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KLAUS OPPITZ

DIE
HINRICHTUNG
DES MARTIN P.

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Für Monika.

Wäre das mein Kind, wäre ich bald im Gefängnis.

Selbstjustiz ausüben und fertig!!

Weg mit den Bastardgeburten. Der gehört nicht abgeschoben, sondern zu Tode gefoltert. Was heißt Menschenrechte, nur Menschen haben Rechte, aber so Missgeburten haben kein Recht.

Da wäre die Todesstrafe angemessen.

(Hasspostings)

Inhalt

I. TAT

II. URTEIL

III. STRAFE

NACHWORT

I. TAT

Als das Kind getötet wird, betrachtet sich Martin Pietsch, rund 150 Kilometer entfernt, im Spiegel.

Er stellt fest, dass er sich gut gehalten hat. Er ist erstaunt. Pietsch hat den Blick in diesen Spiegel die längste Zeit vermieden. Den Blick in diesen Spiegel, in dem er doch so oft vollkommen beiläufig den Sitz seiner Hemden (oberster Knopf offen oder geschlossen?), die unterschiedlichsten Kombinationen an Kleidung (helle Jeans zu leger? Sakko?) kontrolliert hat.

Er hatte Angst, dass ihm eine vollkommen verwahrloste Version seines früheren Ichs gegenüberstehen würde, ein durch Nutzlosigkeit und Trägheit degenerierter, weichgewordener Pietsch. Aber der Pietsch, der ihm nun entgegenblickt, sieht eigentlich noch ganz in Ordnung aus. So rein äußerlich.

Dass 150 Kilometer weiter ein kurzer Schrei im Schock verstummt, während Unmengen von Blut hellbraunen Sand dunkel färben, weiß Pietsch noch nicht. Niemand außer dem Mörder weiß das, und genau das wird der eigentliche Skandal sein, die Sensation. Dass am helllichten Tag, um neun Uhr vormittags, in einer Sandkiste, umgeben von den vielstöckigen Betonbunkern einer Wohnanlage, ein Kind abgeschlachtet werden kann, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt.

Es wird der Beweis dafür sein, wie degeneriert, wie minderwertig diese Leute sind.

Pietsch dreht sich zur Seite und zieht sein T-Shirt hoch. Kein Bauchansatz, jedenfalls nicht mehr als früher. Ganz schlank war er nie, aber groß genug, genügend Körper, auf den sich sein Übergewicht gut verteilen kann. Es ist, als hätte der Spiegel sein früheres Bild abgespeichert. Wie kann man sich so anders fühlen, so anders leben und dabei so identisch aussehen?

Pietsch hat den Spiegel mit übersiedelt, nicht aus Sentimentalität, sondern weil es die billigste Möglichkeit war. Keine neuen Möbel. Weiterverwenden, was Platz hat. Trotzdem hat sich Pietsch gründlich verkalkuliert, denn selbstverständlich gibt es so etwas wie eine billige Übersiedelung nicht. Provision und Kaution haben ihn aufgefressen. Und selbstverständlich hat er die Kaution seiner alten Wohnung bis heute nicht wiederbekommen.

Was hätte er denn tun sollen? Weiterhin 1800 Euro Miete pro Monat bezahlen? Für sich alleine?

Gut, Rosi hatte ihm angeboten, bei ihr einzuziehen. Aber das war vollkommen unmöglich. Er erinnert sich an die irritierte Falte auf ihrer Stirn, als er ihr stammelnd zu erklären versuchte, dass das nicht ging, einfach nicht ging! Ihren irritierten Blick. Ihren verletzten Blick?

– Was heißt das, das würde nicht gutgehen?

Er konnte ihr darauf keine Antwort geben. In Wahrheit wusste er nicht, was das hieß. Er wusste nur, was es NICHT hieß.

– Nein, das hast du falsch verstanden, natürlich meine ich nicht, dass es mit uns nicht gutgehen würde. So habe ich das doch nicht gemeint!

Nur, dass es auch Rosi so nicht gemeint hatte. Sie hatte das nämlich überhaupt nicht gesagt. Dass es mit ihnen nicht gutgehen würde. Keine Silbe davon.

Pietsch sollte an diesem Abend auch sonst kein Wort mehr von ihr hören. Sie verdrehte die Augen, schüttelte kaum merklich den Kopf und verließ den kleinen, belebten Gastgarten in der Innenstadt. Und überließ ihm die Rechnung.

