ISHBEL ROSE HOLMES

SAVING

LUCY

Aus dem Englischen
von Bettina Münch

image

1. Auflage 2019

© Ishbel Holmes 2018

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel »Saving Lucy« bei VeloPress, Boulder, erschienen

Übersetzung: Bettina Münch

Lektorat: Katharina Theml

Umschlaggestaltung, Innenlayout und Karte: FAVORITBUERO, München

Fotos: Jane Atakay (Bildteil >>>>, >>>>), Mustafa Sariipek (Cover, >>>>), alle anderen: Ishbel Holmes

eISBN: 978-3-6164-9112-7

image

www.dumontreise.de

Für Lucy

Ich werde dich lieben, solange ich lebe.

INHALT

01 Im toten Winkel

02 Unmöglich – oder doch nicht?

03 Auf holprigen Straßen

04 Wer beschützt eigentlich wen?

05 Frauen auf dem Fahrrad

06 Die alte Bergbäuerin

07 Begegnung mit Jägern

08 Aufwind und ein Hilferuf

09 Unerwarteter Abschied

10 Nie wieder Opfer

11 Neue und alte Gefährten

12 Schatten der Vergangenheit

13 Feiertage am Strand

14 Wieder unterwegs

15 Dem Licht nachjagen

16 Gefährliche Bergüberquerung

17 Unter Leuten

18 Liebe auf den zweiten Blick

19 Ein Friseurladen an der syrischen Grenze

20 Der letzte Tag

EPILOG

image

01

IM TOTEN WINKEL

Am ersten Abend meiner Weltreise, mit 30 Kilo Gepäck am Rad, stellte ich fest, dass ich kein Feuerzeug eingepackt hatte. Ich saß in der Dunkelheit vor meinem Zelt und schlug erfolglos zwei Kieselsteine aneinander. Ich war hungrig und enttäuscht, weil ich wusste, dass eine echte Abenteurerin eine Möglichkeit gefunden hätte, ihren Kocher anzuzünden und sich ein Abendessen zu machen.

Als ich fünf Monate später durch mein zehntes Land fuhr, die Türkei, sehnte ich immer noch den Tag herbei, an dem ich endlich einer echten Abenteurerin gleichen würde. Doch ich erlebte nach wie vor zu viele hysterische Momente, die mit Spinnen, Nacktschnecken und eingebildeten Ungeheuern zu tun hatten, um mich für etwas Besonderes zu halten. Jede Nacht, die ich irgendwo im Freien schlief, und jeder Sonnenuntergang hatten meine drei größten Ängste im Gepäck: 1. dass mich Menschen finden und ermorden würden; 2. dass mich Tiere aufstöbern und fressen würden und 3. dass ein Mähdrescher mein Zelt übersehen und mich zerhäckseln würde.

Zahllose Male hatte ich unterwegs ein Lagerfeuer anzünden wollen, doch die Vorstellung, ganze Wälder abzufackeln, hielt mich davon ab. An diesem Tag befand ich mich 200 Kilometer hinter Istanbul und befuhr eine ruhige Küstenstraße entlang des Marmarameers. Die mit Treibholz übersäten Winterstrände waren ideal, sodass ich beschloss, jawohl, heute Abend würde ich das erste Lagerfeuer auf meiner Reise entzünden. Ich lächelte – ein weiterer Schritt auf dem Weg zur echten Abenteurerin!

Es war später Nachmittag, als ich nach rechts in einen Weg abbog, der durch eine Gruppe von Holzhäusern zu einem Strand hinunterführte. Ich machte an einem kleinen Dorfladen Halt, in dessen verstaubtem Inneren sich alles fand, was man irgendwie gebrauchen konnte, von Werkzeugen bis Dosenfrüchten, alles, außer Kunden.

Das Geld war knapp und ich zögerte lange, ehe ich eine Zwiebel kaufte. Ich würde sie zusammen mit meiner heutigen Ration Nudeln kochen und meinen letzten Knoblauch hinzugeben, damit das Ganze mehr Geschmack erhielt. Letzte Woche hatte ich nur noch zwanzig Pfund in der Tasche, aber die schottische Firma Intelligent Data Group entdeckte meinen Facebook-Eintrag, in dem ich ankündigte, künftig Mülltonnen durchstöbern zu wollen, also spendeten sie etwas Geld, damit ich weitermachen konnte. Je weniger ich davon ausgab, desto länger würde ich zu essen haben. Dieser Kampf war für mich nichts Neues: Ich war schon immer mit knappen Mitteln gereist. Kein Geld zu haben war meines Erachtens ein kleines Opfer, angesichts der unbezahlbaren Erfahrungen, die mir das Reisen per Rad bescherte.

