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Simon Zawalinski, geboren 1952 in Stettin, lebte zunächst mit seinen Eltern in Polen. Während der antijüdischen Exzesse in den Jahren 1967–1970 emigrierte er nach Israel und von dort in die Bundesrepublik Deutschland, wo er sich in Frankfurt am Main niederließ. Noch in Polen schrieb er als Jugendlicher Gedichte und Erzählungen. In Israel redigierte er mit anderen Mitgliedern eine Kibbuzzeitung, für die er auch regelmäßig schrieb. In Deutschland war er Mitherausgeber und Autor einer polnischen Exilzeitschrift. Von ihm erschienen bereits die Romane »Der Ostpark-Blues« (2010), »Der Schnee von Jerusalem« (2013), »Das Bildnis einer Prinzessin« (2017) sowie »Mord im Westend« (2018), das Theaterstück »Der polnische Patient« (2014) und die Erzählsammlung »Frankfurter Kioskgeschichten« (2015).

Simon Zawalinski

Die Affäre Abel

Kommissar Steinacker ermittelt.
Zweiter Fall.

Frankfurt-Krimi

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Prolog

Der Frühling 1945 war nur mäßig warm, kein Wunder nach dem harten Winter. Die Insassen des Lagers Überlingen-Aufkirch vermuteten, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand. Sie wussten, dass die Alliierten eine zweite Front in der Normandie eröffnet hatten und ihre Bomber Einsätze gegen Hitlers Armee flogen. Sie hofften zwar täglich auf die Befreiung, aber sie trauten sich nicht, es laut auszusprechen. Alle waren am Ende ihrer Kräfte, manche warteten sehnsüchtig auf den Tod.

Dieser war zuverlässig einmal in der Woche im Büro des Lagerkommandanten Heinrich Müller zu Gast. Der ehemalige Deutschund Geschichtslehrer hatte sich innerhalb kürzester Zeit von einem Durchschnittsmenschen, dem man kaum Beachtung schenkte, in einen erbarmungslosen Sadisten und grausamen Peiniger verwandelt. Immer am Dienstagvormittag ließ er einen Appell auf dem Hof des Lagers durchführen. Dann wählte dieser gefühllose Unmensch, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen hatte, einen Häftling aus, der mit ihm eine Partie Schach spielen musste.

Heinrich Müller war kein besonders guter Schachspieler, seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren eher mittelmäßig. Doch egal, ob der auserwählte Gegner gewinnen oder verlieren würde, es war auf jeden Fall sein Todesurteil. Entweder er starb durch einen Schuss aus Müllers Pistole – das war eine gute Sache –, oder durch dessen Schäferhund »Apache« – das war eine sehr schlimme Angelegenheit. Apache war darauf trainiert worden, auf Befehl seines Herrn den vor ihm stehenden Menschen zu zerreißen. Dafür gab es extra einen Keller, der für solche Vorstellungen hergerichtet worden war. Um die zerfetzte Leiche kümmerten sich andere Häftlinge, die unter der Aufsicht der SS-Wachleute die sterblichen Überreste zu entsorgen hatten.

An diesem bedeutenden Tag, an dem der Himmel verheißungsvoll blau war und der laue Wind einen ersten Hauch von Sommer vermittelte, wählte Heinrich Müller, der Kommandant von Hitlers Gnaden, Josef Apfelgarten zu seinem Partner im Schachspiel. Ausgerechnet Apfelgarten! Dieser stille, noch sehr junge Mann lebte im Lager so unauffällig, wie sein Peiniger vor dem Krieg in seiner Heimatstadt Darmstadt gelebt hatte. Mit acht Jahren war Josef Apfelgarten mit seiner Tante Klara aus Warschau nach Berlin gekommen. Seinen polnischen Akzent hatte er dort vollkommen verloren, er sprach gepflegtes Hochdeutsch, konnte aber auch in den Berliner Dialekt umschalten. Tante Klara wurde irgendwann nach Polen zwangsdeportiert, Josef hatte mehr Glück und blieb in Berlin. Vor einem Jahr aber, im Alter von achtzehn Jahren, war er bei einer Polizeikontrolle festgenommen, von der Gestapo mit aller Schärfe verhört und in dieses Lager eingewiesen worden.

Und nun hatte er den Tod vor Augen, denn unabhängig vom Ausgang der Partie würde er das vermeintlich nahe Kriegsende nicht mehr erleben. Sie saßen am Tisch, vor ihnen das glänzende Schachbrett mit Figuren aus Elfenbein. Müller bat seinen »Gast«, die Farbe seiner Figuren zu wählen – nicht mehr als eine höfliche Geste. Josef nahm weiß, Müller lächelte milde. Josef war in der Schule im Berliner Stadtteil Pankow einer der besten Schachspieler gewesen. Er wusste, dass er den Kommandanten nicht besiegen durfte, denn dann wartete der Tod. Aber auch verlieren würde ihn nicht am Leben halten. Er musste unbedingt ein Remis erreichen. Mit allen legalen und illegalen Mitteln hatte es Müller immer wieder geschafft, ein Unentschieden zu vermeiden, und bis jetzt hatte sich kein Gegenspieler gefunden, der ihn in dieser Hinsicht austricksen konnte.

Das Prozedere verlief wie immer: Müller rauchte Zigarre und trank französischen Cognac, Apache bewachte den Gefangenen und wartete auf das Zeichen seines Herrn. Josef dagegen konnte nur seine Spucke schlucken, er wagte nicht, den Kommandanten um ein Glas Wasser zu bitten.

Doch an diesem Tag war Müller nicht ganz bei der Sache. War es die Nachricht, die er erhalten hatte und die er durch die BBC bestätigt wusste, nämlich dass das Tausendjährige Reich nur noch wenige Tage andauern würde? Im Geheimen bereitete er sich auf die Flucht vor. Beim ersten Anzeichen von anrückenden Kriegsgegnern würde er in einem geordneten Rückzug nach Frankfurt fliehen. Zuvor musste er noch alle Unterlagen, alle Dokumente vernichten und die Häftlinge beseitigen. Er hatte schon eine passende Stelle gefunden, in einem Wald etwa drei Kilometer vom Lager entfernt. Dort gab es große Gruben, man müsste die Häftlinge nur erschießen, ihre Leichen dort hineinwerfen und zuschütten. Dann wäre er frei.

Während des Spiels gab es einen Fliegeralarm. Müller ging in den Keller, Apache und Josef mussten oben bleiben. Die Bomben fielen auf die Katen und Häuschen des Dorfes in der Nähe, das Lager wurde nicht getroffen. Danach wurde die Partie fortgesetzt.

Josef spielte konzentriert wie noch nie in seinem Leben, denn um dieses ging es ja auch. Alle seine Gedanken galten der Aufgabe, ein Remis zu erreichen. Nach dem Fliegeralarm wurde Müller zunehmend nervös. Er machte einige einfache Fehler und ermöglichte Josef dadurch den Aufbau einer Anordnung, die zum Unentschieden führen sollte.

