Engel immer an seiner Seite, einem rötlichen Licht entgegen. Schließlich der harte Aufprall. Der Junge sah sich erstaunt um. Er schien auf einem Kasernenhof gelandet zu sein. Der Platz wurde von eintönigen, hässlich-grauen Plattenbauten eingerahmt. Auf den Dächern dieser Häuser waren riesige Scheinwerfer und Lautsprecher montiert. In den Lücken zwischen den Plattenbauten türmte sich meterhoher Stacheldraht. Rund um den Kasernenhof war eine riesige Leinwand aufgebaut. Dort knatterten ohne Unterbrechung Gewehrschüsse und Maschinengewehrsalven, schleuderten explodierende Granaten gewaltige Klumpen empor. Soldaten marschierten im Gleichschritt über Alleen, robbten durch schlammige Urwälder und fielen immer wieder brüllend und schießend übereinander her. In den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Szenen strahlten die Scheinwerfer gleißendes Licht auf den Hof, heulten schrill die Sirenen.

Dann wieder marschierten römische Legionäre, ausgerüstet mit Speeren und Kurzschwertern durch schier endlose Wüstengebiete, um schließlich kurz vor dem Erreichen einer Oase jämmerlich zu verdursten. In einer anderen Szene wurden halbnackte Männer und Frauen mit Teer bestrichen, gekreuzigt und angezündet. Als menschliche Fackeln dienten sie dem Volk als Straßenbeleuchtung.

Entsetzt wandte Paulchen seinen Blick ab.: Wo war er denn hier hingeraten? Suchend sah er sich nach seinen Engeln um. Da näherte sich ihm ein dicklicher Mann und sah ihn tückisch aus seinen wässrig-blauen Schweinsaugen an. Auf seinem kräftigen, runden Schädel ruhte ein Kranz aus Lorbeer-Blättern.

„Wie können Sie diesen infernalischen Lärm den ganzen Tag über ertragen?“, fragte der Junge entsetzt, „das ist ja alles ganz schrecklich hier. Diese schlimmen Szenen auf der Leinwand und überhaupt“ – das Paulchen wies auf den Stacheldraht, die Scheinwerfer und Lautsprecher, „das alles ist ja kaum auszuhalten. Wie lange geht das denn schon so?“

„Ich lebe hier schon seit fast 2000 Jahren,“ sagte der dicke Mann ungerührt, „inzwischen habe ich mich an all’ das gewöhnt. Bleibt mir ja auch nichts anderes übrig. Der Kosmos der Diktatoren ist nun einmal kein Kindergeburtstag. Ich aber wurde von der Himmlischen Seelenkommission irrtümlich hierher verbannt. Denn natürlich war ich kein Diktator, sondern Kaiser, Künstler und Wohltäter.“

„So, so.“ Das Paulchen hielt sich die Ohren zu, als auf der Leinwand gerade wieder eine Granate explodierte, um dann respektlos fortzufahren: „Sie sehen aber ulkig mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf aus, wer sind Sie denn?“

Der Mann räusperte sich und wirkte gekränkt.

„Schlimm, wie ungebildet heutzutage die Jugend ist.“ Vorwurfsvoll blickte er auf das Paulchen. „Zu meinen Lebzeiten hätten sich die Kinder vor mir in den Staub geworfen und unermüdlich Loblieder auf mich gesungen. Ich bin Lucius Domitius Ahenobarbus, auch Nero genannt, Kaiser von Rom, Herrscher über Gallien, Britannien, Spanien, Germaniens westlich des Rheins, Nordafrika, Kleinasien…“

„Ist ja gut,“ rief genervt der kleine Paul, „Diese ganzen Titel interessieren doch niemanden, Nero reicht doch. Obwohl Sie ja einen ziemlich schlechten Ruf haben, sehen Sie eigentlich ganz harmlos aus. Wie sind Sie denn auf den Kosmos der Diktatoren geraten?“

„Ich sagte schon, ein bedauerliches Missverständnis, vermutlich sogar eine schändliche Intrige,“ klagte der römische Kaiser und sein schlaffer Körper straffte sich, „eigentlich gehöre ich auf den Kosmos der großen Herrscher, zu Ramses, Alexander oder Saladin. Ich habe auch gerade wieder eine neue Petition verfasst und werde sie sogleich der Himmlischen Seelenkommission vorlegen.“

„Schon wieder,“ höhnte es im Hintergrund, „er kann es einfach nicht lassen. Das geht schon seit fast 2000 Jahre so.“

Paulchen blickte in die Richtung, von der die Stimme kam. Ein groß gewachsener Mann mit dichten, schwarzen Locken, auch er lediglich mit einem Laken bekleidet, doch im Gegensatz zum Kaiser Nero von dunkler Hautfarbe, winkte den Jungen zu sich.

