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DIE
ENTMIETETEN

ROMAN

SYNKE KÖHLER

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SYNKE KÖHLER

geboren in Dresden, Psychologiediplom, Grafikerin, Studium an der Drehbuchwerkstatt München und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

2011 veröffentlichte sie den Lyrikband »Waldoffen« und 2016 Erzählungen unter dem Titel »Kameraübung«. Sie erhielt Auszeichnungen und Stipendien, darunter den Wartholz-Newcomer-Preis und den 2. Preis des Würth-Literaturpreises. Für die Arbeit an diesem Roman wurde sie unter anderem mit dem Lüneburger Heinrich-Heine-Stipendium und dem Aufenthaltsstipendium im Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth unterstützt.

Synke Köhler lebt in Berlin-Friedrichshain. Sie ist inzwischen selbst von Verdrängung bedroht und unfreiwillig zur Mietaktivistin avanciert.

E-Book-Ausgabe September 2019

www.satyr-verlag.de

Korrektorat: Jan Freunscht

INHALT

Stillstand

Geraldine

2. OG links

Marianne Schweizer wird mariniert

Dienstag

Irene

Stillleben mit Schrankwand

Die Rückkehr

Rein raus

Eigentum

Werbung

Heiße Quellen

Zu spät

Ausblick

Häuserspiele

Geburtstag

Jetzt geht’s los

Zweifel

Zweifel II

Zweifel III

Zweivel IV

Zweifel V

Härtere Bandagen

Alles klebt

Auf halbem Wege

Die Tür

Warten

Intermezzo

Sommer der Liebe

Zweifel X

Wasser

Auf hoher See

Aufbäumen um 15 Uhr

Treppenhaus

Schlemmerparadies

Neue Sachlichkeit

Brandsatz

Regen

Gier

Erledigt

Separiermaschine

Frosthub

Der Stuhl

Jotwehdeh

VEB Möbelwerke Sömmerda

Nico

Feierabend

Kurz vor Schluss

– Läuft!

STILLSTAND

Das dumpfe Geräusch verebbte die ersten beiden Male ergebnislos. Andi fuhr den Seilbagger drei Meter zurück, ließ die Abrissbirne fünfmal hin- und herpendeln, immer weiter ausladend, bis der entsprechende Schwung erreicht war. Dann drehte er den Ausleger. Dem dumpfen Knall folgte jetzt ein lautes Bröckeln. Ein harter, kratzender, stoßartiger Husten. Ein chronischer Husten, dem mit herkömmlichen Mitteln nicht beizukommen war. In der Hauswand klaffte ein ziegelrotes Loch. Das Haus war erschüttert. Aus seinem Mund rieselte der Auswurf.

Andi war zufrieden, zufrieden mit dem Loch in der Wand. Wieder ließ er die Birne pendeln, wieder krachte es. Er hatte seinen Rhythmus gefunden. Das war wichtig, er brauchte diesen Rhythmus. Viermal Schwingen, einmal Krachen. Mit der Abrissbirne konnte er sein Leben auspendeln. Noch zweimal, dann würde es wie von selbst gehen. Wenn er bis zum Frühstück die oberste Etage weggependelt hätte, dann würde er heute Nacht endlich wieder ficken. Es wurde Zeit. Er hatte schon seit fünf Wochen nicht mehr gefickt. Und das war auch nur ein Notfick gewesen. Und wenn in zwei Wochen die Baustelle nur noch ein gerade abgestecktes Viereck wäre, plattgefahrener Sand, Platz für ein neues Fundament, wenn der ganze Schutt weg wäre, dann würde es auch klappen mit einer Anlaufstelle. Damit wurde es in letzter Zeit immer schwieriger. Früher hatte es genügt, einen Zettel zu hinterlassen, ›bis bald Andi‹, und über dem i von Andi statt eines Punktes ein Herzchen zu malen. Dann war er einfach so, wann er wollte, vorbeigeschneit. So lange, bis die Maus angefangen hatte rumzuzicken. Jetzt zickte sie schon von Anfang an. Unter seinen Lärmschutzkapseln sangen die Ohrstöpsel seines iPods, und vor seiner Abrissbirne schwang Madonna, die einzige Frau, deren Älterwerden er verzeihen konnte, ihre Hüften, girl gone wild. Er wollte hier bis 14 Uhr fertig sein. Fertig meinte, 14 Uhr wollte er zuhause unter der kühlen Dusche stehen. In zwei Stunden würde es unerträglich werden, die Hitze und der Staub würden sich vermischen. Alles würde festkleben, sein T-Shirt, seine Jeans, seine Hände, seine Zunge, seine Gedanken. Keine Gedanken, das bedeutete keine knappen Tangaslips und zu Bärtchen gestutzte Muschis.

Andi war in sein meditatives Lebenspendeln vertieft, die Maus in seiner Vorstellung wurde mit jedem Knall jünger, der Abend und die Nacht immer aussichtsreicher.

Andi hörte nicht, wie Rishi brüllte. Sah nicht, wie Rishi mit den Armen ruderte. Wie er auf den Seilbagger zugelaufen kam. Als er ihn jetzt doch im Augenwinkel wahrnahm, hielt er es für einen von Rishis Scherzen. Rishi, der Inder, war für alle ein mit dem Kopf wackelnder Clown. Jetzt hüpfte Rishi todesmutig vor der Abrissbirne hin und her. Der hatte Nerven. Andi versuchte, sich von Rishi nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Rishi lief auch an Tagen wie heute, 37 Grad waren für den Mittag angesagt, und schon jetzt war es pupswarm, nur langärmlig über die Baustelle – um seinen hellen Teint zu behalten, wie er sagte. Andi schüttelte den Kopf. Rishi hüpfte weiter vor den 500 Kilo Stahl herum und ruderte mit den Armen, als wäre er am Ertrinken. Andi traf die falsche Stelle, das Mauerwerk blieb stehen, nur einzelne Putzfladen fielen herunter. Andi war sauer. Rishi machte mit seinen Händen ein T-Zeichen. Auszeit. Er zeigte auf den Schutt. Andi sah ihn böse an. Aber Rishi schlug seine Hände noch einmal eindringlich übereinander. Also ließ er die Kugel ausschwingen und sprang wütend vom Bagger.

– Was soll das? Hat dir die Sonne das Gehirn weggefressen?

– Da liegt jemand.