Aus dem Dorf sah man rote Flammen in den Himmel aufsteigen und es stank bis ins Lager nach Verbranntem. Beide Spieler wussten, dass das nächste Bombardement das Lager treffen konnte. Während Josef um sein Leben spielte, war Müller in Gedanken mit der Organisation seiner Flucht beschäftigt und störte daher die Bemühungen seines Gegenspielers, ein Remis zu erreichen, nicht konzentriert genug. Und als Josef plötzlich leise »Patt!« sagte, verstand er zunächst nicht. Erst langsam, nach genauer Analyse der Figuren auf dem Schachbrett, begriff er, dass hier wirklich ein Unentschieden zustande gekommen war. Das war neu für ihn. Perplex erhob er sich und wusste zunächst nichts zu sagen. Apache schaute erwartungsvoll zu seinem Herrn, aber der Befehl kam überraschenderweise nicht.

»So, so«, sagte der Kommandant schließlich, »du hast es also geschafft! Normalerweise müsste ich dir dein Leben schenken, aber in diesen Tagen ist nichts normal. Und du hast nun mal das Pech schon mit deiner Geburt gepachtet«, lachte er und rief nach dem SS-Sturmbannführer Jansen, der den Gepeinigten mit einem Kopfschuss töten sollte.

Jansen machte für Müller alle Schweinereien mit, aber diesmal rief er den Wachmann Schwalbe und beauftragte ihn, Josef Apfelgarten zu erschießen. Der junge SS-Mann, ein Berliner Kind genau wie Josef, hatte in den Kriegswirren seinen Berliner Akzent und seine Unschuld als Bürger dieser Welt verloren. Er war bei einem Raubüberfall geschnappt und nach seiner Verurteilung zum Wachdienst im Konzentrationslager zwangsrekrutiert worden, wo er die Insassen bewachen und notfalls liquidieren sollte. Bis jetzt hatte er nicht töten müssen, aber nun sollte er es das erste Mal tun. Und das so kurz vor dem Kriegsende, dachte er verbittert. Er schaute den Häftling an. Dieser war nicht älter als er, ein harmloser Mensch, der ihm nichts getan hatte und ihm auch nichts tun wollte. Warum also musste er diesen Menschen töten? Nur weil er Jude war, weil er eine andere Religion hatte? Das hatte ihn nie gestört. Ob jemand Jude, Christ oder Moslem war, war für ihn unwichtig. Ein Mensch, den er achtete oder dem er Sympathie entgegenbrachte, musste anderen Kriterien genügen. Aber Befehl war Befehl und wenn er diesen nicht befolgte, konnte er selbst erschossen werden.

Als sie in der Mitte des Lagers ankamen und Schwalbe den Unglücklichen zur Erschießung an die Wand neben der Baracke »G« führte, hörte man Geräusche am Himmel. Schnell näherte sich eine Schar von schwarzen Punkten, die im Nu zu Flugzeugen anwuchsen, gefährlichen Bombern, die ihre Ladungen direkt über dem Lager abzuwerfen gedachten.

Noch bevor die ersten Bomben den Boden erreichten, beschloss Schwalbe zu fliehen. Und Apfelgarten flüchtete mit. Alle im Lager waren damit beschäftigt, sich in Sicherheit zu bringen, die Bewacher wie auch die Bewachten. In diesem Durcheinander gelang es den beiden jungen Männern, durch das von den ersten Granaten in den Drahtzaun gesprengte Loch in die Freiheit zu entkommen. Im Bombenhagel liefen sie dem Dorf entgegen.

Dort befanden sich kaum Menschen. Die meisten Häuser waren abgebrannt, die Felder kaum mehr zu erkennen – verbrannte Erde, wohin das Auge schaute. Der Geruch von Verkohltem lag schwer in der Luft, die noch voller Asche war. Die beiden Flüchtlinge fanden einen alten Bauern, der in seiner halb ausgebrannten Kate saß und mit sich selber sprach.

»Er ist verrückt geworden«, sagte Schwalbe.

»Kein Wunder«, antwortete Apfelgarten, »seine ganze Existenz ist verloren gegangen. Wer in diesen Zeiten nicht verrückt wird, der ist zu bewundern.«

Da der Bauer auf ihre Zurufe nicht reagierte, durchsuchten sie seine Schränke und fanden Kleidungsstücke, die sie kurzerhand entwendeten. Günther Schwalbe und Josef Apfelgarten entledigten sich ihrer Uniformen. Der eine befreite sich von seiner schwarzen SS-Uniform, der andere von seinen gestreiften Häftlingskleidern. Danach aßen und tranken sie das, was sie in der Hütte fanden, und machten sich dann auf den Weg in eine unbekannte Zukunft. Sie sollte besser werden als die Gegenwart, die mit der deutschen Niederlage und Kapitulation ihr Ende zu finden schien.

Erster Teil

An einem sommerlichen Morgen vor etwa zwanzig Jahren trafen sich in einem Café im Stadtteil Bockenheim drei Kommilitonen der hiesigen Goethe-Universität. Sie absolvierten ein Jurastudium und waren alle drei gute Studenten, jeder von ihnen hatte einen ausgeprägten Sinn für das Wesentliche. Bei Kaffee und Kuchen beschlossen sie, gemeinsam ihre berufliche Karriere zu starten.

Sie waren junge, selbstbewusste und lernwillige Menschen, die noch dazu einen ungeheuren Machthunger verspürten. Sie sahen sich als zukünftige Elite nicht nur des Bundeslandes Hessen, sondern des gesamten deutschen Staates. Sie waren klug, begabt und schon von zu Hause auf berufliche Führungsaufgaben vorbereitet. Die Ideale der früheren Studentenbewegung, die Che Guevara, Fidel Castro, Mao und Ho Chi Minh verehrte, waren ihnen bekannt, aber fremd. Weniger mit heißem Herzen als mit kühlem Verstand huldigten sie anderen Idolen und verfolgten andere Leitbilder. Sie schätzten Milton Friedman und Michail Gorbatschow, Sloterdijk war ihnen näher als Marx und Adorno. Sie dachten konservativ, identifizierten sich mit der Politik von Helmut Kohl und der deutschen Einheit und ihre Helden waren die Manager von VW, Daimler-Benz oder der Deutschen Bank. Die beiden jungen Männer stammten aus elitären Familien und auch die Verwandtschaft der jungen Dame war gut situiert.