„Komm her, mein Sohn,“ sagte er freundlich, strich mit der linken Hand bedächtig über seinen schwarzen Kinnbart und lächelte dem Paulchen einladend zu.

„An Deiner Stelle würde ich das nicht tun, Junge,“ warnte Nero, „Du hast es hier mit einem berüchtigten Kindesmörder zu tun.“

„Wirklich? Stimmt es denn, was Kaiser Nero sagt?“ fragte der kleine Paul erschrocken und wich ängstlich einen Schritt vor dem Bärtigen zurück.

„Du musst nicht alles glauben, was dieser Muttermörder von sich gibt,“ erwiderte Herodes. Er blickte verächtlich auf den römischen Kaiser. „Ich traf schmerzliche Entscheidungen aus Gründen der Staatsraison. Denn mir wurde aus zuverlässigsten Quellen gemeldet, dass in meiner unmittelbaren Nähe ein neuer König geboren worden war. Das konnte ich natürlich keinesfalls tatenlos hinnehmen. Und da keine meiner Frauen in jener Nacht einen Knaben zur Welt gebracht hatte, musste ich auf Nummer sicher gehen und ließ alle Knaben, die in Bethlehem in Betracht kamen, töten. Im Grunde eine Bagatelle und leider ohne den gewünschten Erfolg. Schließlich konnte dieser Jesus mit seinen Eltern entkommen.“

Er seufzte. Während Herodes sprach, liefen über die Leinwand ergreifende Bilder von der Befreiung des KZ Auschwitz, halb verhungerte Kinder starrten mit großen Augen in die Kamera.

„Ich habe ihn nicht erwischt, diesen Jesus,“ fuhr Herodes fort. „Der Menschheit wäre viel Leid erspart geblieben, wenn es mir gelungen wäre, ihn zu eleminieren. Ich sage nur ein Wort: Inquisition. Soviel Menschen, wie auf diesen Scheiterhaufen starben, habe ich nicht im Ansatz auf dem Gewissen.“

„Ja, diese Christen,“ bemerkte Nero verächtlich, „eine ganz merkwürdige Sekte. Verehren einen ans Kreuz geschlagenen Juden und weigern sich, den Göttern zu opfern. Ich habe sie zu Ehren ihres Heilands auch ans Kreuz schlagen lassen, eigentlich hätten sie mir dafür dankbar sein müssen.“ Er kicherte boshaft.

„Diese Juden,“ polterte es mit heiserer Stimme aus dem Hintergrund, „auch ich habe mit Hilfe der Vorsehung versucht, Europa von ihnen zu befreien.“ Auf der Leinwand warfen SAMänner Schaufenster ein, die mit einem weißen Davidstern gekennzeichnet waren. Soldaten marschierten mit Stechschritt durch Paris. Es heulten die Sirenen und die Scheinwerfer flackerten jetzt ohne Unterlass.

Der kleine Paul blickte sich um und sah Adolf Hitler. Der gefürchtete Diktator, der einen verheerenden Weltkrieg ausgelöst hatte und Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte. Der unendliches Leid über ganz Europa gebracht hatte.

„Wie,“ fragte das Paulchen den blonden Engel, „konnte es eigentlich passieren, dass dieser Mann so viel Unglück anrichten konnte?“

Der Engel zog den kleinen Paul an sich heran und begann vom Aufstieg und Fall dieses Mannes zu erzählen:

„Das Phänomen Hitler konnten sich viele Deutsche nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs auch nicht erklären. Aber du musst die Zeit bedenken, in der dieser Mann seine Anhänger um sich scharrte. Deutschland lag nach dem verlorenen 1. Weltkrieg am Boden und war durch den ungerechten Versailler Vertrag, der den Mittelmächten, also vor allem Deutschland, die alleinige Kriegsschuld zuschob sowie durch den ungeheuerlichen Reparationszahlungen zusätzlich gedemütigt. Der Kaiser hatte abgedankt und eine Sozialdemokratische Regierung die Macht im Reich übernommen. Für die Konservativen, Nationalisten und Militärs bedeutete das eine Provokation, die bekämpft werden musste. Schließlich noch die Hyperinflation, ausgelöst vor allem durch französische und belgische Truppen, die das Ruhrgebiet besetzt hatten und das Vermögen der bürgerlichen Klasse vernichteten. Der ideale Nährboden für einen Volkstribunen wie Adolf Hitler, der, das musste man ihm lassen, ein genialer Redner war. Er glaubte an die krude Idee eines germanischen Heldenfürsten, der – unfehlbar – das germanische Volk zur Weltherrschaft führen würde. Mit seinen nationalistischen Parolen gewann der gebürtige Österreicher, der sich vor dem Krieg in Wien als Kunstmaler durchschlug und im 1. Weltkrieg als einfacher Meldegänger Dienst geleistet hatte, immer mehr Anhänger. Schon 1921, also zwölf Jahre vor seiner Machtübernahme, wurde er Vorsitzender der NSDAP, der Nationalsozialistischen Partei.