Andi, der noch immer halb seinen Phantasien nachhing, sah vor seinem inneren Auge eine sich rekelnde, halbnackte Frau. Ein einigermaßen versöhnlicher Grund, seinen Rhythmus zu unterbrechen.

– Wo?

– Da.

– Wo da?

– Unterm Schutt.

– Willst du mich verarschen?

Rishi zog ihn am Ärmel. Zog ihn unter der Abrissbirne vorbei zur Ecke des Hauses, die in sich zusammengefallen war. Der Staub hing noch in der Luft, gegen die blendende Sonne war nicht viel zu erkennen. Ziegel, Putz, Schrankwandteile, zerborstene Fensterrahmen.

– Rishi, es ist zu heiß für sowas.

– Da.

Rishi zeigte auf einen Punkt im Schutt. Andi kniff die Augen zusammen und sah einen verstaubten Ärmel, der halb mit Putz übersät war.

– Das ist eine Jacke, na und?

– Da.

Andis Blick folgte Rishis. In Verlängerung des Ärmels reichten zwei Finger aus dem Schutt heraus. Vollkommen unwirklich. Andi und Rishi starrten auf den Arm.

– Was machen wir?, fragte Rishi.

Rishi grinste. Zumindest sah es für Andi so aus, als würde Rishi grinsen. Weil er immer so aussah. Andi sah Rishi einen Moment zweifelnd an, dann zurück zu dem Arm. Dann schlug er Rishi mit einem harten Schlag auf die Schulter, so dass Rishi beinahe das Gleichgewicht verlor.

– Okay, netter Scherz. Jetzt räum deinen Mist da weg.

Rishis Gesicht, seine Lachfalten um Augen und Mund bekamen auf einmal etwas Schmerzliches, etwas Verzerrtes.

– Ich fass das nicht an.

Ein kühler Luftzug griff in Andis schweißigen Nacken. Ganz unvermittelt fragte er sich, was er hier machte. Vielleicht hatte Rishis Frage das ausgelöst. Was sie hier machten. Sie standen auf einem Haufen Schutt. Unbewusst tat Andi das, was er immer tat, wenn es keine Antwort gab. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund. Er hielt Rishi die Packung hin, obwohl er wusste, dass Rishi nicht rauchte. Rishi schüttelte den Kopf. Andi blies den Rauch gegen die Sonne. Verarschte Rishi ihn? Er wollte nur seine Arbeit machen, er wollte einfach nur mit der Abrissbirne gegen die Wand ballern. Alles wegballern, die innere Stimme wegballern, die Worte wegballern, bevor sie sich zu einer Frage zusammengesetzt hatten. Das Gesicht wegballern. Dieses Haus hatte ein Gesicht. Ein weibliches. Noch nie hatte er ein Haus mit einem Gesicht verbunden. Das Haus war ein Haufen Steine, nichts weiter. Er wollte nicht darüber nachdenken, wer darin gewohnt hatte. Er wollte dieses Gesicht vergessen. Er wollte sich keine Gedanken machen, oder zumindest nicht solche. Das Haus hatte schon genug seiner Energie gefressen. Es konnte sich nur um einen Scherz handeln. Mit der Zigarette im Mundwinkel ging er in Richtung Arm.

– Dann sag ich deinem Kumpel jetzt mal ›Hallo‹.

Andi griff nach der Hand im Schutt und wollte sie schütteln. Sie war hart und weich gleichermaßen, und kalt. Sie gab nicht nach. Ein seltsamer Widerstand. Erst jetzt wurde Andi klar, dass diese Hand tot war. Dass es kein Plastikarm war, den Rishi da hingelegt hatte. Dass es nicht nur eine Hand war, sondern dass diese Hand zu einem Körper gehörte, dass unter ihm, im Schutt, jemand lag.

GERALDINE

Ein unscheinbarer Brief hatte alles angekündigt. Einer von der Sorte, die man gern ungeöffnet liegen ließ, weil sowieso nichts Wichtiges vermeldet wurde, wie z. B. der Kontostand oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein, den man schon lange nicht mehr besuchte. Ein handelsüblicher Briefumschlag DIN lang mit Sichtfenster, hellgrau, aus dünnem Papier. ›Mieterberatung‹ stand kaum lesbar in Schriftgröße 7 als Absender. Geraldine ließ ihr Postfahrrad wie immer am Anfang des Blocks stehen, nahm die Post und die Werbung und lief mit ihrem Generalschlüssel die fünf Hauseingänge ab. Diesmal steckte sie in jeden der zwölf Briefkästen pro Aufgang denselben grauen Brief. Auch in den Briefkasten ›Hardenberg-Gorzkow‹ fiel ein Brief, sie konnte sich nicht erinnern, jemals hier Post eingeworfen zu haben. 60 Briefe, von denen ihr 23 vor dem zweiten Aufgang aus der Hand gefallen waren, sie hatte sich bücken müssen. Es war einfach zu viel diesmal. Sie spürte einen Stich im Kreuz. Geraldine konnte sich denken, dass diese Briefe nichts Gutes verhießen. Auf der einen Seite war da diese Neugier. Andererseits wollte sie es aber auch gar nicht wissen. So wie man eine schlechte Nachricht hinauszögert, obwohl man doch nicht darum herumkommt. Es ging sie auch nichts an. Vielleicht war es nur das Schreiben eines Telefonanbieters. So wie sie vieles nichts mehr anging. Die Politik nicht, die Nachbarn nicht, ihr Exmann nicht. Und auch nicht ihre Kolleginnen. Früher war das anders gewesen.

Beinahe hatte sie es geschafft, sie hatte alle Briefe eingeworfen, und niemand hatte neben ihr gestanden, niemand hatte direkt neben ihr den grauen Brief aufgerissen. Sie kannte dieses Geräusch, wenn die Kunden, alle Menschen hießen auf einmal Kunden, die Post hastig aufrissen, dieses Ratsch, Ratsch, Zfsch. Und dann die Enttäuschung. Meistens war es eine Enttäuschung, eine Enttäuschung, die das Geräusch lautlos wiederholte: Zfschsch. Sie ging den Weg neben den Aufgängen zurück zu ihrem Fahrrad. Noch 30 Meter. Noch 20 Meter. Noch 15 Meter. Geraldine dachte an Heiko, ihren jüngsten Sohn. Sie machte sich Sorgen. Geraldine wollte nicht, dass er so endete wie sie. Dafür hatte sie alles getan. Ihre Jungs sollten studieren. Sie sollten zu den Besseren gehören, und das hatte bis jetzt ja auch gut geklappt. Heiko auf dem Sofa, mit der Chipstüte, die Chipstüte war ihr nicht recht, Chipstüten waren für Geraldine der Inbegriff von Scheitern. Was vielleicht mit ihrem Gewicht zusammenhing. Mit den zu vielen Kilos, die Geraldine wie aus der Kindheit zurückgeblieben erschienen. Am liebsten hätte sie Heiko die Tüte aus der Hand genommen. Geraldine hatte sich auf den Sofarand gesetzt und sich an ihren jüngsten Sohn gekuschelt wie ein junges Mädchen.

