SOPHIE BLAUMANN

 

 

Wenn der Beo dreimal singt

Ein Tropenkrimi

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 20

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

WENN DER BEO DREIMAL SINGT 

10 

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Das Buch

 

Sophie Blaumanns fesselnder Debüt-Roman Wenn der Beo dreimal singt ist mehr als nur ein Krimi: ein Tropenkrimi. Zwischen Hongkong, Jakarta und Sumatra. Vor allem aber ein nicht immer ganz politisch korrekter Blick auf und in die Welt von Touristen und Travellern zwischen Nobel-SPA und Fischerhütten, aber auch auf Banker und Finanz-Jongleure, naive Soap-Sternchen und Dschungeldrehs.  

Es geht um verliebte Hausdrachen, aufstiegswillige junge Hausmädchen, einen charmanten Loser, der seine Ehe bereut und seine Schönheitskönigin gewinnbringend loswerden möchte, um eine fatale Verwechslung mit falscher Leiche, einen Mörder im Niqab und eine taffe Kriminalkommissarin, die erst spät auf einen Vogel mit einer beeindruckenden Gabe trifft... 

Ein Tropenkrimi also - nicht nur, aber besonders für alle, die gern in fremde Länder reisen. 

  WENN DER BEO DREIMAL SINGT

 

 

 

 

 

 

  1

 

 

Hastig tauchte sein schweißnasser Kopf mit wirrem Haar wieder aus dem Dreieck ihrer Schenkel auf. Frederick schnappte nach Luft. Ungeduldig stieß er das verknäuelte Bettlaken beiseite und wandte sich mit der Zunge jetzt erst einmal ihrem rechten Ohrläppchen zu. Sie lag noch immer regungslos auf dem Rücken, die Lider ihrer mandelförmigen Augen fast geschlossen. Ihr Atem ging flach. Frederick war sich nicht im Klaren, ob sie etwas empfand, geschweige denn was. Leise stöhnend murmelte er ihr Unverständliches ins Ohr, in der vagen Annahme, sie könnte es für irgendetwas Romantisches halten. `Frauen mögen das´, dachte er, `angeblich mögen sie das. Woher wollte man das eigentlich wissen? Wer wusste schon, was Frauen wollten und wann und warum? Und was war, wenn nicht?’ Blieb nichts als die leise Hoffnung, seine Geschäftsmäßigkeit möge ihr verborgen bleiben und der vermeintlich gute Wille würde ihm Pluspunkte auf der nach oben gierig offenen Richterskala der Gefühlswallungen einbringen. So tat er das, was er meistens in solchen Situationen tat: Er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Vielmehr begann er nun beflissen, ihre großen runden Brüste mit der linken Hand zuerst sanft und dann immer heftiger zu massieren. Keine Reaktion, nur ihre Brustwarzen mit den dunklen Höfen wurden etwas steifer. `Das mindeste, was zu erwarten war´, dachte er grimmig. Er merkte, wie langsam aber unvermeidlich immer mehr Wut in ihm aufstieg. Immer dasselbe Theater. Immer wieder seine vergeblichen Bemühungen. Keine Reaktion, sah man von gelegentlichem gelangweiltem Blinzeln oder einem unterdrückten Seufzer ab, von dem man nicht wusste, was er ausdrücken wollte. Irgendetwas zwischen Langeweile und Gereiztheit, und sei es nur, um ihn zu ärgern. Manchmal hatte er sie in Verdacht, ihre aufsteigende Lust mit einer Meditation über tote Fische oder ähnlichen Abturnern zu bekämpfen. Nur um ihn auflaufen zu lassen, nur um sich an seinem Unvermögen zu ergötzen. Ach was, sie wollte ihn einfach zutiefst demütigen. Die Genugtuung, er könne ihr jederzeit einen Orgasmus verschaffen, wie in den glücklichen Anfängen, wollte sie ihm einfach nicht mehr gönnen. Er sollte leiden. Genau wie sie. Warum und woran genau, war etwas unklar. Es ging um Rache. Ganz allgemein. Rache aus Langweile zum Beispiel. Ein Leben voll gähnender Langweile. Abrupt setzte er sich auf ihren schmalen Unterleib, vergrub beide Hände hinter ihrem Rücken, fuhr dann langsam an beiden Seiten ihres knabenhaften Körpers herunter und langsam wieder nach oben, berührte sanft das hervorstehende Schlüsselbein - vermutlich hatte sie gerade wieder zwei Kilo herunter gehungert - und legte ihr die Hände um den Hals. Erst ganz sanft, dann wie aus einem plötzlichen Entschluss heraus, drückte er zu. Fest. Mit beiden Händen. Er spürte seinen schmalen goldenen Ehering am linken Ringfinger, verschränkte die Finger um ihren dünnen Hals und drückte weiter zu. Hielt den Druck. Hielt den Atem an, bis ihm fast schwarz vor seinem inneren Auge wurde.

Dann wachte er vom Weck-Ton seines Handys auf. Mühsam wälzte er sich herum und griff zum Nachttisch. Seltsam, das Display zeigte erst 05.54 Uhr statt 06.00 Uhr, was grausam genug war, wie er auch nach mehr als zehn Jahren in den Tropen noch immer fand. Von wegen Morgenkühle. Es war einfach zu früh. Tagtäglich. Vor dem Fenster sang ein Beo.

