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Elke Pupke

Ein tödlich heißer
SOMMER

in Ahlbeck

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Prolog

Der Mann war weiß wie das Laken im Bett, neben dem er stand. Er presste die Frau mit aller Kraft an sich, ihr Gesicht an seiner Schulter. Stammelnd redete er auf sie ein, sinnloses Zeug. Er wusste selbst nicht, was er sagen wollte, sagen konnte. Es gab keine Worte für diese Situation. So sehr er es wollte, er konnte ihr nicht helfen. Er konnte nicht eindringen in ihren Kokon aus Schmerz und Entsetzen. Sie nahm ihn nicht einmal wahr, sie hörte nichts, sie sah nichts – nur ihr totes Kind.

Dann endlich konnte sie schreien. Sie schlug mit den Fäusten auf ihn ein. »Du bist schuld! Du warst bei deiner Geliebten, du hättest hier sein sollen!«

»Nein, nein, nein, hör auf!« Mühelos hielt er ihre Hände fest. »Niemand hat Schuld. Es ist einfach gestorben.«

»Nein! Sie war kerngesund! Wie kann sie jetzt tot sein? Sie ist nicht tot!« Mit einem plötzlichen Hoffnungsschimmer sah sie auf das Baby, das jetzt im Ehebett lag, nachdem sie es aus dem Kinderbettchen herausgerissen hatte. Sie wollte es anfassen, zuckte aber zurück und begann wieder zu schreien. »Du hättest bei mir sein müssen, nicht bei ihr!« Wut und Hass betäubten den Schmerz für einen Moment.

»Ich rufe jetzt einen Arzt.« Er versuchte, vernünftig zu handeln, einer musste es tun. Er ließ den eigenen Schmerz nicht zu – noch nicht. Er musste durchhalten, stark für sie sein. Er ließ sie los und wandte sich zur Tür.

»Ja, vielleicht – schnell, er muss ihr helfen. Sie ist nicht tot, nur …« Jetzt hatte sie das tote Baby doch in den Arm genommen. Es war bereits eiskalt. Er wusste, gleich würde sie wieder schreien. Aber sie sah ihn hoffnungsvoll an. Er konnte es kaum ertragen, konnte das Zimmer nicht verlassen.

Zwei Stunden später hatte er noch keinen Arzt geholt. Jetzt saßen sie beide auf dem Bett, sie hielt das Kind umklammert. »Sie nehmen es mir weg«, murmelte sie. »Sie werden es aufschneiden und verbrennen. Dann ist es weg, für immer. Ich halte das nicht aus. Bitte, hilf mir doch!«

Er war entsetzt, aber er dachte jetzt völlig klar. Sie hatte recht, sie würde es nicht aushalten. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie getan hatte; ob sie dem Kind etwas angetan hatte. Sie würde spätestens bei der Beerdigung durchdrehen. Sie würde das leere Kinderbett nicht ertragen. Und sie würde ihn nicht ertragen. Er liebte sie sehr, er wollte sie nicht verlieren, aber er wusste, das würde er jetzt.

Dann hatte er eine Idee, beinahe eine Eingebung. Die perfekte Lösung. Für seine Frau, für ihn selbst und für … Eine Möglichkeit, das traumatische Ereignis einfach ungeschehen zu machen. Ihr den Schmerz erleichtern. Oder ihn wenigstens für kurze Zeit zu betäuben.

Es war völlig absurd, das wusste er, aber war es nicht eine Chance? Er wollte darüber nachdenken, dann deutete er die Möglichkeit an und sie griff sofort zu. Er konnte nicht mehr zurück.

Erst Jahre später wusste er, dass das, was er für eine glückliche Lösung gehalten hatte, niemandem Glück gebracht hatte.

1

Samstag, 14. April

Es ist ein heller sonniger Frühlingstag, an dem Ina Jansen ihren Heimatort Ahlbeck nach langer Abwesenheit neu entdeckt. Ein Tag, an dem alles möglich scheint, wie geschaffen für einen Neuanfang.

Sie schlendert auf der Promenade entlang, bleibt immer wieder stehen, um ein Haus oder einen Baum zu betrachten oder einfach das Gesicht in die Sonne zu halten und die Glückshormone zu spüren. Vielleicht liegt es an der Sonne und der milden Brise, dass sie nur in lächelnde Gesichter sieht, ihr in sich vertiefte Liebespaare begegnen und die Rentner können auch endlich wieder auf ihren Bänken sitzen, denkt sie. Die Rabatten sind neu bepflanzt, farblich geordnet stehen die Blumen in Reih und Glied, Bänke und Zäune sind frisch gestrichen, die Wege geharkt. Die Fenster der Restaurants und Geschäfte sind blank geputzt, die Auslagen und einige Reklameschilder erneuert.

Es ist erstaunlich still. Immer, wenn sie an Ahlbeck gedacht hat, hatte sie Lärm und Hektik in Erinnerung. Aber es ist noch Vorsaison, wenige Gäste sind im Ort. Man kann in alle Richtungen weit sehen, die Menschen gehen langsam, sprechen leise, als wollten sie das Seebad noch nicht aus seinem Winterschlaf erwecken. Möwengeschrei und das Zwitschern der Spatzen sind die einzigen Geräusche.

Ina geht in einen Strandzugang hinein, bleibt an der Düne stehen und sieht auf das Meer. Ein großes, weißes Schiff, die Schwedenfähre, verschwindet langsam im Dunst am Horizont. Die meisten Strandkörbe warten noch in den Winterquartieren auf ihren Einsatz, die übrigen stehen unberührt, so wie ihre Besitzer sie hingestellt haben, ordentlich aufgereiht, mit Gittern verschlossen. Aber schon buddeln einige Kinder im trockenen weißen Sand.

Sie blickt nach links, auf die Ahlbecker Seebrücke. Und da ist es endlich, das Gefühl von Nach-Hause-Kommen, das sie schon den ganzen Tag erwartet hat, seit sie der Usedomer Bäderbahn entstiegen ist. Jahrelang hat sie unter Heimweh gelitten, sich immer wieder vorgestellt, wie es sein würde, aber dann erschienen ihr der Ort und die Menschen, einfach alles, so fremd.

Sie schließt für einen Moment die Augen, atmet ganz tief die Seeluft ein und blickt dann erneut zur Seebrücke hinüber – ihre Seebrücke mit dem roten Dach und den grünen Türmchen, viel schöner, als sie sie in Erinnerung hat. Ahlbeck. Zuhause!