– Na, wie läuft’s, hatte sie gefragt.

Heiko hatte sie abgeschüttelt. Unwirscher diesmal als sonst. Insgeheim wusste Geraldine, dass er ihre Nähe mochte, es aber seit der Pubertät nicht mehr zugeben konnte. Normalerweise antwortete Heiko immer gleich, ›gut läuft’s, und bei dir, Geraldine?‹ Er sagte ›Geraldinä‹, so wie sie ihr Leben lang genannt wurde, auch jetzt noch, wo sie schon lange wusste, dass man das e nicht mitspricht. Sie hatte sich inzwischen mit diesem Namen abgefunden. Sie war nach Geraldine Chaplin benannt, der Tochter von Charlie Chaplin. Und das war das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Sie, ein pummliges, tollpatschiges, vielleicht sogar dummes Kind, und immer wurde sie an Geraldine Chaplin gemessen. Von ihrer Mutter, die, wenn sie sie ansah, ihr jedes Mal das Gefühl von Unzulänglichkeit gegeben hatte, dieser kurze Seufzer, und der enttäuschte Blick, dass das Kind dem Vater ähnelte und nicht der Schauspielerin. Die Mutter, die es aber nicht lassen konnte, jedem zu erzählen, nach wem ihr Kind benannt war, so dass auch alle Besucher, auch die wenigen Freunde, die Geraldine mit nach Hause brachte, Geraldinä mit Geraldine verglichen. So dass sie sich angewöhnte, es selbst zu erzählen, damit diese Hürde, diese Lächerlichkeit schon genommen war. Aber das war lange her, seit Jahren war sie nur noch Frau Petzold, obwohl sie auch schon lange nicht mehr die Frau von Herrn Petzold war. Heiko hatte sich durch das Programm gezappt, ohne zu antworten. Da war ihr klar gewesen, dass etwas nicht stimmte. Sie wollte jetzt nicht in ihn dringen. Das musste sie beim nächsten Besuch herausfinden, was nicht stimmte. Langsam, behutsam. Sie versuchte, sich vorzustellen, was die beste Methode war herauszufinden, was Heikos Problem war, und wie sie, Geraldine, das lösen konnte. Aber ihre Gedanken ließen sich nicht weiterführen, denn dort stand Herr Sonntag, mit dem sie sonst gern ein Schwätzchen hielt. Er stand da auf dem Fußweg und hielt in seiner rechten Hand den geöffneten Brief. Am liebsten wäre Geraldine jetzt schnell vorbeigegangen. Was aber unmöglich war. Herr Sonntag wartete auf sie:

– Das musste ja irgendwann so kommen.

– Was?

Herr Sonntag hielt den Brief nach oben.

– Es war nur eine Frage der Zeit. Die wollen uns hier raushaben.

Noch so eine Luxuswohnanlage.

Geraldine und Herr Sonntag schauten zu dem Neubau hinüber.

– Die sind wie Unkraut. Die betonieren jeden freien Flecken zu, am Schluss sieht es hier so aus wie in Marzahn.

Geraldine und Dieter Sonntag hatten sich schon öfter über diesen Neubau ausgelassen. Sie fanden ihn gemeinschaftlich hässlich. Dieter mehr als Geraldine. Genau genommen hatte immer nur Herr Sonntag gesprochen, und Geraldine hatte genickt. ›Die Wohnungen sollen ja ganz verwinkelt sein. Eine halbe Million Euro und mehr bezahlen, und dann haben die auch keinen besseren Blick als wir.‹ Dieter hatte sich über die neuen Nachbarn lustig gemacht.

Dieter Sonntag war sich nicht klar, wie er diesen Brief auffassen sollte. Sollte er darüber lachen, sollte er ihn ignorieren, sollte er wütend werden. Er reichte Geraldine wortlos den Brief. Geraldine war das nicht recht. So genau wollte sie es nicht wissen. Sie wollte nicht hineingezogen werden in fremder Leute Leben. Aber jetzt musste sie den Brief lesen.

Sehr geehrte Fam. Dieter Sonntag,

da der Wohnblock Marner Straße 9–13 nicht mehr den heute geltenden Wohnbedürfnissen entspricht, planen wir umfangreiche Umbaumaßnahmen. Ihre Wohnung in der Marner Straße 13 wird im Zuge des Um- und Neubaus vollständig abgerissen, eine Kündigung des Mietverhältnisses ist somit unumgänglich. Zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten setzen Sie sich bitte mit unserer Mieterberaterin in Verbindung, die Ihnen bei der Klärung aller Fragen behilflich sein wird.

Mieterberatung – Facility Management

Gleisstraße 34, 13734 Berlin

Tel.: 030 543 78 79

mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Windinger

BEB Berliner Ensemble Bau

Wohnanlagen & Immobilien Windinger

Geraldine reichte Herrn Sonntag den Brief zurück. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, sollte sie Beileid bekunden? Mut machen? Herr Sonntag sah sie erwartungsvoll an.

– Ja, sagte Geraldine nur.

Ein mitfühlendes ›Ja‹. Dann war wieder so eine Pause. Geraldine wartete darauf, dass Herr Sonntag etwas sagte.

Dieter schaute auf die Bäume, die er eigenhändig mit eingepflanzt hatte. Inzwischen hatten sie die Höhe des dritten Stockwerkes erreicht. Einen kurzen Moment lang sah er seinen Sohn auf der Babydecke unter den jungen Bäumen stehen. Irene lachte. Wann hatte Irene das letzte Mal so gelacht? Dieter erinnerte sich nicht.

– Na, ich werde die frohe Botschaft gleich mal meiner Frau mitteilen.