Sven Beck, der Anführer dieses Trios, war ein geborener Befehlshaber; einer, nach dessen Pfeife alle anderen zu tanzen pflegten. Er war groß, kräftig und trug sein kurzes dunkelblondes Haar nach hinten gekämmt. Sein Vater war ein bekannter Rechtsanwalt, der ausgezeichnete Kontakte zu den großen Wirtschaftsunternehmen pflegte. Er beriet Konzerne und vertrat die Interessen verschiedener einflussreicher Wirtschaftskapitäne. Becks Familie stammte eigentlich aus Hamburg, wo seine Vorfahren angesehene Kaufleute und Juristen gewesen waren. Da sich sein Großvater während des Dritten Reiches den Machthabern etwas zu heftig angedient hatte, suchte dieser nach den Kriegswirren ein neues Betätigungsfeld und fand es in Frankfurt. Er wurde zu einem allseits respektierten Strafverteidiger und saß am Ende seiner Karriere sogar im Frankfurter Stadtparlament.

Der Enkel, der mit seinen Eltern eine Prachtvilla in Oberreifenberg im Taunus bewohnte, war auf die Strafverteidigung nicht besonders erpicht. Er wollte eher in die Fußstapfen seines Vaters treten und als Wirtschaftsjurist seinen Werdegang gestalten. Nicht von ungefähr belegte er als Zusatzfach die Betriebswirtschaft, die ihn schon immer sehr interessiert hatte. Eigentlich wollte er in die Politik, um dort seine Ideen, die er en masse hatte, zu verwirklichen. Deswegen war er auch Mitglied in der Jugendorganisation der Partei, die seine Interessen nach seiner Ansicht am besten vertrat. Auch seine Kommilitonen fanden ihre politische Heimat in dieser Parteigruppe.

Der zweite im Kreis der Karrieremacher war ein etwas untersetzter junger Mann mit einem hübschen Gesicht. Er hatte dichtes schwarzes Haar und seine großen braunen Augen brachten so manches Mädchen um den Schlaf. Er gefiel den Damen und er wusste und genoss es. Seine Familie stammte aus Frankfurt, sein Großvater hatte eine Managerstelle bei der IG Farben gehabt und nach dem Krieg bei den Farbwerken Hoechst gearbeitet, wo er es zum Rang eines Direktors gebracht hatte. Sein Sohn und der Vater unseres Studenten war ein hoher Beamter beim Frankfurter Bauamt. Über seinen Schreibtisch gingen sämtliche Bauanträge im Frankfurter Stadtgebiet. Er war der Herr über Genehmigungen und Absagen, über Großbauprojekte und über den Bau von Gartenhäuschen. Er kannte alle Frankfurter Bauherren und sie kannten ihn. Er gehörte zu denjenigen Beamten, die kein Herz aus Stein hatten und mit denen man über alles reden konnte. Sein Sohn hieß Olaf Jansen und träumte davon, ein berühmter Anwalt oder noch besser ein bekannter Politiker zu werden. Er war ehrgeizig, ein kühl denkender Mensch, der alles plante und abwog, bevor er etwas in die Wege leitete.

Die Dritte im Bunde war eine junge Frau. Sie war von durchschnittlicher Statur und durchschnittlichem Aussehen, mit dunkelblondem Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Sie wirkte nicht besonders graziös, sondern hatte eher das Gesicht eines Wiesels. Sie war intelligent und sehr ehrgeizig und sie besaß die Gabe, schwächere Menschen für ihre Vorhaben auszunutzen oder sie zumindest zu beeinflussen. Mit den charakterstarken Menschen wusste sie sich zu arrangieren. Ihr Name war Amanda Lange, sie stammte aus dem Stadtteil Griesheim. Ihr Großvater hatte in den Dreißigerjahren in Frankfurt bei der Kriminal-, später bei der Geheimen Staatspolizei gearbeitet. Während des Krieges hatte er »mit der Waffe in der Hand« gedient, wie er immer wieder betonte. Seine Gattin war die Tochter des ehemaligen Polizeichefs Müller, der nach dem Krieg auf dem Weg zur Arbeit eines Tages verschwand und nie wieder auftauchte. Bis zum heutigen Tag galt sein Fall als ungeklärt. Der Sohn hatte es zum Revierleiter in Griesheim gebracht, und auch die Enkelin sollte in den Polizeidienst eintreten. Doch Amanda wollte lieber Staatsanwältin werden und den Kommissaren das Fürchten lehren. Auch sie wollte später in die Politik und es irgendwann möglichst bis nach Berlin schaffen.

Die drei »Musketiere« sahen sich gut gerüstet für den Kampf um die Macht und sie waren bereit, dafür Opfer zu bringen. Sie wussten, dass sie auf ihrem Weg nach oben keine Rücksicht auf die Mitmenschen nehmen konnten, denn nur wer Macht besaß, konnte Entscheidungen fällen und die Massen beeinflussen.

Das »Dreigestirn« war nicht nur miteinander befreundet, Amanda war auch in wechselnden Abschnitten mit einem der beiden Studenten liiert. Zunächst war sie mit Sven zusammen, danach verlebte sie eine schöne Zeit mit Olaf, um später wieder zu Sven zurückkehren. Manchmal, wenn die Lust zur Qual wurde, verbrachte sie süße Augenblicke mit Olaf. Alle drei waren mit diesem Spiel zufrieden und führten ein erfülltes und ereignisreiches Leben. Außer in der Liebe, in der sie ihr konservatives Gedankengut beiseiteschoben und sehr weltoffen wirkten, galt ihr ganzes Augenmerk ihrer späteren Karriere, der sie sich mit großem Eifer widmeten. Sie lernten fleißig und bestanden alle Examen ohne Probleme.

Nun war die Zeit gekommen und die drei zu allem entschlossenen jungen Menschen hatten mit dem Staatsexamen in der Tasche das Gemäuer der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe-Universität verlassen. Die Welt stand ihnen offen, man musste nur nach den reifen Früchten greifen. Und das taten sie auch auf beeindruckende Art und Weise.

Jochen Abel hatte es nicht immer leicht gehabt im Leben. Seine Eltern hatten ein kleines Geschäft geführt und sein Vater war sehr streng gewesen und hatte viel verlangt, manchmal zu viel. In den Wirren der Nachkriegszeit hatte es Jochen Abel dann nach Frankfurt verschlagen, wo er Arbeit beim Bau eines Einkaufszentrums fand. Da er seine Arbeit gut und fleißig bewerkstelligte, fiel er dem Polier ins Auge, der ihn dem Firmenchef als festen Mitarbeiter empfahl. In dieser Baugesellschaft lernte Jochen alle Kniffe und Tricks dieser Branche. Schon zwei Jahre später heiratete er die Tochter des Bauunternehmers, mit der er wiederum eine Tochter hatte. Seine Frau war keine Schönheit und er war nicht in sie verliebt, aber er respektierte sie und wollte ihr ein guter Gatte sein. Als der Schwiegervater das Zeitliche segnete, stieg Jochen Abel zum Firmenleiter auf. Damit begann seine steile Karriere.