Rosi ist sehr effizient. Was nicht gesagt werden muss, wird nicht gesagt. In dieses letzte Augenverdrehen, dieses leise Kopfschütteln hatte sie ohnehin alles hineingelegt. Werd’ erwachsen. Schluck endlich deinen männlichen Stolz hinunter.

Die schuldbewussten Nachrichten, die er die halbe Nacht auf ihrer Mobilbox hinterließ, die ihm am nächsten Morgen noch einmal viel peinlicher waren als das Debakel im Gastgarten, blieben unbeantwortet. Und später auch unerwähnt. Sie wusste, dass es genügte, nicht auf sein Gejammer einzugehen. Ja, Rosi ist effizient.

Also zog Pietsch, schuldbewusst und unsicher, wie sehr er ihre Beziehung beschädigt hatte, in seine neue Wohnung, die in Wahrheit eine sehr alte Wohnung war, tauschte die Aussicht von Rosis Terrasse über die Dächer der Stadt gegen eine alte Raufasertapete. Und schwor sich, sie nie, absolut nie zu sich einzuladen.

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Die Eltern des Kindes lassen knapp zehn Stunden verstreichen, ehe sie zur Polizei gehen. Die erste Meldung erscheint einen Tag später. Einige wenige Zeilen in der Online-Ausgabe einer Tageszeitung, die in seiner Morgenroutine auch Martin Pietsch erreichen. Ein geregelter Ablauf ist ihm wichtig, er hat Angst, Opfer seiner Bequemlichkeit zu werden, nachlässig. Er braucht Struktur. Struktur ist das, was ihn von den Arbeitslosen unterscheidet, die ihm am Amt im Wartezimmer begegnen. Pietsch steht nach wie vor, nachdem er seinen Wecker um 6 Uhr 50 einmal verlängert hat, pünktlich um 7 Uhr früh auf, geht ins Bad, macht sich Frühstück, liest die Nachrichten. Die Meldung vom verschwundenen Kind hat es über eine seiner Facebook-Freundinnen in Pietschs Verlauf geschafft. Zeitungs-Abo besitzt er schon lange keines mehr. Eine der ersten von vielen unnötigen Ausgaben, die er abgestellt hat. Es gibt ja alles online und irgendwer auf Facebook teilt sie immer, die wichtigsten Neuigkeiten.

Diesmal ist es Irene Lust, Mutter von zwei Kindern, zwei Buben, über die sie regelmäßig schreibt. Sie nennt sie den Kleineren und den Größeren oder beide zusammen den Fortpflanz. Ihre Geschichten drehen sich um Kleidung, die sich der Kleinere oder der Größere einbildet, um sie zu Hause prompt zu hässlich zum Anziehen zu finden, um schulische Misserfolge und originelle Erklärungsversuche des Fortpflanzes oder den Umstand, dass der Kleinere eine Band gründen möchte und tatsächlich auch nach sechs Monaten noch mit großem Enthusiasmus und wenig Talent unverdrossen auf der Gitarre herumdrischt, die er zu Weihnachten bekommen hat. Pietsch hat keine Ahnung, ob Irene Lust ein Klarname oder ein Pseudonym ist. Ihr Profil jedenfalls wirkt authentisch, umso mehr, als sie auf die Schlagzeile angesprungen ist. Kinder sind ihr Thema und Sechsjährige spurlos verschwunden musste ihr natürlich auffallen. Mehr steht in dem knappen Artikel dann auch nicht drinnen, gerade einmal, dass das kleine Mädchen bereits seit einem Tag vermisst wird.

Was die Presse noch nicht weiß, was also Pietsch erst recht nicht weiß, ist, dass die Polizei schon früh von einem Verbrechen ausgeht. Sie nimmt den Bruder des Mädchens fest. Sie wird ihn noch am selben Tag gehen lassen und bis in den Abend hinein die anderen Bewohner der Siedlung befragen. Noch immer wird niemand bemerkt haben, dass auf dem kleinen Spielplatz im Innenhof der Sand in der Sandkiste zu einem Hügel aufgeschüttet ist. Es ist ein ungewöhnlich kalter Tag für Mitte Juni. Der Himmel ist mit schweren Regenwolken verhangen. Keines der Kinder in der Anlage will heute draußen spielen.

Pietsch kommentiert: Ihren Eltern alles Gute und viel Kraft! Ich wünsche ihnen so sehr, dass sie ihre Tochter schon bald wieder gesund und munter in den Armen halten können.

