ALEXANDRA ENDRES

NIEMAND LIEBT DAS LEBEN MEHR ALS WIR

MEXIKO – UNTERWEGS IN EINEM LAND VOLLER HOFFNUNG

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© 2019 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Umschlagfotos: Getty Images/Tony Anderson (vorne), Alexandra Endres (hinten) Fotos: Alexandra Endres

Karten: Alexandra Endres, Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

eISBN 978-3-6164-9162-2

www.dumontreise.de

INHALT

Auftakt

Mütter und Gräber

Aufbruch

Kapitel 1 Yucatán: Land der Maya

Cancún

Tulum

Krieg der Kasten

Nach Mérida

Yazmín

Musik auf Maya

»Wir wissen nicht, wer wir sind«

Maya, Spanier, Gottheiten

Radio Yúuyum

Das gute Leben

Kapitel 2 Tenosique: Auf der Flucht

Villahermosa

Tenosique

Die Herberge La 72

Ramón, der Helfer

Isabel will Ärztin werden

Angst vor Tätowierten

Johanas Traum

Bayron und La Bestia

Kontrollen

Kapitel 3 Chapultenango: Die Provinz der Zoque

In die Berge

Chapultenango

Don Rigo

Mikeas, die Dichterin

Gegen Fracking

Fermín und Edward Said

Kapitel 4 San Cristó bal de las Casas: Zapatisten

Regen und Feuer

Andenken an die Revolution

Marichuy

Die Jungfrau der Barrikaden

Menschenrechte

San Juan Chamula

Universidad de la Tierra

Oventik

Wahlparty

Kapitel 5 Oaxaca: Mais und Mezcal

Nach Oaxaca

Wo ist Bruno Avendaño?

Menschen aus Mais

Diese Stadt ist besetzt

Alter Reichtum

In der Sierra Mixteca

Mezcal

Nach Mexiko-Stadt

Kapitel 6 Mexiko-Stadt: Im Zentrum

Coyoacán

Am Zócalo

Forscher

Lucha Libre

Temezcal

Bei der Jungfrau

Nach dem Beben

Chinampas

Kapitel 7 Tuxtla Gutiérrez: Wald

Alejandro, der Waldschützer

Nach La Pera

Kapitel 8 Guadalajara: Orozco

Geschichte

Murales

El Fuente

Kapitel 9 Pátzcuaro: Purépecha

Tag der Toten

In Pátzcuaro

Musik und Widerstand

Der Kampf der Frauen

Das Feuer der Purépecha

Alte Sprache

Tortillas

Kapitel 10 Los Mochis: Mütter

El Chapo

Los Mochis

Dulcina

Blanca

Mirna

Lizbeth

»Sucht am Viehpferch«

Kapitel 11 El Chepe: Durch die Sierra Madre Occidental

Im Zug

El Divisadero

Creel

Revolution in Chihuahua

Kapitel 12 Tijuana: Die Grenze

Am Zaun

Geovanni

Party und Prohibition

Crystal City

Graffiti

Migranten

Über die Grenze

Epilog

Tipps zum Lesen, Hören, Anschauen

Danke

Auftakt

Mütter und Gräber

Erst als die Sonne schon sehr tief steht, lassen die Mütter von Los Mochis, Sinaloa, ihre Schaufeln und Grabstöcke sinken und heben den Blick von der vertrockneten Erde. Eigentlich wollen sie nicht aufhören zu suchen. Das haben sie versprochen – sich und ihren Kindern. Denn die sind spurlos verschwunden. Von manchen gibt es seit Jahren kein Lebenszeichen, doch die Polizei unternimmt nichts. Deshalb suchen die Frauen selbst, und sie tun das demonstrativ in aller Öffentlichkeit. Das birgt Gefahren, denn die Mütter kommen damit der Mafia in die Quere. Aber vielleicht bringt ihnen die Aufmerksamkeit auch neue Hinweise. Zumindest hoffen sie das.

Ihr Versprechen spornt sie an und hält ihre Erinnerung wach. Es ist auch eine Mahnung an alle, die in Los Mochis und den Nachbargemeinden leben: »Ich werde suchen, bis ich dich finde.« Öffentlich ausgesprochen bedeutet dieser Satz: »Seht her, was geschieht! Tut nicht so, als ginge euch all das nichts an. Es könnte euch genauso treffen.«

Wenn die Mütter etwas finden, dann ist es in der Regel ein Grab. Nur sehr wenige der Verschwundenen kehren lebend zu ihren Familien zurück. An dem Tag, an dem ich die Mütter bei ihrer Suche begleite, finden sie nichts. Ich bin erleichtert, denn so bleibt mir der Anblick menschlicher Überreste erspart. Doch für die Frauen ist es zum Verzweifeln. Wenn ein Mensch verschwindet, so heißt es, ist die Ungewissheit über sein Schicksal das Schlimmste für die Freunde und Verwandten – schlimmer noch als die Trauer, die man empfindet, wenn Eltern, Geschwister, Freunde, Sohn oder Tochter sterben. Die Mütter von Los Mochis ertragen diese Ungewissheit nicht mehr. Sie suchen auch an diesem Tag, solange sie nur können.

Doch am späten Nachmittag müssen sie einsehen, dass sie heute nicht mehr weiterkommen. Sie gehen zum Pick-up, legen Schaufeln, Macheten und Grabstöcke auf die Ladefläche, trinken noch einen Schluck Wasser aus den fast leeren Kanistern, werfen einen – nur für heute – letzten Blick auf das verwilderte Gelände und klettern endlich auf den Truck.

Da ist Mirna, die vor vier Jahren ihren Sohn verloren hat. Von den Frauen hier war sie die erste, die auf eigene Faust anfing, nach ihrem Kind zu suchen, vor lauter Wut und Ohnmacht, nachdem die Polizei ihr ganz offen gesagt hatte, die Beamten würden zwar eine Akte anlegen, aber sonst nichts weiter unternehmen. Da ist Dulcina, die Journalistin, die über die Mütter berichtet und ihre Suchaktionen schon lange begleitet. Zuerst war sie nur Beobachterin. Doch seit Unbekannte vor ein paar Monaten ihren Neffen entführten, ist Dulcina auch selbst betroffen.

Und da sind Reyna und Lizbeth, die gehofft hatten, das Schicksal ihrer Kinder Eduardo und Zumiko würde sich heute aufklären. Reyna weint; Lizbeth beherrscht sich nur mühsam. Ihre Tochter Zumiko und Reynas Sohn Eduardo waren zusammen in der Stadt unterwegs, als sie verschwanden. Lizbeth hörte am Telefon, wie die beiden verfolgt wurden, wie sie wegliefen, wie ihre Tochter sagte: »Mach dir keine Sorgen, Chefin«, wie Zumiko außer Atem geriet. Natürlich machte sich Lizbeth Sorgen. Sie blieb am Hörer, bis die Verbindung abbrach. Das war vor zwei Jahren, sie erinnert sich noch genau an den Tag. Seither gibt es kein Lebenszeichen von Zumiko und Eduardo.

Vor ein paar Tagen aber haben die Mütter einen anonymen Tipp erhalten: Auf einem Stück Brachland außerhalb der Stadt könnten sie die Überreste der beiden finden. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Als die Mütter ihre Suche abbrechen, bin ich schon nicht mehr bei ihnen. Ich musste einen Zug erreichen und habe sie deshalb vorzeitig verlassen. Jetzt sitze ich in einem luxuriösen Waggon, der von Los Mochis in Richtung Norden fährt, hinauf in die Berge. Um mich herum Familien in Ausflugsstimmung. Ich aber kann nicht so schnell abschütteln, was ich heute erlebt habe.