Im Auftrag von Banken und Versicherungen kaufte er Grundstücke und Immobilien und ließ die Gebäude abreißen, um die leeren Areale an potente Investoren zu verkaufen. Jahrelang machte er für die Konzerne die Drecksarbeit, die aber von seinen Auftraggebern fürstlich entlohnt wurde.

Eines Tages beschloss Jochen, sein Tätigkeitsfeld zu erweitern und selbst Großprojekte zu bauen. Am Anfang kämpfte er mit Schwierigkeiten, die ihm seine ehemaligen Auftraggeber bereiteten, aber peu à peu befreite er sich aus ihrem Schatten und verwirklichte eigene Projekte. Im Lauf der Zeit wurde er zum respektierten Big Player im Bau- und Immobiliengewerbe. Er baute nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Den Namen Abel kannten jedoch nur die Insider, seine Firmen hießen Bauwelt, Centralbau, J. A. Bau oder Baufinger Bau-Management. Er baute ein spektakuläres Einkaufszentrum in Mexiko, die Postverwaltung in Djakarta, ein Shoppingcenter in Hannover und einen ganzen Stadtteil mit Wohnungen, Geschäften und der dazugehörigen Infrastruktur in Saudi-Arabien. Er baute im Irak, in Norwegen, den USA und Kanada. Mit den Chinesen gründete er ein Joint Venture in Peking.

Mit der Zeit wurde er der wichtigste und vermögendste Bauunternehmer Europas. Viele Konkurrenzfirmen kaufte er auf und ließ sie unter ihrem bisherigen Namen weiterarbeiten. So wurde er zu einem der reichsten Männer Deutschlands, nur wusste das kaum einer, denn er blieb immer im Hintergrund, nie sah man ihn auf Partys oder anderen Veranstaltungen. Er mied die Öffentlichkeit und man wusste so gut wie nichts über ihn.

Jochen Abel hatte neben seiner Ehefrau noch eine Freundin, die früher auf weniger anständige Art und Weise ihr Geld verdient hatte. Sie war eine wunderschöne, aparte Frau mit dem gewissen Etwas. In ihrer Jugend in Gießen war sie ein kaum beachtetes Mauerblümchen gewesen. Ihr erster Freund, Harald Beckmann, ein kleiner Ganove und Dealer, erkannte sofort das Potenzial, das in diesem Mädchen steckte, und machte aus Marie Kolesniak das Model Marie, das seine Kunden begeisterte. Als es für Beckmann, den man in seinen Kreisen nur Harry Nixnutz nannte, in Gießen zu eng wurde, zog er nach Frankfurt, die schöne Marie in seinem Schlepptau. Marie landete in einem Freudenhaus, wo sie Jochen Abel begegnete. So entstand die Beziehung, die zu einer großen Liebe wurde. Nachdem Abels Ehefrau an Krebs erkrankte und einige Zeit später ihrer Krankheit erlag, machte Abel Marie zu seiner offiziellen Partnerin und bald danach zu seiner Gemahlin.

Abels Tochter Sarah besuchte die besten Internate in Amerika und blieb in den USA, wo sie einen Rechtsanwalt heiratete. Dieser war ein Hai in seiner Branche und sein Hunger nach lukrativen Fällen war kaum zu stillen. Eines Tages wurde er im Gericht erschossen. Sarah heiratete danach seinen Partner, der das stille Arbeiten bevorzugte. Zum Vater hatte sie gar keine Beziehung und auf sein Geld pfiff sie, sie hatte selbst genügend.

Mit seiner zweiten Gattin bekam Jochen Abel ebenfalls eine Tochter, die sie Anna nannten. Die neue Frau Abel lernte schnell die Etikette der sogenannten besseren Gesellschaft, blieb aber in ihrem Innersten die Marie aus Gießen. Ab und zu hatte sie noch Kontakt zu Harald Beckmann, der als Harry Nixnutz im Frankfurter Bahnhofsviertel Karriere machte und gern heikle Aufträge entgegennahm. Nach außen mimte er weiterhin den Kleinganoven mit überschaubarer Intelligenz, in Wirklichkeit hatte er gute Verbindungen in die Frankfurter Unterwelt. Er arbeitete eng mit einem gewissen Günther Lerch zusammen, der einer der Großen im Milieu war und überall Einfluss hatte.

Für Marie Abel begann das Märchen mit dem Umzug in die Villa ihres Mannes in Sachsenhausen. In diesem Gebiet zwischen der Babenhäuser und der Mörfelder Landstraße hatte man nach dem Krieg eine Art Ghetto für die reichsten Frankfurter Bürger errichtet. Imposante Villen und Schlösschen standen am Stadtwald. Wer am Lerchersberg, so hieß das Gebiet, Quartier bezog, der durfte sich zur Elite des Frankfurter Bürgertums zählen. Hier wohnten bekannte Künstler neben Baulöwen, Bankmanager neben Politikern, Unternehmensgrößen neben den Superreichen aus der Unterwelt. Jede Villa wurde von Sicherheitsfirmen überwacht, häufig sah man nur die Security-Leute, selten die, die von ihnen beschützt wurden.

In eine dieser Prachtvillen übersiedelte die neue Frau Abel. Marie schickte ihre Tochter jedoch in die örtliche Schule, obwohl ihr Vater die besten Internate für sie ausgesucht hatte. Nach der Grundschule besuchte das Mädchen das Goethe-Gymnasium und absolvierte ein bravouröses Abitur. Sie immatrikulierte sich an der Frankfurter Universität, denn ihr Wunsch war es, Anwältin zu werden.

Die Zeit blieb nicht stehen, der Milliardär spürte sein Alter, er litt unter verschiedenen Krankheiten. Jochen Abel musste mehr auf seine Gesundheit achten. Das Firmenkonglomerat wurde in verschiedene Aktiengesellschaften umgewandelt, in allen Gesellschaften fungierte Jochen Abel als Aufsichtsratsvorsitzender. Seine Marie half ihm so gut sie konnte, aber viel konnte sie nicht machen.

Eines Tages erlitt der Firmenmogul einen Schlaganfall, der ihn ans Bett fesselte. Er war bei vollem Bewusstsein, konnte aber nicht sprechen und sich auch kaum bewegen. Marie versuchte seine Geschäfte weiterzuführen, aber sie war in der Betriebswirtschaft nicht bewandert, deshalb überließ sie die Geschäftsleitung dafür ausgebildeten Managern, was eine weise Entscheidung war. Tochter Anna stand kurz vorm Staatsexamen und verspürte kein Bedürfnis, sich der Leitung des Firmenimperiums zu widmen. Ihr Ziel war eine Hilfestellung für den kranken Vater, um sein Lebenswerk zu erhalten.