Als er später im Bus noch einmal einen Blick auf sein Handy wirft, hat er fünf Likes dafür bekommen. Er steckt das Handy weg und wird bis zum nächsten Abend nicht mehr an das Mädchen denken.

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Pietschs Routine hat an diesem Tag ein Ziel. Ein Vorstellungsgespräch bei einem Getränkehersteller. Mit dem Bus fährt er zum Bahnhof, dann eine halbe Stunde ins Land hinein, dann weiter mit dem nächsten Bus. Der Termin ist um elf Uhr und Pietsch wird eine Dreiviertelstunde zu früh sein. Im Internet hat er bereits ein kleines Gasthaus in der Nähe seiner Station ausgemacht, in dem er noch einen Kaffee trinken will. Er hofft, dass dort nicht geraucht wird.

Pietsch hat in den letzten drei Jahren etliche dieser Termine absolviert. Er mag sie, selbst wenn er bisher keinen Erfolg hatte. Sie geben ihm eine Aufgabe, nur für kurze Zeit, aber immerhin. Er muss sich vorbereiten, Informationen über die Firmen einholen. Es ist Arbeit.

Im Gasthaus wird geraucht, also geht Pietsch lieber eine Weile spazieren. Er möchte nicht nach vollem Aschenbecher stinkend zum Vorstellungstermin erscheinen. Die Firma befindet sich fünfzehn Gehminuten außerhalb eines kleinen Orts mit mittelalterlichem Ortskern. Pietsch streunt durch die engen Gassen, sieht sich in Schaufenstern Kleidung an, die er sich nicht leisten kann, die ihn aber zum Glück auch nicht interessiert. Er hat eine gewisse Meisterschaft darin erreicht, Kleidung billig einzukaufen, ohne billig darin auszusehen. Natürlich, da gibt es immer wieder diese Postings, in denen den Läden, die Pietsch frequentiert, Kinderarbeit vorgeworfen wird. In Bangladesch. Oder in Burma? Wo auch immer. Den Luxus, auf faire Produktionsbedingungen zu achten, hat er im Moment einfach nicht.

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Das Werk des Getränkeherstellers ist ein Komplex niedriger Industriehallen inmitten einer saftigen, grünen Landschaft, durchschnitten von einer dreispurigen Zufahrtsstraße. Das Logo, ein dicker, blauer Schriftzug, umrahmt von stilisierten roten und gelben Zitrusfrüchten, ist über mehrere Gebäude verteilt auf die Fassaden gemalt. Der Effekt ist eigenartig. Je näher man der Firma kommt, desto weiter scheint sie sich in ihre Bestandteile aufzulösen. Orangen und Zitronen entfernen sich von der Firmenaufschrift wie Planeten, die langsam ihre Umlaufbahn verlassen. Ein sterbendes Universum aus Früchten.

Würde Pietsch hier arbeiten wollen?

– Würden Sie hier arbeiten wollen?

Dafür, dass man ihn, einen auf die Minute pünktlichen Pietsch, weitere 15 Minuten in einem schmucklosen Vorraum hat warten lassen, dessen Wände den Lärm der Abfüllanlagen nicht vollständig ausblenden können, ist die erste Frage an ihn rasch und direkt.

Würde er? Aber ja, selbstverständlich würde er.

– Weshalb? Was interessiert Sie an der Getränkebranche?

Nichts, absolut nichts, rein gar nichts. Aber das kann er natürlich nicht sagen. Die erste und wichtigste Lektion, die ihm seine Betreuerin am Arbeitsamt beigebracht hat. Lügen Sie, Herr Pietsch. Machen Sie sich keine Gedanken, jeder lügt bei Vorstellungsgesprächen.

– Die Prozesse.

– Die Prozesse?

– Ja. Getränke sind der Traum jedes Informatikers. Die Rezepturen, die computergesteuert genau abgestimmt sein müssen, die unterschiedlichen Packungsgrößen, die Transportlogistik. Absolut faszinierend.

Absolut gelogen.

Packungen. Pietsch wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, Flaschen und Getränkedosen »Packungen« zu nennen. Eine Lektion, die er sich selbst beigebracht hat. Lies Fachartikel. Lerne die Sprache der Industrie.