Mit diesem Glücksgefühl geht sie jetzt beschwingt weiter auf der Strandpromenade. Ihr Rollkoffer klappert über das Pflaster. Noch tragen die Bäume keine Blätter, nur ein Hauch von Grün liegt auf den kahlen Zweigen. Tische und Stühle stehen bereits vor den Restaurants, aber noch sitzt dort niemand. Alles ist in Erwartung.

Ina fühlt sich in völliger Übereinstimmung mit ihrem Heimatort. Nicht ganz so aufgeräumt und blankgeputzt, aber offen und bereit für einen Neuanfang. Diese Aufbruchstimmung hat sie schon oft in ihrem Leben gespürt, besonders im Frühling – Birkengrün und Himmelblau, Frische und Duft, Hoffnung – und dann ein kalter Regenschauer, der alles zerstörte.

Hier, endlich wieder zu Hause, muss es gut gehen! Dieser herrliche Frühlingstag ist ein Zeichen für den Beginn eines schönen friedlichen Lebens. Kein Mensch kann immer nur Pech und Unglück haben, nicht einmal, wenn er zur Familie Kannenbach gehört.

2

Die Pension namens Daheim steht an der östlichen Strandpromenade von Ahlbeck, weit entfernt vom Zentrum, dort, wo es auch im Sommer etwas ruhiger und im Herbst und Winter beinahe einsam ist.

Ina bleibt am rostigen Tor stehen und mustert die schadhafte Fassade. Es macht alles einen recht verwahrlosten Eindruck. Den freundlichsten Anblick bietet noch ein blühender Forsythienstrauch, der an einer Hausecke den bröckelnden Putz verbirgt. Sie legt ihre Hand auf den Rahmen des niedrigen Tores. Das erwartete Quietschen bleibt jedoch aus, als sie es aufstößt. Mühsam schleppt sie den schweren Koffer die Stufen hinauf. Die große dunkle Haustür sieht wenig einladend aus, aber das nimmt sie jetzt gar nicht wahr. Sie öffnet sie schnell, der Koffer lärmt über den schwarz-weiß gefliesten Fußboden. Es ist kühl, dunkel und still.

Etwas irritiert bleibt sie stehen und sieht sich um. Eigentlich hat sie erwartet, dass ihre Tante schon an der Tür stehen und sie überschwänglich und freudestrahlend begrüßen würde. Es wird doch nichts passiert sein? Ach was. »Tante Rosi!«, ruft sie dennoch etwas ängstlich und bemüht fröhlich.

Plötzlich öffnet sich rechts von Ina eine Tür. Licht fällt in den dunklen Flur, dann ein mehrstimmiger Schrei: »Überraschung!«

Zuerst umarmt sie ihren Neffen Niklas, der sich wie immer rücksichtslos, aber herzlich in den Vordergrund drängt.

Seine Mutter Fiona lächelt verlegen und hat feuchte Augen, als sie wispert: »Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

Ina nimmt sie spontan in den Arm und blickt hinüber zu ihrer ältesten Schwester.

Nelda hat ein spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln. »Schön, dass du auch da bist!«, klingt aber dennoch aufrichtig.

Nelda hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Sie ist immer noch sehr schlank und sehr elegant, trägt eine dunkelblaue Marlene-Hose, das rote Muster auf der hellen Bluse harmoniert perfekt mit der Farbe ihrer High Heels und den sorgfältig manikürten Fingernägeln. Das glatte blonde Haar trägt sie als Pagenkopf, ganz ähnlich wie ihre jüngste Schwester.

›Meine Haare glänzen nie so schön und die liegen auch nie so gut‹, denkt Ina ein bisschen neidisch.

Allerdings kann Neldas Make-up nicht verbergen, dass sie 42 Jahre alt, also acht Jahre älter als Ina, ist.

Aber neben ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester wirkt Nelda beinahe jugendlich. Ina muss sich bemühen, ihr Erschrecken nicht zu zeigen, als sie Fiona erblickt. Dünn war sie schon immer, aber jetzt sieht sie hager aus. Sie scheint in der letzten Zeit viel abgenommen zu haben, ihre Kleidung wirkt fast, als gehöre sie jemand anderem. Dabei trägt wohl nur Fiona diese langen geblümten Röcke, in der Taille durch einen nicht passenden Gürtel gehalten und ein viel zu weites weißes T-Shirt. Die krausen langen Haare, die einmal leuchtend rot waren, sehen aus, als wäre sie an eine Steckdose angeschlossen und sind völlig grau geworden, aber am meisten erschreckt Ina das Gesicht. Ungeschminkt wie immer, aber so faltig und eingefallen, als wäre sie nicht 40, sondern mindestens 60 Jahre alt.

›Die sieht ja älter aus, als unsere Mutter‹, denkt Ina und lächelt bemüht. »Rosi hat gar nichts davon gesagt, dass ihr hier seid«, wundert sie sich. »Wo ist sie überhaupt?«

»Sie hat sich hingelegt, es war heute wohl alles ein bisschen zu viel für sie. Wir sollen sie wecken, wenn du da bist, dann will sie mit uns Kaffee trinken.» Fiona weist auf den gedeckten Tisch. »Oder willst du erst in dein Zimmer gehen und dich frisch machen? Niklas, bring doch mal Inas Koffer nach oben! Sie hat das linke Eckzimmer im ersten Stock.«

»Im ersten Stock, im Ernst?« Ina lässt sich in einen Sessel fallen, zieht ihre Schuhe aus und massiert sich stöhnend die Füße. Dabei sieht sie ihre Schwester Fiona erstaunt an. Deren Frage ignoriert sie, ebenso wie Niklas die Anweisung.

Nelda zieht einen Stuhl von der Kaffeetafel weg und setzt sich ebenfalls. »Wir wohnen alle im ersten Stock. Rosi vermietet die Zimmer nicht mehr, die Pension ist geschlossen.«

»Ach.« Ina schlüpft wieder in ihre Schuhe und sieht ihre Schwestern fragend an.

Eine Weile schweigen die drei Frauen. Sie denken darüber nach, was das zu bedeuten hat. Hat Rosi sie deswegen eingeladen? Will sie vielleicht das Haus verkaufen?

›Dann kommen wir gar nicht mehr nach Ahlbeck‹, denkt Ina. ›Eine Ferienwohnung oder gar ein Hotelzimmer kann sich wohl keine von uns leisten. – Na ja, Nelda vielleicht.‹

»Was ist denn nun? Soll ich Tante Rosi wecken? Ich hab Hunger«, mault Niklas. Trotz seiner 21 Jahre benimmt er sich noch immer wie ein verwöhntes Kind.