Stundenlang haben die Frauen das Gelände abgesucht, den Blick immer am Boden, um keinen Hinweis zu übersehen. Sie haben sich vermummt, um ihre Haut vor der brennenden Sonne zu schützen, und dafür gesorgt, dass ich ebenfalls meine Arme bedecke. Sie haben Stechmücken und Hitze ignoriert. Um die Plackerei durchzustehen, hatten sie vorab reichlich Wasser und Energydrinks eingekauft. Sie waren auf verdächtige Stellen gestoßen, an denen das Erdreich locker war und ihre Grabstöcke unter der Oberfläche auf etwas Weiches stießen. Aber der Boden gab nur schmutzige, zerrissene Klamotten frei: drei Jeans, ein Sweatshirt mit braunroten Flecken, ein Halstuch, Wäsche. Männerkleidung, den Frauen unbekannt.

Ich denke daran, wie hoffnungsvoll die Mütter am Morgen aufgebrochen waren und wie ihre angespannte Zuversicht nach und nach in Verzweiflung umschlug. »Was denkst du über unsere Arbeit?«, hatte Mirna mich zum Abschied gefragt. Mir war keine Antwort eingefallen. Erst als ich im Zug sitze und langsam wieder einen klaren Gedanken fassen kann, denke ich: Niemand sollte so etwas tun müssen.

Ich verspüre ein dringendes Bedürfnis, mich zu betäuben, wenigstens ein klitzekleines bisschen. Ich will mich nicht schlimm betrinken, das wäre unklug, denn ich bin allein unterwegs und muss nachher noch in der Lage sein, meine Unterkunft zu finden – bei Nacht, in einer mir unbekannten Siedlung in den Bergen der Sierra Madre Occidental, ohne Internet und Straßenkarten, zu Fuß und mit schwerem Gepäck. Aber noch ist es hell. Die Zugfahrt wird ein paar Stunden dauern. Und im Moment möchte ich gern eine weiche, besänftigende Decke aus Alkohol zwischen mich und die Außenwelt ziehen.

In diesem Luxuszug gibt es Service am Platz, also bestelle ich ein Bier. Harmlos eigentlich. Aber der Kellner schaut skeptisch. Eine allein reisende Frau, erkennbar nicht aus der Gegend, die nachmittags Alkohol bestellt? Unmöglich, sagt sein Blick. »¿La Señora desea algo más?«, erkundigt er sich ausgesucht höflich, als er mir das Getränk bringt. »Wünscht die Dame noch etwas?«

Ich verneine und bedanke mich ebenso betont höflich, um ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist mit mir. In Wahrheit aber fühle ich mich ziemlich fehl am Platz. Wie im falschen Film. Ich blicke aus dem Fenster auf die triste Landschaft. Um mich herum elegantes Interieur, beflissenes Personal, entspannte, fröhliche Gäste. Es sind vor allem Familien mit Kindern, die ihren Ausflug ganz offensichtlich genießen. Warum auch nicht? Wir befinden uns im El Chepe Express, einem Luxuszug, der eine Fahrt durch grandiose Landschaften verspricht: wilde Berge, malerische Täler, schroffe Schluchten.

Die Strecke führt von Los Mochis aus mitten durch den Gebirgszug der Sierra Madre Occidental, es ist eine spektakuläre Route, und noch dazu bietet dieser Zug seinen Passagieren alle möglichen Annehmlichkeiten. Außer dem Service am Platz gibt es eine Bar mit bodentiefen Fenstern, ein dreigängiges Abendessen mit Delikatessen aus der Region, serviert im Speisewagen mit verglastem Panoramadach, damit den Gästen auch bei Tisch nichts von der Aussicht entgeht.

Eine Kellnerin kommt an meinen Platz und erkundigt sich, ebenfalls vollendet höflich, nach meinen Wünschen für das Abendessen. Welches Menü ich denn zu speisen wünsche? Und um welche Uhrzeit sie einen Tisch im Speisewagen für mich reservieren dürfe? »Muchas gracias, Señora

Ihre perfekten Umgangsformen und die Eleganz um mich herum verstärken meine Beklemmung nur noch. Das hier scheint nicht richtig, sondern absurd, unwirklich. Ein merkwürdiger Traum. Draußen graben Mütter nach ihren verschwundenen Kindern, und hier drinnen lassen wir uns unbeschwert umsorgen?

»So ist Mexiko«, schreibt mir eine Freundin später, als ich wieder Mobilfunkempfang habe und ihr mein Unbehagen schildere. »Surreal. Manchmal können nicht einmal wir Mexikaner das verstehen. Diese krassen Gegensätze. Aus welchem Stoff sind wir gemacht, dass wir uns daran gewöhnt haben, so zu leben?« Sie klingt traurig und resigniert.

Ich suche nach einer Erklärung: »Vielleicht müssen Menschen manchmal die Augen vor der Gewalt verschließen und sie verdrängen, um nicht verrückt zu werden«, schreibe ich.

»Du hast recht«, antwortet sie. »Wir müssen uns diese Parallelwelt schaffen, um den Horror zu überleben.«

Was sie gesagt hat, stimmt. Krasse Gegensätze wie der zwischen dem Luxuszug und den verzweifelten Müttern sind typisch für Mexiko. Das Land ist wunderschön. Es hat strahlend weiße Strände, leuchtend blaues Meer, tropische Wälder und unzugängliche Berge. Es ist kulturell so vielfältig wie kaum ein anderes Land Lateinamerikas. Viele der uralten indigenen Sprachen und Traditionen sind noch sehr lebendig. Die zeitgenössischen Künstler Mexikos – Malerinnen, Musiker, Schriftsteller, Schauspielerinnen, Regisseure – sorgen international für Aufsehen. Das ist die eine Seite Mexikos, die bunte, vielfältige, kreative, friedliche Seite.

Die andere Seite Mexikos aber ist brutal. Brutal arm, brutal gewalttätig. Die meisten Gewaltverbrechen im Land bleiben ungesühnt. Mord wird praktisch nicht bestraft. Nur ein Bruchteil der Tötungsdelikte wird überhaupt bei der Polizei angezeigt. Weil viele Behörden korrupt sind, wird häufig nicht ernsthaft ermittelt, und so kommen die allermeisten Täter ohne Strafe davon. So wird die Gewalt alltäglich – ganz normal, eine Sache, mit der zig Millionen unbeteiligte Menschen zurechtkommen müssen, so gut es eben geht. Hunderttausende sind in den vergangenen Jahren im Drogenkrieg umgekommen. Gegen die organisierten Banden sind zum Zeitpunkt meiner Reise zigtausend Soldaten im Einsatz. Zigtausend Menschen wurden ermordet oder aus ihren Dörfern vertrieben und zigtausend sind spurlos verschwunden. So wie die Kinder der Mütter von Los Mochis.

Ich denke an Mirna, Reyna, Lizbeth und Dulcina, während ich mein Bier trinke und aus dem Zug nach draußen schaue. Wir rollen durch eine karge Landschaft. Verdorrte Erde, störrisches Gestrüpp, auf dem Boden salziger, weißer Staub, ein paar trotzige Bäume. Fußgänger kommen uns entlang der Schienen entgegen. Die Landschaft an den Gleisen sieht aus wie das Terrain, das die Mütter heute abgesucht haben.