Um die privaten Geschäfte zu ordnen, engagierte Marie Abel einen jungen Finanzberater, der außerdem ein promovierter Jurist war. Knut Petersen sollte ihr persönlicher Vermögensberater und juristischer Beistand sein. Er stammte aus Kiel und hatte in Hamburg studiert. Knut Petersen sah verdammt gut aus und besaß zudem Charme und Einfühlungsvermögen, was seine Wirkung auf die Frauen nicht verfehlte. Er war einer, den die Frauen liebten und der ihre Liebe gern erwiderte. In Kiel und Hamburg ließ er viele gebrochene Frauenherzen zurück, als er nach München ging und dort eine Stelle bei einem bekannten Versicherungsunternehmen antrat. Auch die bayerischen Mädels fanden Gefallen an dem kühlen Norddeutschen, sodass er sich über Einsamkeit nicht beklagen brauchte. In Frankfurt wollte er nun ein geordnetes Leben führen, vielleicht auch heiraten und Kinder haben. Die Arbeit bei den Abels sollte interessant, nicht besonders schwierig und abwechslungsreich sein. Er freute sich auf die neue Aufgabe.

Noch bevor er seinen neuen Job antrat, lernte er bei einem Empfang in Frankfurt eine reizende Staatsanwältin kennen. Diese Dame gefiel ihm auf Anhieb. Er fand sie so faszinierend, dass er versuchte, sie in sein Hotelzimmer einzuladen, was sie verständlicherweise ablehnte. Er wandte alle möglichen Tricks an, um mit ihr die Nacht verbringen zu können, aber alle Bemühungen schlugen fehl. Als er schon nicht mehr an sein Glück glaubte und fast aufgeben wollte, sagte sie plötzlich doch noch ja.

Nach dieser Nacht voller Leidenschaft und Zärtlichkeit teilte sie ihm unvermittelt mit, dass sich diese Begegnung nicht wiederholen würde. Sie habe nur nach einem körperlichen Ausgleich gesucht und den habe sie auch bekommen. Knut Petersen war zutiefst schockiert und fühlte sich herausgefordert. Seine Partnerin für eine Nacht war zwar nicht besonders schön, ihr Gesicht erinnerte ein bisschen an ein Wiesel, aber ihre Charakterstärke, ihre Willenskraft und ihr Auftreten imponierten ihm. Auf alle Fälle schien sie ein Machtmensch zu sein und dies gefiel Petersen, der die netten Mauerblümchen verabscheute.

Er erkundigte sich bei einem Bekannten aus der Anwaltsbranche nach ihr und erfuhr, dass sie eine aufstrebende Juristin war, der große Chancen eingeräumt wurden, den scheidenden Oberstaatsanwalt zu beerben. Sie war noch dazu eine gute Partie und der angehende Vermögensverwalter verliebte sich Hals über Kopf in die junge Frau.

Günther Lerch war ein groß gewachsener Mann, der früher Kampfsport betrieben und einige Kämpfe auch gewonnen hatte. Im Krieg hatte er viele unschöne Dinge machen müssen und schreckliche Situationen erlebt. Darüber wollte Günther Lerch nicht reden, er wollte nicht einmal daran denken oder erinnert werden. Jetzt schämte er sich seiner Taten, aber damals hatte er keine Möglichkeit gehabt, abzulehnen. Er war in Berlin nach einem Raubüberfall verhaftet und zur Arbeit in einem Strafbataillon verurteilt worden. Er war nur der Fahrer des Fluchtwagens gewesen, deshalb gab man ihm die Chance, seine Untat zu sühnen, indem er in einem Konzentrationslager Dienst tat.

Kurz bevor der Krieg endgültig zu Ende war, flüchtete Lerch aus dem Lager und verschwand nach Frankfurt. Im Nachkriegsdeutschland eröffnete er zusammen mit einem jüdischen Kompagnon ein Freudenhaus, dazu kamen bald einige Nachtklubs und Spielhallen. Danach investierte er sein Geld in Immobilien und so lernte er den Baulöwen Jochen Abel kennen, der Lerch viele Investitionsmöglichkeiten eröffnete. Diese Investitionen brachten ihm gutes Geld ein und es entstand eine Freundschaft mit dem Immobilienmagnaten.

Mit der Zeit wurde Lerch zu einer Größe im Rotlichtmilieu und beherrschte zusammen mit einigen anderen Anführern der Unterwelt das Bahnhofsviertel. Eines Tages half er seinem Freund Abel, eine prekäre Lage zu meistern. Irgendein rücksichtsloser Wettbewerber in der Baubranche versuchte, Abel einzuschüchtern, um seine Geschäfte zu übernehmen. Verzweifelt kam dieser zu Lerch und erzählte ihm von den Drohungen.

»Wozu hat man Freunde, Jochen?«, beschwichtigte ihn der Unterweltkönig und meinte, er könne beruhigt nach Hause gehen. Er werde schon dafür sorgen, dass dieser Widersacher ihn nie wieder belästigen werde. Abel fragte nicht nach der Art dieses Dienstes, ihm war nur wichtig, dass dieser gefährliche und rücksichtslose Mensch, der sich auch in Unterweltkreisen bewegte, in die Schranken gewiesen wurde. Mit dem Tag des Gesprächs wurde der unangenehme Störenfried nicht mehr gesehen.

Den Auftrag zur Einschüchterung erhielt damals ein etwa dreißigjähriger Mann, der trotz seiner Drogenprobleme ein verlässlicher Erfüllungsgehilfe von Günther Lerch war. Man nannte ihn Harry Nixnutz, seinen richtigen Namen kannte kaum jemand in der Frankfurter Unterwelt. Nixnutz stammte aus Gießen und hatte von dort seine Freundin Marie Kolesniak mitgebracht, die schnell Günther Lerchs Gefallen fand. Da der Drogendealer zunächst an seinem Mädchen festhielt und es für unverkäuflich erklärte, musste der Rotlichtpate sehr deutlich werden. Danach einigte man sich und Lerch nahm Marie und Harry unter seine Obhut. Er machte Marie zu seiner Gespielin und zum ersten Freudenmädchen am Platz, das nur für besondere Kunden zu buchen war, und Harry wurde zum wichtigsten Gehilfen des Frankfurter Unterweltbosses.

Die Affäre mit Marie dauerte einige Jahre, dann wandte sich Günther Lerch jüngeren, nicht immer attraktiveren Frauen zu. Es traf sich gut, dass Marie einen Kunden traf, der sie tröstete und für ihr Wohl sorgte. Auch Günther Lerch war mit dem neuen Freund seiner Marie einverstanden: Es war Jochen Abel, der Marie nach dem Tod seiner Frau heiratete, als sie mit Anna schwanger wurde. Günther Lerch fungierte sogar als Pate der kleinen Anna und hatte immer das Gefühl, der wahre Erzeuger des Kindes zu sein. Er hatte die Obsession, Marie und Anna beschützen zu müssen.