Die Frau mit dem schwarzen Bubikopf, vermutlich noch einmal zwei, drei Jahre älter als er, überschminkte, unebene Haut, in Jeans und einer weißen Bluse unerwartet leger gekleidet, nickt wohlwollend. Der Mann neben ihr, graues Sakko, kariertes Hemd, notiert etwas in seinen Unterlagen. Sie leitet das Recruiting im Personalbüro, eine Frau Bergmann. Wozu ihr Kollege genau da ist, hat Pietsch noch nicht herausgefunden. Ein Untergebener jedenfalls. – Aber würden Sie auch wirklich in unserer Firma arbeiten wollen? Wir sind hier ja schon sehr weit vom Schuss.

– Ach, ich fahre lieber eine Stunde länger und mache einen interessanten Job, als mich in der Nachbarschaft zu langweilen.

Er lächelt dabei, zwinkert, bevor er es vermeiden kann. Er hat sich von ihrer zwanglosen Kleidung beeinflussen lassen. Er hofft, dass das kein Fehler war.

Frau Bergmann erlaubt sich ebenfalls ein Lächeln. Ihr Kollege taxiert Pietsch. Ob aus Interesse oder Missfallen, kann Pietsch nicht sagen. Die Gesichtszüge des Mannes bleiben absolut ausdruckslos.

Bergmann lässt sich Pietschs Lebenslauf überreichen. Pietsch weiß, was jetzt kommt.

– Sie haben sich vor drei Jahren von Ihrem Arbeitgeber getrennt. Darf ich fragen, weshalb? Hat es Ihnen dort nicht mehr gefallen? Sie haben mich rausgeschmissen. Sie haben mich nicht mehr gebraucht und rausgeschmissen. Meine Arbeit gestohlen und mich wegrationalisiert.

– Im Prinzip war meine Arbeit dort getan. Wissen Sie, ein Transportunternehmen lebt von seiner Logistik. Ein Lkw liefert eine Ladung von A nach B. Das ist einfach. Aber was macht er bei B? Kehrt er zu A zurück? Fährt er ins nähere C, um dort erneut beladen zu werden? Oder ist es günstiger, wenn er einen Tag bei B stehen bleibt, bis es dort etwas zu transportieren gibt?

– Und das war Ihre Aufgabe?

– Die Software dafür zu entwickeln, ja.

Die bis heute unverändert läuft, wie er von Rosi weiß.

– Und wenn Ihre Arbeit bei uns getan ist, kündigen Sie dann auch?

– Bitte, das kann man überhaupt nicht vergleichen. Was bei meinem bisherigen Arbeitgeber die Hauptsache war, ist bei Ihnen ja nur ein Teilbereich. Jede neue Packung, die sie auf den Markt bringen, jeder neue Kunde, jeder neue Vertriebsweg verlangt nach neuen Prozessen, die das System unterstützen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir bei Ihnen die Herausforderungen ausgehen.

Selbstverständlich kann man das vergleichen. Absolut kann man das.

Pietsch hofft nur, dass Frau Bergmann das nicht weiß. Sie macht den Eindruck, als wäre sie schon ewig hier und hätte vom Rest der Welt noch nicht allzu viel mitbekommen.

Sie nickt.

– Und die letzten drei Jahre haben Sie … was genau gemacht? Selbstständig, steht hier.

Als Informatiker hat Pietsch sehr rasch verstanden, dass er die Nullen aus seinem Lebenslauf tilgen und durch Einsen ersetzen muss. Allerdings gibt es gerade für die drei Jahre seit seiner Kündigung sehr viele Nullen und kaum Einsen.

Gekündigt worden zu sein: Null. Sich vor der Jobsuche eine Auszeit genommen zu haben: Null. Keinen Job bekommen zu haben: Null.

Alles deine Schuld, und alles Nullen, die dich verdächtig machen.

Lügen Sie, Herr Pietsch.

– Ich habe für unterschiedliche Firmen Projekte abgewickelt.

Eins.

– Und mich nebenbei weitergebildet.

Eins.

– Ich habe jahrelange Erfahrung, aber wir reden hier natürlich von Technologien, die sich mit Überschallgeschwindigkeit weiterentwickeln.

Null oder eins?

Er hat sich angewöhnt, sein Alter gleich selber zum Thema zu machen. Pietsch ist 43. Als sie ihn ins Büro geholt haben, um ihm mitzuteilen, dass er eine großzügige Abfindung nehmen könnte (eine großzügige Abfindung, die sich im Nachhinein als gar nicht so großzügig herausgestellt hat) oder fristlos gekündigt würde, war er 39. Pietsch hat seine Zeit gebraucht, um herauszufinden, dass er damit längst zum alten Eisen gehörte. Und noch länger, um zu ahnen, dass sein Alter selbstverständlich in jeder Firma diskutiert wurde, bei der er sich bewarb. Nur eben nicht mit ihm.