Zwei Jahre später, 1923, versuchte Hitler mit einem dilettantisch geplanten Putsch von München aus die Weimarer Republik zu stürzen. Doch der Putsch scheiterte, der „Führer“ wurde vor dem Münchner Volksgericht des Hochverrats angeklagt und schließlich zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt. Dieses Urteil zeigte schon die damalige Stimmung im Lande, denn es war angesichts der Schwere der Tat lächerlich. Es kam aber noch schlimmer: Bereits im Dezember des gleichen Jahres wurde Hitler wieder frei gelassen. In der Haft schrieb er sein Buch „Mein Kampf“, das wohl die wenigsten gelesen haben. Denn eigentlich steht dort alles drin, was später zum Untergang Deutschlands führen sollte: Die geplante Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Europa, der Kampf um Lebensraum im Osten. Ein Machwerk, das übrigens den Privatmann Adolf Hitler und seinen Verleger, einem gewissen Herrn Müller, später zu Millionären machte, doch wurde es nach der Machtergreifung der Nazis in Millionenauflage gedruckt. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor.

Es kam zur Weltwirtschaftskrise, ausgelöst im Oktober 1929, als an einem einzigen Tag über 16 Millionen Aktien verkauft wurden und der Aktienmarkt in der New Yorker Wallstreet zusammen brach. Die Banken vergaben keine Kredite mehr, viele Fabriken und Firmen mussten Konkurs anmelden. In Deutschland versuchte der Reichskanzler Heinrich Brüning durch rapiden Sozialabbau gegen die Krise zu steuern. Dadurch explodierten die Arbeitslosenzahlen, die Politik radikalisierte sich, der Aufstieg der Nationalsozialisten wurde begünstigt. Die deutsche Schwerindustrie, die um ihre Profite bangte, sah in Adolf Hitler den Retter und unterstützte ihn finanziell. Am 30. Januar wurde er von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Nun überschlugen sich die Ereignisse. Den Brand des Reichstages, den die Nazis vermutlich selbst gelegt hatten, nahmen sie zum Vorwand, radikal gegen ihre Gegner vorzugehen. Sie peitschten – gegen die Stimmen der Sozialdemokraten – das Ermächtigungsgesetz durch das Parlament und rissen die Macht im Staat vollständig an sich. Mit Notverordnungen, Gleichschaltungsgesetzen, Organisations- und Parteiverboten zertrümmerten sie die pluralistische Demokratie, den Föderalismus und den Rechtsstaat. Politische Gegner wurden in schnell errichteten Konzentrationslagern inhaftiert – das erste stand übrigens in Dachau vor Münchens Toren –, gefoltert und ermordet. Als Präsident Hindenburg am 2. August 1934 starb, zog Hitler auch dessen Amt an sich und nannte sich fortan „Führer und Reichskanzler“. Die deutschen Juden wurden, wie es eigentlich nach der Propaganda auch zu erwarten war, schikaniert und ausgegrenzt. Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 unterfütterten dieses Vorgehen gegen sie auch rechtlich. Hitler rüstete die Wehrmacht gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages auf und ließ sie auf sich persönlich vereidigen. Ein Umstand, der vielleicht auch den 2. Weltkrieg verlängerte. Er besetzte das Rheinland militärisch und sonnte sich in der Popularität der Deutschen. Trotz des Terrors seiner Geheimpolizei, trotz der Konzentrationslager, trotz seines brutalen Vorgehens gegen die Juden. Aber die Arbeitslosenzahlen waren mittlerweile stark gesunken, den Leuten ging es gut, Hitler hatte die Schande des Versailler Vertrages vergessen gemacht. 1936 die Olympischen Spiele in Berlin und Garmisch-Partenkirchen: Die ganze Welt jubelte dem Führer zu. Noch nie waren die Spiele so aufwändig, so großartig gewesen. Und dann gewannen die deutschen Athleten auch noch die meisten Medaillen, sogar vor den Amerikanern. Jawohl, die Deutschen waren wieder wer. Wenn Hitler, nachdem er Österreich „heim ins Reich geholt“ hatte und den Tschechen das Sudetenland abgepresst hatte, wenn er es jetzt dabei belassen und seine Hetze gegen die Juden eingestellt hätte, vermutlich wäre er als einer der größten Deutschen in die Geschichte eingegangen.