Der ironische Ton störte Geraldine. Weil er ihr aufgesetzt vorkam. Geraldine sagte noch einmal ›Ja‹. Diesmal aber klarer.

Grußlos drehte Herr Sonntag sich zur Haustür und war schon fast verschwunden, als er sich an Geraldine erinnerte, sich noch einmal zu ihr umdrehte und ihr zum Abschied kurz zuwinken wollte. Aber Geraldine war schon an ihrem Fahrrad. Dieters Grußhand stoppte auf halbem Weg wie ein erschrecktes Eichhörnchen.

Geraldine spürte ihren Rücken, vorhin beim Bücken musste sie sich verrenkt haben.

2. OG LINKS

Dieter hielt sich am Geländer aus schwarzem Plastik fest. Auf einmal spürte er eine Enge in seiner Brust, so als würden der Beton und die Neubauten auf ihn zuwachsen. Dieter wollte hier nicht weg. Und er wollte noch nicht sterben. Er atmete langsam. Die zwei Treppen erschienen ihm heute wie der Aufstieg auf den Müggelturm. Morgen hatte er wieder einen Termin bei Dr. Hauser. Auch wenn der ganze Prenzlauer Berg, den nur die Zugezogenen ›Prenzlberg‹ nannten, sich verändert hatte, hier in diesem Haus war Dieters Insel. Eine Insel im Meer der Veränderung. Hier blieb alles gleich. Fast. Wenn Irene nicht wäre. Sie hatte auf die Etagenheizung gedrängt. Dieter mochte die Ofenwärme. Die Wärme, die von der Mitte des Zimmers ausging. Das Knistern des Anmachholzes. Selbst den leicht schwefeligen Geruch der Asche mochte er. Immerhin hatten sie den Ofen behalten, und der Schornstein war auch noch in Betrieb, so dass Dieter an kühlen Herbsttagen manchmal den Ofen anheizte.

Irene stand in der schmalen Küche und wuselte.

– Hier, für dich.

Er überreichte Irene den Brief, als würde ihn das nichts angehen. Als wäre das Irenes Sache. Er ließ Irene stehen, setzte sich ins Wohnzimmer und wartete auf ihre Reaktion. Irene hielt den Brief unschlüssig in ihren abwaschfeuchten Händen und legte ihn dann beiseite. Mit einem Wischlappen putzte sie die Spüle frei von Wassertropfen. Dieter schlug die Zeitung auf, die ebenfalls im Briefkasten gesteckt hatte, die er seit 35 Jahren abonniert hatte, ihn aber immer weniger interessierte. Er versuchte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Irene klapperte noch immer in der Küche. Dann war kein Klappern mehr zu hören. Die letzten Schranktüren waren zugeklappt. Stille. Dieters Zeitung sank auf seinen Schoß. Es dauerte. Eine Ewigkeit. Dann kam Irene. Dieter hob die Zeitung und tat so, als wäre er in einen Artikel vertieft.

– Ich finde, das ist eine Frechheit. Eine Frechheit ist das. Dass sie mich nicht mal angeschrieben haben, ich bin doch nicht ›Familie Dieter Sonntag‹.

– Was bist du dann? Natürlich bist du ›Familie Dieter Sonntag‹.

– Bei dir piept’s wohl. Ich bin Irene Sonntag. Ich bin ein eigenständiger Mensch.

– Eigenständig, seit wann bist du eigenständig?

Irene pfefferte den Brief auf den Couchtisch. Dieter tat weiter so, als würde er Zeitung lesen.

Irene begann, auch im Wohnzimmer zu wuseln, aufzuräumen, umzustellen, die Gardinen geradezuzupfen. Mit einem Krümelroller rollte sie zwei Krümel vom Tisch. Sie räumte Dieters Notizen von der linken Seite des Schreibtischs auf die rechte und dann wieder in die Mitte. Über dem Umstand, dass Irene unter ›Familie Dieter Sonntag‹ lief, fanden sie nicht zusammen. So musste jeder für sich mit dieser Nachricht umgehen. Jeder für sich, sich Gedanken machen, Sorgen machen, seine Angst fühlen. Nach einer Viertelstunde setzte sich Irene auf die Couch und begann ein Kreuzworträtsel. Dieter betrachtete die Falten auf ihrem Gesicht. Diesen verbissenen Zug. Dieter wollte seine Frau umarmen. Früher war der harte Zug dann manchmal verschwunden. Hatte sich aufgelöst wie eine Wolke am Sommerhimmel. Fast immer hatten sie danach Sex gehabt, weil Dieter nichts sexyer fand als eine weiche Irene. Irene hatte Sex nie gemocht, oder zumindest hatte Dieter das nie gespürt. Deshalb hatte sie irgendwann seine Umarmungen abgewehrt, weil es Dieter aus ihrer Sicht immer nur um das Eine ging. Damit hatten die Umarmungen aufgehört. Und sie hatten auch nicht wieder angefangen, als auch Dieter Sex nicht mehr wichtig war.

– Wir könnten mal zum Müggelturm fahren, sagte Dieter.

– Was sollen wir dort? Dem Verfall zusehen? Bei dieser Ruine.

– Du bist nicht auf dem neuesten Stand.

– Beim letzten Mal bist du sowieso unten geblieben.

– Ich war oben.

– Bis zur zweiten Treppe warst du, nicht weiter.

– Immerhin.

– Zu essen gibt es auch nichts.

– Es gibt den Kiosk.

– Kiosk. Bockwurstbude.

Irenes Stimme schnappte leicht über. Sie erinnerte sich, wie Dieter, über den Pappteller gebeugt, seine Wurst geradezu in sich hineingestopft hatte. In seinem viel zu großen Anorak, den er aufgrund seines Bauchumfangs kaufen musste, sah er aus wie der letzte Prolet. Aber Dieter störten solche Beleidigungen nicht. ›Dann bin ich eben ein Prolet‹, sagte er dann. Dieter nahm den Brief vom Couchtisch.

– Die kriegen mich hier nicht raus. Die nicht. Nur mit den Füßen zuerst.