Bergmann geht nicht weiter darauf ein.

– Können Sie mir Firmen nennen, für die Sie selbstständig gearbeitet haben?

Pietsch zögert, als gäbe es da einen Konflikt, den er erst tief in sich drinnen ausfechten muss. Er beißt sich auf die Unterlippe und hofft, dass das nicht zu viel ist.

– Wissen Sie, ich betreue Software für heikle Systeme. Da ist es üblich, dass man eine Verschwiegenheitserklärung unterschreibt.

Wieder zögert er. Diesmal wirklich. Dann lässt er sich doch zu einer Aussage hinreißen:

– Es ist aber ohnehin kein Geheimnis, dass ich die IT meiner alten Firma weiterbetreut habe.

Bergmann hebt die Augenbrauen.

– Gibt es da jemanden, den wir kontaktieren können?

– Natürlich. Adele Rosolski. Können Sie gerne anrufen.

Obwohl er sie natürlich auswendig weiß, fischt Pietsch die Nummer aus seinem Telefon. Er bemüht sich, das Gerät so zu halten, dass keiner der beiden erkennen kann, dass er Adele Rosolski unter »Rosi« eingespeichert hat. Der stille Kollege mit dem grauen Sakko notiert sich die Nummer. Pietsch hofft, dass er Rosi nach dem Termin noch rechtzeitig erreicht. Dumm. Dumm. So dumm! Warum hat er das getan? So was hat er noch nie getan! Normalerweise bleibt er bei seiner Erklärung mit den »heiklen Systemen«. Die meisten sind damit zufrieden. Er hofft, dass Bergmann zumindest nur anruft und Rosi nicht googelt. Spätestens dann müsste sie sich nämlich die Frage stellen, weshalb die Unternehmens-Juristin Aufträge an einen Computer-Fachmann vergibt.

– Ich hoffe, das ist jetzt nicht zu persönlich, aber Sie verstehen, dass wir uns alles ansehen müssen, was es über unsere Bewerber zu erfahren gibt.

Pietsch stutzt. Was kann jetzt noch kommen?

– Sie sind ja auf Facebook. Wir haben einige Ihrer Postings ausgedruckt, über die wir gerne mit Ihnen sprechen würden.

Dem Mann im grauen Sakko ist diese Feststellung der Befehl, Bergmann eine Mappe mit einer ganzen Menge A4-Seiten zu übergeben.

Können sie das tun? Einfach so? Seine Privatsphäre verletzen? Natürlich können sie. Es gibt keine Privatsphäre. Es ist ja alles öffentlich.

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Das ging nicht gut.

Das ging nicht gut.

Das ging gar nicht gut.

Zurück im Bus, auf der Rückfahrt zum Bahnhof, möchte Pietsch gegen den Sitz seines Vordermanns treten. Er möchte seinen Vordermann treten, um sich abzureagieren. Es ist so unfair! Endlich einmal läuft es halbwegs und dann das!

Es ist einer von drei Gründen, weshalb Pietsch zunächst nichts mehr über den Mord an dem Mädchen mitbekommt. Er ist erst einmal von Facebook angewidert. Er ist von sich selbst angewidert. Was gehen mich die Leben anderer an, denen ich nie begegnet bin? Wen interessiert sie denn schon wirklich, meine großartige Meinung zu allem und jedem?

Es war ein Buch, er hatte ein Buch geschrieben. Posting für Posting, Seite für Seite. Über Monate, über Jahre. Das alles war doch nie dafür gedacht gewesen, geballt in einer Mappe zu landen – in einer Mappe! Ausgedruckt! Wer bitte druckt Facebook aus? Derart konzentriert auf einem Stapel ließ ihn die Fülle seiner Meinungen wie einen völligen Querulanten aussehen.

Hätte er seine Beiträge doch nur auf Freunde gestellt. Bergmann hätte bis auf ein paar alte Jugendfotos (Pietsch mit langen Haaren auf einem Klassenfoto. Ein Klassiker!) nichts gefunden.

Sein Telefon läutet. Rosi. Er hebt nicht ab.

Die knappe Nachricht folgt wenige Sekunden später: Spinnst du? Ruf zurück!

Der Kontakt zur Spedition. Seinem angeblichen Auftraggeber. Er hat komplett darauf vergessen. Wie konnte er denn wissen, dass das überhaupt noch wichtig war?