Inzwischen bin ich schon seit ein paar Wochen in Mexiko unterwegs. Ich habe seine paradiesischen Seiten und seine Vielfalt bewundert. Ich habe große Gastfreundschaft und Solidarität erlebt, aber auch die Armut gesehen und die Spuren der Gewalt. Ich bin weit davon entfernt, Mexikos Widersprüche zu verstehen. Meist kamen sich die Gegensätze nicht so nah wie hier in Sinaloa, aber sie waren immer da.

Was das Leben mit derart krassen Gegensätzen aus den Menschen macht, hat der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro sehr treffend in Worte gefasst. Man kennt ihn unter anderem wegen seines Films The Shape of Water. In seinen Filmen erzählt Del Toro auf märchenhafte Weise vom Bösen im Menschen und zugleich von Liebe und Zärtlichkeit.

Als Del Toro in den USA für The Shape of Water mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde, fragte ihn eine Journalistin, warum ihm die Balance zwischen Horror und Freude in seinen Filmen so gut gelinge.

»Weil ich Mexikaner bin«, antwortete der Regisseur schlicht. »Niemand liebt das Leben mehr als wir, weil für uns der Tod so präsent ist.« Und weiter: »Also werden wir leben, die Schönheit genießen, lieben und frei sein. Vom Licht zu erzählen, ohne die Dunkelheit beiseite zu schieben – das ist die Realität.« Seine Antwort machte ihn für ein paar Stunden zum wohl meistzitierten und -bejubelten Mexikaner in den sozialen Netzwerken.

Ich hatte mir vorgenommen, auf meiner Reise nach den schönen Geschichten zu suchen, um sie zu erzählen – und dabei die anderen nicht zu übersehen, so wie Del Toro.

Aufbruch

Ich war schon früher einige Male in Mexiko, 2004 und 2005. Ich arbeitete in Puebla und lebte bei mexikanischen Familien. Die Tage begannen früh, alle hatten viel zu tun. Daneben blieb wenig Zeit, das Land zu erkunden.

Meine Gastgeber kümmerten sich rührend um mich. Sie selbst gingen selten aus, und wenn ich das Haus verließ, warnten sie mich jedes Mal, vorsichtig zu sein. Sonderlich ernst nahm ich ihre Mahnungen damals nie, und mir passierte auch nie etwas. Der Drogenkrieg eskalierte erst später. 2006 war das Jahr, in dem der frisch gewählte Präsident Felipe Calderón Soldaten gegen die organisierten Banden auf die Straßen schickte. Seither hat die Gewalt in Mexiko ständig zugenommen.

Die Menschen, denen ich damals begegnete, bekochten mich, damit ich mexikanisches Essen kennenlernte, sie tranken mit mir Tequila und Mezcal, sie nahmen mich mit zu Familienbesuchen und luden mich zu Geburtstags- und Hochzeitsfeiern ein. Mit ihnen kletterte ich in Teotihuacán auf aztekische Pyramiden und hörte in Mexiko-Stadt die Sänger von Mariachi-Kapellen ihre theatralischen Liebesschwüre schmettern. Ich aß mit Chilipulver überzogene Mango in Veracruz und in Puebla Huhn mit Mole Poblano, einer Soße aus Bitterschokolade, Chili, Koriander und ungefähr zwei Dutzend anderen Gewürzen und Zutaten. Ich bewunderte die Kunst der Silberschmiede von Taxco. In Oaxaca probierte ich im Fass gereiften Mezcal und sah auf einer Hochzeit fröhliche Männer mit einem betrunkenen Truthahn tanzen, während ihre Frauen, Blumengestecke auf dem Kopf, sich im Kreis um sie drehten. Ich schnappte mir ebenfalls Blumen aus der Tischdeko und drehte mich mit ihnen. Alles andere wäre unhöflich gewesen. Und außerdem machte es sehr viel Spaß.

Zu den Maya kam ich nie. Yucatán liegt zu weit von Puebla entfernt und der Norden ebenso. So nahm ich meine Neugier, mehr von Mexiko kennenzulernen, mit nach Hause.

Doch in den Jahren danach fragte ich mich immer wieder, wie sehr sich Mexiko seit meinen ersten Aufenthalten wohl verändert hat. In den Nachrichten hörte ich von der Gewalt und sah die Bilder – zumindest jene, die als sendefähig eingestuft wurden.

Ist Mexiko tatsächlich so gefährlich geworden? Wie lebten die Menschen damit? Irgendwann beschließe ich, mir selbst ein Bild zu machen. Ich reise trotz aller Warnungen. Ein Sicherheitsexperte gibt mir den gut gemeinten Tipp, fremden Menschen unterwegs nichts von meinen Plänen zu erzählen und Unbekannten keinesfalls zu vertrauen. Ich kann seinem Rat schlecht folgen. Ich will das Land ja entdecken. Wenn ich mich abschotte, wird das nicht funktionieren.

Tatsächlich erlebe ich unterwegs eine wunderbare Zeit. Das liegt vor allem an den Menschen, die ich treffe. Sie heißen mich willkommen, schenken mir ihr Vertrauen, nehmen mich mit in ihren Alltag, zeigen mir ihre Lieblingsorte, erzählen mir von ihren Träumen und Hoffnungen. Von ihnen handelt dieses Buch.

Dieses Mal beginne ich meine Entdeckungsreise dort, wo so viele Gäste Mexiko besuchen: in Yucatán.

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Kapitel 1

Yucatán: Land der Maya

Cancún

Das Flugzeug durchstößt die Wolken, und für einen winzigen Moment tut sich vor uns ein perfekter Regenbogen auf: fast kreisrund, die Streifen rot, orange, gelb, grün, blau, indigo und violett leuchtend. Über ihm spannt sich, gespiegelt im Regen, sein blasserer Zwilling. Elegant und farbenfroh scheinen die beiden Bögen der eigenen Vergänglichkeit zu trotzen. Ich bin hingerissen. Wie schön! Das Leuchten ist für mich ein gutes Omen.

Unter uns liegt eine knubbelig grüne Landschaft, wie Brokkoli sehen die Pflanzen von oben aus. Ist es Wald, sind es Büsche? Dazwischen ein paar helle Streifen. Rodungen vielleicht, oder Straßen? Bevor ich genauer hinsehen kann, legt sich das Flugzeug in eine Kurve. Schon stecken wir wieder in dunkelgrauen Regenwolken. Wenige Augenblicke später spüre ich, wie ein Ruck durch die Maschine geht. Wir sind in Cancún gelandet. Die Regenbogen sind verschwunden.

Draußen hat der Regen anscheinend gerade aufgehört, nur der Asphalt der Landebahn glänzt noch feucht. Doch als ich wenig später aus dem Flughafengebäude trete, geht schon der nächste Guss nieder. Das ist merkwürdig, denn es ist Mai, eigentlich sollte die Regenzeit noch nicht begonnen haben. Am nächsten Tag werden die Zeitungen dennoch von Überschwemmungen in Cancún berichten.

Der Taxifahrer, der mich zu meiner Unterkunft bringt, scheint nicht so recht zu wissen, was er von mir halten soll. Was macht eine allein reisende Frau außerhalb der Hochsaison in diesem Ferienort? »Willkommen«, sagt er, »wie geht’s? Wie war die Anreise?« Ein wenig Smalltalk, um gleich danach zu fragen, wo denn meine Familie ist. Mein Mann? Meine Kinder?