Fiona behandelt ihn auch so. »Ja, ja, geh schon! Ich mache uns Kaffee.«

Während sie aus dem Zimmer eilt, hält Nelda ihren Neffen am Arm fest. »Du bringst Inas Koffer hoch, ich wecke Rosi!«, befiehlt sie.

Im Gemeinschaftsbad im ersten Stock betrachtet sich Ina in dem fleckigen Spiegel. Was sie sieht, ist ein hübsches, herzförmiges Gesicht, mit hoher Stirn und einem kleinen, spitzen Kinn. Die großen, blassblauen Augen und eine Stupsnase verleihen der Vierunddreißigjährigen noch immer ein etwas naives, beinahe kindliches Aussehen. Von der Schminke, die sie heute Morgen aufgetragen hat, ein wenig Wimperntusche und rosa Lippenstift, ist nichts mehr zu erkennen. Ina befindet, dass sie alt und müde aussieht.

Ihr Optimismus ist verflogen. Sie hatte sich auf Ahlbeck gefreut, hatte gehofft, dass sie über den Sommer hierbleiben und in der Pension ihrer Tante arbeiten und wohnen könnte. Wie gern hätte sie wieder in der kleinen Kammer direkt unter dem Dach geschlafen, wo man weit über das Meer sehen kann, wenn man den Kopf aus der Luke steckt, und wo es manchmal durchregnet. Jetzt ist sie in dem großen Eckzimmer untergebracht, das vorher nur an die besten Gäste vermietet wurde. Das bedeutet doch wohl, dass sie nicht allzu lange, jedenfalls nicht über Sommer, hierbleiben darf. Und warum sind ihre Schwestern auch hier? Was hat Rosi vor? Mit Sicherheit findet sie es nur heraus, wenn sie jetzt nach unten zur Familie geht.

Ina wäscht sich gründlich die Hände, kämmt langsam die kurzen blonden Haare, überlegt, ob sie ihr Make-up auffrischen sollte, entscheidet sich aber dagegen. Dann geht sie doch noch einmal in ihr Zimmer, öffnet den Koffer, tauscht den Pulli gegen eine Bluse und wechselt die Schuhe.

Sie schaut kurz aus dem Fenster hinaus auf die Ostsee. Wie gern würde sie hierbleiben, am liebsten für immer. Aber natürlich steht ihr wieder eine Enttäuschung bevor. Wie schon so oft in ihrem Leben. Immer wenn sie dachte, jetzt würde alles gut werden, und Pläne für die Zukunft machte, fiel sie wieder auf die Nase. Dass Rosi die Pension nicht mehr weiter betreibt, war ja eigentlich abzusehen. Das Haus ist mittlerweile eher eine Bruchbude. Wahrscheinlich muss es demnächst abgerissen werden. Kurz denkt Ina an Geld. Selbst das Grundstück hier direkt an der Strandpromenade muss einen Riesenwert haben. Rosi hat zwar eine Tochter, aber zu der hat sie schon lange keinen Kontakt mehr. Oder ist die vielleicht wieder aufgetaucht? Ansonsten sind ihre drei Nichten und deren Mutter, Rosis Schwester, ihre nächsten Verwandten. ›Aber sie ist ja noch nicht tot.‹ – Ina schämt sich für ihre Spekulationen. Rosi wird das Geld für sich selbst brauchen, für eine kleine Wohnung oder ein Pflegeheim. Das wird es dann wohl auch sein, was sie ihnen mitteilen will.

Gewohnheitsmäßig greift Ina nach dem Zimmerschlüssel, schüttelt dann aber den Kopf und lässt ihn in der Tür stecken. Es sind keine Fremden im Haus. Sie läuft schnell die Treppe hinunter und betritt betont munter das Speisezimmer ihrer Tante.

Die sitzt bereits am Kaffeetisch und versucht, mithilfe einer Krücke aufzustehen, als ihre Nichte an sie herantritt, lässt sich aber stöhnend zurückfallen.

Ina, die ihre Tante als agile, resolute und attraktive Dame in Erinnerung hat, bemüht sich, ihr Entsetzen nicht zu zeigen. Es ist doch noch keine drei Jahre her, dass sie zum letzten Mal hier war. Es scheint aber, als wäre die Frau inzwischen um Jahrzehnte gealtert. Das ehemals dunkel glänzende Haar ist grau und zottelig, nachlässig zu einem Alte-Frauen-Knoten zusammengesteckt. Die unkleidsame Strickjacke erscheint zu groß für den schmalen, gebeugten Körper. Das Gesicht, das Ina heute zum ersten Mal ungeschminkt sieht, ist grau und faltig. Vorsichtig umarmt Ina die alte Frau und sieht sie dann erschrocken an. »Hast du Schmerzen, Tante Rosi? Bist du gefallen?«

»Nein, nein. Das ist nur das Alter. Mal geht es besser, mal schlechter. Heute ist kein so guter Tag. Aber macht euch keine Sorgen, das wird schon wieder. Nun setzt euch endlich hin, wir wollen Kaffee trinken!«

Ina setzt sich neben ihre Tante an den Tisch. Niklas hat sich bereits ein Stück Kuchen genommen und beißt beherzt hinein, ohne auf den Kaffee zu warten, den Nelda gerade einschenkt. Fiona lässt sich neben ihrem Sohn nieder. Sein schlechtes Benehmen ignoriert sie.

›Wahrscheinlich bemerkt sie es gar nicht mehr‹, denkt Ina. ›Es ist ja auch sowieso zu spät, ihn zu erziehen.‹

Sie blickt sich in dem großen Zimmer um. Früher war das der Speiseraum. Jetzt wirkt alles sehr provisorisch. Drei kleine Tische wurden zu der Kaffeetafel zusammengestellt, weitere Tische und Stühle sind an die Wände geschoben worden. Das lange Sideboard, auf dem sonst das Frühstücksbüfett angerichtet wurde, sieht schäbig aus, eine moderne, aber billige Kaffeemaschine und einige Tassen stehen darauf. Durch die hohen Fenster kann man die Dünen und einen Strandzugang, aber nicht das Meer sehen. Die alten Gardinen wirken frisch gewaschen, hängen aber viel zu dicht und stören den Blick auf die Promenade. Der Eingangstür gegenüber führt eine andere Tür in die Küche.

Die Stimmung am Tisch ist etwas gedrückt. Nur Niklas greift unbefangen nach dem zweiten Stück Kuchen, bevor die anderen überhaupt mit dem Essen begonnen haben.

Neldas Miene ist undurchdringlich wie immer.

Fiona sieht ihre Schwestern und dann ihre Tante beinahe ängstlich an, räuspert sich, als wolle sie etwas sagen, schweigt dann aber und nippt an ihrem Latte macchiato.