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Er sieht den Bäumen zu, wie sie in der Geschwindigkeit ineinander verschwimmen. In den Lücken einzelne, weit entfernte Häuser, still und trotzig in die Landschaft gemauert. Dann, plötzlich, nichts mehr. Ein graubrauner Vorhang. Eine Lärmschutzwand, die die Welt von jetzt auf gleich ausblendet.

Hier möchte er bleiben, hier im Zug, der mit ihm ins Nirwana fährt. Ausgerechnet in diesen Gedanken hinein läutet ein zweites Mal das Telefon. Warum nur hat er es immer noch nicht abgeschaltet? Er blickt auf das Display. Pietsch kennt die Vorwahl. Der Getränkehersteller. Das ging ja schnell. Pietsch seufzt. Er hasst persönliche Absagen, die Ausflüchte, die Beteuerungen, wie leid es der- oder demjenigen tut. Aber gut. Wenigstens kann er es gleich hinter sich bringen.

– Pietsch.

– Bergmann. Herr Pietsch, geht’s kurz?

Pietsch nickt. Dann fällt ihm ein, dass sie ihn ja nicht sehen kann.

– Ja, klar. Es geht.

– Herr Pietsch, ich brauche auch nicht lang.

Danke dafür. Vielleicht erspart sie sich wenigstens die geheuchelte Frage, ob sie seine Personalien in der Datenbank behalten darf. Für alle Fälle.

– Hätten Sie Zeit für eine nächste Runde? Ich möchte Sie gerne unserem Herrn Doktor Rathner vorstellen.

Dem Geschäftsführer?

Damit lässt sie ihn alleine. Die Verbindung ist abgebrochen. Pietsch versucht, zurückzurufen, kommt aber nicht durch. Bei der nächsten Station steigt er aus. Der nächste Zug geht erst in einer halben Stunde. Auch recht. Es ist ja nicht so, dass er noch etwas Dringendes zu tun hätte. Pietsch setzt sich in das kleine Wartehäuschen mit der abblätternden Fassade. Es riecht nach Toilette.

– Martin Pietsch. Frau Bergmann? Leider war die Verbindung weg. Aber jetzt sollte es gehen.

Sie fragt, was er noch verstanden hat und Pietsch lässt sie noch einmal wiederholen, dass ihn der Geschäftsführer kennenlernen möchte.

– Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber könnten Sie sich vielleicht den nächsten Dienstag reservieren? Ich muss erst noch mit dem Doktor Rathner sprechen, aber ich sehe in seinem Kalender, dass er um 11 Uhr noch nichts eingetragen hat.

Was sagt man darauf, wenn man eigentlich rund um die Uhr Zeit hat? Pietsch entscheidet sich, sein Glück nicht überzustrapazieren.

– Dienstag, 11 Uhr, wiederholt er nüchtern, Ja, das geht gut.

Bergmann will sich verabschieden, spürt dann aber sein Zögern am anderen Ende.

– Herr Pietsch, sind Sie noch da?

– Nein, also, ja … es ist nur … wegen Facebook. Mir ist natürlich bewusst, dass ich mein Profil deaktivieren muss. Gerade als IT-Leiter …

Sie lacht, bevor er noch zu dem Begriff Verantwortung kommen kann.

– Um ehrlich zu sein, wir sind Schlimmeres gewöhnt. Immerhin sind Sie nur auf Facebook. Damit sind Sie faktisch ein Dinosaurier.

Pietsch zuckt zusammen.

– Sie haben ja keine Ahnung, was bei uns alles aufläuft! Können Sie sich unseren Doktor Rathner mit einer Assistentin vorstellen, die der ganzen Welt ihre Bikinifotos auf Instagram zeigt? Eben, ich auch nicht.

Pietsch überlegt, dass dieser Satz doch einiges an Interpretationsspielraum offenlässt, behält seine Meinung aber für sich.

– Oder einen Werksleiter, der die Accounts sämtlicher Pornostars abonniert hat? Ich meine, was denken sich diese Leute?

Pietsch denkt sich, dass diese Firma offensichtlich weit größere Probleme mit Sex hat, als mit seinen Diskussionen mit Impfgegnern. Oder Verschwörungstheoretikern, denen er in langen Nächten zu erklären versucht hat, dass das, was sie sich einbilden, alleine schon technisch nicht funktionieren kann.

– Eigentlich haben wir uns auch nur gefragt, woher Sie die Zeit nehmen, wenn Sie doch so gut beschäftigt sind.