MARIANNE SCHWEIZER WIRD MARINIERT

Marianne spürte, wie die Träger ihres BHs in ihre Schultern schnitten. Die hinter ihr liegende Frühschicht hockte wie ein schweres Tier auf ihr. In den letzten Jahren wuchs das Tier immer schneller. Ebenso wie das Gefühl, dass sie ihren Patienten immer ähnlicher wurde. Dabei war heute erst Montag. Sie hatte den ganzen Tag eine Unruhe gespürt. Entlang der grauen Linoleumflure bot sich nicht viel Raum. Auf dem Esstisch vor ihr lagen das schnurlose Telefon und der Brief. Sie fuhr mit ihren Fingern über das Webmuster der Tischdecke. Gerd würde spät kommen, sie hatten nicht abgesprochen, dass Marianne anrufen sollte. Aber sie hielt das nicht aus. Sie wollte wissen, wie es weiterging. Sie strich den Brief glatt. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie die Nummern. Mehrmals musste sie sich vergewissern. Dem beruhigenden Tuten und der damit verbundenen kurzen Hoffnung, damit davonzukommen, denn seltsamerweise hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, folgte ein unwirsches, lautes:

– Wilke.

Marianne zuckte zusammen, sie hatte versucht, an der vor sich hin dösenden, träge blinzelnden Angst so belanglos wie möglich vorbeizukommen. Doch wie immer war diese genau in dem Moment, als sie ihr am nächsten war, aufgesprungen und hatte sie angekläfft. Marianne hätte am liebsten aufgelegt. Aber wie eine pflichtbewusste Schülerin ratterte ihr Mund ihren Spruch herunter.

– Ja, guten Tag, hier ist Marianne Schweizer. Bin ich da richtig bei der Mieterberatung?

Verena Wilke nahm den roten Filzstift und machte auf ihrer Liste in der ersten Spalte, die mit ›Mieterkontakt‹ überschrieben war, hinter ›Schweizer‹ einen großen, zufriedenen Haken. Verena Wilke meldete sich absichtlich nur mit ihrem Nachnamen. Sie sagte nie: Mieterberatung. Das sorgte für die erste kleine Verunsicherung der Mieter, die Unsicherheit, ob sie die richtige Nummer gewählt hatten.

– Ja, Sie sind hier richtig. Könnten Sie, bitte, nochmal Ihren Namen wiederholen?

– Schweizer, Marianne Schweizer.

– Schweizer? Mhhmm?

Verena Wilke tat so, als suche sie den Namen in den Unterlagen, sie raschelte mit Papier und Stiften. Dabei hatte sie alle Namen im Kopf, das gehörte zum Geschäft. Man musste ein Stück voraus sein. 60 Namen, das war ein Klacks. Die meisten brauchten drei Tage, bis sie sich aufrafften und anriefen. Manche riefen sofort an, die waren wie aufgeschreckte Hühner. Die musste man abwimmeln. Die musste man dazu kriegen, noch einmal anzurufen. Die nach drei Tagen anriefen, waren schon gefasst. Die hatten sich schon fast damit abgefunden. Deshalb mussten die Briefe auch samstags ankommen. Zeit zur Beruhigung und keine Zeit, eine verlässliche Auskunft einzuholen. Marianne Schweizer war für Verena also eine perfekte Mieterin. Marianne Schweizer war wie ein Glücksgriff beim Lachsfilet aus der Kühltruhe des Supermarktes, zart und rosa.

– Könnten Sie mir kurz noch die Hausnummer und das Stockwerk sagen.

– Marner Straße 9, 4. OG rechts.

– Moment. Na, irgendwo muss ich Sie doch finden.

Die Mieterberaterin drehte sich auf ihrem Bürostuhl und schaute aus dem Fenster. Hinter der großzügigen Fensterfront bot sich der gewohnte Anblick. Hochhäuser, die auch nach der Wende nicht besser wurden. Eine endlose Schlange Autos bewegte sich über die Frankfurter Allee. Der Sog ging stadtauswärts. Es war der Spätnachmittagssog. Der Sog, der ein bisschen müde machte. Verena Wilke zählte die vorbeifahrenden grünen Autos, bei Nummer fünf sagte sie:

– Ah ja, hier hab ich Sie ja. Wunderbar. Wie kann ich Ihnen helfen?

Marianne hatte angerufen, weil diese Telefonnummer auf dem Brief gestanden hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr geholfen werden konnte, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte, deshalb begann sie, den Brief vorzulesen. Die Mieterberaterin unterbrach sie:

– Frau Schweizer, ich kenne den Sachverhalt.

– Wissen Sie, wir wohnen hier schon seit 34 Jahren.

Verena Wilke spürte ein Kratzen im Hals und dann diesen kleinen Kitzel. Sie spürte, dass, wenn man jetzt nicht einen Riegel vorschob, die Frau auf der anderen Seite anfangen würde zu weinen.

– Frau Schweizer, das ist ja eine wichtige Angelegenheit. Am besten besprechen wir das bei einem persönlichen Gespräch. Wann hätten Sie denn Zeit?

– Ich weiß nicht. Ich muss das erst mit meinem Mann …

– Wann haben Sie beide denn Zeit? Wäre Ihnen Mittwoch 14 Uhr recht?

Zwei Tage, viel mehr Zeit durfte man nicht geben, sonst kam zu viel dazwischen.

– Wir werden die beste Lösung für Sie finden.

Lösung, das war so ein Reizwort. Früher hatte Verena einen Zettel neben dem Telefon gehabt mit den Wörtern, die sie unbedingt mit einfließen lassen wollte: Lösung hatte ganz weit oben gestanden und neues Wohnumfeld, dann folgten: Beratung, Gespräch, Vertretung Ihrer Interessen, Angebot machen, abwägen, wohlfühlen, reibungslos, zuhause, Vermeidung von Komplikationen und dann noch einmal individuelle Lösungen. Inzwischen flossen die Worte aus ihr heraus. Verena spielte mit der Schnur des Telefons. Die Plastikschlingen gaben ihr das Gefühl von Nostalgie. Nostalgie für sich und die Besucher ihres Büros.

– Mein Mann arbeitet bis abends. Wir würden gern zusammen kommen.

Mariannes Stimme wurde immer leiser.

– Abends. Hmmm. Abendtermine sind natürlich rar.

Wieder raschelte Verena Wilke durch die Papiere auf ihrem Tisch.

– Da haben wir leider erst in drei bis vier Wochen was. Bis dahin können Sie sich nochmal in Ruhe mit Ihrem Mann absprechen.

Verena sprach im Wir-Modus, obwohl sie das Büro ganz allein führte. Wir, das kam gut bei den meisten Ostdeutschen an.