Feuchtschwüle Luft drang herein. Er hatte offensichtlich vergessen, die Klimaanlage an- und das Fenster zuzumachen. Bei dem Gedanken, jeder x-beliebige Dieb hätte problemlos die halbhohe Balustrade der Terrasse vor seinem Schlafzimmer lässig überspringen und in sein Haus eindringen können, verstärkte sich sein Gefühl von Hilflosigkeit, das er seit geraumer Zeit immer stärker verspürte. Beim Aufwachen war es immer schon da, egal, was der Tag sonst versprach. Wobei die Tage insgesamt ihre Versprechen immer weniger zu halten schienen.

Während er noch mit einem tiefen Seufzer die beunruhigenden Gedanken vertreiben wollte, klopfte es sanft an der Tür. Ein zögerliches Pochen, das vorbildlich rücksichtsvoll daherkam, so sehr, dass Frederick sofort eine Welle von Hass durch den Körper flutete. »Ja, verdammt«, schrie er gereizt. »Was ist denn?« Er hätte auch ohne Blick auf sein Handy, klar 06.05 Uhr, genau gewusst, was jetzt kam. Die Tür öffnete sich langsam und vorsichtig, `als läge ich auf der Intensivstation´, dachte er noch gereizter und zog das verdrehte Laken über seinen Unterleib. »Kommen Sie schon rein und stellen Sie´s um Himmels Willen hin«, knurrte er. Zunächst erschien nur ein Bambustablett mit einer Glaskaraffe voll dampfender durchsichtiger Flüssigkeit, in der am Boden ein halbes Dutzend gelber Brocken schwamm. »Ihr Ingwerwasser, Sir«, sagte eine viel zu sanfte Stimme, die zu einer erstaunlich robusten Person mittleren Alters gehörte, Mrs. van Eijndhoven, der Haushälterin. Eigentlich hieß sie Rimaninthia Ratongamalog, aber eine kurze Ehe mit einem holländischen Matrosen, der unter nicht ganz geklärten Umständen eines Tages erstochen im Containerhafen von Jakarta das Auslaufen seines Schiffs verpasste, hatte ihr zu einem Namen verholfen, den sie gegen alle Vernunft und Information hartnäckig für adelig hielt. Wer weiß, wozu man die gefühlte Nähe zur Königsfamilie einmal brauchen konnte. Inzwischen war sie zwar Mitte vierzig, aber noch immer weit nicht nur von der Königsfamilie, sondern auch von ihrer neuen Heimat Holland entfernt, auch wenn kaum ein Tag verging, an dem sie sich nicht vergewisserte, dass ihr Pass noch in der verschlossenen Schublade ihres Nachtkästchens lag. Direkt neben einer holländischen Bibel, die sie zwar nicht lesen konnte, aber gleichfalls hütete wie eine Reliquie. Obwohl es nun schon fast ein Jahr her war, dass sie Frederick und seiner Frau Sira nach Padang an die Südküste von Sumatra gefolgt war, hatte sie sich noch immer nicht an die neuen Sitten gewöhnt. Statt ihren Mr. Frederick mit einem aufgebackenen, aber immerhin echt französischen Croissant zu Orangenmarmelade, gefolgt von Butter-Toast mit Rührei und einer dampfenden Kanne schwarzen Kaffee meist erst gegen 08.00 Uhr zu wecken, hatte Sira schon in der ersten Woche auf Ingwerwasser, grünen Tee und Früchten mit Magerquark in aller Herrgottsfrühe bestanden. Mr. Fredericks Laune hatte das nicht gerade gehoben. Von ihrer eigenen ganz zu schweigen, aber die interessierte in diesem Haus ja immer weniger. Seufzend dachte sie zurück an die schöne Zeit mit Frederick - das Mr. unterschlug sie in Gedanken gern -, als sie zwei Jahre lang Alleinherrscherin in seinem Junggesellenhaushalt im Zentrum von Jakarta gewesen war. Mit einer devoten kleinen Verbeugung und einem besorgten Seitenblick zunächst auf Frederick und dann auf das geöffnete Fenster - die Einbrecher, die Mücken, die Malaria, warum hörte nur keiner auf sie - zog sie sich rasch zurück, wie es sich für eine Top-End-Hausangestellte gehörte. Sie war stolz auf den Begriff Top-End, der seit kurzem zu ihrem Wortschatz und vor allem zu ihrem beruflichen Selbstverständnis gehörte. Sori Tumlaa, die es bis in die Villa des Chefs der pakistanischen Handelsbank gebracht hatte, als Kindermädchen seiner sieben nervigen Blagen, hatte ihr die Zeitschrift Maids geliehen, die ihr ihre Memsahib zur Hebung des Niveaus als Probe-Abonnement zum fünften Dienstjubiläum geschenkt hatte, statt einer Gehaltsanpassung an die galoppierende Inflation. Sori Tumlaa war stolz auf das persönliche Geschenk und den damit verbundenen Status, auch wenn sie im tiefsten Innern wusste, dass da etwas nicht ganz in Ordnung war.

Kaum hatte Rima, wie sie zu ihrem Kummer ehrenrührig verkürzt oft genannt wurde, das Zimmer mit einem vorwurfsvollen Blick verlassen, sprang Frederick auf und goss den Inhalt der Karaffe in den Bougainvillea-Strauch auf der Terrasse. Sira war zu Dreharbeiten für einen Videoclip für den World Wildlife Fund ins Orang-Utan-Schutzreservat auf Sumatra unterwegs und würde nicht vor Übermorgen zurückerwartet.