Rosi trinkt in aller Ruhe ihren Kaffee, dann lehnt sie sich zurück, blickt ihre Nichten der Reihe nach an und lächelt plötzlich. »Was sitzt ihr da, wie die Gänse, wenn es donnert? Habt ihr Angst, dass ich die Hütte verkaufe und ihr habt keine Unterkunft mehr in Ahlbeck?« Sie wartet einen Moment lang.

Nelda blickt misstrauisch. Ina und Fiona schauen sie eher verlegen an.

»Und wo soll ich dann hin? Ins Seniorenheim mag ich nicht, da sind nur alte Leute.« Rosi wird ernst. »Nein, Kinder, ich möchte hierbleiben, so lange wie es eben geht. Aber ihr seht ja selbst: Gäste kann ich hier nicht mehr aufnehmen. Verkaufen wäre das Vernünftigste, aber ich kann mich wirklich nicht dazu überwinden. Ich habe seit Jahren nichts mehr investiert, weil ich einfach nicht wusste, wie es weitergeht. Dadurch habe ich aber auch ein bisschen was gespart und es nicht unbedingt eilig, eine Entscheidung zu treffen. Ich wollte im Alter immer reisen, vielleicht eine Kreuzfahrt machen und mein Leben genießen. Aber damit habe ich zu lange gewartet und jetzt keine Kraft und auch keine Lust mehr. Alles, was mir jetzt noch geblieben ist, das seid ihr.«

Ina schluckt, vor Mitleid steigen ihr Tränen in die Augen. Sie hat Rosi immer als vitale und selbstbewusste Frau gesehen. Sie hat alles gewusst, alles entschieden und sich um alles gekümmert. Auch um ihre Nichten. Wie oft hat Ina sich als Jugendliche bei ihr ausgeweint, wenn mal wieder alles schiefgelaufen war? Wenn sie nicht mehr weiter wusste, fuhr sie nach Ahlbeck, zu Tante Rosi, da fand sie Trost und Rat und Kraft. Ihren Schwestern ging es vermutlich ähnlich, auch sie waren manchmal in Ahlbeck.

Untereinander haben sie kein so enges Verhältnis, sie sehen sich nicht mehr so oft. Auch in Ahlbeck waren sie immer zu unterschiedlichen Zeiten und immer nur für einen kurzen Besuch, ein oder zwei Nächte, länger hat sich keine von ihnen hier aufgehalten, seit die Familie vor siebenundzwanzig Jahren den Ort verlassen hat.

Liebevoll betrachtet Rosi die drei Frauen und den jungen Mann, dann fährt sie betont munter fort: »Macht euch keine Sorgen, Kinder! Ich will hier zwar kein Geld mehr reinstecken, aber ich verkaufe auch nicht. Ich habe mir genau überlegt, was ich will: meine Ruhe. Und meine Familie um mich herum. Ich will einfach den Sommer genießen, vielleicht ist es ja der letzte für mich. – Nun guckt nicht so erschrocken! Ich falle nicht gleich tot um, vielleicht lebe ich auch noch zwanzig Jahre, wer weiß das schon. Also, was ich sagen will: Ich möchte, dass ihr hierbleibt. Ihr könnt im Haus wohnen, ich gebe jeder von euch auch etwas Überbrückungsgeld für den Anfang.« – »Ja, ja, ich weiß«, wehrt sie die Proteste ab, »ihr wollt das nicht, aber ihr hattet ja auch Ausgaben und ich kann es mir leisten.«

Das weitere Kaffeetrinken verläuft schweigsam, jede der vier Frauen ist mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Niklas versucht einen Scherz, der nicht ankommt, dann geht er nach draußen, um zu rauchen.

»Ich gehe mich mal umziehen«, verkündet Rosi. »Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang auf der Promenade machen. Vielleicht wollt ihr mich begleiten? Aber ihr könnt in Ruhe euren Kaffee austrinken, bei mir dauert es eine Weile.«

Die Schwestern beobachten, wie ihre Tante mühsam aufsteht und mithilfe ihrer Krücke aus dem Zimmer humpelt. Ihre Wohnung befindet sich auf der anderen Seite des Hausflures.

»Wann hat sie eigentlich so abgebaut?«, fragt Ina leise, nachdem die Tür geschlossen ist.

»Keine Ahnung.« Fiona zuckt mit den Schultern. »Als ich vor zwei Jahren hier war, hat sie zwar auch schon über das Treppensteigen gejammert, aber sonst ging es ihr noch gut. Dachte ich jedenfalls.«

»Ich bin auch erschrocken«, gibt Nelda zu. »Über ihren Zustand, aber besonders über ihre Bemerkung ›Vielleicht ist es mein letzter Sommer‹. Ist euch das nicht aufgefallen?«

Ina hat gleich wieder Tränen in den Augen. »Ja, natürlich! Und sie lässt sich in ihrem Äußeren absolut gehen, als hätte sie sich aufgegeben. Glaubst du, sie ist ernsthaft krank? Aber – das würde sie uns doch sagen, oder?«

»Keine Ahnung, wohl eher nicht. Aber was machen wir jetzt? Wollt ihr hierbleiben?«

»Ja natürlich, das müssen wir doch. Wir können sie doch nicht alleinlassen, wenn sie uns schon bittet. Und wenn sie wirklich … Also, das sind wir ihr doch schuldig!«

»Ja, ja, nun krieg dich wieder ein!«, unterbricht Nelda Fionas Gestammel. »Die Frage ist doch nur, ob wir das so ohne Weiteres können. Wie sieht es denn bei euch aus?«

»Ich kann sofort hierbleiben«, erklärt Ina. »Das hatte ich sowieso geplant. Eigentlich wollte ich Rosi im Haus helfen. Sie hat so was angedeutet, als wir das letzte Mal telefoniert haben. Aber als Verkäuferin finde ich hier in der Saison bestimmt einen Job.«

»Ja, ich kann auch, ich habe als Aushilfe in der Kita gearbeitet, ich muss nur noch mal nach Hause, wegen der Wohnung, und ich brauche meine Sachen. – Ob ich hier Arbeit finde? Und Niklas? Der muss aber auch hierbleiben.«

»Ja, ja.« Nelda winkt ungeduldig ab. »Natürlich kann der hierbleiben, ist ja Platz genug. Und Arbeit findet hier jeder, der arbeiten will.« Den kleinen Seitenhieb auf Fionas faulen Sohn kann sie sich nicht verkneifen. »Ich muss natürlich noch einmal zurück nach Brandenburg, ich kann die Kanzlei nicht so von heute auf morgen verlassen, die Kündigungsfrist muss ich schon einhalten. Aber eigentlich passt es mir ganz gut. Ich wollte mir sowieso etwas Neues suchen. Steuerberaterinnen brauchen sie hier ja sicher auch.«

Nelda stellt das Geschirr zusammen und bringt es dann in die Küche.