Auch das Leben Jochen Abels war ihm nicht gleichgültig. Er beriet ihn in verschiedenen Angelegenheiten, denen der Baulöwe alleine nicht gewachsen war. Er empfahl ihm, Tadzio als Leibwächter zu engagieren. Tadzio, den alle nur Pan (Herr) Tadzio nannten, war ein polnischer Marineinfanterist, ehemaliges Mitglied der Stetzki-Gang, eine berüchtigte kriminelle Organisation in Stettin. Als es dem Haudegen in seiner Heimat zu heiß wurde, erkor er Wien zu seinem neuen Domizil. Man munkelte, der fast zwei Meter große und einhundertzwanzig Kilo schwere Draufgänger sei dort für den österreichischen Geheimdienst tätig gewesen, denn er wusste vieles, was andere gerne wissen wollten. Nach zwei missglückten Attentaten auf seine Person flüchtete er nach Frankfurt, wo Günther Lerch ihn unter seine Fittiche nahm und ihm den Job bei der Familie Abel besorgte. Pan Tadzio, der Hüne mit dem Aussehen eines Catchers, diente dem neuen Herrn treu und gewissenhaft.

Marie Abel konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Pan Tadzio verschiedene Informationen über die Familie Abel direkt an seinen Gönner aus dem Bahnhofsviertel weitergab. Als Jochen Abel nach seinem Schlaganfall ans Bett gefesselt war, trafen Lerchs Leute besondere Sicherheitsvorkehrungen. Harry Nixnutz wurde beauftragt, Informationen über den Vermögensverwalter und Finanzberater Knut Petersen einzuholen. Lerch wollte alles wissen und Harry konnte diesen Auftrag zur vollen Zufriedenheit des Bosses erfüllen.

Hauptkommissar Armin Steinacker von der Frankfurter Mordkommission hatte ein ungutes Gefühl. Der alte Staatsanwalt Kurt Moritzen wurde in den Ruhestand verabschiedet, an seiner Stelle sollte eine neue Kollegin die Geschäfte führen. Sie war bekannt als eine zähe, kompromisslose Vertreterin der Anklageseite. Sie hatte ihre eigene Meinung und vertrat diese auch vehement. Der Kommissar hatte nichts gegen Frauen in diesem Beruf, aber er wusste, dass die Zusammenarbeit mit ihr viele Komplikationen und Schwierigkeiten bereithalten würde. Sie war früher für die Drogenfahndung zuständig gewesen und die Kollegen hatten mit ihr einige harte Nüsse zu knacken gehabt.

Zudem bekam die von Steinacker geführte Mordkommission jetzt einen neuen Leiter, Dr. Lindner. Sein ehemaliger Chef, mit dem Steinacker noch die Polizeischule besucht hatte, wurde in Pension geschickt. Mit ihm hatte er jahrzehntelang ausgezeichnet harmoniert. Eine Zeit lang hatte Steinacker die Abteilung kommissarisch geleitet, doch nun hatte man ihm einen studierten Juristen vor die Nase gesetzt. Er war überrascht zu erfahren, dass Dr. Lindner neben Jura auch Psychologie und Kriminalistik studiert hatte und als absoluter Fachmann auf seinem Gebiet galt. Dr. Lindner war jung und sehr ehrgeizig, ein ausgezeichneter Theoretiker, dem allerdings noch die Berufspraxis fehlte. Er verstand sich prächtig mit Steinackers Mitarbeiter Doppelmayer, mit Steinacker selbst gestaltete sich die Zusammenarbeit eher schwierig.

Bei einem gemeinsamen Mittagessen mit dem Chef des Raubdezernats, Fred Sattler, erfuhr Steinacker mehr über seinen Vorgesetzten und die neue, für seine Abteilung zuständige Staatsanwältin. Sattler erzählte, dass die beiden zusammen an der Frankfurter Universität studiert hatten. Die neue Staatsanwältin werde aber nicht lange bei der Mordkommission bleiben, weil sie Höheres im Sinn habe, meinte er und lächelte verschmitzt.

»Die Dame ist sehr ehrgeizig. Man munkelt, sie sei die Geliebte von Oberstaatsanwalt Förster und eine heiße Anwärterin auf seine Nachfolge. Der Alte ist ja Kandidat für einen Posten im Justizministerium in Berlin. Und dass Förster ein geiler Bock ist, wissen wir alle. Es kann sich also lohnen, ihm eine besondere Freundschaft anzubieten«, lachte der Chef des Raubdezernats.

»Wodurch unterscheidet sie sich dann noch von einer Prostituierten?«, fragte Steinacker.

»Die sind ehrlicher«, antwortete Sattler sarkastisch.

Es interessierte Steinacker allerdings nur am Rande, ob an diesem Gerücht von einer Liaison etwas Wahres war, ihm ging es vor allem um seine Unabhängigkeit bei den Ermittlungen. Nachdem ihm schon Dr. Lindner die Autonomie streitig machte, wollte er nun die Neue zwingen, Farbe zu bekennen.

An diesem Tag hatte der scheidende Staatsanwalt Moritzen den Kommissar und seinen Assistenten Doppelmayer in sein Büro gebeten. Dort saß schon eine etwa fünfunddreißigjährige Dame, ebenso waren Dr. Lindner und der Oberstaatsanwalt Dr. Förster anwesend.

Steinacker musterte die neue Staatsanwältin, die ihm als Amanda Lange vorgestellt wurde. Ihre ganze Haltung zeugte von einer Frau mit großer innerer Stärke, Durchsetzungsvermögen und eisernem Willen. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte den Kommissar an ein Wiesel, das immer wachsam und sprung- und abwehrbereit ist. Sie und Dr. Lindner könnten nach seinem Gefühl charakterliche Zwillinge sein.

Der Herr Oberstaatsanwalt bedankte sich zuerst bei Dr. Moritzen für seine hervorragende Arbeit und wünschte ihm alles Gute für den verdienten Ruhestand. Danach rühmte er dessen Nachfolgerin als hervorragende Juristin, sehr gute Psychologin und einfühlsamen Menschen. Da hatte Steinacker seine Bedenken, aber er schwieg. Die so Gelobte antwortete mit ein paar wenigen Sätzen. Sie freue sich auf die neue Aufgabe, sie schätze den Chef der Abteilung, Dr. Lindner, sehr, und sie habe viel Gutes über die Arbeit dieser Mordkommission gehört. Sie dankte Dr. Förster für das Vertrauen, das er ihr entgegenbringe, und hoffe ihn nicht zu enttäuschen. Sie werde alle Kräfte daran setzen, eine erfolgreiche Arbeit zu leisten. Sie verstehe sich als ein Mitglied des Teams, als einen Teil der Kette, die von den Mitgliedern der Mordkommission gebildet werde, und sie hoffe auf gute Zusammenarbeit.

Zurück in ihrem eigenen Büro, fragte Steinackers engster Mitarbeiter Doppelmayer seinen Chef, was er von der neuen Staatsanwältin halte. Ohne auf die Antwort zu warten, schwärmte er gleich: »Ein dufter Typ, die Dame.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Steinacker irritiert.