Das gab ihm Zeit. Zeit zum Überlegen, die er dringend brauchte. Die Daten über die Entwicklung seines Fonds, die Lionel, sein Assistent, ihm gestern nach einer aufwendigen Computersimulation als Zukunftsprognose für das nächste Halbjahr hochgerechnet hatte, waren gelinde gesagt Besorgnis erregend. Man hätte auch sagen können desaströs. Vermutlich. Frederick war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er weder das eine noch das andere wirklich beurteilen konnte. Auch ob Lionel die im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Zahlen selber glaubte, war letztlich nicht auszumachen. Die ganze Sache war unklar. Nur dass die `Sache‘ seine Zukunft war. Okay, streng genommen nur die finanzielle. Aber er hätte auch nicht gewusst, wie er sich eine Zukunft ohne Geld ausmalen sollte. Nicht dass es gänzlich ausgeschlossen gewesen wäre, auch außerhalb der Hochfinanz-Branche zu überleben, rein physisch gesehen. Schließlich war er erst - erst? - neununddreißig und hatte vor, es noch einige Zeit zu bleiben. Die ersten grauen Strähnen seiner dichten schwarzen Mähne konnte er noch locker mit dem Renaturing Shampoo for Men oder notfalls mit Hair Mascara aus Siras Geheimschrank im Badezimmer - dem, mit dem Botox-Vorrat und den Fruchtsäure-Peelingcremes - überdecken. Und die Zornesfalte, die sich bisweilen zwischen seine Brauen schob, machte ihn männlicher. Sagte Sira, wobei, genau genommen, war es eine ganze Weile her, seit sie es zuletzt gesagt hatte. Egal. Mehr Sorgen bereiteten ihm seit kurzem ohnehin die scharfen Nasolabialfurchen, die ihn an seinen magenkranken Vater erinnerten. Wie gut, dass Dad, alter Antwerpener Handelsadel der van Drederens bis ins 17. Jahrhundert rückverfolgbar - oder war es das 16. gewesen? -, das nicht mehr erleben musste. Immerhin hatte er ihn noch als Mitglied des Aufsichtsrats der Media Asia Finance in die Startposition für seine jetzige leitende Stellung als Head of Fonds Management Foreign Affairs gehievt. Und das nach einem Studium mit nur mittelmäßigem Examen an einer ebensolchen englischen Universität, deren Spendenkonto seiner mediokren Studentenexistenz so einiges verdankte. Wie er es auch drehte und wendete, gesellschaftlich wäre ein Verlust seiner bisherigen Stellung der Tod. Auch für Sira, die sich als ehemalige Gewinnerin des Miss Indonesia-Titels aus stolzen, wenngleich prekären Verhältnissen zwar aus eigener Kraft , oder besser, der ihrer Fassade, in die Liga der mäßig erfolgreichen Soap-Schauspielerinnen und TV-Moderatorinnen geboxt hatte - oder sollte man besser sagen `gebotoxt‘, kalauerte er innerlich vor sich hin -, sich aber trotzdem gern mit ihrem smarten belgischen Ehemann aus besten Londoner Kreisen schmückte , Antwerpen kannte hier einfach keiner. Und noch lieber mit seinem Geld. Für sie wäre der Gesichtsverlust eines plötzlichen Abstiegs, der im schlimmsten Fall in einem Gerichtssaal und im allerschlimmsten im Gefängnis enden konnte, auf jeden Fall wie ein Todesurteil. Zumal das Wort Gesichtsverlust angesichts ihres Botoxverbrauchs auf einmal eine erschreckend konkrete Bedeutung erhielt.

Eines war klar: Er brauchte Geld. Viel Geld. Und er brauchte es rasch und ohne Bedingungen, denn er war bereits mit den bisherigen Privatinvestitionen in einen Wust von Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten verstrickt, den er selbst nicht mehr genau durchblickte. Es ging um einen Befreiungsschlag - in jeder Beziehung. Es ging um alles oder nichts. Eine allerletzte Karte. Und er war bereit, alles auf sie zu setzen. Alternativlos.

2

 

 

Senden, yep! Jetzt oder nie. Lionel klickte mit der Maus und griff sich mit der Linken automatisch an den engen Knoten seiner schmalen Designer Krawatte von Helmut Lang. Petrolfarben mit dünnen Silberstreifen zu einem nachtblauen Leinenanzug. Nie ohne im Dienst, auch bei 36 Grad Außentemperatur und 80 % Luftfeuchtigkeit. Aber was hieß schon Dienst, es war mehr ein Besuch im Lifestyle-Tempel, betrachtete man allein die gigantische Aussicht auf die Skyline von Jakarta, zu dem er sich heute Morgen mal wieder gnädig herabgelassen hatte. Sollte Frederick doch froh sein, dass er hier in der indonesischen Zentrale ab und an die Stellung und trotz stetem Pendeln zwischen Hong Kong, Jakarta und Padang den Überblick behielt. Oder sollte eher er selbst froh sein, dass er die Stellung überhaupt noch immer… Nach all dem, was vorgefallen war. Nein, nicht schon wieder. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass es genau genommen ein zu unbedachter Mausklick in einer, nun, etwas angespannten Situation gewesen war, der das Schlamassel im Depot überhaupt erst verursacht hatte.