– Wollen wir so verbleiben?

Verena gab Frau Schweizer das Gefühl, selbst entscheiden zu können.

– Geben Sie mir zur Sicherheit noch Ihre Nummer, dann kann ich Sie kontaktieren, wenn wir eher einen Termin frei haben.

Ohne nachzudenken, nannte Marianne ihre Nummer. Sie war gerade dabei, ein erleichtertes ›Auf Wiederhören‹ zu sagen, …

– Auf Wieder…

– Warten Sie, ich sehe gerade, mein Kollege hat hier einen Termin gestrichen. Was für ein Glück. Mittwoch 17 Uhr. Das wäre doch perfekt, oder?

Während Marianne überlegte, schrieb Verena in den leeren Kalender am Mittwoch um 17 Uhr ›Marianne Schweizer‹. Daneben schrieb sie ›Rosmarin‹, weil ihr bei dem Wort Marianne Marinade eingefallen war und sie nachher nicht vergessen wollte, am Alex im Centrum Warenhaus noch Rosmarin zu besorgen. Kai hatte die Gewürzdose einfach wieder leer ins Regal zurückgestellt. Aber es lohnte nicht, sich über solche Kleinigkeiten in einer Beziehung aufzuregen.

Marianne fühlte sich überrumpelt.

– Ich bin mir nicht sicher …

– Na, ich trag Sie einfach mal ein. Wenn es nicht klappt, dann können Sie immer nochmal anrufen. Es ist ganz unverbindlich. Sonst müssten Sie halt vier Wochen warten. Wollen Sie lieber warten?

Verena vermittelte das Gefühl, dass es nicht leicht war, einen Termin bei ihr zu bekommen. Dass diese Termine begehrt waren. Dass sie begehrt war. Und wer wollte schon warten.

– Je eher Sie kommen, desto bessere, desto maßgeschneidertere Angebote kann ich Ihnen natürlich unterbreiten. Versuchen Sie’s einfach.

– Gut, ich werde mal fragen.

– Also bis Mittwoch 17 Uhr, sagte Verena.

Die Schweizers würden kommen. Verena legte auf.

Marianne hörte noch einen Moment das Besetztzeichen.

DIENSTAG

– Hallo, ich bin Markus.

Die weiß-beigen Turnschuhe mit roten Streifen und die dunkelblauen Jeansbeine korrespondierten nicht im mindesten mit Kathleens pinker Fußmatte. Kathleen vermied direkten Blickkontakt. Von der Kleidung oder von dem, was andere bei sich trugen, konnte man genug Rückschlüsse ziehen. In der linken Hand des Mannes sah sie ein schwarzes Smartphone in Lederhülle und einen aufgerissenen Briefumschlag. Wieder so eine Drückerkolonne, die Stromanbieter, Telefone, eine Religion oder Sonstiges loswerden wollten, mit Zeitschriftenabos war zum Glück seit Jahren niemand mehr gekommen. Kathleen suchte in ihrem Kopf nach der Marke der Turnschuhe und woher sie ihr bekannt vorkamen.

– Ja?

– Markus Amreiter.

– Und?

– Wohnen Sie hier?

– Vielen Dank. Wir sind schon versorgt.

Ohne Vorwarnung schob Kathleen die Wohnungstür wieder zu und ging zurück in ihr Zimmer. Obwohl sie es nicht wollte, horchte sie mit einem Ohr in den Treppenflur. Sie erwartete Schritte, die sich entfernen würden, und wieder das Klingeln an anderen Türen. Aber draußen blieb es still. Nicht mein Problem. Kathleen nahm ihre Sitzhaltung in ihrem einzigen Sessel wieder ein und ihre Tätigkeit wieder auf. Sie ließ die Beine über die Seitenlehne baumeln und zog das Fitnessmagazin, das sie vorhin auf den Sessel gepfeffert hatte, unter ihrem Hintern hervor. Kathleen hatte eigentlich nur die Tür geöffnet, weil das Klingeln so verzweifelt klang, so als würde jemand Hilfe brauchen.

Amreiter stand kurz konsterniert vor der Tür. Dann drückte er erneut und entschlossen auf die Klingel. Gerade als Kathleen ihre Move-on!-Zeitschrift – Move-on! Welche Idioten waren eigentlich für solche Namen verantwortlich? – wieder auf der richtigen Seite aufgeschlagen hatte. Aber Kathleen ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Das Klingeln würde aufhören, ganz sicher. Amreiter drückte den Klingelknopf ungefähr fünf Mal ruhig, sachlich, lang und intensiv, zwischendurch wartete er. Vorher war es ihm tatsächlich leicht unangenehm gewesen, das halbe Treppenhaus abzulaufen und die Klingelknöpfe zu drücken. Aber jetzt, wo er wusste, dass hier jemand zuhause war, war er nicht aus der Ruhe zu bringen. Das Einzige, was er von Kathleen, von der er noch nicht wusste, dass sie Kathleen hieß, wahrgenommen hatte, waren ihre dünnen, strohigen Haare. Die Fransen hatten sich unter ihrem Kinn nach vorn gebogen wie Schanzpfähle. Amreiter änderte den Klingelrhythmus. Didimm didimm didimmdimmdimm. Weil ihm das aber militärisch vereinnahmend vorkam, hämmerte er dann, aus Ermangelung eines besseren Einfalls, Yesterday auf den Klingelknopf. Schon für den Anfang brauchte er mehrere Versuche, da der Klingelknopf die kurzen Töne manchmal verschluckte. Yesterday war natürlich auch etwas albern. Aber das Lied war sowieso nicht zu erkennen. Er war immer noch dabei, seine Fertigkeiten im Rhythmusklingeln zu vervollkommnen, als sich die Tür plötzlich wieder öffnete.

– Was ist denn noch?

– Sie haben den Brief doch auch bekommen. Oder?

– Welchen Brief?

Amreiter hielt ihr seinen Brief hin. Kathleen nahm ihn kurz in Augenschein, ging dann zurück in die Wohnung. Zog den drittobersten Brief aus einem ansehnlichen Stapel mit geöffneten und ungeöffneten Briefen, schaute auf den Absender, und während sie zur Tür zurückkam, öffnete sie ihn mit ihren Fingern.