Sein Assistent lächelte verträumt. »Sehr apart, noch ziemlich jung, gutes Auftreten, eine starke Persönlichkeit, und außerdem ist sie in der richtigen Partei.«

Steinacker wunderte sich, wie Doppelmayer an diese Information gekommen war.

»Ganz einfach, der Bruder meiner Freundin ist auch in der Partei, ich weiß es von ihm.«

»Mit dieser Dame werden wir noch viel Freude haben«, sagte Steinacker sarkastisch.

Doppelmayer verstand die Ironie ganz offensichtlich nicht, denn er erwiderte ernsthaft: »Das meine ich auch. Sie ist bestimmt eine gute Staatsanwältin, sie wird uns mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

Steinacker nickte nur und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Wie immer um diese Zeit war Stau auf der Eschersheimer Landstraße. Ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht mühte sich langsam an den Autoschlangen vorbei.

Als sie ihre Berichte schrieben, trat Lindner nach kurzem Klopfen ins Büro. »Ich habe hier zwei Einladungen zu einem Empfang, den die neue Staatsanwältin Lange veranstaltet. Sie würde sich sehr freuen, wenn Sie beide erscheinen würden.«

Kommissar Steinacker bedankte sich artig bei seinem Chef und indirekt bei der Frau Staatsanwältin für die Einladung, seine Freude war allerdings nur vorgetäuscht. Er war ein erfahrener Fahnder, ein erprobter und bewanderter Polizist. Nicht dass sie ihm völlig unsympathisch gewesen wäre, aber er spürte, dass von ihr eine unbestimmte Gefahr drohte. Deshalb beschloss er, im Umgang mit ihr Vorsicht walten zu lassen, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und ihr Treiben und Verhalten genau zu beobachten. Der kluge Fuchs Steinacker wusste, dass er sich zukünftig auch vor seinem Assistenten vorsehen musste, der, wie auch Lindner, der Dame zu Füßen lag.

Bei dem Empfang, der in einem Prominentenkurort im Taunus stattfand, erkannte der Kommissar einige alte Bekannte. Die Gebrüder Wecker, ein Brüderpaar aus dem Bahnhofsviertel, waren genauso dabei wie der Kleinkriminelle Harry Nixnutz. Zu Steinackers Überraschung erschien er zusammen mit der um einiges älteren Baronin von den Weiden, die ein altes Adelsgeschlecht von Moselweinbauern repräsentierte. Ihm blieb schleierhaft, was diese beiden miteinander zu tun hatten. Der Staatssekretär Olaf Jansen war anwesend und auch die Lichtfigur der Partei, der künftige Parteivorsitzende und Prominentenanwalt Sven Beck, der als Berater für einen bekannten Versicherungskonzern tätig war. Sein neuer Chef Dr. Lindner schien alle Promis gut zu kennen, mit Beck und Jansen duzte er sich sogar. Doppelmayer klärte den Hauptkommissar auf, dass Beck, Jansen, Lange und Lindner zusammen an der Frankfurter Universität Jura studiert hatten.

Steinacker langweilte sich und wollte die Festgesellschaft gerade verlassen, als er auf einen Mann um die dreißig aufmerksam wurde, der mit einem Glas Cognac in der Hand in ein Gespräch mit der Gastgeberin vertieft war. Der erfahrene Polizist registrierte natürlich die Blicke, die der Fremde der Staatsanwältin zuwarf. Sie schien dem Interesse des Mannes an ihrer Person keine Bedeutung beizumessen, aber Steinacker spürte, dass sie seine Blicke doch bemerkt und richtig interpretiert hatte. Anschließend unterhielt sie sich mit dem Oberstaatsanwalt und dessen Gattin, wobei sie die Gelegenheit nutzte und offene wie auch verstohlene Berührungen mit diesem austauschte.

Der künftige Parteivorsitzende war eindeutig derjenige, dem man die größte Aufmerksamkeit schenkte. Steinacker hörte, wie Lindner gegenüber dem Polizeipräsidenten erwähnte, dass er sich Sven Beck gut als künftigen Landesvater vorstellen könne und er sich auch nicht wundern würde, wenn eines Tages der neue Bundeskanzler Sven Beck hieße. »Der Mann ist eine Wucht, ein geborener Führer«, behauptete er.

Der Polizeipräsident, der einer Oppositionspartei angehörte, schwieg dazu. Auch ihm war der dynamische Rechtsanwalt nicht geheuer, aber auch er glaubte, dass dieser es noch weit bringen würde.

Knut Petersen begann seine Arbeit bei der Familie Abel mit viel Elan. Der bemitleidenswerte Firmenpatriarch lag auf seinem Bett, unfähig, sich zu bewegen oder deutlich zu sprechen. Knut Petersen wusste, dass Abel alles hörte und verstand, aber außerstande war, sich auf verständliche Weise mitzuteilen.

Innerhalb von drei Wochen hatte sich der kühle Norddeutsche einen Überblick über die finanziellen Verhältnisse der Familie Abel verschafft. Was sich ihm da offenbarte, versetzte den guten Finanzberater in einen Schockzustand. Der Privatbesitz der Familie betrug schon ohne die vielen Zusatzeinahmen und ohne Firmenbeteiligungen einige Milliarden Euro. Etwa drei Milliarden waren allein die Immobilien wert, die die Familie in ihrem Besitz hatte. Das Firmenkonglomerat des Jochen Abel beinhaltete zu Petersens Überraschung auch Firmen, die mit der Immobilienbranche gar nichts zu tun hatten. Eine Mogena GmbH in Schmitten im Taunus handelte mit gebrauchten Metallwaren, die Serpico aus Triest in Italien verkaufte gebrauchte Agrarmaschinen wie Traktoren, Mähdrescher oder Häcksler nach Afrika, und zwar für gewaltige Summen, die Petersen nicht so recht nachvollziehen konnte.

Laut dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Julius Alexander Sitko stand im Erbfall Marie als Abels Gattin der Löwenanteil des Vermögens zu. Der Rest würde an die Töchter Anna und Sarah fallen. Auch der Leibwächter Pan Tadzio war im Testament bedacht. Doch ganz darauf verlassen konnte man sich nicht, denn Marie hatte einmal erwähnt, dass es noch einen zweiten, geheimen Letzten Willen gebe. Als Petersen Dr. Sitko danach fragte, verweigerte ihm der Jurist jegliche Auskunft.

Das Abelsche Vermögen war in Aktien, Obligationen, Zertifikaten und Fonds angelegt. Auch in Immobilien und urbane Projekte wurde investiert. Dr. Sitko war schon seit über einem halben Jahrhundert mit Jochen Abel befreundet und handelte zuverlässig in dessen Interesse. Nach langem Hin und Her bekam Knut Petersen die Vollmacht, mit einem Teil des Geldes verschiedene Transaktionen zu tätigen. Dr. Sitko beobachtete penibel alle Vorgänge und Buchungen und verlangte für jede Geldbewegung einen Beleg.