Eine knappe Woche war das jetzt her, und sein Optimismus, die Sache würde sich schnell - quasi wie von selbst - wieder einrenken, war merklich schwächer geworden. Und das alles nur, weil er kurz noch eine Line gezogen hatte. Trotz seiner Prinzipien, nie vor fünf Uhr nachmittags. Aber als Grace seine Einladung ins Hyatt Top Roof Restaurant endlich mit einem gnädigen Lächeln angenommen hatte, waren die Endorphine schon vor der Line durch die Decke gegangen. Die Euphorie war so groß, dass sie rasch noch größer werden musste. Wie so einiges andere auch, wie er sich grinsend erinnerte. Gigantisch - genau, gigantisch war der richtige Ausdruck - war das Adrenalin durch seinen ganzen Körper geschossen, hatte ihn mindestens zehn Zentimeter größer und um ebenso viele Punkte sexier in die Top-Position katapultiert. Nach dem Klick, dem zu schnellen, hatte er einen raschen Downer gebraucht, der siebzehn Jahre alte Malt Whiskey aus den schottischen Highlands war gerade gut genug gewesen. Aber als Apéro doch schon wieder eher einer zu viel. Denn nach ein paar weiteren Drinks im Hyatt, hatte Grace nicht nur darauf bestanden, ein Taxi zu rufen, nein, sie hatte darauf bestanden, zwei zu rufen. Da half auch sein hastiger Geldschein für den Doorman nicht weiter. Unterm Strich an die 500 US-$ Miese, rechnete man die Line dazu, dann noch mehr natürlich, viel mehr. Vor allem viel mehr, als er sich noch leisten konnte. Jetzt, wo es so aussah, als sei bald Schluss mit den üblichen Boni und vor allem mit Fredericks extra Provisionszahlungen, weil nämlich bald mit Frederick selbst Schluss wäre trotz der neuen Konzernniederlassung in Padang . `Ob dem das eigentlich klar war?´, überlegte er. Aber seinem Brummschädel war kein wirklicher Gedanke mehr abzugewinnen. Zumindest keiner, der weitergeholfen hätte. Ihm weitergeholfen hätte. Frederick hatte er bereits innerlich abgeschrieben, soweit funktionierten seine Instinkte inzwischen blind. Brummschädel hin oder her.

Das wenigstens hatte er gelernt, seit er aus Hong Kong herüber gekommen war, mit nicht viel mehr als einer Handynummer auf einem Bierdeckel. Denn selbst das Handy hatten sie ihm damals geklaut, seine Nabelschnur gewissermaßen gekappt, als sie sein Zimmer in den Chungking Mansions geknackt hatten. Und das obwohl er im Bett lag und schlief unter diesem dröhnenden Ventilator made in China. Wobei er sich bis heute nicht völlig darüber im Klaren war, ob die Typen eigentlich irgendein k.o.-Spray in seine Vier-Quadratmeter-Butze gesprüht hatten oder ob sein normales Durchschnittskoma aus billigem Koks und noch billigerem Bier für eine durchschnittliche k.o.-Nacht gereicht hatte, ihn derart vollständig schachmatt zu setzen. Auf jeden Fall hatte er buchstäblich nur noch das, was er am Leibe getragen hatte, übrig behalten. Und das waren gefakte Calvin Klein gewesen, nein, nicht die Jeans, die hatten sie mitgenommen. Nur die Boxershorts waren im geblieben und ein dünnes weißes T-Shirt, das ihn vor der Ventilatorbrise geschützt hatte. Okay, die Plastik-Flip-Flops waren noch dagewesen und ein gelverklebter Stielkamm auf dem Fensterbrett. Sein Nachbar, ein langer dünner Typ aus Sierra Leone oder war es der Senegal, egal, der Typ auf jeden Fall hatte ihm eine gefakte Jeans aus seinen Geschäftsbeständen geschenkt, die ihm viel zu weit war, aber einem geschenkten Ross... Auch wenn er sich letztlich nicht ganz sicher war, ob der Senegalese nicht den Dieben, die er in einer der anderen neunundsiebzig Pensionen in den fünf Gebäude-Blöcken vermutete, einen Tipp gegeben hatte. Von afrikanischem Geschäftsmann zu afrikanischem Geschäftsmann sozusagen. Zumindest hatte ihm der Mann mit einer verdächtig perfekten Unschuldsmiene auch noch einen Becher Pappkaffee hingestellt, als er gegen Mittag mit dickem Kopf bei geöffneter Tür aufgewacht war. Auf den Gängen das übliche Rumoren, die Gerüche Asiens und die Schlange vor den Liften, die nur in jedem zweiten Stockwerk hielten und deshalb eine Wissenschaft für sich waren, wenn man morgens halbtot von einer dieser Hong Konger Nächte seine kakerlakenverseuchte Kammer suchte. Zur Not gab es die versifften Feuertreppen zwischen den siebzehn Stockwerken, die die Diebe vermutlich genommen hatten.