Kennst du die Geschichte, wie der Skorpion vom Frosch über den Bach getragen werden möchte? Nein? Dann werde ich sie Dir erzählen. Also der Skorpion fragt den Frosch. Frosch sagt: Das mache ich nicht. Plötzlich stichst Du mich und ich bin tot. Sagt der Skorpion: Unsinn, dann ertrinke ich doch. Sagt der Frosch: Nun gut, komm auf meinen Rücken. Mitten während der Überquerung des Baches sticht der Skorpion den Frosch. Klagt der Frosch: Aber warum tust du das? Jetzt sterben wir beide. Sagt der Skorpion: Ich kann nicht anders, das ist meine Natur. So war auch Adolf Hitler. Er konnte nicht anders. Er war auf Eroberung und Krieg aus. Die ersten, umjubelten Erfolge schienen ihm sogar recht zu geben. Er tobte, als ihm die Engländer kampflos das Sudetenland überließen. Er hatte sich schon auf den Krieg eingerichtet. Er war im wirklichen Sinne ein Diktator, der der Umwelt seinen Willen aufzwang. Als die deutsche Wehrmacht in einem Blitzkrieg die Polen besiegte, Frankreich überrannte, Norwegen und Dänemark besetzte, da hielt er sich, nun wirklich größenwahnsinnig geworden, für den größten Feldherren aller Zeiten. Der Kult um ihn nahm bizarre Züge an. Niemand wagte mehr dem großen Führer zu widersprechen, um nicht die Karriere oder gar sein Leben zu gefährden. Man fürchtete seine hemmungslosen Wutausbrüche, seinen nachtragenden Charakter.

Der Krieg im Westen war aber nur ein Vorspiel für das eigentliche Ziel: Das deutsche Volk, davon war Hitler überzeugt und hatte das in seinem Buch geschrieben, benötigte Lebensraum im Osten: Er hatte es auf die fruchtbare Ukraine und die Ölreserven am Kaspischen Meer abgesehen.

Fast hatte er Russland am Boden, da setzte Stalin erfolgreich seine ausgeruhten sibirischen Elitetruppen vor Moskau ein, die Amerikaner lieferten Kriegsmaterial, die russischen Panzer- und Munitionsfabriken hinter dem Ural produzierten auf Hochtouren. Das konnte die deutsche Wehrmacht nicht kompensieren. Nach der Niederlage von Stalingrad war eigentlich klar, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Für Hitler kam eine Kapitulation aber nicht in Frage. Lieber riss er Millionen Menschen mit in den Tod, als sich den Realitäten zu stellen. Erst als die Lage aussichtslos und verzweifelt war, erschoss sich der Mann, der so viel Unglück über Europa gebracht hatte.“

Das Paulchen sah den Engel nachdenklich an.

„Glaubst Du,“ fragte der Junge, „dass so ein Mensch noch einmal an die Macht kommen und so schreckliche Dinge tun könnte?“

Der Engel lächelte und strich ihm sanft über den Kopf.

„Nein, das glaube ich nicht,“ sagte er. „Alles hat seine Zeit. Hitler konnte nur in den Wirren nach dem 1. Weltkrieg eine große Schar Anhänger mobilisieren. Alles war in Deutschland nach dem Rücktritt des Kaisers aus den Fugen geraten. Das kann nicht noch einmal passieren.“

„Mein Großvater ist in Stalingrad gefallen,“ erwiderte das Paulchen, „gerade erst einmal 22 Jahre alt. Die Oma hat seine Briefe aufgehoben und sie immer wieder meiner Mutter vorgelesen. Da war zunächst viel von Vaterlandsliebe und den Willen des Führers zu lesen. Später dann wurden die Briefe immer kürzer und trauriger. Zum Schluss stand nur noch drinnen, dass der Krieg doch bald zu Ende gehen möge und er, der Großvater, bald wieder bei seiner Familie sein wolle. Die Oma hatte immer Tränen in den Augen, wenn sie die Brief hervor kramte und sie las.“