Das fängt ja gut an. Derlei indiskrete Fragen werden mir in den kommenden Wochen noch häufiger gestellt. Ich merke, als Frau allein zu verreisen, ist hier eher nicht so üblich. Und Vorsicht! Macht man dazu noch den Fehler, zuzugeben, dass man keine Kinder hat, so wie ich, zieht das leicht ungebetene medizinische Ratschläge nach sich. In Guadalajara empfiehlt mir ein anderer Taxifahrer ein paar Wochen später den besten Arzt Mexikos für Reproduktionsmedizin. Sein Sohn habe mit ihm die allerbesten Erfahrungen gemacht, erzählt er, und breitet dessen ganze Odyssee vor mir aus, ohne irgendwelche Rücksicht auf private Details. Dem Sohn müssen die Ohren klingen. Seinem Vater ist vermutlich an der Geschichte nur wichtig, dass sie gut ausgeht. Heute ist sein Sohn stolzer Vater, sagt er – und ich könnte mir vorstellen, dass er auch ganz schön erleichtert darüber ist, keine väterlichen Ratschläge zur Familienplanung mehr ertragen zu müssen.

In Cancún aber verschont mich der Taxifahrer glücklicherweise mit weiteren Familienthemen. Ich erkundige mich, wie die Stadt so sei. Ganz in Ordnung, meint er, solange man einen Job hat. Er selbst kommt aus dem ärmeren Süden Mexikos und ist wegen der Arbeit hierhergekommen. Cancún sei auch sicherer als andere Orte im Land. »Niemand in dieser Stadt ist von hier«, sagt er. »Alle kommen sie hierher, um zu arbeiten.«

Tatsächlich kann es in Cancún gar nicht viele Einheimische geben. Es ist eine Retortenstadt, erbaut an der Karibikküste ausschließlich zum Vergnügen der Touristen. Bis vor ein paar Jahrzehnten gab es hier nur Fische und Meeresschildkröten, ein paar Fischerdörfer, Dschungel, Mangroven, Strand – und eine ungefähr 20 Kilometer lange Sandbank, die zwei Lagunen vom Meer trennt. Vielleicht bestimmte ein Computerprogramm deshalb den Ort zum idealen Urlaubsziel. Innerhalb kürzester Zeit ließ die mexikanische Regierung daraufhin Cancún aus dem Boden stampfen.

Heute ist die Sandbank vor der Küste voller Hotels, die ihren Gästen in einer außergewöhnlichen Lage All-inclusive-Urlaub anbieten. Die Strände sind immer noch besonders schön. Kreuzfahrtschiffe legen an, und Studenten aus den USA feiern in den Semesterferien exzessive Partys. Cancún boomt. Hotels und Supermärkte suchen Arbeitskräfte. Gerade wird ein ganzes Hotelviertel hochgezogen, erzählt der Taxifahrer.

Für mich ist die Stadt nur der Ausgangspunkt, um Mexiko zu erkunden. Ich will das Land einmal durchkreuzen, von Ost nach West, von Süd nach Nord. In zwei Monaten will ich in Tijuana sein. Von meiner Route dorthin habe ich eine ungefähre Vorstellung, in Cancún werde ich nur einen Tag lang bleiben.

Ich nutze ihn, um in der Stadt nach den Spuren der Maya zu suchen – immerhin wird der Küstenstreifen hier als Riviera Maya vermarktet. Aber was findet man in Cancún noch von der alten Kultur?

Viel entdecke ich nicht. Vor den Reisebüros und Hotels hängen Plakate, die für Ausflüge zu den alten Ruinenstätten werben. Maya-Glyphen ersetzen an manchen Wänden die sonst üblichen arabischen Ziffern. An den Kiosken hängt die Tageszeitung La Jornada, die hier teilweise auf Maya erscheint. Später erfahre ich, dass die in Yucatán gebräuchliche Variante des Maya von rund 800 000 Menschen gesprochen wird, Tendenz steigend.

Zwischen den Luxushotels auf der Sandbank, ein wenig versteckt in einem Park, befindet sich ein kleines Museum, das die Geschichte der Maya erzählt. Neugierig gehe ich hinein. Und erfahre, dass die ersten Maya aus Mittelamerika nach Mexiko gekommen sind und hier in Höhlen gelebt haben, viele Jahre bevor sie ihre prachtvollen Pyramiden- und Tempelstädte bauten. Im Museum sind ihre ersten Werkzeuge, Steinpfeile, Äxte und Messer zu sehen. Später kamen fein gearbeitete Schmuckstücke aus Jade dazu.

Mich ziehen vor allem die portaincensarios in ihren Bann, tragbare Räuchergefäße aus Keramik. Es sind wahre Kunstwerke, die entstanden, als sich die Blütezeit der alten Hochkultur schon ihrem Ende entgegenneigte. Die portaincensarios im Museum haben die Form kleiner Säulen und sind mit aufwendigen Reliefs geschmückt. Obenauf sitzen Schalen, in denen die Maya bei ihren Ritualen Rauchharz verbrannten. Eines der Rauchgefäße kommt aus Palenque und ist rund 1400 Jahre alt. Seine Vorderseite bedeckt die Darstellung eines geschmückten Gesichts, vermutlich eines Priesters, umgeben von aggressiv aussehenden Vögeln. Gemeinsam ergeben sie ein angsteinflößendes Mischwesen aus Mensch und Tier.

Mir scheint dieses Gefäß in seiner Pracht ein treffendes Symbol für die Macht der alten Hochkultur zu sein. Der Einfluss der Maya reichte weit. Während ihrer Blütezeit trieben sie Handel bis nach Teotihuacán, nördlich vom heutigen Mexiko-Stadt, mehr als 1600 Kilometer von Cancún entfernt. In dieser Zeit gab es mehrere Maya-Reiche, die sich untereinander bekämpften, einander ablösten, ihre Macht durch Krieg erlangten und sie wieder verloren. Während eine Stadt unterging, stieg die nächste auf. Ihre Herrscher beriefen sich auf einen göttlichen Auftrag, um ihre Macht nach innen zu legitimieren. Nach außen taten sie das durch Krieg.

Als die Spanier im Jahr 1528 die Halbinsel Yucatán zu erobern begannen, war die Glanzzeit der Maya bereits vorbei. Aber es gab sie noch, und sie wehrten sich gegen die Eroberer. Im Grunde genommen tun sie das bis heute.

Die Maya-Siedlung auf der Sandbank von Cancún muss vergleichsweise unbedeutend gewesen sein. Sie erstreckte sich etwa zwei Kilometer weit nach Süden; Dünen schützten sie vor dem Wind und den Wellen des Atlantiks. Im Park neben dem Museum spaziere ich zu dem, was von ihr übrig geblieben ist: Grundmauern, kunstvoll aus ungleich großen grau-weißen Steinen zusammengefügt, ein paar schlichte Stelen und eine kleine stufenförmige Pyramide.