Unten im Foyer des Wolkenkratzers, dessen Adresse in ganz Afrika bekannt war, stauten sich die Abtrünnigen aus der Dritten Welt. Um Einlass in die zweieinhalbfache oder zweite - je nachdem wie man das sah - zu finden. Fanden sie aber in den seltensten Fällen. Die meisten hatten schon Probleme, ein Bett in einer der Pensionen mit euphemistischen Namen wie Dakar Grand Hotel, Golden Peking House oder Diamant Lady Palace zu finden, wo das Bett 10 $ kostete und die Gemeinschaftsdusche auf dem Flur unregelmäßig sprotzte. Für die billigsten war die Schlange vor dem Tresen des chinesischen Besitzers oder seines subalternen Rezeptionisten fast immer am längsten. Afrikaner mit müden Gesichtern, die jungen manchmal noch hoffnungsfroh. Alle mit viel zu viel Gepäck für die winzigen Buden, meist in den allgegenwärtigen karierten Plastiktaschen, kaum ein Schritt von der Tür bis zum Bett, als Ablage das rußverschmierte Fensterbrett, ein kleiner Spiegel und drei Haken an der Wand, mit Glück noch ein Hocker. Mit noch mehr Glück passten die Blaukarierten zusammen mit kordelverschnürten Kartons unters Bett, ohne dass die durchgelegene Matratze auflag, deren mikrobenhaftes Innen- und Eigenleben man gut daran tat, auszublenden. Eine optimistisch geblümte Tagesdecke aus Synthetik vom Dschunken-Markt sollte dabei behilflich sein. Essen gab es billig beim Inder in der Lobby, die besten Pakoras außerhalb Mumbais, so seine mit Bollywoodmusik untermalte Werbung. Und skypen konnte man bei den philippinischen Transen, die in einem Kabuff zwischen den Aufzügen A-C und D-F ein 24/7 Internetcafé betrieben und notfalls auch ganz etwas Anderes. Kam auf die Nachfrage an. 

Er selbst hatte länger als drei Wochen im Kigali South End gehaust, nach dem Lucy ihn an die Luft gesetzt hatte, weil ihr Vater angeblich... Ach, vermutlich war es ohnehin nur eine Ausrede gewesen, der Vater, seine Vorstellungen, sein Dünkel, sein Zorn. Er hätte einfach auf sein Gefühl hören sollen, das ihm schon bei der Ankunft in Hong Kong sagte, dass Lucys Lächeln in der Ankunftshalle des Cep Lap Kok Flughafens etwas dünn gewesen war. Viel dünner als ihr Lachen am Strand von Goa und noch viel dünner als ihre Schreie in diesem Bungalow in seinem Lieblingsort Palolem, wo der indische Besitzer am nächsten Morgen einen raschen Auszug wegen der Kinder vorschlug. `Sir, understand Sir, my son and especially my daughter...for them… no good, Sir‘, hatte er in seinem schwerfälligen indischen Englisch gegurrt. Nicht ohne Lucy mit den Augen auszuziehen, was schnell erledigt war, so wenig wie sie anhatte. Sie hatten sich totgelacht, vor kindischem Stolz natürlich. Stolz auf diese überirdische Sexiness, die selbst kamasutraerfahrene Inder nicht übersehen bzw. überhören konnten. Lucy hatte immer wieder ihren giggelnden Mund an sein Ohr gelegt, so dass auch der Rikschafahrer, der sie im Rückspiegel keine Sekunde aus den Augen ließ, fast vom Wege abgekommen und zwischen malmenden Kühen im Straßengraben gelandet wäre. Sie hätten ohnehin abreisen müssen, es war ihr letzter Tag gewesen. Lucy musste zurück an den Schreibtisch ihrer Bank, wo sie ihr Studium in Business Administration als Sekretärin verdiente. Ihr Vater war da stur. Konfuzianische Arbeitsmoral, egal wie reich man war. Nur die Package-Reise in ein Luxusresort in Goa hatte ihr Dad bezahlt. Wie stolz er gewesen war, als sie, Daddys brave Tochter, schon nach der ersten Nacht am Strand von Ajunta ihre 5-Sterne-Suite gegen seine Nullsterne Strandhütte eingetauscht hatte. Von der aus man Myriaden von Sternen am fast immer nachtschwarzen Himmel so viel klarer sah. Dabei hatte er in seinen ersten einsamen Tagen dort noch über die häufigen Stromausfälle geflucht, die die Romantik jetzt so kostenlos beförderten, weit mehr als Champagner und Rosen. Und noch stolzer hatte es ihn gemacht, wie sie an seinen Lippen hing - immer dann, wenn er nicht gerade die ihren in der Mangel hatte - und wie sie nicht müde wurde, all seinen Traveller-Abenteuern zu lauschen. Und es waren viele. Und sie waren verwickelt. Und sie waren lang. 

Schließlich war er seit mehr als einem Jahr unterwegs, hatte Schleswig und die TH Kiel Abteilung Maschinenbau genauso hinter sich gelassen wie Katrin mit dem blonden Pferdeschwanz und ihren gemeinsamen Handballverein. Und seinen Namen, den er nie gemocht hatte. Ludwig! Was sich seine Eltern nur dabei gedacht hatten in ihren kleinen Realschullehrerhirnen? Opa hin oder her. Der war tot, den hatte er nicht mal gekannt. Lionel, das klang schon eher nach ihm und vor allem nach weiter Welt. Lucy, die eigentlich Liang Shixu hieß, hatte ihn sofort verstanden, als er ihr in der zweiten Nacht etwas bier- und dopeselig sein Geheimnis enthüllt hatte. Mehr war da schon nicht mehr zu enthüllen gewesen. Ihre für diese Umgebung ziemlich transparente weißgelbe Chiffonbluse lag da schon mit den Mini-Hotpants aus Jeansstoff unterm Bambusbett. Wie auch immer. Ohne Lucy wäre er nie nach Hong Kong gekommen, viel zu teuer. Sein Budget war mehr als knapp kalkuliert. Und ohne Hong Kong hätte er Frederick nie kennengelernt. Auf der Polizeistation von Kowloon in der Po Tung Road. Frederick, dem man bei einem Businesstrip zur Firmen-Zentrale in Hong Kong auf der Fähre von Hong Kong Island herüber auf die andere Seite des Hafens nach Kowloon die Brieftasche geklaut hatte - klassische Hong Kong-Routine gewissermaßen -, hatte versucht, eine Anzeige aufzugeben, was hinter den ausdruckslosen Mienen der Beamten einen inneren Heiterkeitssturm auszulösen schien, den man durchaus als Impertinenz hätte bezeichnen können. Was Frederick dummerweise getan hatte. Weswegen er kurz darauf in Handschellen auf einen Anwalt der belgischen Botschaft wartete.