Schließlich gelangte ich an den Strand, der, bis auf ein paar Hunde in der Ferne, verlassen war. Das wintergraue Meer und die zugenagelten Strandhütten für die Touristen gaben ihm ein einsames und trostloses Aussehen. Obwohl es der perfekte Ort für ein Lagerfeuer war, hatte ich ein unangenehmes Gefühl im Bauch, das ich einfach nicht abschütteln konnte. Als alleinreisende Frau auf Weltreise gehorchte ich meinen Instinkten. Enttäuscht machte ich kehrt, um den gleichen Weg zurückzufahren, den ich gekommen war, und es am nächsten Strand zu versuchen.

In der Hoffnung, doch noch das Zeichen zu erhalten, das ich brauchte, um zu bleiben und mein Lagerfeuer zu errichten, sah ich mich ein letztes Mal um. Stattdessen überraschte mich ein Hund mit hellem Fell, der neben meinem Hinterrad herlief. Ich grinste. Während meiner Zeit als Radrennfahrerin hatte man mir beigebracht, im toten Winkel des vorausfahrenden Gegners zu fahren. Eine Taktik, mit der man sich verstecken und gleichzeitig Kraft sparen konnte. Und dieser Hund befand sich exakt in meinem toten Winkel!

Ich wusste, dass es am besten war, Hunde, die mir unterwegs begegneten, nicht zur Kenntnis zu nehmen und auch nicht zu füttern, damit sie nicht auf die Idee kamen, sich mir an die Fersen zu heften, was für beide Seiten eine unmögliche Situation wäre. Andere Radreisende hatten mich gewarnt: »Vergiss nicht, dass du eine Radweltreise machst; streunende Hunde sind nicht dein Problem!«

Ich ignorierte den Hund und radelte durch das Dorf zurück auf die wenig befahrene Hauptstraße. Dann sah ich mich um. Der Hund war immer noch da. Ich trat in die Pedale und raste los, wie es nur ein echtes Sprinter-Ass kann, eine menschliche Rennmaschine aus weißen Muskelfasern, getrimmt auf Kraft und Schnelligkeit. Wieder schaute ich mich um. Der Hund rannte, so schnell er konnte, hinter mir her, um nur ja nicht den Anschluss zu verlieren. Seine Bewegungen wirkten merkwürdig, er hinkte ganz offensichtlich.

Ich fuhr weiter, immer schneller und schneller, und wiederholte dabei mein Mantra: »Vergiss nicht, dass du eine Radweltreise machst; streunende Hunde sind nicht dein Problem!« Dann folgte eine lange, sanfte Abfahrt, gerade steil genug, um mir die zusätzliche Geschwindigkeit zu geben, die ich brauchte. Der Hund fiel zurück. Beim nächsten Blick zurück konnte ich seine Gestalt zwar noch ausmachen, doch sie war nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne. Warum, um Himmels Willen, rannte er immer noch? Gib auf, flehte ich im Stillen. Gib auf.

Eine Stimme in meinem Innern, die als Flüstern begann, aber schließlich zu einem stummen Schreien anwuchs, das ich nicht länger ignorieren konnte, rief: »Es ist falsch, was du da tust, Ishbel; es ist falsch!« Ich betätigte die Handbremse und blieb stehen. Dann drehte ich mich um und wartete in der stillen Hoffnung, dass der Hund nicht kommen würde. Falls doch, musste ich mit der Situation irgendwie klarkommen. Schließlich kam er hechelnd angerannt und ließ sich ein Stück von mir entfernt auf den Boden fallen. Als eine Art Friedensangebot streckte ich ihm die Hand entgegen und sprach leise auf ihn ein. Er blieb auf Abstand. Der Hund verwirrte mich. Ich hatte ihn weder angesprochen noch gefüttert. Warum folgte er mir so lange und verbissen, wenn er sich jetzt weigerte, näherzukommen? Dieser Hund war komisch.

Ich ließ ihn eine Weile ausruhen, ehe ich unsicher weiterfuhr, weil ich nicht wusste, was ich nun tun sollte. Der Hund folgte mir. Ich verdrehte die Augen. Das Lagerfeuer würde wohl warten müssen; stattdessen würde ich hier, auf dem abschüssigen Feld übernachten.