– Wir müssen etwas unternehmen,

sagte Amreiter, noch bevor Kathleen den Inhalt des Briefes ganz erfasst hatte. Er sprach etwas hektisch von einer Hausversammlung und Widerstand. Kathleen hörte Worte wie ›So geht das nicht, wir haben Rechte‹. Amreiter redete, als müsste er Kathleen überzeugen. Kathleen sagte nichts. Sie war nicht ganz bei der Sache, weder konnte sie sich ganz darauf konzentrieren, was dieser Brief bedeutete – wahrscheinlich mussten sie ausziehen –, noch konnte sie Amreiter, der sich immer mehr in Rage redete, folgen. Sie war immer noch mit seinen Schuhen beschäftigt und woher sie ihr bekannt vorkamen. Inzwischen hatte sie ihren Blick aus Höflichkeit aber auf Amreiters Halsausschnitt abgelegt. Auf dem Übergang zwischen der rasierten Zone und dem Anfang des Brusthaares. Das war eine gute Höhe, weil es fast so aussah, als würde sie ihr Gegenüber anblicken. Amreiter trommelte alle Hausbewohner für eine von ihm für morgen einberufene Hausversammlung zusammen. Oder versuchte das. Denn bis jetzt war Kathleen die Erste, die ihm geöffnet hatte. In den oberen beiden Stockwerken war niemand zuhause gewesen. Was nicht besonders verwunderlich war, es war Dienstagmittag.

Amreiter war gestern Nacht nach Hause gekommen. Von einem mehrtägigen Dreh in Eberswalde. Er erwähnte das beiläufig, wobei die Betonung auf ›Dreh‹ lag und nicht auf ›Eberswalde‹. Trotz des Briefes, der für ihn nur eine von mehreren unbequemen, zu bewältigenden Aufgaben beinhaltete, hatte er gut geschlafen. Das erzählte er Kathleen nicht.

– Das regt mich auf. Diese Immobilienhaie, die denken, die können sich alles erlauben. Aber wenn wir gemeinsam kämpfen, dann kommen sie nicht durch.

Als Amreiter am Ende seines Vortrages war, streckte er Kathleen seine Hand hin und sagte noch einmal:

– Markus.

– Kathleen.

– Dann bis morgen, Kathleen.

Kathleen antwortete mit einem unbestimmten ›Hmm‹.

Als Amreiter den Klingelknopf der gegenüberliegenden Tür neben dem Schild ›Sonntag‹ drückte, hatte er Kathleen fast wieder vergessen. Kathleen hatte ein Gesicht, das man sich schwer merken konnte. Weder hübsch noch hässlich. Ein Durchschnittsgesicht. Ein Gesicht, an dem man abrutschte. Emotionslos.

Kathleen las den Brief noch dreimal. Erst jetzt konnte sie sich auf das Geschehen der letzten Tage einen Reim machen. Dreimal hatte es an ihrer Tür geklingelt. Aber da es auch immer wieder kurz danach an anderen Türen geklingelt hatte, hatte sie sich nicht bemüßigt gefühlt zu öffnen. Sie war nicht gemeint. Nur die Hektik von Markus’ Klingeln hatte sie berührt. Markus Amreiter. Kathleen erinnerte sich nicht, Markus in den drei Jahren, in denen sie hier wohnte, jemals im Treppenhaus begegnet zu sein.

IRENE

Der Unterteller, der seltsamerweise nicht zersprungen war, drehte sich noch einen Moment, mit schneller werdendem Drall, um dann plötzlich stillzustehen. Immer zersprangen nur die Tassen, und man hatte mehr Untertassen im Schrank als Tassen. Keine Tassen mehr im Schrank, Irenes Mund entschlüpfte ein hysterischer, kurzer Lacher, der ihr sogleich peinlich war, obwohl niemand anwesend war, der ihn gehört haben könnte. Dann folgte Wut, Wut auf ihre zitternden Hände, ihre Unachtsamkeit. Sie zerrte den Handfeger unter der Spüle hervor und fegte die Scherben zusammen, die teilweise über die Schippe hüpften, bis sie sie endlich auf der Kehrschaufel hatte. Als sie aus der Hocke nach oben kam, stieß sie mit ihrem Ellenbogen an die Pinnwand, die neben der Tür hing. Der Holzrahmen wackelte bedrohlich, so dass Irene in jeglicher Bewegung innehielt. Die Hand, in der sie die Kehrschaufel hielt, zitterte mehr als die Hand mit dem Feger, aber vielleicht sah man das auch nur deutlicher. Drei der Kinderbilder, die mit Stecknadeln an den Kork gepinnt waren, segelten wie in Zeitlupe zu Boden. Sie war kurz davor, Schaufel und Besen hinzuschmeißen, alles hinzuschmeißen und aus der Wohnung zu rennen. Aber wohin? Ich muss mich zusammennehmen. Durchatmen. Um sieben würden sie kommen. Dieter lud immer alle ein. Der musste ja nicht vorbereiten, aufräumen, abwaschen. Ehemalige Arbeitskollegen, Saunafreunde und eben Nachbarn. Aber Irene hatte kein Problem damit, den Leuten an den Kopf zu knallen, dass sie sie nicht eingeladen hatte. Wer sie kannte, der erkundigte sich vorher nochmal bei ihr, ob ihr ein Besuch recht wäre. Hausversammlung. Das hatte es schon über 20 Jahre nicht mehr gegeben.

Irgendwie war sie sauer auf Marianne, die fette Marianne, wie Dieter sie nannte, jetzt fehlte wieder eine Kaffeetasse mehr. Irene mochte das Streublumenmuster mit dem roten Rand. Wenn Marianne nicht gekommen wäre, dann wäre die Tasse jetzt noch ganz. Dieter würde sie erzählen, dass Marianne heute Abend nicht kommen würde oder später kommen würde, mehr nicht. ›Die Schweizers kommen heute später, sie haben noch einen Termin.‹ ›Was für einen Termin?‹ ›Was weiß ich.‹ ›Du weißt doch sonst immer alles. Wieso haben die gerade heute einen Termin?‹ Nein, sie würde es erst während der Versammlung erwähnen. Dann, wenn Dieter keine Rückfragen mehr stellen konnte. Gut, dass Dieter nicht da gewesen war. Wahrscheinlich hatte Marianne das auch so abgepasst. Irene nahm einen Gummi aus der Schublade, um ihn über die Kaffeepackung zu spannen. Sie ärgerte sich auch über die angefangene Packung Kaffee. Sie selbst tranken nie Kaffee, hatten aber immer eine Packung da für unverhofften Besuch, der nie kam, außer heute. Jetzt würde der Kaffee alt werden, und man musste die offene Packung irgendwann wegschmeißen oder rechtzeitig verschenken. Rechtzeitig verschenken, Irene machte sich im Kopf eine Notiz, dass sie daran denken wollte. Es wäre schade um den Kaffee. Irgendwie gönnte sie Marianne den Kaffee nicht. Ohne sich im Klaren darüber zu sein, warum. Sie war auch ärgerlich, weil die Schweizers heute zu der Mieterberatung gingen. Sie wollte auch wissen, was diese für Angebote hatte. Einfach nur mal wissen, vielleicht war doch etwas dabei. Schlechter als hier konnte es auch kaum sein.