Frederick war froh gewesen, einen Ausländer als Leidensgenossen zu finden, zumal einen, dem es noch dreckiger ging als ihm selbst. Ihn mit aus der Scheiße zu hieven. Ihm schnellstens zu einem anständigen Outfit und zur Freiheit zu verhelfen, hatte sein schwer gekränktes Ego gestärkt. Und sein Anwalt, ein fast sechzigjähriger Hong Kong-Chinese, mit allen Wassern und noch mehr Erfahrungen im Drücken der richtigen Knöpfe gewaschen, hatte sie beide binnen Kurzem und mithilfe von ein paar diskret überreichten Scheinen frei gekriegt. Die Siegesfeier fand in einem Etablissement mit gigantischer Aussicht und noch gigantischerem Service statt, der sich nach und nach hinter die Kulissen verlagerte, was ganz neue, nicht weniger gigantische Aussichten eröffnete. Oh, Mann, wenn Lionel nur daran dachte, liefen seine Synapsen von der Erinnerung heiß.

Am übernächsten Morgen, als er einigermaßen wieder klar hatte denken können, hatte er einen Vertrag in Fredericks Firma unterschrieben. Als Assistent der Geschäftsleitung. Eine Funktion, die es so bisher nicht gegeben hatte und die sich, wie sich rasch herausstellte, nicht immer genau von der eines Mädchens für alles inklusive persönlicher Kammerdienerschaft abgrenzen ließ. Trotzdem sah sich Lionel auf der Gewinnerspur, zumindest ein wenig befreit aus der Abhängigkeit von Lucy und ihrem Vaterpatriarchen, der seine Verachtung für den Liebhaber seiner Tochter gar nicht erst zu verbergen suchte, obwohl er die Geschichte vom MBA an der London School of Economics erst einmal geschluckt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er mit seiner Hochstapelei auffliegen würde, denn Liebe machte zwar bekanntlich blind, aber - wenn ´s um Geld ging - nicht für lange. Letztlich reichte sein Interesse an beidem aber nicht so weit, dass er die Legende ewig würde durchhalten können. Sich jedoch erst mal gesundstoßen im wahrsten Sinne des Wortes und nicht unbedingt nur bei Lucy, mit der er sich nach anfänglichem Fremdeln beim Wiedersehen längst geschickt versöhnt hatte, und dann up up and away in die Freiheit unter Mitnahme zumindest eines Teils von Fredericks Aktienerlösen. Das war der Plan. Soweit Lionel überhaupt zum Planen fähig war. Lieber ließ er die Dinge auf sich zukommen und griff dann zu. Im richtigen Augenblick. So hoffte er zumindest.

Bislang war er mit dieser Strategie immer halbwegs gut gefahren, und so sollte es weitergehen. Gerade in der fremden neuen, umso reizvolleren Finanzwelt, dort, bei den ganz Großen, den Big Playern, zu denen er künftig gehören würde. Ganz sicher. Schließlich wurden doch an der Börse seine Zukunftserwartungen gehandelt, seine Zukunft bestimmt von Algorithmen, die er nicht verstand. Oder waren es Alogarithmen gewesen? Gab es die überhaupt, und falls ja, was war nochmal der Unterschied? Herr Grundmann in der zehnten Klasse hatte jedes Mal ein Fass aufgemacht, in dem sich der arme Sünder an der Tafel am liebsten verkrochen hätte, wenn es wieder mal um einen dieser ebenso feinen wie unerklärlichen Unterschiede ging zwischen, nun zwischen, was auch immer. Damals hatte sich kein Mensch dafür interessiert, zumindest keiner dieser Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen, denen jeder ihrer Pickel näher war als der Schulstoff im Allgemeinen und der, den Grundmann an den Mann und die Frau bringen wollte im Besonderen. 