Der Weg dorthin führt durch einen dichten Wald aus hohen Bäumen mit mächtigen Wurzeln. Ceibas, vermute ich, aber ganz sicher bin ich nicht. Ceibas, auch Kapokbäume genannt, würden zum Ort passen, denn sie gelten den Maya als heilig. Die Bäume im Park sind ziemlich eindrucksvoll, mit brettartigen Wurzeln, die einander umschlingen und aus deren Windungen die Bäume gen Himmel streben. Hoch oben sitzen die Kronen. In den Ästen keckern Vögel, Lianen hängen herab, Fächerpalmen breiten ihre Blätter aus. Am Boden streiten sich ein paar schwarzgraubraune Vögel mit auffällig spitzen Schnäbeln um gärende Früchte im Gras. Obwohl der Wald so dicht ist, lässt er doch ein wenig Sonnenlicht durch. Überall glitzern Regentropfen.

Plötzlich bleiben vor mir ein paar Leute stehen, um einen Baum zu fotografieren. Ein Teil des Stammes bewegt sich – und entpuppt sich als eine grüngrau geschuppte, perfekt getarnte Iguana mit stachligem Rücken. Inklusive Schwanz ist das Tier so lang wie mein Arm. Träge beäugt es uns. Offenbar haben wir es beim Fressen gestört, denn es hält etwas im Maul. Dann kriecht es langsam davon, immer weiter nach oben, bis es zwischen den Blättern verschwindet.

Draußen vor dem Museum ist es schnell vorbei mit der Ruhe. Aus einem Hotel nebenan dröhnt Partymusik, dabei ist es kaum Mittag. Abgase wehen herüber. Die Straße vor dem Park ist der einzige Fahrweg, der die Hotels entlang der Sandbank miteinander, mit dem Stadtzentrum Cancúns und dem Flughafen verbindet. Hier müssen alle entlang, Hotelangestellte wie Touristen. Entsprechend dicht ist der Verkehr.

Am Abend schlendere ich noch ein wenig durchs Stadtzentrum. Die Fußgängerzone ist voll von Menschen, die Geschäfte scheinen gut zu laufen. Auf einem Platz, an dem Imbissstände Tacos feilbieten und ein Alleinunterhalter Folklore auf dem Keyboard dudelt, treffen sich Familien zum Abendessen. Alles wirkt fröhlich und entspannt.

Aber nur ein paar Schritte weiter hockt eine schwarz gekleidete Gestalt auf dem Boden, den Kopf in den Armen vergraben; das Gesicht ist kaum zu sehen. Vor ihr steht ein Schild: »Ich bin aus Kuba und suche politisches Asyl«. Der Mann ist einer der vielen Menschen, die auf der Flucht vor Armut und Gewalt oder einfach auf der Suche nach einer Zukunft für sich und ihre Familien nach Mexiko kommen. Er hält den Kopf gesenkt, hebt ihn auch dann nicht, als ich ein paar Münzen vor ihm auf den Boden lege. Es sieht aus, als hätte er aufgegeben.

Tulum

Am nächsten Morgen breche ich auf nach Tulum. Dicke Wolken hängen am Himmel. Der Regen ist zurück und taucht Cancún in tristes Grau. Der Kleinbus schleicht im zähen Berufsverkehr vorbei an Hotels, Supermärkten und einem Casino. Ein paar einsame Bäume biegen sich im Wind. Sie sehen aus, als hätte sie jemand zu Dekorationszwecken hier aufgestellt, aber heute kommen sie gegen das Grau nicht an.

Vor der Stadt wird die Landschaft ein wenig grüner. Wir fahren vorbei an Bäumen, Büschen, wuchernden Schlingpflanzen – und Tankstellen, Schnellrestaurants, Autovermietungen. Dazwischen öffnen sich Einfahrten zu offenbar luxuriösen Ferienresorts, an denen Schilder für Schnorchelplätze, Strände und Bootsausflüge werben. Hinter dem Grün ist die Küste anscheinend völlig zugebaut.

Je weiter wir nach Süden kommen, desto schwerer und dichter fällt der Regen. Das Wasser legt sich wie ein Schleier vor die Autofenster, auf der Straße stehen Pfützen. Dabei dient unser Bus auch als Shuttleservice zu den Stränden. Ein paar Mal hält er unterwegs, und die Leute, die aussteigen, haben tatsächlich nur Strandsachen dabei. Bei diesem Wetter werden sie hier keine Freude haben.

Als der Bus Tulum erreicht, regnet es immer noch. Aber das Glück bleibt mir treu. Kaum bin ich angekommen, hört der Regen auf.

Vor vielen, vielen Jahren muss Tulum ein kleiner, beschaulicher Ferienort im Schatten von Cancún und den berühmteren Maya-Stätten wie etwa Chichen Itzá gewesen sein. Dann wurde es zur Partydestination des US-Jetsets und zum Ziel für Junggesellenabschiede. Heute leidet auch dieser Ort unter dem Massentourismus, mit all seinen ökologischen Folgen. Die Müllkippen quellen über, die Brühe aus den Abfallhalden fließt ins Grundwasser.

Mich wundert es nicht, dass so viele Besucher kommen, denn die Maya-Ruinen von Tulum befinden sich an einem ausnehmend schönen Ort. Der Fußweg dorthin, ein paar hundert Meter lang, führt an einem Wald vorbei. Tiefschwarze Vögel mit strahlend türkisfarbenen Flügeln beobachten die Passanten ohne Scheu. Sie lassen sich sogar fotografieren. Es sind Yucatanblauraben, wie ich später herausfinde. Sogar die Raben tragen hier in den Tropen intensive Farben.

Auf einem Felsen über dem karibischen Meer sehe ich dann die Tempel. Eigentlich sollte das Wasser hier hellblau leuchten, denke ich, zumindest tut es das auf Fotos. Aber heute bläst ein wilder Wind. Über der archäologischen Stätte hängen dichte Wolken, die sich im Meer spiegeln, dessen Farbe zwischen Jadegrün, Dunkelblau und Stahlgrau changiert. Die Wellen tragen weiße Schaumkronen. Ich mag dieses windumtoste Tulum sofort.

Zwischen den Ruinen schlendern Menschen umher, betrachten die Schautafeln, machen Selfies, fotografieren Tempelreste, Iguanas, Meer und Bäume und lassen sich vom Wind durchpusten. Am Fuß der Felsen liegt ein weißer, feiner Sandstrand. Man kann dort baden und nachts sollen an diesem Strand glamouröse Partys steigen. Mich aber interessiert der Strand im Moment gar nicht. Zu schön ist der Blick von den Ruinen aufs Meer.

In seiner Blütezeit war das alte Tulum ein Handelszentrum zwischen Meer und Hinterland. Die Bewohner der Stadt lebten vom Fischfang, gingen auf die Jagd und bauten Mais, Chili, Kürbis, Bohnen und Tomaten an. Sie müssen geschickte Bootsfahrer gewesen sein. Zwar wagten sie sich nicht hinaus aufs offene Meer, aber mit ihren Kanus transportierten sie an der Küste entlang Honig, Salz, Baumwolle, Obsidianmesser und Jadeschmuck. Ihre Handelsrouten auf See reichten im Süden bis nach Mittelamerika, und im Westen bis nach Ciudad del Carmen. Wer von den Felsen Tulums aufs Meer blickt, kann sich gut vorstellen, wie die Boote der Händler einander vor der Stadt begegneten.