Fiona will auch aufstehen, aber Ina nimmt ihre Hände und sieht ihr in die Augen. »Freust du dich?«, fragt sie leise. »Bist du gern in Ahlbeck?«

Ihre Schwester nickt zögernd. »Wenn es Rosi nur besser ginge. Aber ja, – natürlich – ich habe immer Heimweh nach Ahlbeck. Ich würde so gern hierbleiben. Du auch?«

»Ja. Ich war ja erst sieben, als wir hier weggezogen sind. Aber trotzdem, Ahlbeck – das ist für mich Zuhause: Kindheit, Familie, heile Welt – ja, ich möchte auch hierbleiben«, gibt Ina zu.

Über den wichtigsten Grund, dass sie es in dem Dorf bei Rostock, in dem sie bis vor Kurzem glücklich mit ihrem Mann gelebt hat, nicht mehr aushält, mag sie nicht reden. Aber ihre Schwester, die ebenfalls schon Witwe ist, ahnt es, sie fühlt genauso.

3

Als älteste der drei Schwestern fühlt Nelda sich immer ein wenig für die anderen verantwortlich. Fiona ist zwar nur zwei Jahre jünger, besitzt aber keinerlei Selbstbewusstsein und bekommt nicht einmal ihr eigenes Leben auf die Reihe. Mit Ina verhält es sich genauso, obwohl sie stärker als ihre große Schwester wirkt. Aber sie ist eben das Nesthäkchen der Familie. Nicht, dass sie deswegen verwöhnt wurde, im Gegenteil. Nelda und Fiona haben in Ahlbeck eine unbeschwerte Kindheit in einer glücklichen, fröhlichen Familie erlebt. Die gab es nach dem Umzug aufs Festland nicht mehr. Den Eltern gelang kein Neuanfang, beide hatten gesundheitliche, aber auch finanzielle Probleme. Über die Gründe, warum die Familie die Insel verlassen hat, wurde nie offen gesprochen. Nelda hatte Gerüchte über ihren Vater gehört, sehr schlimme Gerüchte, so schlimm, dass sie ihn nie danach fragen konnte. Als sie mit einigem Abstand, räumlicher und zeitlicher Entfernung, darüber nachdachte, machte es sie wütend. Nichts davon stimmte, es war einfach frei erfunden. Warum haben die Eltern sich nie mit ihnen an einen Tisch gesetzt und offen mit ihnen gesprochen? »Irgendjemand erzählt grässliche, ekelhafte Sachen über uns, wir wissen nicht, wer, und wir wissen nicht, warum. Was tun wir dagegen?« Vielleicht hätten sie gar nichts tun können. Vielleicht hätten sie es einfach aushalten müssen, abwarten, bis es wieder neue Gesprächsthemen geben würde. Aber nein, dieser Verdacht hätte wie Dreck an ihnen gehaftet, noch jahrelang hätte jeder neugierige Blick, jedes Getuschel von Einheimischen wehgetan. Haben ihre Eltern wirklich geglaubt, die Kinder hätten nichts davon mitbekommen? Sie könnten einfach wegziehen und ihre Probleme zurücklassen? Das hat jedenfalls nicht funktioniert. Die Familie ist niemals richtig angekommen in dem Dorf, keiner von ihnen hat sich dort wohlgefühlt. Vielleicht sind ihnen die Gerüchte sogar gefolgt, Nelda hat öfter geglaubt, hinter den neugierig-kühlen Blicken der neuen Nachbarn Verachtung und Abscheu zu spüren. Das kann sie sich eingebildet haben, aber sie haben dort niemals Freunde gefunden, nicht einmal Ina, die wohl am meisten darunter gelitten hat.

Während sie die Kaffeetassen in den Geschirrspüler räumt, denkt Nelda darüber nach, was es für ihre Schwestern und sie bedeuten würde, wieder in Ahlbeck zu leben. Nach siebenundzwanzig Jahren sollten die alten Gerüchte eigentlich vergessen sein, obwohl man das nicht so genau weiß. Wenn man sich die Touristen wegdenkt, ist Ahlbeck eigentlich ein Dorf, in dem jeder jeden kennt. Oder ist das heute nicht mehr so? ›Ich müsste mit meinen Schwestern darüber reden‹, denkt Nelda. ›Aber was bringt das? Fiona ist schon nervös und unsicher genug. Und Ina? Weiß sie überhaupt etwas darüber? Wer sollte es ihr erzählt haben? Aber sie muss sich doch gewundert haben, dass die Familie aus Ahlbeck weggezogen ist, obwohl sie alle Heimweh hatten und jeder Einzelne am liebsten zurückgekehrt wäre.‹ Nelda seufzt. In dieser Familie gibt es viel zu viele Geheimnisse. Das ist vermutlich ihr größtes Problem: Sie reden nie offen miteinander, schon gar nicht über ihre Gefühle und Ängste. Sie weiß das, aber sie wird es nicht ändern können. Auch sie spricht nur in Gedanken mit ihren Eltern und Geschwistern. Macht ihnen Vorwürfe, stellt ihnen Fragen – und schweigt. Außerdem, warum soll sie Wunden aufreißen, vielleicht ist sie ja die Einzige, die noch an die Vergangenheit denkt, die Einzige, die immer noch darunter leidet. – ›Außer Rosi. Natürlich!‹

Nelda erinnert sich nun, was sie eigentlich auf diese düsteren Gedanken gebracht hat. Als sie vorhin in der Wohnung ihrer Tante war, um die alte Frau zu wecken, ist ihr das Bild aufgefallen. Es hängt über der Kommode und fällt sofort ins Auge, wenn man das Zimmer betritt. Es ist das große gerahmte Foto aus einer Zeit, als die fünf Kannenbachs noch eine glückliche Familie waren. Alle stehen auf der Strandpromenade, im Hintergrund ist die Seebrücke zu erkennen. Nelda selbst ist darauf etwa zehn Jahre alt. Sie trägt ein weißes Blüschen, das ordentlich in den Rockbund gesteckt ist, einen Seitenscheitel und sieht mit ernstem Blick in die Kamera. Daneben Fiona, die an Pippi Langstrumpf erinnert, mit Zahnlücke im lachenden Mund, wirrem roten Haar und heruntergerutschten Kniestrümpfen an den dünnen Beinchen. Ihre Mutter hält das Baby Ina auf dem Arm, sie sah genauso aus wie Ina heute: hübsch, blond und zierlich. Nur glücklicher, das ist sogar auf dem Foto zu erkennen. Ihr Vater, groß und hager, mit den krausen roten Haaren, die nur Fiona von ihm geerbt hat, lächelt stolz und versucht, mit seinen langen Armen die ganze Familie zu umfassen.