Ob das heute anders wäre, war die Frage. Ob diese Spitzfindigkeiten überhaupt irgendjemand verstand, war die Frage. Das ganze Leben schien ein einziger Bluff zu sein. Nur, wer hatte damit angefangen, wer hatte es dazu gemacht, und warum hielten alle still? `Mikado der Angst´, dachte er, genau, das wäre die Überschrift über sein Leben. Guter Titel, sofort notieren für die Autobiographie oder doch lieber ein Agententhriller? Egal, wenn es soweit wäre, würde ihm schon der passende Stoff einfallen, sich ihm geradezu aufdrängen, während er sinnend am Strand entlang wandern würde, schon vor Sonnenaufgang, nein, das war dann doch zu früh, also lieber Sonnenuntergang, auf jeden Fall aber sinnend. Ein echter Kreativer eben oder ein Intellektueller? Auf jeden Fall entsprechend gekleidet, in weißes Leinen vielleicht oder Military Khaki oder warum nicht ganz in Schwarz? Auf jeden Fall eine künstlerische Anmutung, die Leute sollten ihn auf keinen Fall für einen Touristen halten, noch nicht mal für einen Traveller. Nein, er war Schriftsteller, nun, er würde es sein, am Ende seines ereignisreichen und ungemein spannenden Lebens, über das er dann mit einem dicken Vorschuss von Random House nachsinnen würde und ein Jahr später, zur Buchmesse in Frankfurt oder zuerst London, gab es da überhaupt eine? Das musste er googeln, egal, soweit war es noch nicht ganz, es fehlte noch eine Kleinigkeit vorher, was war das nochmal gewesen? Er sollte das Dope dringend reduzieren, was war es denn in drei Teufels Namen nochmal gewesen, ach ja, das Leben, natürlich, das spannende, das voll erfüllte Leben, das er erst noch führen musste, die sich voll erfüllende Selbstprophezeiung oder wie das da hieß. Wie hieß das doch nochmal, verdammt? Oder war das zu optimistisch gedacht? Optimismus war schließlich nichts anderes, hatte er neulich irgendwo gelesen, als das Ergebnis von Verdrängung und Ausblendung der Realität. Je schlechter es jemandem ging, desto optimistischer wurde er. `Mir geht es noch zu gut, um Optimist zu sein´, dachte er und ertappte sich dabei, wie er in sich hinein grinste, auf einmal Oberwasser empfand. Er würde sie ficken. Er würde sie alle ficken. Alle!

3

 

 

»Erste Affenklappe und bitte!«

»Also, Darling, bitte, das kann doch nicht Affenklappe heißen, also wirklich, immerhin bin ich im Bild, als Main Character, so hat James es gesagt!«

»James hat gar nichts zu sagen, verdammt noch mal. Spiel einfach! Der Affe ist die Hauptperson, und wenn du nicht sofort loslegst, Baby, dann frage ich die Frau vom Catering, ob sie dem Orang Utan die Banane hinhält, hast du mich verstanden?«

»Affenklappe die zweite! Und bitte!«. 

»Schrei mich nicht an, so kann ich nicht arbeiten, und außerdem hat James...«  

»FUCK James, Kelly komm, bring eine neue Banane mit, und wenn Sira nochmal zickt, hältst du sie dem Scheißaffen vor der Scheißkamera vor die Scheißschnauze, das kann doch nicht so schwer sein! Affenklappe, die dritte! Und bitte!«

Michael O'Kenesseghy lehnte sich erschöpft in den Regiestuhl zurück, auf dem sein altehrwürdiger Name prangte, falsch geschrieben zwar, ein Assistent hatte das altehrwürdige »g« vergessen, sein Großvater würde im Grab rotieren. Aber sonst, immerhin stand da sein Name. Dass es das erste Mal war, hatte er bei den Vertragsverhandlungen wohlweislich verschwiegen.

James, den britischen Upperclass Produzenten, hatte er im Irish Pub des Hong Konger Flughafens kennengelernt, nach dem dritten Guinness. Für Flug BA 147 nach London waren über zwei Stunden Verspätung angezeigt gewesen wegen eines idiotischen Taifuns zur Unzeit. Zeit hieß Geld, das schien den Taifun völlig kalt zu lassen. Wenigstens war diese anachronistische dunkle Pub-Hölle der einzige Ort in diesem verdammten Glaspalast von Flughafen, an dem man in Ruhe eine rauchen konnte, ohne wie im Zoo in einem zwei Quadratmeter großen Glaskasten ausgestellt zu werden, wie das seit neuestem auf chinesischen Airports, aber auch andernorts in Asien, ach was, weltweit, Mode geworden war. Allerdings eine, wie es schien, unangenehm langlebige Mode. Umständehalber hatten sie sich ihr halbes Leben erzählt, wo die Filmerei einen Berührungspunkt ergab, der sich geradezu paradiesisch ergänzte. James war Producer, hauptsächlich Werbung im asiatischen Raum, ein neuer unermesslicher Markt. Michael war meist pleite - was aber wohlweislich unerwähnt blieb - und hatte zudem vor zwanzig Jahren aus Verzweiflung angefangen, billige Sexfilmchen zu drehen, damals noch für Videotheken und ganz ohne Tiere. Unschuldige gute alte Zeit. Geblieben waren ihm einige Erfahrungen im Umgang mit Crew und Kamera am Set, sowie eine prätentiöse Visitenkarte Michael O'Kenesseghy-Director, Heathrow International Film Productions London-Amsterdam-Mumbai-Shanghai. Umständehalber war man sich schnell einig geworden, und Mike wusste, mit Ende fünfzig - selbst bei einem gut getarnten Ende - war dies hier definitiv seine letzte Chance, ein Leben weiterzuführen, das bislang nur auf dem Papier und in seiner Phantasie überhaupt existiert hatte. Ein Leben außerhalb des Kabelschleppens bei National Geographics oder BBC World Outdoor Produktionen, wo man froh sein konnte, nicht in die Reichweite eines Krokodilrachens zu geraten oder von giftigen Ameisen aufgefressen zu werden. Von der allenfalls für klassische Masochisten geeigneten Verpflegung ganz zu schweigen. Es musste klappen. Und diese kleine eingebildete Gans mit den vermutlich aufgespritzten Körperteilen würde ihm das nicht verderben. Auf keinen Fall. Diesmal würde er kämpfen. Aufs Ganze gehen. So wie er es hätte längst tun sollen.