Tulu’um bedeutet in der Sprache der Maya von Yucatán angeblich Mauer, und tatsächlich ist der Zeremonialbereich der Stadt immer noch von Mauerresten umgeben. Innerhalb des Walls lebten die Bessergestellten. Die einfachen Bauern und Arbeiter bauten draußen ihre Hütten. Einst soll die Mauer bis zu fünf Meter hoch gewesen sein. Ob sie auch der Verteidigung diente, ist nicht ganz klar. Die ursprünglichen Bewohner der Stadt nannten sie aber nicht Tulum, sondern zama, Sonnenaufgang, denn weil Tulum so weit im Osten liegt, treffen die Sonnenstrahlen hier morgens früher aufs Land als anderswo.

Viele der Tempel von Tulum waren aufwendig bemalt und mit Stuck verziert. Die Reliefs zeigten Masken, Götter und Priester. Die Farben – Rot, Schwarz, Grün und Blau – gewannen die Künstler aus Pflanzen, Erde und Mineralien. Heute sind davon nur blasse Reste auf grauem Stein übriggeblieben.

Mein Lieblingsort ist der Tempel des Windgottes Kukulkán, der gefiederten Schlange. Er befindet sich an einer besonders exponierten Stelle am Ende der Bucht, hoch auf einem Felsen über dem Meer, dort, wo es heute besonders heftig stürmt. Ich finde, es ist ein sehr passender Platz für einen Windgott. Kukulkán bewohnt ein eher schlichtes zweistöckiges Bauwerk, nur mit etwas Stuck an den Außenwänden. Die obere Etage sitzt wie eine Treppenstufe auf der unteren. Es gibt prächtigere Gebäude in Tulum, doch Kukulkán hat den schönsten Blick aufs Meer.

Krieg der Kasten

Den Höhepunkt seiner Macht, lese ich auf einer Schautafel, erreichte Tulum nach dem Fall von Chichen Itzá, etwa um 1450 nach Christus. Knapp 70 Jahre später, 1518, tauchte das erste Schiff der Spanier am Horizont auf. Ein paar Jahrzehnte später hatten die Kolonialherren die Halbinsel Yucatán besetzt. Die Stadt Tulum eroberten sie 1544.

Was dann folgte, war laut Schautafeln eine fusión cultural, eine kulturelle Fusion. Das klingt ziemlich harmonisch, doch die Unterworfenen würden dieser Wortwahl ganz sicher nicht zustimmen. Denn die Maya wehrten sich gegen ihre Unterdrücker, und auch Tulum war ein Schauplatz ihrer Kämpfe. Noch im Jahr 1847, fast dreihundert Jahre, nachdem die Spanier in Yucatán an Land gegangen waren, erhoben sich die Maya gegen die Landbesitzer der herrschenden Klasse, weil diese immer mehr Boden für ihre Sisal- und Zuckerrohrplantagen beanspruchten. Ein Krieg begann, der Krieg der Kasten. Er dauerte länger als fünfzig Jahre.

Das Zentrum der Aufständischen in diesem Krieg war die Stadt Chan Santa Cruz, nicht weit von Tulum, die heute Felipe Carrillo Puerto heißt. Der Name wird mir später noch begegnen. Chan Santa Cruz bedeutet auf Maya »kleines heiliges Kreuz«, und tatsächlich gab es in der Stadt ein Kreuz, das von den Maya als Orakel genutzt wurde. Ein Bauchredner soll so getan haben, als würde das Kreuz zu den Kriegern sprechen. Auf diese Weise habe er sie motiviert, ihren Kampf nicht aufzugeben. In einem der Tempel von Tulum stand ein ähnliches Kreuz. Als Chan Santa Cruz fiel, fanden die Aufständischen dort Unterschlupf.

Auf dem Rückweg von den Ruinen nach Tulum-Stadt komme ich an ein paar Bäumen mit merkwürdigen Stämmen vorbei. Sie wirken angeschwollen, so wie bauchige Flaschen, und sind mit Stacheln gespickt. Ceibas, erklärt ein Führer gerade einer Touristengruppe, als ich vorbeigehe. Gemäß der Mythologie der Maya steht eine große Ceiba genau im Zentrum der Erde. Sie ist die Achse der Welt, so groß, dass ihre Wurzeln bis tief in die Unterwelt hinabreichen und die vier Himmelsrichtungen auf ihrer Krone aufsitzen. Somit verbindet die Ceiba Himmel, Erde und Unterwelt – die drei Bestandteile des Universums. Sie hält alles zusammen.

Weil die Ceiba erst sehr weit oben eine Krone ausbildet, erinnert ihre Gestalt an ein hohes Kreuz. Vermutlich besaß das Kreuz der Aufständischen im Krieg der Kasten deshalb eine so große Kraft, sie zum Kampf zu motivieren. Und vielleicht haben sich die grünen Kreuze der Maya deshalb bis heute gehalten. Sie werden mir auf meiner Reise durch Mexikos Süden, zwischen Yucatán und Chiapas, immer wieder begegnen.

Hier in Yucatán ist die mythische Unterwelt, bis zu der die Wurzeln der Ceiba reichen, übrigens gar nicht so weit weg. Die ganze Halbinsel besteht aus Kalkstein, der so porös ist, dass praktisch aller Regen versickert. Oberirdische Flüsse gibt es im Norden Yucatáns deshalb keine. Die Gewässer sind unterirdisch – sie versorgen die tropischen Wälder hier mit Feuchtigkeit. Wo die Decken der unterirdischen Höhlen eingestürzt sind, entstanden Löcher im Kalkstein, die man man Cenotes nennt. Ihre Zahl geht in die Tausende. Über sie versorgten sich die Menschen in alten Zeiten mit Trinkwasser. Für die Maya waren sie der Eingang zur Unterwelt.

Nach Mérida

Tags darauf breche ich auf nach Mérida. Dort bin ich mit Yazmín Novelo verabredet, Kulturwissenschaftlerin, Radiosprecherin, Sängerin – und vor allem: Maya. Mit ihr will ich darüber sprechen, wie es ist, heutzutage Maya zu sein.

Die Busfahrt von Tulum nach Mérida dauert ein paar Stunden. Kurz vor dem Ziel geraten wir in eine Kontrolle. Migrationspolizisten steigen ein und überprüfen unsere Ausweise, einen Passagier nehmen sie mit. Durchs Fenster kann ich sehen, wie er sein Gepäck aus dem Bus lädt; die Polizisten stehen daneben und schauen zu. Wir fahren ohne ihn weiter. Ich muss an den Mann denken, der in Cancún als Asylsuchender um Almosen bettelte. Ob seine Papiere in Ordnung sind? Vermutlich eher nicht.

Mérida gilt als Tor zum Land der Maya. Ihr Territorium erstreckt sich von hier aus in Richtung Süden, bis über die Grenze nach Guatemala, Belize, Honduras; in Mexiko reicht es bis in den Bundesstaat Chiapas im Westen. Selbst wer noch nicht in der Gegend war, kennt die Fotos: Strände, Urwälder, Kolonialstädte – und die alten Tempel der Maya. Heute sind die meisten von ihnen Ruinen. Aber wer sie besucht, begreift, wie mächtig dieses Volk einst war.

Wie leben die Maya heute? Darüber hatte ich vor meiner Reise mit Genner Llanes Ortiz gesprochen. Er ist ebenfalls Maya und arbeitet als Sozialanthropologe an der Uni Leiden in den Niederlanden. Wir haben lange telefoniert. Genner sagte mir: Die große Herausforderung für die Maya sei es heutzutage, die alte Kultur zu bewahren, ohne sich der Moderne zu verweigern. Dann vermittelte er mir den Kontakt zu Yazmín.