Es ist das einzige Foto, das Nelda in dem kleinen aufgeräumten Wohnzimmer gesehen hat. Warum hat Rosi kein Bild ihrer Tochter aufgehängt? Hat sie wirklich jede Verbindung zu ihr abgebrochen?

4

Es ist schon später Nachmittag, als die drei Schwestern und ihre Tante über die Ahlbecker Promenade bummeln. Niklas hatte keine Lust, sie zu begleiten, er hat im Hausflur ein Fahrrad entdeckt und ist damit nach Polen gefahren, um Zigaretten zu kaufen. Die Grenze ist nicht einmal zwei Kilometer von Rosis Haus entfernt.

Sie gehen langsam und schweigend, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Es ist schön hier, alles erinnert an die Kindheit, an die Jugend, an unbeschwerte Zeiten und alte Freunde. Hier sind sie zu Hause, in Sicherheit. Hier ist niemand, der ihnen Böses will.

Die Schwestern ahnen nicht, wie viel Hass sie in Ahlbeck erwartet.

Rosi hat sich bei Ina untergehakt, in der anderen Hand hält sie einen Spazierstock. Hin und wieder bleiben sie stehen, Rosi redet ein paar Worte mit Leuten, die die Schwestern nicht kennen und von denen sie neugierig gemustert werden. Ihre Tante stellt sie nicht vor, sie hat keine Lust und nicht genügend Atem für lange Gespräche.

Kurz vor der Seebrücke, sie können bereits die Jugendstiluhr sehen, weist Tante Rosi mit ihrem Stock auf einen kleinen Kiosk. »Guck mal, Ina, hättest du nicht Lust, darin zu arbeiten?«

Ina ist freudig überrascht. Gerade hat sie überlegt, ob sie auf dem Arbeitsamt nach freien Stellen fragt oder doch eher direkt in den Geschäften. Sie weiß, dass hier immer Verkäuferinnen gesucht werden, besonders jetzt, zu Saisonbeginn. Sie hat dabei an Boutiquen gedacht, sie ist Textilverkäuferin. Hier direkt auf der Promenade zu arbeiten, praktisch im Freien, wo man die Möwen hört und das Rauschen der Wellen, das hat schon was. Sie mustert das kleine Holzgebäude. Es ist keine zehn Quadratmeter groß, weiß gestrichen, ein paar Schnitzereien am Dachvorsprung geben ihm ein verspieltes Aussehen, passend zur historischen Seebrücke ganz in der Nähe. Die großen Schiebefenster sind noch geschlossen und durch ein Eisengitter gesichert.

Rosi erzählt, dass der Besitzer ein Bekannter von ihr ist. »Er ist der Inhaber von der Gaststätte da drüben«, zeigt sie. »Der Kiosk gehört dazu. Er ist froh, wenn er jemanden findet, der sich darum kümmert, weil er sowieso zu wenig Personal hat. Du kannst dir aussuchen, ob er dich einstellen soll, dann kriegst du monatlich deinen Lohn oder ob du den Kiosk pachtest. Dann kümmerst du dich selbst um alles und zahlst ihm praktisch Miete. – Na, was meinst du?«

»Natürlich machst du das selbstständig«, bestimmt Nelda, bevor Ina etwas sagen kann. »Das ist doch eine Goldgrube hier, in der Lage. Bei der Abrechnung helfe ich dir dann schon.«

»Aber ich habe doch keine Ahnung von Gastronomie«, wendet ihre Schwester ein. »Was verkauft man denn hier? Kaffee und Fischbrötchen? Und wie ist das mit der Hygiene?« Zweifelnd betrachtet sie die drei Stehtische.

Rosi hat sich inzwischen auf eine Bank gesetzt. »Clausen wird dir das schon alles sagen – der Besitzer«, fügt sie erklärend hinzu. »Der ist in Ordnung. Ein Ahlbecker, ich kenne ihn schon ewig. Ich denke auch, du schaffst das allein. Ich kann dir sicher ein paar Ratschläge geben. Und Nelda sowieso.«

Als Ina etwas sagen will, zieht Rosi sie am Arm zu sich auf die Bank.

»Du musst dich nicht gleich entscheiden. Denk in Ruhe darüber nach!«

»Ja, ähm …« Ina starrt immer noch auf den Kiosk. Sie hat sich schon entschlossen, so ein Angebot kann man einfach nicht ablehnen. Dabei denkt sie nicht einmal an das Geld, das sie verdienen kann. Allein die Aussicht, den ganzen Sommer hier auf der Ahlbecker Strandpromenade zu verbringen, versetzt sie in freudige Erregung. Es ist also doch ein Neuanfang, besser, als sie ihn sich erträumt hat. »Natürlich möchte ich das machen. Am besten, ich gehe gleich morgen früh zu dem Besitzer, bevor er noch jemand anderen findet. Ach, und danke, Tante Rosi!« Sie umarmt die alte Frau, die ihr zärtlich über den Rücken streicht.

Fiona freut sich für ihre Schwester. Kurz hat sie überlegt, ob sie Ina ihre Mitarbeit anbieten soll. Aber nein, der kleine Kiosk bringt sicher nicht genug für zwei ein. Außerdem – so mitten auf der Promenade zu stehen, im Zentrum von Ahlbeck, wo sie jeden Tag so viele Menschen sehen –, der Gedanke ist ihr unbehaglich. Sie fühlt sich unwohl, wenn jemand sie mustert. Seit dem Tod ihres Mannes ist es wieder fast so schlimm wie in ihrer Jugend. In der Pubertät hielt sie sich für furchtbar hässlich und ihre Mitschüler fanden das auch und zeigten es ihr täglich. Sie war mit fünfzehn Jahren plötzlich in die Höhe geschossen, ihr roter Krauskopf ragte aus jeder Gruppe heraus, obwohl sie ihn möglichst einzog und versuchte, sich klein zu machen. Wie beneidete sie Nelda um ihr absolut durchschnittliches Aussehen und ihr ruhiges Selbstbewusstsein.