Pietsch schluckt. Warum musste er überhaupt wieder mit diesem Thema beginnen? Er hat nicht damit gerechnet, sich noch einmal eine Lüge aus den Fingern saugen zu müssen.

Muss er auch nicht.

– Aber Frau Rosolski hat Sie ja in den Himmel gelobt. Also, dann verbleiben wir so? Ich gebe Ihnen noch Bescheid, sobald ich mit dem Doktor Rathner gesprochen habe, aber ich denke, wir sehen uns nächsten Dienstag.

– 11 Uhr, wiederholt Pietsch geistesabwesend.

Sie hat ihn gerettet, Rosi hat ihn gerettet, vollkommen unvorbereitet!

Natürlich, die Frau ist Juristin. Rosi dealt mit Behörden, dealt mit Kunden, dealt damit, wenn ein besoffener Fahrer mit dem Firmen-Lkw ein Auto mit fünfköpfiger Familie von der Straße mäht. Eine pickelige Personalangestellte in der tiefsten Provinz ist für Rosi eine Jausengegnerin.

Und er? Er hat noch nicht einmal ihren Anruf beantwortet. Pietsch weiß, dass er sich schuldig fühlen sollte. Tatsächlich hallt sein Lachen von den modrigen Wänden des kleinen Wartehäuschens wider.

Das ist der zweite Grund, weshalb Pietsch zunächst nichts mehr von dem Mord an dem Mädchen mitbekommt: Er ist glücklich.

Während Pietsch breit grinsend auf den Zug wartet, der ihn jetzt viel schneller nach Hause bringen soll, als er es sich zuvor gewünscht hat, spielt ein kleiner Junge in der Sandkiste. Da steht etwas heraus, aus diesem Sandhügel, der normalerweise nicht da ist. Der Junge biegt es hinauf und hinunter, immer wieder, und stellt sich dabei vor, der Sandhügel wäre ein großer Berg, aus dem, aus der Distanz ganz klein, ein seltener weißer Drache aus seiner Höhle schaut. Weiß und blass wie die Mutter des Jungen, die ihn ruckartig am Arm aus der Kiste zieht. Im Schock über diese Brutalität und nicht wissend, was er angestellt hat, beginnt er zu weinen. Später wird sich ein Psychologe den Kopf darüber zerbrechen. Hat sich der Junge zum Schutz in diese Fantasie vom Berg und vom Drachen geflüchtet oder hat er tatsächlich nicht begriffen, dass er mit einem toten Finger spielt?

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Pietsch hat Rosi nicht mehr zurückgerufen. Stattdessen steht er am Abend vor ihrer Tür, vollbeladen mit Einkäufen, die er sich eigentlich nicht leisten kann.

Er will für sie kochen. Das ist seine Art, sich bei ihr zu bedanken. Pietsch hat einen Schlüssel. Er läutet trotzdem an, unten, am obersten Knopf der Gegensprechanlage des grauen Wohnhauses, in dem man Rosis helle Dachgeschoßwohnung mit ihren klaren Formen nie vermuten würde. Er weiß, dass sie ihn sehen kann. Pietsch hält einen Stangensellerie in die Kamera. Rosi sagt kein Wort. Nach einer Weile ist der Türsummer ist zu hören.

Rosi hat dieses markante, eckige Gesicht, nicht unbedingt jung geblieben, aber mit jedem Jahr interessanter. Helle, blaue Augen, die nicht wissen, wie sie ihren Ärger einigermaßen dosiert ausdrücken sollen. Sie steht im Türrahmen der Wohnung, in einem grauen Jogger, und selbst in dieser Aufmachung bewundert er ihre Figur.

Als Rosi vor sechs Jahren in die Firma kam, versuchte Pietsch, nicht zu starren. Sie trug helle Business-Anzüge, keiner davon in irgendeiner Form extravagant. Trotzdem sah sie darin einfach atemberaubend aus, groß, mit ihren langen Beinen, schlank, und Pietsch war später verblüfft, dass sie eigentlich einen ganzen Kopf kleiner war als er. Eigentlich wollte Pietsch überhaupt nichts von ihr, über Wochen hatte er sich noch nicht einmal bemüht, sie kennenzulernen, er wollte sie einfach nur ansehen, wann immer es ging. Hätte ihn jemand gefragt, ob er sich mit ihr eine Affäre wünschte, Sex oder gar eine Beziehung, er hätte erst einmal über die Frage nachdenken müssen, und vermutlich hätte er sie irritiert verneint. Alleine die Idee, persönlichen Kontakt zu ihr zu haben, wäre ihm vollkommen abstrakt erschienen. Sie war wie ein Kunstwerk, das aus der Distanz am schönsten ist, weil man aus der Nähe doch nur erkennen muss, dass es in Wahrheit aus ordinärer Leinwand und Pinselstrichen besteht. Oder eben aus Adern und Poren.