„Dieser Krieg hat eine ganze Generation traumatisiert,“ sagte der Engel. „Als er dann vorbei war, hatten die Menschen nur eines im Sinn: Schnell vergessen, das kürzer gewordene Leben zu genießen und einen neuen, bisher nicht gekannten Wohlstand aufzubauen.“

Der kleine Paul warf seinem Begleiter einen kurzen Blick zu: „Die Leute, die diesem Hitler zugejubelt hatten, haben sich wohl geschämt und konnten im nach hinein nicht verstehen, warum sie auf diesen Scharlatan herein gefallen sind?“

„So ähnlich,“ meinte der Engel, „die Menschen haben im allgemeinen ein Problem damit, ihre Fehler einzugestehen.“

„Aber mein Großvater konnte doch gar nichts dafür. Der musste doch in den Krieg ziehen. Niemand hat ihn gefragt, ob er einverstanden war. Und diesen Hitler haben andere an die Macht gebracht, nicht er.“

Der Engel seufzte.

„Es war eine verratene Generation. Ihre Väter haben sie da hinein getrieben. Als sie dann aus dem Krieg zurück kehrten, nach der erlittenen Gefangenschaft meist als gebrochene Menschen, da waren sie verbittert und hatten, um zu überleben, ihr Innerstes verkapselt. Das Leid steckte in ihren Genen und sie haben es auf die nächste Generation weiter vererbt.“

„Geht das denn?“ Das Paulchen machte große Augen und dachte an seinen Vater, der sich nie für ihn interessiert hatte und den er lediglich am Tag seiner Einschulung einmal kurz gesehen hatte. Während die anderen Kindern nach der kurzen Einführung fröhlich mit ihren Eltern nach Hause gingen, war sein Vater plötzlich verschwunden gewesen, als er sich nach ihm umsah. Das hatte ihn unendlich traurig gemacht. Vielleicht hatte sein Papa auch die bösen Kriegsgene geerbt und wollte deshalb von ihm und von der Mutter nichts wissen.

Am Abend, als er im Bett lag, hatte er ein bisschen geweint und zu Gott gebetet, damit der Vater doch ein bisschen netter zu ihm und seiner Mama sein möge. Aber das hatte nichts geholfen. Auch deshalb war das Paulchen dem lieben Gott schon seit Jahren böse.

Der Engel blickte in die Ferne.

„Es gibt Dinge im Universum, die auch wir, die dem höchsten Wesen so nahe sind, nicht erklären können.“

„Trotzdem finde ich das unfair. Ich hätte meinen Großvater gern kennen gelernt. Und auch meinen Papa,“ fügte das Paulchen traurig hinzu und blickte vorwurfsvoll zu dem Engel. Der aber zuckte nur hilflos mit den Schultern.

„Es war eine Tragödie,“ Herodes hob anklagend beide Arme gegen den Himmel, „was dieser schreckliche Mensch meinem Volk angetan hat. Sechs Millionen Menschen wie krankes Vieh vergast.“ Drohend hatte der jüdische König die Faust gegen Adolf Hitler erhoben. „Schließlich bist du nicht königlichen Geblüts, sondern nur ein kleiner Anstreicher, dazu noch von einem diebischen Bergvolk abstammend. Und vergiss’ vor allem eines nicht: Auch ich bin ein Jude. Mein Volk nennt mich heute noch den ‚Großen‘, was man von dir nun wahrlich nicht behaupten kann. Oder bist du etwa stolz auf den Titel ‚Gröfaz‘ – Größter Feldherr aller Zeiten. Ein Titel, den dir deine dankbaren Untertanen verpasst haben, nachdem du sie in Elend, Schande und Armut getrieben hast.“

Adolf Hitler dachte nicht daran, klein beizugeben. Er giftete zurück: „In dir, Herodes, fließt kein Tropfen arisches Blut. Schon deshalb lasse ich mir von einem jüdischen Despoten nicht den Mund verbieten. Außerdem warst du auch nur ein Speichellecker der verkommenen imperialistischen römischen Aristokratie…“

Bevor Herodes wütend etwas entgegnen konnte, kam ihm Nero zuvor:

