Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort von Michael Draksal

Keller und eine Zimmerpflanze

Céline Zimmer

Ich hätte es wissen müssen

Michael Thode

Ich, dein Körper

Elifcan Ünal

Wie ein Vogel im Wind

Jennifer Böhm

Der Mensch, der keiner war

Kimberly Heinke

Liebes Ich

Marina Kryuchkova

Auf ewig mein

Sandra Wiedemann

Wach auf! Bevor es zu spät ist!

Christina Leoni

Lass dich treiben

Dominique Walker

Schildkrötentränen

Jenny Mohr

Die Autoren

Impressum

«Wenn Dein Pferd tot ist, steig ab.»

– Indianisches Sprichwort –

Was sammelst Du?

Briefmarken, Erfahrungen, Fahrpläne der Deutschen Bahn … Egal wie schräg Deine Leidenschaft auch sein mag, alles ist gut, solange es nicht zu Zwangshandlungen führt. Wer nicht mehr loslassen kann, bekommt schnell Probleme. Der Messie ist unfähig, sich zu trennen, selbst von Abfall. Oder nehmen wir Beziehungen, die längst beendet sind und die wir dennoch nicht loslassen können oder wollen. Welches Leid würde uns erspart bleiben, wenn wir nur loslassen würden.

Die gute Nachricht ist: Jeder kann lernen loszulassen! Als ultimative Methode hierfür sehe ich das „Leben im Hier und Jetzt“, also achtsam und bewusst in der Gegenwart anzukommen und eben nicht zwanghaft in der Vergangenheit zu verweilen.

Wie geht das?

Meditiere, führe ein Dankbarkeitsjournal, sei nicht so streng zu Dir und zu anderen – „Lächle sie weg, die Arschlöcher, lächle sie weg“ und komm in den Flow!

Als ich durch einen Umzug gezwungen war, auszumisten, stand ich vor einem Problem: Die neue Wohnung hat keinen Keller, deshalb mussten rund 15 Umzugskartons entsorgt werden. Sie waren voll mit Erinnerungen aus den letzten 25 Jahren: mein erster Handy-Vertrag, Hörspiel-Kassetten (ja, wirklich), alte Tagebücher (die waren am schwersten zu entsorgen).

Wie habe ich es geschafft, loszulassen?

Ich habe mir alle Gegenstände nacheinander angeschaut und jeweils entschieden, ob ich sie a) auf eBay verkaufen oder b) wegwerfen kann. Wenn etwas in die Kategorie b) fiel, war die Anschlussfrage, ob a) direkt in den Müll oder b) erst abfotografieren und dann in den Müll.

Die Fotos dienen als Erinnerungshilfe und machen es leicht, sich tatsächlich zu trennen. Hat für mich prima funktioniert. Man fühlt sich so befreit, das ist unbeschreiblich! Und falls ich doch mal in Erinnerungen schwelgen möchte, habe ich ja die Bilder, eigentlich ganze Alben, die ein paar emotionale Stunden geben, aber alles sehr versöhnlich und „gesund“, als bewusste Entscheidung: Schätze die Erfahrungen Deines Lebens wert, sie haben Dich zu dem Menschen gemacht, der Du heute bist. Übrigens kamen bei dem eBay-Verkauf unglaubliche 1400 Euro zusammen. Damit waren die Umzugskosten komplett finanziert. Wahnsinn, wie viel Geld in Kartons versteckt ist!

Herzlich willkommen zu diesem zweiten Sammelband aus der Edition Schreibrausch, diesmal zum Thema „Loslassen“! Wie schon im letzten Jahr haben wir wieder einen Kurzgeschichten-Wettbewerb ausgelobt und die besten Kurzgeschichten hier veröffentlicht. Folge den wunderbaren Autorinnen und Autoren auf ihren Instagram-Kanälen, einige haben bereits Bücher geschrieben, andere sind mitten drin im Schreibprozess:

Céline Zimmer
www.instagram.com/_dazwischen
Dominique Walker
www.instagram.com/dolli.walker.schreibt
Jenny Mohr
www.instagram.com/jennymohr_autor
Elifcan Ünal
www.instagram.com/elifjane
Sandra Wiedemann
www.instagram.com/wiedemann.sandra.autorin
Christina Leoni
www.instagram.com/cl_colourfullife
Marina Kryuchkova
www.instagram.com/mkryuchkova
Jennifer Böhm
www.instagram.com/jenniferboehm.author
Michael Thode
www.instagram.com/michael_thode_autor
Kimberly Heinke
www.instagram.com/kimiii_h