Aber das war ja eigentlich später, hier in Ahlbeck hat sie sich doch immer wohlgefühlt. In der Schule war sie sogar ziemlich beliebt, sie war ein fröhliches, freundliches Kind, obwohl schon immer sehr schusselig und unkonzentriert. Über ihre kleinen Ungeschicklichkeiten hat ihr Vater immer gelacht und ihre Mutter in gespielter Verzweiflung den Kopf geschüttelt.

Ina, Nelda und Rosi reden auf dem Heimweg aufgekratzt über den Kiosk, sie schmieden Pläne.

Rosi versucht sich zu erinnern, was dort in den vergangenen Jahren verkauft wurde. »Ich weiß gar nicht, wie viel Fläche dazugehört, vielleicht kann man noch wenigstens einen Tisch mit ein paar Stühlen aufstellen«, überlegt sie. »Aber die Leute können sich mit ihrem Fischbrötchen oder ihrer Bratwurst auch auf eine Bank setzen. Oder sie nehmen es gleich mit zum Strand. Von dort werden sowieso die meisten deiner Kunden kommen. Gut, dass dort gleich ein Strandaufgang ist.«

Nelda dreht sich um. »Komm schon, Fiona, du sagst ja gar nichts! Was hältst du denn davon? Du und Niklas, ihr müsst Ina sicher auch öfter mal helfen. Eigentlich ist es eine Entscheidung für die ganze Familie.«

Die Schwestern sehen sich an und plötzlich lächeln sie alle drei. Es fühlt sich so gut an, nach langer Zeit wieder eine Familie zu sein, aufeinander angewiesen und sich gegenseitig helfend. Vor allem hier in Ahlbeck. Vielleicht ist die schlimme Zeit nun wirklich vorbei. Sie haben so viel Furchtbares erlebt in den vergangenen Jahren, jede von ihnen mehr, als die anderen wissen. Ihre Mutter hat es in bitterer Ironie den »Fluch der Kannenbachs« genannt. Nelda hat nur missbilligend den Kopf geschüttelt über diesen Begriff und etwas von »Blödsinn« gemurmelt, aber bei der abergläubischen Fiona hat er eine Gänsehaut erzeugt. Jetzt ist sie erleichtert. Natürlich, deshalb hatte sie auch immer diese Sehnsucht nach ihrem Heimatort. Hier waren sie glücklich und hier können sie es auch wieder sein. Sie glaubt fest an das Schicksal und daran, dass es einiges gut zu machen hat an ihr.

Abends im Bett, als wohlbekannte Unruhe und diffuse Angst sie mal wieder am Einschlafen hindern, versucht Fiona, das Gefühl von Geborgenheit und freudiger Erwartung zurückzuholen, aber es gelingt ihr nicht. Stattdessen erinnert sie sich plötzlich an die letzten Wochen in Ahlbeck, bevor die Familie weggezogen ist.

Im Herbst 1991 hatte sich auf einmal alles verändert. Ihr Vater scherzte nicht mehr mit seinen Töchtern. Sonst tat er das ständig. In seinem Gesicht sah Fiona einen Ausdruck von hilfloser Wut, der ihr Angst machte. Ihre Mutter hatte oft verweinte Augen und die Eltern führten leise, erregte Gespräche miteinander. Sogar Ina mit ihren sieben Jahren spürte, dass in der Familie etwas nicht stimmte, aber sie war noch zu klein, um es zu verstehen.

Und Fiona hatte Angst. Einmal fragte sie ihren Vater zögerlich »Was ist denn los?“, aber auf sein verzweifeltes Kopfschütteln zog sie sich zurück, sie fürchtete sich vor einer Antwort, fürchtete hören zu müssen, dass ihre Eltern sich scheiden lassen würden oder dass einer von beiden unheilbar krank sei. Es musste etwas sehr Schlimmes sein, wenn man nicht darüber reden konnte.

Dann belauschte sie zufällig ein Gespräch zwischen zwei Lehrern: »Die Kleine hat sich auch verändert in letzter Zeit. Sie ist stiller geworden und wirkt eingeschüchtert, beinahe verängstigt. Na, und Fiona – ihr Verhalten war ja schon immer etwas auffällig.«

»Schon, sie ist eben sehr lebhaft und ein bisschen tollpatschig. Aber das sind doch keine Anzeichen für Missbrauch, oder? Ich kann es mir nicht vorstellen.«

»Ich hoffe ja auch, dass es nur dummes Gerede ist. Aber du weißt: Kein Rauch ohne Feuer.«

Das Mädchen, die einzige Fiona an der Schule, hatte sich mit wild klopfendem Herzen davongeschlichen. Über das Gesagte hat sie lange nachgedacht und es erst allmählich begriffen. Sie protestierte dann auch nicht, als ihre Eltern von Umzug sprachen. Im Gegenteil, sie meinte, den Feinden ihrer Familie, die sich unerkannt zwischen ihren Nachbarn und Freunden in Ahlbeck verbargen, zu entkommen.

Darüber reden konnte sie mit niemandem. Bis heute nicht.

5

Samstag, 28. April

Die vergangenen zwei Wochen waren aufregend und sind wie im Flug vergangen. Herr Clausen erwies sich als sehr entgegenkommend. Offenbar war er erleichtert, dass Ina seinen Kiosk übernehmen wollte. Sie machte einen guten Eindruck auf ihn und ihre Tante Rosi hält sich zwar aus den Geschäften raus, ist aber so gut wie eine Bürgschaft. Sie haben sich schließlich geeinigt, dass Ina nun doch bei ihm angestellt ist und monatlich ein festes Gehalt und eine Provision auf den Umsatz bekommt. Ihre Bestellungen laufen über die Gaststätte, dort kann sie auch ihre Fischbrötchen zubereiten und, wenn sie Zeit und Lust hat, Salate. Ina denkt dabei an Kartoffel- und Nudelsalat, aber sie will abwarten, ob sich das lohnt. Man kann ja auch alles fertig bestellen. Sie hätte gern ein besonderes Angebot, zum Beispiel hausgemachte Salate, schon um sich von den vielen Imbissständen in der Umgebung abzuheben. Aber Rosi hat ihr versichert, dass das gar nicht notwendig sein wird, im Sommer haben alle mehr als genug Gäste. Außerdem wird sie eher mit dem Verkauf zu tun haben, schließlich ist sie ganz allein. Niklas hat einen Job als Kellner auf der Seebrücke bekommen und Fiona beginnt heute ihre Probezeit in einer Kita. Nelda kehrt erst in zwei Wochen zurück, um eine neue Stelle bei einem Steuerberater in Ahlbeck zu beginnen.