Die tiefen Erdfurchen, die bereits für die Saat vorbereitet worden waren, machten es meinem vollbeladenen Fahrrad schwer. Mit gesenktem Kopf und bemüht, nicht auf meine schmerzenden Schultern zu achten, umklammerte ich den Lenker und schob das Rad mit aller Kraft vorwärts, bis ich nicht mehr konnte. Da es keine Hecken gab, lag der Acker offen da; ich konnte nur hoffen, dass ich weit genug von der Straße entfernt war und niemand, der in der Nacht mit dem Auto hier vorbeifuhr, mein Zelt bemerkte.

Der Hund lag auf der Erde und sah von Weitem dabei zu, wie ich das Zelt aufstellte. Während ich darauf wartete, dass meine Nudeln zu kochen begannen, betrachtete ich seinen Rücken. Das Tier war ein Weibchen und so mager, dass die Knochen hervortraten. Eine ihrer Pfote war deformiert, und ich fragte mich, was mit ihr geschehen war. Warum hinkte sie? Hatte sie Schmerzen? Sie trug eine pinke Plastikmarke im Ohr. Was hatte sie zu bedeuten? Vielleicht stammte sie von ihrer Familie, so wie in Großbritannien die Hundemarke am Halsband. Falls sie wirklich eine Familie hatte, war sie mir nicht sehr sympathisch, so schlecht, wie sie sich um ihren Hund kümmerte. Doch dann fiel mir ein, dass es in der Türkei Menschen gab, die Mühe hatten, ihre Kinder satt zu bekommen.

Die Hündin tat mir leid, aber ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte. Ich aß die Hälfte meiner Nudeln und bot ihr den Rest an. Sie wollte immer noch nicht näherkommen. Also stellte ich den Kochtopf ein Stück entfernt auf den Boden. Himmel! Nicht mal ein ausgehungerter Hund wollte fressen, was ich gekocht hatte.

Meine Gedanken wanderten zurück zu meinem Ex-Freund. Was hatten wir gelacht, als ich ihm erklärte, dass ich in der Küche nicht gut sein müsse, weil ich stattdessen gut im Bett war. So sehr ich mich auch bemühte, nicht an ihn zu denken, tat ich es doch unentwegt. Bevor ich mich darauf festlegte, mit dem Rad um die Welt zu fahren, hatte ich ihn gefragt, ob wir es noch einmal miteinander versuchen könnten, und schweren Herzens akzeptiert, dass es nicht ging. Er hatte sich an der Universität eingeschrieben, um seine Karriere voranzubringen, und war sich nicht sicher, ob er es schaffen würde, wenn ich ein weiteres Mal mit ihm Schluss machen würde – mit der Begründung, ihn nicht zu lieben.

Damit lag er nicht ganz falsch. Wir hatten uns Hals über Kopf verliebt, und ich hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als an ihm jede Menge Kritikpunkte zu finden, die er verändern sollte. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, aber ich war nicht davon abzubringen, unsere Beziehung krachend an die Wand zu fahren. Was ich getan hatte, ergab nicht den geringsten Sinn.

Schließlich wurde mir klar, dass ich zu beschädigt war, um zu lieben oder geliebt zu werden. Und mit dieser Erkenntnis kam sowohl die Überzeugung als auch die Gewissheit, dass ich mich verändern konnte.

Ich räumte das Abendessen fort und leerte die übrig gebliebenen Nudeln in einen Müllbeutel. Die Hündin beobachtete jede meiner Bewegungen. Sobald ich mich entfernte, ging sie zu der offenen Tüte und begann zu fressen. Sie tat mir leid.

Es dunkelte und ich war müde. Also sagte ich der Hündin freundlich Gute Nacht, kroch in mein Zelt und zog den Reißverschluss zu. Sobald ich die Wärme meines Schlafsackes spürte, überkam mich das schlechte Gewissen. Sämtliche Gedanken an Flöhe beiseiteschiebend, öffnete ich den Reißverschluss wieder und klopfte auf den Boden, um die Hündin zu mir zu locken. Sie rührte sich nicht. Seufzend zog ich mich ins Warme zurück. Ich war froh, dass sie gefressen hatte, aber ich hoffte trotzdem, dass sie verschwunden sein würde, wenn ich wieder aufwachte. Auf keinen Fall würde dieser Hund mit mir kommen.

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war mein erster Gedanke: »Hoffentlich ist die Hündin weg.« Es war mehr als ein Hoffen. Während ich in der Enge meines Ein-Personen-Zelts in die Sachen vom Vortag schlüpfe, betete ich, dass das Tier verschwunden sein möge. Es würde ganz bestimmt nicht mehr da sein.

