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Aaron Bloodwing

Halloween

Im Tal der ausgehungerten Frauen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Im Tal der ausgehungerten Frauen

 

 

All eure Kirchen, Kapellen und Kreuze

Werden nicht verhindern können,

Das Grauen auferstehen zu lassen.

In Ronaccio, dem verlassenen Dorf

Am Ende des Tales.

Das verlassene Dorf



Italien, Walliser Alpen, 31.10.1993.

Nebelschwaden steigen aus der Erde auf. Sie nehmen Formen von riesigen Gespenstern an, die ihre Arme nach mir ausstrecken. In diesem abstoßenden Tal. Weit oben in den Walliser Alpen.

Die ganze Nacht hat es geregnet. Früh bin ich aufgestanden, um weiter zu wandern. Hin zu dem geheimnisvollen Ort, an dem heute eine atemberaubende College-Party stattfinden soll.

Schon der erste Blick aus dem Fenster des Speisesaals einer Herberge in Rimella zeigte an, was mich erwartete. Nasse Wälder an steilen, hohen Hängen, wo an jeder Ecke Wolken aus dem Dickicht aufstiegen.

Jetzt habe ich auf Eselpfaden gerade die tiefe Schlucht des Torrente Mastallone überquert und kraxele am gegenüberliegenden Hang wieder aufwärts. Wenn ich mich umdrehe und runter gucke, sehe ich sie wieder, die Geistwesen. Erst sieht es aus, als würde sich nur ein Arm aus der Erde heben. Schnell kommt ein Kopf hinterher, ein zweiter Arm, ein Rumpf, Beine. Alles wattemäßige Gebilde aus Wolken, die mir dennoch einen großen Schrecken einjagen. Denn es sieht wirklich aus, als würden die Seelen Verstorbener aus ihren Gräbern aufsteigen. Hier, außerhalb des Dorfes, weit ab vom Friedhof. Hat man im Mittelalter nicht die Ehrlosen und Verbrecher in der nicht geheiligten Erde außerhalb der Ortschaften verbuddelt? Wer oder was entsteigt dort unten aus einem tiefsten Abgrund? Öffnen sich gerade die Tore eines Vorhofs der Hölle?

Ich muss lachen über meine furchtsamen Gedanken. Ein Blick zum Himmel. Graue Wolken tragen schon einen gelb-orangenen Kranz. Lange wird es nicht mehr dauern, bis die Morgensonne die Wolken verjagt haben wird. Brennt sie erst einmal auf diesen Wald, werden sich auch die Nebelriesen auflösen. Denke ich. Für Sekunden. Dann gefriert mir das Blut in meinen Adern: Die aus ihren Gruften Entstiegenen haben sich auf den Weg gemacht. Einen Fuß setzen sie vor den anderen. Ganz langsam gehen sie. Fast wirkt es wie ein Stolpern. Eigentlich hätte das lustig aussehen können. Eigentlich! Denn die Monster haben alle eine Richtung eingeschlagen. Hin zu mir. Als würden sie mich verfolgen.

Mein Atem rasselt, als würde ein mechanischer Wecker klingeln, bei dem mehrere herausgefallene Zahnrädchen schnarrende Geräusche erzeugen würden. Rechts im Blickwinkel sehe ich die Lastenseilbahn, die außerhalb von Rimella über das Tal gespannt ist. Die Gondel sieht aus wie ein kleiner Einachsanhänger, den man hinter einen PKW hängt. Flache Holzflachten, mittig auf allen vieren ein Ring aus verrostetem Eisen, daran die Ketten, die zur Zugrolle gehen, die auf dem Seil läuft. Mit diesem Gefährt werden die letzten Bewohner des halb verlassenen Ortes Ronaccio mit Lebensmitteln, Werkzeug, Möbeln und was das Herz begehrt, beliefert. Denn dieses abweisende, steil am Hang gebaute Dorf hat keinen Zugang über eine Straße. Es gibt bloß den Eselpfad. Steile Serpentinen in die Schlucht und am anderen Ende aus ihr heraus. Den nehmen die Einheimischen für gewöhnlich. Heute sitzt in ihm ein alter Mann. Graublaue, zerschlissene Kleidung, einen staubigen, braunen Hut auf dem Kopf. Ein Bauer oder Waldarbeiter. Das alles erkenne ich gut durch mein Fernglas. Er winkt mir zu, Gesten, die besagen, ich soll abhauen. Wie aber kann er mich hier auf dem Felsvorsprung sehen? Unmöglich, er muss etwas Anderes meinen mit seinen artistischen Einlagen. Vielleicht kommuniziert er mit dem Mann, der auf der Seite von Rimella den Motor der Seilbahn betätigt und auf den Mann zu warten scheint.