Ina genießt es, wieder auf Usedom zu sein. Sie liebt den Frühling, der hier zwar etwas später kommt, aber dafür noch schöner ist. Weiße Blütenpracht an Obstbäumen, bunte Tulpen und überall frisches, helles Grün, dazwischen die dunklen Nadelbäume. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne wärmt bereits, aber der Wind, der über die strahlend blaue Ostsee kommt, ist noch kalt. Heute ist Inas erster normaler Arbeitstag. Es riecht noch immer ein wenig nach frischer Farbe, sie sind erst am Freitag fertig geworden. Gut, dass noch nicht viele Gäste da sind und der Ansturm auf ihren Kiosk vorläufig ausbleibt. Genau genommen kam erst ein Kunde, der sich für ihr Angebot interessiert hat, das ihr selbst etwas dürftig erscheint. Immerhin hat sie aus der Gaststätte eine gute Kaffeemaschine übernommen, mit der sie auch Cappuccino und Espresso zubereiten kann, wenn nicht gerade zu viele Gäste auf einmal am Verkaufstresen stehen. Im Regal an der anderen Seite liegen ein paar Süßigkeiten, in der Kühlvitrine stehen alkoholfreie Getränke sowie Flaschenbier und vor ihr in der Auslage zwischen den Glasscheiben ein Tablett mit Fischbrötchen.

»Du solltest die Folie von den Brötchen herunternehmen, sonst sehen die so nach ›ewig im Kühlschrank gelegen‹ aus«, rät Rosi, die plötzlich vor dem Kiosk auftaucht.

Ina zuckt zusammen. Sie hat gerade überlegt, ob sie sich vielleicht einen Stuhl hereinholt. Hier den ganzen Tag zu stehen, besonders, wenn nichts zu tun ist, wird anstrengend. Immerhin hat sie vier Stühle und einen kleinen runden Tisch neben der Bude.

Dort lässt Rosi sich gerade nieder. »Komm, setz dich ein bisschen zu mir, wenn jemand kommt, kannst du immer noch reingehen!«, fordert sie ihre Nichte auf.

Ina freut sich, ein paar Ratschläge und etwas Aufmunterung kann sie gut gebrauchen.

»Ist doch hübsch geworden. Noch ein bisschen kahl, aber das wird schon. Was du noch brauchst, merkst du ja, wenn die Kunden danach fragen.«

»Stimmt.« Ina ist erleichtert. »Ich warte einfach erst mal ab.«

»Das Wichtigste ist die Lage. Hier kannst du eigentlich gar nichts falsch machen. Wirst schon sehen!« Rosi sieht sich um. »Vielleicht sollte dein Chef hier noch zwei oder drei Stehtische mehr aufstellen. Und diesen hier müsstest du reservieren, damit du dich ab und zu mal hinsetzen kannst.«

»Meinst du, dazu habe ich im Sommer Zeit?«

»Nein, wohl eher nicht.« Rosi überlegt. »Aber den ganzen Tag zu stehen, das geht auf den Rücken. Vielleicht könnten wir dir so eine Art Barhocker besorgen … Na, da fällt uns schon noch was ein.«

Ina nickt und trinkt einen Schluck Kaffee. Sie fühlt sich schon viel besser. Es ist so schön, dass sich mal wieder jemand um sie kümmert. Endlich hat sie wieder eine Familie.

6

Donnerstag, 3. Mai

Ina fühlte sich wie im Urlaub. Auf Anraten von Herrn Clausen hat sie den Kiosk für ein paar Tage geschlossen. Es lohnt sich nicht, den ganzen Tag dort für einen geringen Umsatz zu stehen, zumal es noch immer kühl ist. Die Sonne scheint zwar, aber der Wind bringt die Kälte der Ostsee mit. Der strahlend helle Himmel lockte sie schon früh aus dem Haus und sie hat spontan beschlossen, einen Ausflug zu unternehmen, wie eine richtige Urlauberin. Mit einem Schiff ist sie von der Ahlbecker Seebrücke aus nach Bansin gefahren. Die Ostsee war blau und glatt, sie hat auf Deck gesessen und die Küste betrachtet, den Strand, der erwartungsvoll mit ordentlich aufgereihten Strandkörben und nur wenigen Spaziergängern aufwartet, dahinter viel Grün, in dem sich weiße Villen verstecken. Als sie in Heringsdorf anlegten, hat Ina die lange Seebrücke bestaunt, die es noch nicht gab, als sie 1991 die Insel verlassen haben, und die ebenso imposanten Häuser in Strandnähe.

In Bansin hat sie das Schiff verlassen und ist eine Weile auf der Plattform am Ende des Anlegesteges stehen geblieben. In aller Ruhe betrachtet sie nun das Seebad, das mit seinen Pensionen und Hotels an der breiten, gepflegten Strandpromenade im Gegensatz zu Heringsdorf und Ahlbeck eine vornehme Ruhe ausstrahlt. Die Häuser stammen noch aus der Gründerzeit des Seebades. Nur ein etwas überdimensionierter Hotelbau im Zentrum und eine Baustelle daneben stören die Harmonie. Sie blickt nach rechts. In westlicher Richtung gibt es keine Häuser mehr, auch keine Strandkörbe, nur Strand und Steilküste, soweit man sehen kann. Dann noch vereinzelte Spaziergänger und ein Hund, der glücklich durch den Sand tobt.

Ina hat keinen Plan, sie sieht auch nicht auf die Uhr, als sie zum Strand hinuntergeht. Sie läuft dicht am Ufer entlang, unter ihren Füßen knirschen kleine Steine und Muscheln. Einmal hebt sie eine besonders schöne auf, betrachtet sie und wirft sie wieder ins Wasser. Als an der Steilküste vor ihr eine Treppe auftaucht, geht sie hinauf. Oben bleibt sie eine Weile stehen und blickt über das Meer zu den großen weißen Schiffen am Horizont. Sie atmet die würzige Luft, ein Gemisch aus Meeresbrise und Kiefernduft, tief ein und wandert dann langsam an der Steilküste zurück. Vor dem dunklen Nadelwald hebt sich schon das frische Buchengrün ab, noch blühen Anemonen und Veilchen, an einer sonnigen Stelle schon Maiglöckchen. Ina fühlt sich zum ersten Mal nach dem Tod ihres Mannes ruhig und beinahe glücklich. Aber dann macht sich ihr Schuldgefühl, das ständig im Hinterkopf lauert, wieder bemerkbar. Was würde sie darum geben, jetzt mit ihm zusammen hier zu stehen! Als ihr ein älteres Paar Hand in Hand entgegenkommt, blinzelt sie die Tränen weg und geht schnell weiter.