Viel Spaß mit den Kurzgeschichten rund um das Thema „Loslassen“ wünscht:

Michael Draksal

Herausgeber der Edition Schreibrausch

www.Edition-Schreibrausch.de

Keller und eine Zimmerpflanze

von Céline Zimmer

Während mein Kaffee neben mir langsam kalt wird, sehe ich mich in diesem Auto sitzen, in dem Lisa und ich sonst immer die Musik so laut aufdrehten, dass es fast in den Ohren schmerzte. In dem wir gesungen hatten, geraucht, ich mich auf dem Beifahrersitz geschminkt hatte, in diesem kleinen klebrig aussehenden Spiegel, der immer im Handschuhfach gelegen hat. Jetzt war von all dem nichts mehr übrig. Eine Zimmerpflanze stand auf meinem Schoß. Grün, die Erde noch feucht, vier große Blätter hatten sich bereits gebildet. Die Abendsonne spielte Schattenhaschen durch die Laubbäume der Landstraße. Es war ganz still. Und ich war es auch.

Als ich Leon kennengelernt habe, hatte mir das Leben wohl etwas Gutes tun wollen. Wie wir dort saßen, auf dieser Bank, mit dem Blick über die Genfer Altstadt, eine Flasche Rotwein stand zwischen uns. Aufgeregt waren wir wohl beide, ein bisschen zumindest. Erste Dates halt. Er war etwas schüchtern, lieb sah er aus, sehr lieb sogar. Wir redeten über die klassischen Dinge; unsere Einstellung zu linker Politik und den absolut übertriebenen Gendersternchenschreiber*innen, wo wir herkamen, was für uns Zuhause bedeutet, was wir gerne trinken, was wir gerne sehen, was wir gerne tun. Gelacht haben wir viel, wir hatten immer schon den gleichen Humor. Ein gutes Zeichen. Alles lief natürlich ab, schön war es, ein wenig unaufgeregt, diese innere Ruhe, von der mein Therapeut immer sprach, die fühlte ich tief in mir. Ich ließ mich fallen, in diese Ruhe. Wie ein wundervoller See inmitten der schwedischen Natur kam er mir vor. So ganz anders als das wütende Meer, welches mir sonst so bekannt war, ein friedvoller Ort, ein friedvoller Gegner, der sich bereits an unserem ersten Abend als etwas entpuppte, das man wohl eher einen Partner als einen Gegner nennen konnte. Wie von selbst sind wir, als es uns so langsam kalt wurde in dieser frühsommerlichen Nacht, zu ihm gefahren. Gefallen hat mir da schon ziemlich alles an ihm, merke ich gerade.

„Soll ich dir mein Bett überlassen?”, hatte er mich gefragt, als ich in seinem Zimmer stand, weil ich zu müde war, um drei Uhr nachts – welch eine unchristliche Zeit an einem Sonntagabend für einen Bayer und eine Schweizerin, die am darauffolgenden Tag beide arbeiten mussten – noch nach Hause zu fahren. Ich lächelte. „Nein, natürlich nicht!“, sagte ich leise. Natürlich dürfte er sich mit mir das Bett teilen. Ja, wir hatten uns noch nicht geküsst. Komisch, dachte ich damals, während mir klar wurde, dass wir die letzten sieben Stunden unseres Abends nur mit Reden verbracht hatten. Er legte sich neben mich ins Bett. Wie schön er aussah, mit seinen weichen Wangen und seinen wundervoll blauen Augen.