Nichtsdestotrotz schleicht sich von unten ein Gefühl in meine Wanderhose, als würden sich leichtgewichtige Nattern um meine nackten Beine nach oben winden. Intuitiv schlage ich mit den Händen meine Hosenbeine aus. Aber es ist nur eine kleine Nebelwolke, die von dem nassen Felsen aufsteigt, auf dem ich schon viel zu lange stehe.

Heute ist Halloween. Die Veranstalter der Party haben sich keinen trostloseren Ort aussuchen können. Und keine passendere Zeit. Alles wirkt wie in einem klassischen Schauerroman. Höchste Zeit für mich, weiter zu gehen. Vorsichtshalber werfe ich einen letzten Blick ins Tal. Die Truggebilde aus Nebel und Wolke, die Sonne hat sie noch nicht aufgelöst. Deutlich sind sie mir in den letzten Minuten näher gekommen. Ich schüttele mich, als hätte man mir einen Holzkübel eiskalten Wassers übers Haupt gegossen, dann stapfe ich weiter.

Es geht weiterhin bergan. Eine Schleife nach der nächsten. Da bricht wie aus dem Nichts das erste Haus aus grauem Stein aus dem grünen Dickicht hervor. Halb verfallen, trostlos.

Fensterläden quietschen, weil sie sich leicht im Aufwind bewegen. Ein Anzeichen, dass der Feuerball, der schon viele graue Wolken gefressen hat, an Macht gewinnt. Überall wird die Luft warm und dehnt sich in die Richtung aus, in die sie gehen kann – nach oben. Warum nur will mir nicht warm werden? Fester ziehe ich den Kragen meiner Wanderjacke zu. Schwer spüre ich die Last meines Rucksacks.

Auch beim nächsten Haus sind nur noch vereinzelt Fensterscheiben ganz geblieben. Zeugnisse der Ödnis, in die ich geraten bin. Die in diesem warmen Morgenlicht aber gar nicht so verwunschen aussieht. Eher heimelig.

Erst beim dritten Gebäude steht eine Frau auf der Terrasse. Mindestens siebzig Jahre muss sie auf dem Buckel haben. Sie trägt klobige, schwarze Schuhe, einen schwarzen Baumwollrock, der ihr bis über die Schienbeine reicht, obenrum eine verschlissene Schürze, die zu besseren Tagen wohl ein Blümchenmuster getragen hat; jetzt geht es unter in einer Schicht aus Staub und Schmutz. Kaum besser wirkt das verwaschene, kaminrote Kopftuch, das die Dame trägt. Als sie mich sieht, keift sie aus einem zahnlosen Mund. Ihr Italienisch verstehe ich nicht; ihre Armbewegungen dagegen schon: Ich soll nicht weiter gehen.

Wieso? Meint sie, ich suche eine Unterkunft?

Nah trete ich an die niedrige Mauer aus grauem Stein heran und erläutere ihr in gebrochenem Englisch, dass ich auf die Durchreise sei und schon morgen wieder diesen grausigen Ort verlassen würde.

„Mai! Mai!“ Ihre Stimme klingt wie das Krächzen eines Raben. Ob Edgar Allen Poe sich hier Ideen für seine Geschichten holte? Wohl kaum. Zu seiner Zeit wäre dieser Ort Ronaccio Inferiore, das niedere Ronaccio, noch voll belebt gewesen.

Mai! Mai! Ich verstehe die Krähe nicht. Wütend darüber, dass die Alte keine Fremdsprache spricht, verdränge ich gänzlich die subtile Gefahr, die mich in diesem engen Tal seit Stunden begleitet. Anderseits will ich mir als vierundzwanzigjähriger Bursche nicht anmerken lassen, furchtsam zu sein. Zudem bin ich nicht der erste, der vor ein paar Stunden losgegangen ist. Einige Studentinnen und Studenten sind schon vor mir aus der Unterkunft aufgebrochen, andere werden noch folgen. Mitnichten bin ich alleine, wenn ich weiter durch diesen dichten, verwunschenen Wald auf meinem Trampelpfad bergauf steige.

Die Frau geht kopfschüttelnd in ihr Haus, ich ziehe durch das armselige Dorf, in dem mindestens die Hälfte der Häuser unbewohnt ist.

Anfangs kräht noch ein Hahn, irgendwann bin ich mit den Vögeln des Waldes alleine. Amseln keckern, stoßen ihren Warnruf aus. Ich beziehe es auf mich, merke nicht, wie die Nebelwesen sich mittlerweile verteilt haben und auf breiter Front durch das Unterholz vorwärts stampfen. So unbeholfen. So stetig. So unsagbar bedrohlich.