`I am by your side´, erklang da die betörende Stimme von wem auch immer aus Siras BH, in dem sie verbotenerweise ihr Handy versteckt hatte. Eine Miniversion, die zwischen ihren vergrößerten Brüsten in keiner Weise auffiel, noch so ein Vorteil, den die beiden Schätzchen mit sich brachten. »Cut, Cut, » Mike flippte schier aus, sein graulockiger Haarkranz um die Clownsglatze stand förmlich zu Berge und ließ ihn noch lächerlicher aussehen, als er ohnehin schon aussah, wie Sira sarkastisch bemerkte, allerdings nur innerlich. Sarkasmus oder Ähnliches war mit Sicherheit das Letzte, was sie sich erlauben konnte. Also schüttelte sie gleichsam nur innerlich den Kopf, was äußerlich einen dezent skeptischen Blick in ihr ebenmäßiges Gesicht zauberte . »Geh schon ran!«, schrie Mike nun völlig außer sich, als sie weiterhin reglos dem bräsigen Orang Utan die Banane hinhielt und so tat, als sänge es nicht aus ihrem beeindruckenden Dekolletee, das die Kostümbildnerin in einen mit Blättern aufgemotzten Sport-BH gequetscht hatte. Selbstredend wie üblich zwei Nummern zu klein, was als natürliche Sinnlichkeit durchging, okay, man hätte auch ordinär sagen können. Aber so ordinär wollte keiner sein. Nicht jetzt, wo Mike keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er nur noch Arthouse war, also Kunst machte, egal, wer zahlte und worum es ging. Schluss mit dem üblichen Kommerz. Nicht er. Nicht mit ihm. Damit würden die Werbefritzen eben leben müssen, dass selbst die primitivsten Spots jetzt als Kunst daher kamen, weil MOK - wie er sich selbst heimlich abkürzte, weil es so weltläufig klang - nichts anderes konnte. Ihm alles andere wesensfremd war, unter seinen Händen gar nichts anderes entstehen konnte als Kunst. Große Kunst, großes Kino, ganz großes Kino.

»Geh endlich ran!«, seine Stimme überschlug sich bereits. Für alle am Set ein Alarmzeichen. Nur Sira verdrehte wenig schuldbewusst die Augen. Was regte er sich nur so künstlich auf, war wohl neidisch, weil nach ihm kein Hahn mehr krähte, während bei ihr die Hähne noch immer Schlange standen. Und Mike ganz weit hinten in der Schlange.

»Jaaa«, ließ sie ihre Stimme besonders lasziv klingen, während der Orang Utan das blöde Hinhalte-Spiel endgültig satt hatte und seine World-Wildlife-Kinderstube prompt vergaß und die Banane in einem Stück verschlang, wobei er kräftig furzte, was die Maskenbildnerin in einen hysterischen Kicher-Anfall ausbrechen ließ.

Frederick war am Apparat, trotzdem versuchte Sira einen möglichst geheimnisvollen Gesichtsausdruck anzunehmen und das Gurren beizubehalten, obwohl sie ihn am liebsten gleich abgehängt hätte. Aber so ein Anruf am Set eröffnete Möglichkeiten, sich als interessant für andere Regisseure zu gerieren.

»Ich drehe gerade, schnell, Sweetie, okay, okay, das ließe sich vielleicht einrichten, mal sehen, wie es terminlich geht.« Frederick war angenehm überrascht, wie schnell sie auf seinen Vorschlag einging, sich demnächst ein paar ruhige Wellness-Tage in einem Resort auf Pulau Buluh, der Bambusinsel, zu gönnen. Das ging fast zu leicht. Er hatte mit erbittertem Widerstand gerechnet, allein schon weil der Vorschlag von ihm kam und sie grundsätzlich gegen alles war, was von ihm kam. Wann das angefangen hatte? Wohl keine drei Monate nach der übereilten Hochzeit, aber die Scheinschwangerschaft, wie er Siras geheimnisvolle unerklärliche Hormonschwankungen gleich nach dem Honeymoon heimlich nannte, war bereits der Anfang vom Ende gewesen. Ob sie tatsächlich je schwanger war oder nur hysterisch und falls ja, was genau passiert war, auf natürlichem oder künstlichem Wege, auch das wusste er nicht. Wie er sich überhaupt eingestehen musste, dass er eher wenig über seine Angetraute wusste. Aber noch schlimmer war, dass er schon lange nichts mehr wissen wollte. Was umgekehrt augenscheinlich genauso galt.

Nein, er würde nicht mitkommen, höchstens nach, vielleicht, wenn es denn seine Termine zuließen. Er wusste, dass sie beide froh wären, wenn es nie dazu käme.

»Okay, ich melde mich später«, beendete sie das Gespräch mit einem undefinierbaren Seufzer und blickte mit Unschuldsaugen in die Runde. Blauen Unschuldsaugen. Die Maskenbildnerin hatte auf Kontaktlinsen bestanden, der Kontrast zu den dunklen Orang Utan-Augen…, als würde das eine Sau interessieren. Doch seit Mike Arthouse machte, war man vor keinem noch so überflüssigen Einfall sicher. Außerdem stand auf der Visitenkarte der Maskenbildnerin seitdem Makeup-Artist in drei Sprachen. So etwas verpflichtete, zu welchem überflüssigen Blödsinn auch immer.

»Und sind Gnädigste bereit, sich wieder uns gewöhnlich Sterblichen zuzuwenden, oder wenigstens dem Affen?«, unterbrach Mikes Stimme mit aufsteigender Lautstärke ihren Gedankengang. »Können wir endlich wieder? Und bitte!«