Natürlich war es eine Sauerei, das Ganze. Aber warum mussten gerade sie kämpfen, konnte das nicht jemand anderes machen? Und es gab Wohnungen, für die es sich mehr lohnte. Diese ewige Sparsamkeit Dieters. Sie hasste diese Sparsamkeit. Vor allem, weil gleichzeitig Geld für sinnlose Dinge ausgegeben wurde. Für Irene war natürlich der technische Schnickschnack, den Dieter in irgendwelchen Versandkatalogen bestellte, sinnlos. Während Dieter es als Verschwendung betrachtete, wenn sie Blumen kaufte. Das würde sie nie verstehen, wie man keine Blumen mögen konnte. Während es doch auf der Hand lag, dass man nicht sechs Zimmerthermometer brauchte, wenn man inklusive Bad und Küche nur fünf Räume hatte. Es könnte auch mal eins kaputtgehen, ha! Von ihr aus könnten alle sechs Thermometer kaputtgehen. Sie brauchte kein Thermometer, um festzustellen, ob sie fror. Sie hasste auch ihre eigene Sparsamkeit, die sich darin äußerte, dass sie für die Dinge, die sie nicht mehr im Haus haben wollte, neue Verwender suchte. Man konnte die meisten Dinge noch verwenden. Vielleicht machten sogar Thermometer irgendwo, in irgendeinem Haushalt Sinn, obwohl ihr auf die Schnelle nichts dazu einfiel. Warum war die Tasse heruntergefallen und nicht das Thermometer? Und warum musste Marianne hier vorbeikommen, so nah waren sie sich gar nicht. Als ob Marianne sich vorher ihre, Irenes, Absolution hatte abholen wollen, weil sie zur Mieterberatung gehen würde. ›Es ist doch richtig, oder? Wir erkundigen uns bloß.‹ ›Wenn ich könnte, wäre ich hier schon längst weg. Dieter ist seit Jahren stur. Ich hätte gern einen Balkon. Anfang der 90er hätten wir umziehen sollen, dann hätten wir hier noch was gefunden. Jetzt gibt es nichts mehr. Keine preiswerte Wohnung. Wir wollen ja nicht zig Euro für eine Wohnung ausgeben. Ich meine, wir können uns das leisten. Aber das ist nun wirklich Verschwendung. Wir müssen ja auch an die Enkel denken. In jedem Zimmer ist es so eng. Dieter nennt es gemütlich. Na, vielleicht die Sofaecke, aber sonst ist hier nichts gemütlich. Diese Schränke nehmen mir die Luft zum Atmen. Man kann sich kaum bewegen.‹ ›Ich bin eigentlich ganz glücklich hier. Ich würde hier gern bleiben.‹ Das war klar, dass Marianne hier zufrieden war. Diese Anspruchslosigkeit. Dieter war hier ja auch zufrieden. Dieter und Marianne könnten sich zusammentun in ihrer Anspruchslosigkeit. Irene hob die heruntergefallenen Bilder vom Boden auf und pinnte sie an dieselbe Stelle, an der sie sich vorher befunden hatten. Nahezu dieselbe Stelle. Wenn er einmal nachgeben würde, einmal! Man kam davon nicht los. Von diesem Hunger. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, damals. Aber wen hätte sie sonst nehmen sollen? ›Ich weiß gar nicht, was ich hier soll.‹ Sie wollte hier weg.

Sie nahm das Mischbrot, und mit jeder Scheibe, die sie durch die Brotmaschine drehte, mit jeder Scheibe, die sie vom Laib abschnitt, verblasste der Wunsch, wegzuwollen, ein wenig. Aber ein Brot reichte nicht aus, um ihn völlig verschwinden zu lassen, auch das Belegen der Brote reichte nicht, aber es lenkte ab. Auch die Schnipszwiebeln, wie Anouk die eingelegten Zwiebeln nannte, weil sie sich durch den Raum schnipsen ließen, reichten nicht, die Irene jetzt mit einem Löffel aus dem Glas in das Schälchen hievte. Das Innere der Zwiebel schnipste heraus, wenn man darauf drückte, und landete wer weiß wo, zwischen den Fingern blieb die äußere Haut. Dieter und sie hatten gelacht, und Anouk hatte gelacht. Noch zwei Tage später hatte Irene ein versprengtes, angetrocknetes Exemplar in der Schrankwand gefunden.

STILLLEBEN MIT SCHRANKWAND

Jede Wohnung hat einen spezifischen Geruch. In dieser Wohnung roch es nach Auslegware, einem unaufwendigen Essen, dem kaum wahrnehmbaren Staub von Bücherrücken und nach DDR. Hinzu kam der Geruch von bisher acht Personen, die nicht hierher gehörten. Kathleen hatte diese Angewohnheit zu zählen. Sie gehörte auch nicht hierher. Es roch nach Schweiß und Aufregung. Für so viele Leute war es definitiv viel zu eng in dieser Wohnung. Sie konnte sich nicht überwinden, ins Wohnzimmer zu gehen, das ihr schon viel zu voll vorkam. Sie wollte sich nicht unterhalten, sie wollte auch die anderen Mieter nicht näher kennenlernen. Sie wollte sich aber auch nicht ausschließen. Also stand sie im Flur und wartete, dass es losging. Gern hätte sie von diesem Außenposten, der ihr jederzeit die Möglichkeit gab, den Rückzug anzutreten, die ganze Versammlung verfolgt, aber Frau Sonntag schob sie mit dem zweiten Teller Schnittchen in den von einer braunen Schrankwand dominierten engen Raum.

– Ich bin Markus Amreiter.