„Ganz recht, Herr Hitler, wir hatten in Rom einen luxuriösen Lebensstil. Nennen Sie unsere Lebensweise nur verkommen, Sie reden wie der Blinde vom Sonnenaufgang. Große Bäder, ganz aus feinstem Carrara-Marmor. Imposante Spiele im Colesseum, wochenlang, ausschweifende Gelage, die sich über mehrere Tage hinzogen. Leute niedriger Herkunft wie Sie werden niemals verstehen, was Luxus wirklich bedeutet. Was den Judenstaat angeht: Als ich das Imperium Romanum regierte, war Palästina ein lächerlich kleiner Vasallenstaat mit einer primitiven Bevölkerung, die einen unsichtbaren Gott anbeteten. Mit einem Schnipsen hätte ich dieses Land dem Erdboden gleich machen können.“

„Wenn Sie, Herr Nero, es nur getan hätten,“ schnarrte Adolf Hitler, „dann wäre das arische Blut in Europa rein und unvermischt geblieben. Und ich hätte in Auschwitz und auch anderswo nicht diesen enormen Aufwand betreiben müssen. Meine tapferen SS-Männer, die uns in den KZ’s vor den Volksfeinden schützten, fehlten letztlich an der Front für den Endsieg.“

Herodes wollte sich schon wütend auf den ehemaligen Führer des Deutschen Reiches stürzen, da stellten sich die beiden Engel, die plötzlich wie aus dem Boden geschossen neben dem Paulchen auftauchten, vor den jüdischen König und hoben gebieterisch die Arme. Kopfschüttelnd wandte sich Herodes ab.

Der kleine Paul hatte Hitler atemlos zugehört, aber jetzt wurde es ihm doch zu viel.

„Müssen Sie sich denn immer so heftig streiten? Sie benehmen sich ja schlimmer als mein Onkel Gustav, der sich ständig mit meiner Tante Marianne in den Haaren liegt. Sie streiten sich oft über die Regierung und was weiß ich noch. Alles dummes Zeug. Ganz bestimmt wollten Sie, Herr Hitler, und auch Sie, Herr Herodes und Herr Nero, nichts Böses anrichten, als Sie noch auf der Erde lebten.“

„Da bin ich mir nicht so sicher,“ dröhnte eine Stimme hinter Pauls Rücken und der Junge erblickte, nachdem er sich umgedreht hatte, die uniformierte Gestalt eines pockennarbigen Mannes, der sich ihm gemessenen Schrittes näherte. Ein gewaltiger Schnauzbart teilte das Gesicht in zwei Hälften und die dunklen Augen blitzten gefährlich.

„Du wirst mich nicht kennen,“ die Stimme des Mannes klang rauh, „meine Nachfolger, vor allem dieser undankbare Nikita Chrustschow, haben alles getan, um mich vor dem Volk schlecht zu machen. Ich heiße Stalin, Josef Stalin. Ein Mann des Friedens. Aber dieser… dieser Schreihals,“ er wies mit seinem tabakbraunen Zeigefinger auf Adolf Hitler „hatte immer nur Schlechtes im Sinn. Er, ein Todfeind der kommunistischen Idee, wollte mein geliebtes russisches Volk auslöschen. Er hat uns sogar als Untermenschen tituliert.“

„Mann des Friedens,“ höhnte Hitler, „dieser Stalin stammt aus Georgien und hat sein so genanntes geliebtes russisches Volk durch künstlich herbei geführte Hungersnöte fast ausgerottet. Von seinen blutigen Schauprozessen, die allein zu seinem Vergnügen abgehalten wurden, einmal ganz zu schweigen.“

Auf der Leinwand war Stalin jetzt in Großaufnahme zu sehen, wie er auf dem Roten Platz in Moskau seinen jubelnden Untertanen zuwinkte. In einer anderen Szene nahm er breit lächelnd die Parade seiner Truppen ab. Dann wankten wieder zerlumpte Bauern durch das Bild, offensichtlich dem Hungertode nah.

„Du hast wie immer keine Ahnung, Adolf,“ entgegnete Stalin kühl. „Erstens handelte es sich bei den von der Hungersnot betroffenen Menschen nicht um Russen, sondern um Ukrainer, die sich meinen Befehlen widersetzten. Sie weigerten sich, Kolchosen zu errichten und sperrten sich hartnäckig als es darum ging, ihr kümmerliches Land in Gemeinschaftsbesitz zu überführen. Natürlich musste ich sie durch Nahrungsentzug bestrafen, was blieb mir denn anderes übrig? Wenn ich meine Autorität nicht durchgesetzt hätte, wäre ich für meine Rivalen in der Partei angreifbar geworden, sie hätten mich mit Leichtigkeit beseitigt.