Yazmín

Ich muss mich beeilen, um den Treffpunkt zu finden, zu dem Yazmín mich bestellt hat: einen Platz neben einer Kirche etwas südlich vom Stadtzentrum. Aber wo ist Süden? Ich war schon immer schlecht darin, mich zu orientieren. Dass die Straßen von Mérida rechtwinklig angelegt sind wie auf einem Schachbrett und deshalb für mich alle ähnlich aussehen, macht es nicht einfacher. Als ich endlich ankomme, wartet Yazmín schon, und mit ihr wartet ihre Mutter. Noch während Yazmín uns bekanntmacht, ruft sie einen Fahrer ihres Vertrauens an. Ihre Musiker sind schon dort, wo wir hinwollen.

Yazmín verliert keine Zeit. »Ich muss euch warnen, ich werde gleich komische Geräusche machen«, sagt sie, während wir nach Süden aus der Stadt fahren, »bitte lasst euch davon nicht stören.« Und schon singt sie erste Aufwärmübungen. Der Fahrer tut, als fände er es ganz normal, eine merkwürdig singende Frau auf dem Beifahrersitz zu haben. Im Vorort Dzununcan setzt er uns ab.

Ich schaue mich um. Wir befinden uns auf einem kleinen, betonierten Platz mit ein paar Rasenflecken, um uns herum ein paar einstöckige, schlichte Gebäude. Es gibt ein paar Läden, ein paar Bäume, Sitzbänke aus gelb angestrichenem Beton, einen Spielplatz und eine Polizeiwache, die ebenfalls gelb gestrichen ist. Mit dem Auto ist Dzununcan nur eine halbe Stunde von Méridas Zentrum entfernt, aber es wirkt wie ein Dorf.

Die Band baut im Schatten eines Baums schon ihre Instrumente auf. Ein paar Meter weiter basteln Kinder an Klapptischen Drachen aus dünnen Stäben und Papier. Es gab einen Spiel- und Bastelnachmittag für die Kinder des Viertels, erklärt mir Yazmín, organisiert von Freiwilligen. Der Platz sollte für alle da sein, aber er wird von den Nachbarn kaum genutzt. Dafür nehmen ihn die örtlichen Drogenkonsumenten in Beschlag. Mit dem Spielenachmittag wollen die Ehrenamtlichen und Nachbarn den Ort zurückerobern – zumindest ist das ihre Hoffnung. Yazmín und ihre Musiker wollen ihren Teil dazu beitragen.

Musik auf Maya

Dann singt Yazmín. Die Hitze des Tages hat nachgelassen, die Sonne wirft lange Schatten durch die Äste der Bäume. Kinder spielen, rennen, rufen; eines lässt seinen Drachen steigen. Über allem liegt Yazmíns klare Stimme, getragen von E-Gitarre, Bass und Percussion. Yazmín singt darüber, was es bedeutet, Maya zu sein, und sie singt in Maya, ihrer Muttersprache.

Familien schlendern heran, um die Musik zu hören, mehr Frauen als Männer, viele Jugendliche, Kinder. Eine Mutter lässt sich auf dem harten Boden nieder und nimmt ihr Baby auf den Schoß. Eine grauhaarige Frau im Rollstuhl wird von ihren Begleiterinnen ganz nach vorne geschoben. Offensichtlich will sie die Band gut sehen können. Sie lässt die Musiker nicht aus den Augen. Yazmín – klein und zierlich, im dünnen Sommerkleid, mit Federschmuck im Haar und langen gelb-roten Anhängern in den Ohren – strahlt sie an, während sie weitersingt.

Yazmín macht Musik in ihrer Freizeit. Hauptberuflich ist sie Sprach- und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat sich auf Mesoamerika spezialisiert, den alten Kulturraum, der von Südmexiko über Guatemala, Belize, Honduras, El Salvador und Nicaragua bis nach Costa Rica reicht, und schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit.

Doch obwohl sie nur nebenbei singt, ist die Musik für sie viel mehr als nur ein Zeitvertreib. Das Motto ihres Instagram-Accounts drückt das ziemlich gut aus: Yo no canto por cantar, ni por tener buena voz, steht da, Ich singe nicht einfach, um zu singen, und auch nicht, weil ich eine schöne Stimme habe. – Warum dann?

Das Instagram-Motto ist ein Zitat des chilenischen Sängers Victor Jara, der die Zeile in seinem Lied Manifiesto (Manifest) sang, einem seiner bekanntesten Stücke. Jaras Lieder handeln vom Alltag der Arbeiter und einfachen Leute im Chile der 60er- und 70er-Jahre. Es war eine sehr ungleiche Gesellschaft, und Jara war Kommunist. Wenige Tage nach dem chilenischen Militärputsch im September 1973 wurde er von Soldaten ermordet. Viele Musiker haben ihn seither besungen, auch prominente Bands wie The Clash und U2. Bruce Springsteen ehrte ihn bei einem Konzert am 12. September 2013 in Santiago de Chile: »Wenn du ein politischer Musiker bist«, las Springsteen damals auf Spanisch vom Blatt, »dann ist Victor Jara bis heute eine große Inspiration.« Dann sang er vor dem gebannten Publikum Manifiesto in gebrochenem Spanisch, mehr schlecht als recht. Aber Springsteens mangelnde Sprachkenntnisse waren an dem Abend unwichtig. Seine Geste bewegte das Publikum.

Auch für Yazmín ist Victor Jara eine Inspiration. Auch ihre Lieder tragen eine Botschaft, so wie Jaras Lieder. Yazmíns Botschaft lautet: Wir sind Maya, und wir vergessen unsere Herkunft nicht.

Ich kann kein Maya, deshalb verstehe ich fast nichts von dem, was sie singt. Aber für Leute wie mich übersetzt Yazmín eine Zeile: Todavía hablamos con el maíz, Wir sprechen immer noch mit dem Mais. Die Maya glauben, dass die heutigen Menschen aus Mais gemacht sind. Vor ihnen gab es Menschen aus Holz und Lehm, doch die waren fehlerhaft. Die ersten vollständigen, lebensfähigen Menschen waren aus Mais.

Yazmíns Lied heißt Viene la Vida, Das Leben kommt. Es erzählt von der Widerstandskraft der Maya. Nach dem Konzert wird Yazmín mir den Text übersetzen: »Schau uns an. Unsere Blume wird nicht sterben, denn der Regen kommt. Unsere Hände arbeiten in der Stadt und auch in den Dörfern. Jeden Tag erneuern wir unsere Wurzeln, um zu leben.«

Sie und ihre Band spielen auch ein Stück von Mercedes Sosa: Cuando tenga la tierra, Wenn mir die Erde einst gehören wird. Es ist ein Lied für die Bauern, die Lehrer, die Arbeiter; und darüber, was möglich wäre, wenn das Land ihnen gehören würde. Yazmín singt es auf Spanisch und Maya. Ich frage mich, ob die Frau im Rollstuhl Maya versteht, denn als ihre Angehörigen sie weiterschieben wollen, beharrt sie darauf, zu bleiben. Sie setzt sich durch. Alle bleiben, bis zum Schluss.