Kaum konzentrieren kann ich mich beim Versuch, mich an diesen Moment zu erinnern und an das Gefühl. Es vermischt sich alles. Wie Keller sich plötzlich zu mir umdrehte und mich endlich küsste. Und wie er mich packte, mit seinen starken, großen Händen – im Eifer des Gefechts hätte er mich fast die Mauer runtergestoßen, auf der ich saß, die Füße einen halben Meter über dem Boden baumelnd, damit wir uns in die Augen sehen konnten. Aber er hielt meine Taille fest und zog mich wieder an sich heran, während mein ganzer Körper ihn begehrte. Jede einzelne Faser sehnte sich nach ihm, nach seinen Lippen, nach seiner starken Brust und seiner rauen Haut. Er packte mit seiner großen Hand an meinen Hals und zog mich an sich. Seine Finger streiften meinen Nacken hoch, leicht und zart, und griffen dann mit voller Bestimmung in meine Haare. In mir machte sich ein Gefühl des Schwindels breit, der Ohnmacht. Und genau das war ich auch in dem Moment; ohnmächtig und völlig erlegen. Der ältere Herr am Tisch neben mir hebt den Kopf, während ein Windzug die Seiten seiner Zeitung ärgert. Er versucht sie glattzustreichen. Sieht – aus meiner Perspektive – ziemlich erfolglos aus. Ich muss an Leon denken und an das Gefühl, dass ich bei ihm sagen konnte, was auch immer mir durch den Kopf ging, er würde es nicht merkwürdig finden. Mehr noch, wie sich nach einer Zeit herausstellte, er verstand mich sogar. Ein Seelenverwandter, könnte man sagen. Vertraut. Sicher, irgendwie. Ich sehe Bilder vor mir, auf denen wir beide in einem Café in Metz sitzen, den gleichen Kaffee trinken, jeder liest ein Buch, ich eines, das er mir ausgeliehen hat, er eines, das ich ihm ausgeliehen habe. Fast zeitgleich griffen wir in regelmäßigen Abständen zu unseren Zigarettenpäckchen. Als es uns auffiel, dass wir sogar beim Rauchen den gleichen Takt hatten, den gleichen Rhythmus, das Gleiche zur gleichen Zeit dachten, sahen wir uns an und mussten lächeln.

Das Café war an einer Brücke über der Mosel. Die Architektur der gegenüberliegenden Straße, die Luft, die Palmen, die merkwürdigerweise so ziemlich überall in Frankreich standen – es erinnerte mich alles ein wenig an Paris. Am Nebentisch saßen zwei ältere, wohl befreundete Damen, ich merkte, wie sie zu uns rübersahen und tuschelten, wahrscheinlich über unser jeune amour1. Ich habe das immer schon gemocht, wenn ältere Menschen sich jüngere Pärchen ansehen und voller Nostalgie an ihre eigenen Liebschaften erinnert werden. Und mit Leon muss es wohl sehr danach ausgesehen haben, dass wir uns liebten, wahrscheinlich auch schon ewig und für immer. Wie ein eingespieltes Team liefen wir immer in die gleichen Gassen, hatten immer auf dasselbe Lust, mochten das gleiche Essen, die gleiche Musik. Leon war – für einen Außenstehenden – vielleicht gar nicht so besonders. Mit seinem langweiligen Job als Consulter, der bei Tag Anzug trug, abends dann Birkenstocks, der in seinem Zimmer weder einen Plattenspieler stehen hatte noch ein volles Bücherregal, es dennoch verstand, dass ich unsinnigerweise immer noch der Ansicht war, dass ich irgendwann mal Schriftstellerin werden würde. Leon mochte bescheuerte Youtube-Videos von alten Pseudorealityshows und wollte gleichzeitig unbedingt bei ARTE arbeiten. Leon reparierte ein altes Fahrrad und ging danach mit seinen Arbeitskollegen zum Tennistraining. Leon war einer der klügsten Menschen, die ich kannte, doch wenn er sich zu einem Thema noch nicht informiert hatte, meinte er einfach: „Dazu habe ich keine Meinung.“ Nichts Besonderes von außen betrachtet. Für mich, für mich jedoch, war er mehr als besonders. Vor allem aber zeigte er mir durch seine Besonderheit, dass auch ich besonders war. Ich, die sich früher nie ganz einer Gruppe zugehörig gefühlt hatte, nie ganz nur einem Thema, einem Stil, einem Interesse, einer Einstellung zuordnen konnte und irgendwie, in meinem tiefsten Inneren, immer das Gefühl hatte, genau diese Unentschlossenheit würde mich ein wenig belanglos, gar uninteressant, normal machen. Leon zeigte mir – und ich glaube, es war ihm gar nicht bewusst – dass es genau jene Facetten sind, seien sie noch so kontrovers, die mich am Ende zu einem besonderen Menschen machen, zu einer Persönlichkeit, die ich immer schon so dringend sein wollte. Ich schätzte die Summe der unterschiedlichen Teile an ihm, und mir wurde dadurch klar, dass ich sie auch an mir schätzen sollte und konnte. Wir waren wie ein Ebenbild, und alles was ich in ihm sah, sah ich ganz plötzlich auch in mir.