Außerdem: Adele Rosolski. Das klang elitär. Wie sie ihm später erzählte, war es das auch. Die Rosolskis waren das, was Rosi »alten Geldadel« nannte. Der Großvater hatte eine Steuerberatungskanzlei gegründet, die sogar in der Zwischenkriegszeit ordentlich Profit gemacht hatte. Wie er und sein Vermögen den Weltkrieg überdauert hatten, wusste in der Familie Rosolski niemand so genau und man wollte es auch nicht wissen. Mittlerweile hatte ihr jüngerer Bruder die Kanzlei übernommen, wie viel sie inzwischen auch immer wert war. Es gab keine Feindschaft zwischen ihr und ihrer Familie, sie war auch nicht übergangen worden, so war das nicht. Steuerberatung hatte sie ganz einfach nie interessiert, und übrigens, Adele fand sie schmerzhaft altmodisch. Also war sie die Rosi, was in Pietschs Verständnis keinen Tag jünger klang. Bodenständig vielleicht. Tatsächlich passte die Rosi noch weniger zu ihr als die Adele. Sie war vieles, wenn auch ganz sicher nicht elitär. Aber bodenständig? Eine Rosi? Pietsch war klug genug, nie mit ihr darüber zu diskutieren. Sie hatte sich den Namen ausgesucht und das war es eben.

Sie hatten kaum berufliche Überschneidungen, Rosi und er. Das Computersystem der Rechtsabteilung war nicht besonders kompliziert, die Schnittstellen zu den Netzwerken anderer Abteilungen überschaubar. Trotzdem erfand er ab und zu Ausreden – Wartungen, Funktionsüberprüfungen –, um zumindest für einige Minuten zwei Etagen höher in ihr Stockwerk zu kommen.

Er richtete seinen Tagesablauf nach ihr aus.

Sie verließ das Büro zu unterschiedlichen Zeiten, betrat aber immer pünktlich um 8 Uhr 50 das Foyer, was weniger an ihrer Disziplin als an ihrer Busverbindung lag.

Rosi mustert ihn, mustert die Einkäufe, dann gibt sie seufzend die Tür frei und lässt ihn herein.

– Du weißt, dass du die Stelle noch nicht hast.

Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung.

Ich weiß.

Trotzdem will er sich heute endlich einmal normal fühlen. Vollwertig fühlen. Vollständig. Nicht diese kastrierte Version seiner selbst sein. Ab und zu gehen sie miteinander essen. Rosi gibt ihm Geld, damit er bezahlen kann. Er hasst es, aber die Alternative ist, nicht mit ihr essen zu gehen, und sie geht nun einmal gerne essen.

Als Antwort stellt er die Einkäufe auf die offene Küchenzeile. Sie geht ihm nicht hinterher, lässt Distanz zwischen ihnen.

– Das weißt du doch, oder?

Er legt die Zucchini, die er gerade aus dem Chaos seiner Lebensmittel gefischt hat, neben die Weinflaschen, bei denen er in Wahrheit keine Ahnung hat, ob ihr Inhalt so edel schmeckt, wie das Etikett aussieht. Geht zu Rosi hinüber, die sich keinen Zentimeter bewegt. Umarmt sie. Fest.

– Danke.

Es dauert eine lange Sekunde, dann legt auch sie die Hände um ihn. Er hört sie ausatmen.

– Du weißt aber schon, dass du überhaupt nicht kochen kannst? Das stimmt so nicht. Zwei Gerichte kann er, aber nachdem das erste ein Linseneintopf ist, zwar eher nach seinem Budget, aber für die Feier, die sich Pietsch in den Kopf gesetzt hat, nicht wirklich passend, hat er sich für das zweite entschieden. Garnelen auf einem Bett aus Gemüse. Es wird funktionieren. Ganz sicher wird es das.

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Der dritte Grund, weshalb Pietsch zunächst nichts mehr über den Mord an dem Mädchen mitbekommt: kein Facebook, wenn sie zusammen sind. Die eine Regel, auf die Rosi bestanden hat. Diesmal dreht er sein Telefon gleich vollständig ab.