Früher habe sie auf Spanisch gesungen, erzählt mir Yazmín nach dem Konzert. »Aber ich kam mir mehr und mehr wie ein Clown vor. Wie jemand, der nur zur Unterhaltung der anderen dient.« Sehr hässlich habe sich das angefühlt. Aber auf Maya zu singen sei anders. »Mir ist klar geworden: Wenn wir unsere Sprache nicht benutzen, wird sie verschwinden. Sie braucht so viel Raum, wie sie nur kriegen kann.« Zwar hat sie nichts gegen Mehrsprachigkeit, im Gegenteil, sie mag sie sehr. »Aber warum soll ich auf Spanisch singen, wenn diese Sprache schon so stark ist?«

Yazmín ist nicht die einzige, die Musik auf Maya macht. Es gibt hier eine ganze Bewegung. Yazmín erzählt mir von Pat Boy, einem Rapper und Produzenten, der in Felipe Carrillo Puerto ein Musikkollektiv namens ADN Maya gegründet hat, Maya-DNA – also in genau der Stadt, in der sich während des Kriegs der Kasten das religiöse und politische Zentrum der Aufständischen befand. Pat Boy gibt sein Können ehrenamtlich an die jüngeren Musiker von ADN Maya weiter, erzählt Yazmín. Ich würde ihn gerne treffen, aber er ist leider gerade nicht in der Gegend.

»Wir wissen nicht, wer wir sind«

Später beim Abendessen in einem Schnellrestaurant in der Innenstadt von Mérida frage ich Yazmín, wie es ist, heutzutage Maya zu sein. »Unser Volk ist gespalten. Wir wissen nicht einmal, wer wir sind; wir kennen unsere eigene Geschichte nicht«, antwortet sie. In der Schule zum Beispiel sei ihr immer nur mexikanische Geschichte und Kultur vermittelt worden. Man habe ihr etwa von den Helden des Bürgerkriegs erzählt, den niños heroes, aber nie von den Maya. »Sie haben uns nie gesagt, wer wir sind.«

Die niños heroes waren junge Soldaten, zwischen zwölf und zwanzig Jahren alt, die 1847 im Krieg zwischen Mexiko und den USA starben. Sie werden als Helden verehrt, denn sie sollen bis zum Tod gekämpft haben, selbst als sie schon den Befehl zum Rückzug erhalten hatten. Dass ihre Geschichte Teil des Schulunterrichts ist, wundert mich nicht. Mich erstaunt etwas anderes. Mitten in Yucatán, wo niemand die Vielzahl an archäologischen Stätten und die Errungenschaften der Maya-Hochkultur ignorieren kann, soll Yazmíns Volk in der Schule kein Thema sein?

Doch, das sind die Maya schon, sagt sie, aber nur im archäologischen Sinn. »Wir lernen die historischen Epochen: Präklassik, Klassik, Postklassik. Dann wird ein Schnitt gemacht, und es scheint, als wären die Maya plötzlich verschwunden. Als gäbe es uns seitdem nicht mehr.«

Und selbstverständlich findet die Schule auf Spanisch statt und nicht auf Maya – auch wenn die Forderungen nach Unterricht in der Muttersprache inzwischen mit mehr Nachdruck gestellt werden. Yazmín selbst hat erst mit 23 Jahren begonnen, Maya zu sprechen. Damals habe sie sich gefragt, wer sie eigentlich sei. »Heute ist mir ganz klar: Ich bin Maya. Meine ganze Familie ist von hier. Und selbst wenn spanische Vorfahren darunter wären, könnte mir das meine Wurzeln nicht nehmen.« Sie kämpft um ihre Identität. Und sie ist entschlossen, sie sich nicht mehr nehmen zu lassen.

Was aber bedeutet es für sie, Maya zu sein? Yazmín überlegt und sucht nach den richtigen Worten. Kategorien und Konzepte, das sei doch was für Akademiker, sagt sie dann. »Das Volk erlebt das nicht so.« Aber offenbar ist sie mit der Antwort selbst nicht zufrieden, denn sie spricht weiter. »Vielleicht ist das Maya-Sein so etwas wie unser kulturelles Erbgut, auch wenn wir es gar nicht bewusst wahrnehmen, unsere DNA.« Vieles in ihrem Alltag gehe auf Maya-Traditionen zurück. Die alten Überlieferungen aus dem Popol Vuh, dem heiligen Buch der Maya, seien noch lebendig.

Ich bitte sie um Beispiele. »Etwa wie wir die Zeit verstehen. Eines der Lieder, das ich gerade gesungen habe, handelt davon. Für die Maya verläuft Zeit zirkulär, das heißt, die Dinge kommen und gehen, und wenn man nichts daraus lernt, wird sich alles genauso wiederholen. Das bedeutet auch: Alles hat seine Zeit. Wie in der Natur gibt es auch für die Menschen eine Zeit der Ruhe und Besinnung, in der sie Energie sammeln – und eine, in der sie sich mit frischer Kraft in neue Vorhaben stürzen. Oder nimm das Essen. Die Art, wie ich meine Tortillas zubereite. Viele Gerichte, die als typisch für Yucatán gelten, stammen von den Maya.«

Und natürlich hat das alles – wie bei Victor Jara – auch eine politische Dimension. Die Maya haben eine vollkommen andere Vorstellung davon, was Entwicklung bedeutet, als die westliche Mehrheitsgesellschaft, erklärt mir Yazmín. Für mich klingt das erst einmal sehr abstrakt. Aber für die Bewohnerinnen und Bewohner Yucatáns geht es dabei um sehr konkrete Dinge. Während ich durchs Land reise, werden hier Felder mit genveränderter Soja angelegt, und die Behörden genehmigen Großmastbetriebe für Schweine und Hühner, obwohl Anwohner und Umweltschützer protestieren. Die Kritiker befürchten, dass die Gülle so vieler Tiere das Grundwasser verseucht. Sie wollen lieber sauberes Wasser als Wirtschaftswachstum.

Yazmín sagt, selbst vermeintlich grüne Projekte seien nur an der Oberfläche umweltfreundlich. Zum Beispiel wird für die Erzeugung von erneuerbaren Energien Wald gerodet. »Das ist doch auch neoliberal. Letztlich geht es immer um den Markt.« Sie jedenfalls will sich dem herrschenden System nicht anpassen, sondern ihren eigenen Weg finden.

Auch der Tourismus, der doch von der Vermarktung der alten Maya lebt, bringt deren Nachfahren nichts außer vielleicht Arbeitsplätze, sagt sie. »Aber die sind schlecht bezahlt, wie alle anderen Arbeitsplätze auch.« Mir wird klar: Wenn Erwerbsarbeit so wenig einbringt, dann gibt es für Leute wie Yazmín auch keinen Grund, sich den Erfordernissen des Marktes zu beugen. Sie haben andere Vorstellungen. Ich will wissen, welche. »Ganz einfach«, sagt Yazmín. Ihr Großvater hat sein Land noch ohne Maschinen bestellt, und zwar nicht für den Export. »Sein Tisch war immer voll. Für uns. Damit wir zu essen hatten.«

Yazmín verwendet ihre gesamte Zeit darauf, ihre Sprache und Kultur wiederzubeleben. Sie ist Teil eines Radiokollektivs, das immer montags sendet – natürlich auf Maya. Sie macht ihre Musik – auf Maya. Und in ihrer Doktorarbeit erforscht sie, wie sich die in Yucatán gesprochene Maya-Variante, das Maya Yucateco, in ihrem Heimatdorf Peto entwickelt, abhängig von den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensumständen der Sprechenden.