„Das klingt doch perfekt, denken Sie nicht?“ Erwartungsvoll blicke ich den älteren Herrn am Nebentisch an. „Seien Sie doch mal ehrlich: Ist es nicht das, von dem alle reden? Einen Seelenverwandten finden, mit ihm alt werden, immer jemanden an seiner Seite zu haben, der Sie versteht, oder es vielleicht gar nicht muss, weil er eigentlich nur sich selber kennen muss, um auch Sie zu verstehen? Hatten Sie sowas in Ihrem Leben?“ Ich warte auf seine Antwort. Er versucht mich anzulächeln, ängstlich irgendwie, nickt einmal ganz leicht mit dem Kopf und wendet sich sofort wieder seiner Zeitung zu. Ist wohl nicht sonderlich gesprächig …

„Ich würde fast eher sagen, dass ich dich liebe, als dass ich jemals in dich verliebt war.“ Das hatte ich am Ende zu Leon gesagt. Danach hatte er die Zimmerpflanze geholt, deren Ableger er nun seit Wochen für mich gezüchtet hatte. Letzte Woche war meine Mutter bei mir zu Besuch. Wir hatten uns beide darauf gefreut, sie etwas mehr als ich, das ist wohl normal. Sie kam die Treppen zu meiner Wohnungstür hoch, ich blieb in der Tür stehen und schrie fast: „Mama, ich muss dir gleich was sagen! Ich will mich von Leon trennen!“ Gut, dass es raus war, jetzt konnte ich sie auch reinlassen. Sie war überrascht, versuchte ihre Enttäuschung mit einem aufmunternden Lächeln zu überdecken und ließ sich auf einen meiner Küchenstühle fallen. Die arme Frau, wahrscheinlich hatte sie sich darauf gefreut, dass nun endlich – endlich – auch mal ihre jüngste Tochter unter die Haube kam, hatte doch ihre älteste vor einem Monat erst geheiratet. Naja, dachte ich mir, immerhin halte ich dich auf Trab, dann wirst du auch nicht so schnell alt. Als sie mich fragte, warum denn, da begann ich meinen Satz – zugegeben, ich habe meiner Mutter nur die halbe Wahrheit erzählt – mit:

„Wir sind uns einfach viel zu ähnlich …“ Sie unterbrach mich mit ihrem Lachen. Ich wusste, woher es rührte. Sie und mein Vater, immer noch verheiratet, sind so unglaublich unterschiedlich, dass ich bis heute nicht verstehe, wie die zwei es miteinander aushalten. „Ich weiß, Mama, man will halt immer das, was man nicht hat.“ Sie hatte ihre Hand an den Mund gelegt und lächelte, verwirrt, aber sogar vielleicht ein wenig verständnisvoll. Das, was man nicht hat … Was habe ich denn nicht? Beginnen wir vielleicht eher damit, wie unterschiedlich Dinge in der Theorie und in der Praxis aussehen können. Ich bin jetzt Mitte zwanzig, habe einen fantastischen Job, eine eigene Wohnung (Gott bewahre, wie ich diese ganzen Schulden jemals abbezahlen soll), und wie würde mein bester Freund Stefan, natürlich schwul, sagen; ich bin wohl ziemlich heteronormativ (was ziemlich beleidigend ist übrigens, aber dieses Fass will ich hier nicht aufmachen!). Ich habe in meinem Leben schon vieles erlebt, früher was Jungs angeht, heute was Männer angeht – gut, teilweise immer noch eher Jungs. Sicher waren das nicht bloß positive Erfahrungen, viele gebrochene Herzen – meistens meines –, viele vergessene Nächte und grausame Kater an darauffolgenden Morgen. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich irgendetwas verpassen würde in meinem Leben oder irgendetwas noch nicht gemacht hätte. Gut, ich könnte vielleicht mal mit einer Frau schlafen, um es mal auszuprobieren. Wie heteronormativ findest du das jetzt, Stefan? Ich schweife ab. Was ich eigentlich damit sagen will, ist, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre bereit für eine Beziehung. Ich hatte das Gefühl wirklich, vor allem, dachte ich, wenn der Richtige kommen würde. Und eines war Leon sicher irgendwie: der Richtige. Und auch wenn ich diese Ansicht selber vertrete, oder vielleicht gerade weil ich das tue, war er wohl nicht der Richtige für diesen Moment. Ich dachte tatsächlich, ich könnte mein altes Ich hinter mir lassen, nicht völlig, sondern nur ein bisschen, etwas ernster werden, mich auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren, wie Verständnis, Partnerschaft, Vertrauen … Hier ein kleiner Spoileralarm: Ich konnte es nicht. Man will halt immer das, was man nicht hat … Oh und wie ich wollte! Er sah die ganze Zeit in den Himmel, sein starker, breiter Männerrücken war mir zugewendet. Fast ein bisschen unbeholfen, der sonst so standfeste Macker, der mir immer Konter gab. Ich musste mich manchmal fast konzentrieren, um ihm zu antworten, wie in einem Debattierclub. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was man in einem Debattierclub macht, ich war noch nie in einem. Aber er drehte sich immer wieder zu mir um und sah mir in die Augen, diese verruchten Augen, die mir ganz kurz Einblicke in sein wirkliches Ich verschafften, seinen weichen Kern. Es machte mich wahnsinnig, wie gut mir das gefiel. Und wie gut es mir gefiel, obwohl ich wusste, dass Kerle wie er es auf jeden Fall draufhatten, Frauen das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein, indem sie so taten, als würden sie ihnen etwas anvertrauen, was sie bei anderen nicht tun würden. Ich kenne das und durchschaue es. Vor allem, weil es eine Masche ist, die ich selber gerne mal bei dem ein oder anderen Kerl angewandt habe. Nur leider konnte ich in diesem Moment rein gar nichts durchschauen. Ich konnte nicht einmal klar denken. Mein Verstand hatte sich völlig verabschiedet. Jedes Mal wenn er sich wieder zu mir drehte, dachte ich mir nur Küss mich endlich, du Idiot! Warum küsst du mich denn nicht? Ich gestehe – wenn ich jetzt so darüber nachdenke – es war nicht die romantischste Kulisse. Sonntagabends auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, zwei Schachteln Zigaretten und zwei Dosen Halbe neben uns. Das geht besser. Aber selbst dieser seelenlose Ort wurde irgendwie zu etwas Besonderem, dadurch, dass Keller sagte, es sei sein Lieblingsplatz in diesem gottverlassenen Vorort, dadurch, dass die Sonne gerade unterging und er mit einem verschmitzten Lächeln bemerkte: „Na, jetzt wird’s hier noch ganz schön romantisch zwischen uns, oder wie?“