Erst als ich Ronaccio Superiore erreiche, das höhere Ronaccio, ein Geisterdorf, in dem keine Menschenseele mehr lebt, ist mir, als sähe ich zwei der eher kleineren Wolkenwesen sich ganz schnell hinter einer Hausecke verkrümeln. Belustigt schüttele ich den Kopf.

„Was nicht wahr sein kann, ist nicht wahr“, schelte ich mich selber. Von klein auf zur Ratio getrimmt, wird das Unlogische als nicht existent verworfen. Wolken können nicht laufen, Geister entsteigen nicht der Erde. Meine Fantasie geht mit mir durch. Es sind normale, physikalische Reaktionen die mich begleiten. Feuchte Erde nach dem Regen, Tropfen auf den Blättern. Beides verdunstet durch die Wärme der Sonne. Bildet kleine Wölkchen aus Staubteilchen, an denen Wasser klebt. Diese Nebelschwaden steigen schnell nach oben und lösen sich in Luft auf, werden also gasförmig. Es gibt keinen, aber absolut keinen Anlass, dieses als ein böses Omen zu deuten. Ach hätte ich doch nur hin und wieder ein ganz klein wenig das Okkulte und Spirituelle dieser Welt mit ins Auge gefasst, so wäre ich nicht blind in mein Verderben gerannt. Denn Ronaccio Superiore ist das Tor zwischen dem Dies- und dem Jenseits.

Zwei Häuser weiter höre ich fröhliche Stimmen. Jung. Weiblich. Eine tiefere macht einen Scherz, deute ich, obwohl ich die Sprache nicht kenne, anhand des lockeren Auflachens der jungen Damen.

Die Freude und Unbekümmertheit steckt mich an. Zusätzlich zieht der Duft eines frisch aufgesetzten Espressos in meine Nase. Schlagartig sind die luftigen Monster vergessen. Ich bin angekommen.

In diesem Moment tänzelt Buolf aus dem Haus auf die Terrasse. In der Hand balanciert er ein Tablett mit drei kleinen Tassen und einer silbernen, dampfenden Espressokanne. Den Kopf hat er dabei über die Schulter geworfen. Den Frauen im Haus lacht er ein paar Worte in seiner urigen Sprache zu: Räteromanisch.

Buolf ist ein Bär an Mann. Ein Meter achtzig groß, mit riesigen Schultern, langem lockigen Haar, einem dichten schwarzen Vollbart und Pranken, so groß wie Tortenplatten. Na, ja, zumindest gefühlt. Er kommt aus Graubünden und ist der Organisator der Halloween-Party. Über Briefe stehen wir seit einigen Wochen im Kontakt. In einem Flyer, der diesen morbiden Ort als ausgezeichnete Location für eine College-Horror-Party anbietet, ist ein Portrait von ihm. Sein Outfit ist unverwechselbar, seine Ausstrahlung enorm. Mir ist, als wäre er der große Beschützer, sollten tatsächlich ungebetene Gäste unser Fest heute Nacht stören. Dieser Kraftprotz von Mitte Dreißig würde selbst Werwölfen das Fürchten lehren, schmunzele ich vor mich hin.

„Bist du Per?“ Obwohl Buolf den Tisch deckt, muss er mich aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben. Breit ist sein Lächeln, als er mit ausgestreckten Armen auf mich zukommt. Befehlend ruft er etwas ins Haus. Auf Italienisch. Lediglich das Wort Elvezia verstehe ich. Einen Reim kann ich mir nicht daraus machen. Dann wendet er sich wieder mit englisch an mich, erkundigt sich höflich nach meiner Reise, ob ich Hunger hätte, wie ich den Ort aus grauen Häusern fände.

„Jetzt, wo die Sonne durchgekommen ist, hat er sogar eine idyllische Seite“, lobe ich, „und diese Abgelegenheit, mitten im Wald, ohne Straße, vollkommen verlassen – einfach eine Wucht.“ Tief atme ich den Geruch von einem Holzfeuer ein. Die dazugehörige Rauchsäule steigt aus dem Schornstein auf. Am anderen Ende, in der Küche, wird der Herd stehen, auf dem der Kaffee gekocht worden ist.

„Hallo Per, auch einen Kaffee? Ich bin übrigens Elvezia“, plappert eine kleine, dralle Frau mit einer roten Punkfrisur munter, indem sie sich der Weltsprache bedient, die für den Rest meiner Zeit in den Walliser Alpen das Hauptverständigungsmittel bleibt und deshalb fortan nicht mehr als Besonderheit erwähnt wird.