Nicht nur Dr. Sitko beobachtete mit Argusaugen die Arbeit des neuen Verwalters. Auch Pan Tadzio war von der Anwesenheit Petersens in der Villa nicht besonders begeistert. Ihm gefiel der aalglatte Finanzjongleur nicht und er zeigte ihm offen seine Abneigung. Allerdings konnten Dr. Sitko und auch von ihm hinzugezogene Finanzprüfer keine Unregelmäßigkeiten in der Arbeit Petersens feststellen. Da gab Dr. Sitko klein bei und interessierte sich nicht mehr für Petersens Geschäfte. Nur Pan Tadzio blieb wachsam, beschützte Jochen Abel und schaute Petersen auf die Finger.

Marie Abel hatte eine Physiotherapeutin für ihren Mann angestellt. Die Frau hieß Maria Lopez und versuchte ein wenig Leben in den gelähmten Jochen Abel zu bringen, am Anfang jedoch mit sehr überschaubarem Erfolg. Aber sie ahnte, welche Kräfte sich in dem Kranken verbargen.

Die Hausherrin schloss den neuen Finanzberater schnell ins Herz. Er erschien ihr vertrauenswürdig, integer und verschwiegen und er hatte sehr gute Manieren. Und dieser Mann war ein Charmeur, ein Beau, den die Frauen bewunderten. Marie hatte in ihrem Leben genug Erfahrungen mit Männern gemacht und die meisten fielen bei ihr durch. Bei Knut Petersen war das anders. Ihr gefiel dieser kühle Mann aus dem Norden, seine Art zu sprechen, seine Bewegungen, sein ganzes Auftreten machte auf sie großen Eindruck. Vielleicht erinnerte er sie an die Männer, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten.

Das war zunächst Harald Beckmann, der erste Mann in ihrem Leben. Bis zum heutigen Tag pflegte sie Kontakt mit ihm. Das war den Erinnerungen geschuldet an die Zeit, in der sie als junges Mädchen die Welt noch in rosaroten Farben sah. Später hatten auch dunkle Episoden und traurige Momente ihr Leben verdüstert, aber Harald, oder Harry, wie er genannt wurde, war immer für sie da. Erst unlängst hatte sie ein Treffen ihres ehemaligen Freundes mit der Baronin von den Weiden vermittelt. Die Adlige hatte Gefallen an dem flotten Harry gefunden, und er an der aparten Baronin. Lieselotte von den Weiden war in einschlägigen Kreisen früher als »flotte Lizzy« bekannt gewesen, bevor sie durch die Heirat mit ihrem besten Kunden Baron Willibald Gernot Hagen von den Weiden in den Adelsstand erhoben wurde. Und nun förderte sie den Aufstieg des ehemaligen Junkies und jetzigen Angehörigen der Frankfurter Unterwelt in die gehobene Gesellschaft.

Der zweite Mann, der für Marie immer gezählt hatte, war der Bordellbesitzer Günther Lerch. Dieser erfahrene und gut aussehende Mann war ihre wohl größte Liebe gewesen. Er hatte ihr Sicherheit vermittelt und Glamour in ihr nicht einfaches Leben gebracht. Er hatte Disziplin und Fleiß bei der Arbeit verlangt, doch als Jochen Abel Gefallen an ihr fand, da erlaubte Günther ihr, nur ihn zu bedienen. Damals war ihre Beziehung aber schon zu Ende gewesen, Günther hatte jüngere Frauen bevorzugt. Aber sie blieben Freunde, was in dieser Branche eine Ausnahme war. Er stand ihr immer noch mit Rat und Tat zur Seite, sie konnte sich auf ihn verlassen. Auch die Freundschaft zwischen zwei so verschiedenen Menschen wie Lerch und Abel war ungewöhnlich. Lerch investierte in Immobilien, die ihm Abel vermittelte, kaufte Aktien, die ihm Abel empfahl und investierte auf den Rat seines Freundes hin in Restaurants und Klubs. Nach Maries Heirat hatte Lerch unzählige Liebschaften, eine feste Beziehung ging er nicht mehr ein.

Maries größtes Glück war aber ihr dritter Mann, Jochen Abel. Zunächst war er ein Kunde wie jeder andere im Freudenhaus gewesen, aber bald begann sie ihn zu mögen, seine Besuche gehörten zu ihrem Tag wie das Mittagessen oder die Besprechungen mit dem Boss. Sie gewöhnte sich so an ihn, dass seine Abwesenheit ihren Tagesablauf durcheinanderbrachte und sie ihn aufrichtig vermisste. Aus der mittlerweile entstandenen Zuneigung zueinander entwickelte sich eine echte Liebesbeziehung. Und diese Liebe hielt nun schon über viele Jahre hinweg und wurde durch ihre gemeinsame Tochter Anna noch zusätzlich gefestigt. Marie war eine wunderbare Mutter und das Mädchen hatte sich zu einer eloquenten und gut erzogenen jungen Frau entwickelt. Jochen Abel liebte seine Tochter abgöttisch und legte für sie einen eigenen Fond an, den er »Anna« nannte.

Das ehemalige Freudenmädchen wurde zu einer ehrbaren und standesgemäßen Ehefrau des Wirtschaftsmoguls. Ihre Vergangenheit konnte sie zwar nicht leugnen, aber sie stand zu ihrer Lebensgeschichte und sammelte damit viele Pluspunkte in der »besseren« Gesellschaft. Die Zeit verging und das Paar hatte viele glückliche Momente. Ihre Ehe war von gegenseitigem Respekt geprägt, sie hielt über die Jahrzehnte, und das war vielleicht das Erstaunlichste.

Dann kam das Unglück! Ein von den bösen Kräften der Finsternis gesteuerter Schicksalsschlag stellte ihr ganzes Leben auf den Kopf. Jochen Abel erlitt einen schweren Schlaganfall.

Hauptkommissar Steinacker war ein einsamer Wolf und ein verbissener Jäger, allerdings nur in seinem Beruf. Im Privatleben war er eher ein harmloses Lamm. Er hatte keine besonderen Interessen, wenn man vom Bücherschreiben absah, ein Hobby, das er gerne zum Beruf gemacht hätte. Er hatte nicht geheiratet, was Steinacker mit dem zunehmenden Alter bedauerte. Er hatte einige heftige Liebesaffären gehabt und sogar die ein oder andere Beziehung, die jedoch alle nicht von längerer Dauer waren. Ein Kommissar der Mordkommission muss sein Privatleben häufig dem Dienst unterordnen, was Steinacker nie ernsthaft infrage stellte. So reichte es nur zu kurzen, wenn auch manchmal stürmischen Romanzen.