„Ach halt die Klappe, Keller!“, antwortete ich. Aber natürlich gefiel es mir, und natürlich hatte Keller, ein Kerl, der mit Ach und Krach seinen Realschulabschluss geschafft hatte, sofort bemerkt, dass es das tat. Wie gesagt, der Unterschied zwischen intellektuell und intelligent. Und ich war in diesem Moment irgendwie keines von beidem. Als wir irgendwann auf die Uhr sahen und bemerkten, dass wir beides hatten; mehrere Anrufe in Abwesenheit und die Zeit vergessen, sind wir wieder ins Auto gestiegen, um nach Hause zu fahren. Zu den anderen. Die nichts merken durften. Ich musste das alles erstmal für mich ordnen, bevor ich das irgendjemandem erzählen konnte. Und so oder so wollte ich bestimmt nicht, dass das halbe Dorf darüber Bescheid wusste – was sie natürlich nun trotzdem tun. Es hatte mich schon auf eine gewisse Weise heißgemacht, wie Keller sich den Rücksitz in die hinterste Stufe gestellt hatte, als er eingestiegen war. Dass nun seine ewig langen, muskulösen Beine neben mir saßen, während er mir die ganze Zeit an die Brust fasste, obwohl ich am Fahren war, machte es nicht besser.

„Fahr da rein!“, sagte er. Mit diesem Befehlston, den ich hasse, aber natürlich – ich schüttele beim Gedanke daran genervt den Kopf – gleichzeitig ziemlich heiß finde. Sokrates, mein Therapeut, meinte, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, mir würde vielleicht eine gewisse Dominanz fehlen, und dass ich meiner devoten Seite ruhig mehr Platz einräumen soll. Da das für mich alles ein wenig zu sehr nach BDSM klingt, unterlasse ich es mal, hier diese Begriffe zu verwenden. Denn ja, Stefan! Ich bin wohl etwas heteronormativ.

„Nein, was soll das?! Ich fahr doch nicht da rein! Ich fahre hier gerade, oder fährst du etwa?“ Ich konnte das nicht ganz so überzeugend rüberbringen wie gewollt, da ich kichern musste, eigentlich über meine eigene Dummheit. „Das ist ein Schleichweg, das geht schneller, du fährst jetzt da rein!“ Gut, Schleichweg also. Was die Begrifflichkeit eines Weges im Sinne von befahrbar angeht, haben Jungs vom Dorf wohl eine andere Definition als ich. Das Auto ruckelte über den steinernen Weg.