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stellt die junge Frau, die ich auf Anfang Zwanzig schätze, ein viertes Kaffeegedeck auf den Tisch. Hinter ihr kommt ein langer Schatten daher geschwebt: Größer, schlank, Mitte Zwanzig. Ihr glattes, braunes Haar fällt ihr bis weit über die Schulter. Am Kopf wird es gehalten durch ein langes Stirnband mit Blumenmuster. Eine Hippie-Nostalgikerin, die unheimlich schön aussieht. In ihrer Hand trägt sie eine Schale mit Croissants.

„Hi Per, ich bin Adalie. Einige deiner Semesterkollegen sind schon eingetroffen. Sie erkunden die nähere Umgebung. Nach einem Kaffee kannst du ihnen ja hinterher eilen. Leider kann ich dich nicht führen, Elvezia und ich helfen Buolf, euer Fest vorzubereiten.“ Groß schauen mich ihre Augen an. Schauen ist dabei gutmütig gemeint. Mit einem wahren Hunger in den Augen taxiert sie mich vom Scheitel bis zur Sohle. Das löst ein angenehmes Ziehen in meiner Lendengegend aus.

„Vielleicht können wir den Ausflug auf morgen Mittag verschieben. Nach dem Aufräumen.“ Mutig mustere ich meinerseits ihre tollen Rundungen. Sie soll wissen, ich wäre einem Abenteuer nicht abgeneigt.

„Wenn ich mich dann schon wieder bewegen kann, gerne“, lacht sie hell auf. Dabei schaut sie verschlagen ihre Freundin an.

„Für gewöhnlich isst Adalie bei diesen Feiern immer so viel, dass sie sich zwei Tage nicht rühren kann“, erklärt die Frau mit der roten Igelfrisur, als sie ihren Arm um die Taille der Schlanken legt. Beide klimpern sie mit ihren Augen. „Aber vielleicht bleibst du ja einen Tag länger, Per. Dann werden Adalie und ich dich gerne durch die Wälder tragen.“

„Führen“, verbessere ich. „Es heißt führen, nicht tragen.“

„Oha, wir haben es hier mit einem Herrn Neunmalklug zu schaffen, Elvezia. Wenn wir ihn also nicht tragen dürfen, dann müssen wir aber aufpassen, dass wir ihn nicht ver-führen.“ Neckisch strahlt sie mich an. Ungeniert öffnet sie sich einen Knopf ihres Kleides.

„Auf keinem Fall wollen wir uns verlaufen, Adalie. Nachher sind unsere Füße wund, und Per muss uns beide nach Hause tragen.“ Die junge Punk-Frau mustert meine Füße, als würde sie abschätzen, ob sie robust genug wären, zwei Damen durchs Unterholz zu schleppen. Meine Füße sind nicht gerade kanadische Waldbrandaustreter, trotzdem macht Elvezia einen spitzen Mund, der eindeutig Zustimmung ausdrückt. Einerseits verwundert mich das, anderseits liegt in ihrem Interesse ein Feuer, so rot und flammend, wie ihr Igelkopf. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, mit beiden Damen einen heißen Dreier auszutragen. Mitten im Wald, auf einer Lichtung. Das Gras noch feucht, die Sonne schon warm; aber zwei heiße Körper an jeder Seite.

„Werdet ihr zur Party dabei sein?“ Ich greife meine Tasse, trinke im Stehen, während ich beiden auffordernd zunicke.

„Möchtest du es, Per? Wir sind keine Studentinnen, nur einfache Mädchen, aufgewachsen in diesem Vallée, aber seit drei Jahren in Verona lebend. Hier ist einfach der Hund vergraben. Vielleicht hast du ja ein Girl unter deinen Kommilitoninnen, da wollen wir nicht zwischengrätschen.“

„Nein . . . das passt schon“, sage ich gedankenversunken. Mich beschäftigt gerade, wie viele Sprachen die hübschen können. Später werden sie es mir sagen: Englisch, Französisch, Italienisch und natürlich Walserdeutsch, gelernt von ihren Großeltern und Eltern, jene fremde Sprache, mit denen sie sich ganz am Anfang mit Buolf unterhalten haben.

„Gut, dann werden wir uns für dich hübsch machen, Per.“ Der Feuerkopf nimmt mir die leere Tasse aus der Hand und bittet mich zu folgen. Ich schultere meinen Rucksack und lasse mir einen der Schlafsäle zeigen. Einige Isomatten sind schon ausgerollt, wenn alle Festteilnehmer da sein werden, wird er voll belegt sein. Hoffentlich haben die Bediensteten ein Extrazimmer, in das wir uns ungestört zurückziehen können. Nachher, im Rausch der Horror-Party, denke ich, als ich meine Augen unsittlich über Elvezias leicht fülligen Körper gleiten lasse.