Ich öffnete den Zeltreißverschluss und kroch hinaus in den frühmorgendlichen Sonnenschein. Und da lag sie, direkt neben der Mülltüte. Das war nicht gut.

»Hallo, mein Mädchen!«, brachte ich einen munteren Gruß zustande, um meine Enttäuschung zu verbergen. Die Hündin zog sich ein Stück zurück. Warum um alles in der Welt blieb sie hier, wenn sie solche Angst vor mir hatte?

Unsicher, was ich tun sollte, stand ich da und schaute über die Felder, sah aber nicht mehr als eine Landstraße und ein paar versprengte Bauernhäuser in der Ferne. Das Dorf, in dem ich die Hündin gefunden hatte, fiel mir ein. Sie war entsetzlich mager und hatte in der Vergangenheit offensichtlich einige Verletzungen erlitten, trotzdem war es ihr irgendwie gelungen, zu überleben. Ich beschloss, sie an den Strand zurückzubringen, von dem aus sie mir gefolgt war. Vielleicht stammte die Marke in ihrem Ohr tatsächlich von ihrer Familie und ich könnte sie irgendwo in der Gegend ausfindig machen. Oder jemand erkannte die Hündin wieder und erhob Anspruch auf sie. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie mitzunehmen stand außer Frage. Ich war schließlich auf Radweltreise.

Ich aß ein wenig Brot und bot ihr einen Brocken an, den sie nicht annahm. Also warf ich ihn zur Mülltüte hinüber, und siehe da, er wurde sofort verschlungen. Dann packte ich zusammen und schob das Rad mit der Hündin im Schlepptau langsam über das gepflügte Feld. Als wir die einsame Asphaltstraße erreichten, schlug ich ein gemächliches Tempo an, damit sie gut Schritt halten konnte; immer wieder sah ich mich um und vergewisserte mich, dass es ihr gutging. Ich hatte keine Ahnung, warum sie hinkte, und wollte ihr keine unnötigen Schmerzen bereiten.

Als wir zum Dorf kamen, lief die Hündin voraus, was mich hoffen ließ, dass sie ihre Heimat wiedererkannte. Plötzlich ertönte auf einem Feld zu meiner Rechten wütendes Gebell und vier Hunde stürmten auf die Straße. Ich schrie sie an, doch sie gingen sofort auf die Hündin los. Zu meinem Entsetzen lief sie nicht davon. Sie wehrte sich auch nicht, sondern legte sich einfach hin. Sie legte sich hin und akzeptierte, was geschah – dass die Hunde mit gefletschten Zähnen und fliegenden Lefzen nach ihrer verletzten Hüfte und dem Bein schnappten.

In diesem Moment wurde ich wieder zu der Sechzehnjährigen, die im Fond eines Autos saß und keine Gegenwehr leistete. Es kümmerte mich nicht genug, um mich zu wehren. In den vorangegangenen Monaten hatte ich Nacht für Nacht im Bett gelegen und stumm vor mich hin geschrien, manchmal schlug ich auch ins Kissen, aber vor allem schlug ich mich selbst. Mit vom Weinen geschwollenem Gesicht versprach ich Gott oder dem Universum oder wer immer das Kommando über die Welt hatte, dass ich ein gutes Mädchen sein würde, wenn ich nur meine Familie zurückbekäme. Doch was ich auch versprach, es änderte sich nichts. Ich war allein, ein Pflegekind, umgeben von Fremden und weit weg von zu Hause. An jenem Abend im Auto hörte ich schließlich auf, Nein zu sagen, und starrte einfach durchs Fenster in die Dunkelheit. Ich war dankbar dafür, endlich bestraft zu werden, weil ich so böse war, dass meine eigene Mutter mich nicht mehr haben wollte.

Ich ließ das Rad fallen und lief, von einer mir unbekannten Kraft getrieben, auf die Hunde zu. Ich trat und zerrte die knurrenden Tiere zurück, brüllte so lange, bis sie davonliefen. Die Hündin lag auf der Seite, und ich kniete mich mit Tränen in den Augen neben sie. Sie bewegte den Kopf gerade genug, um mir die Hand zu lecken. Ihre großen schokobraunen Augen sahen mich an, dass mir das Herz schmolz. Ich sagte ihr, dass sie ein gutes Mädchen sei und gab ihr im gleichen Moment den Namen Lucy.

Ich besah sie eingehend, konnte aber keine Wunden entdecken. Dann stand ich auf, wandte ihr den Rücken zu und ging tränenüberströmt ein paar Schritte fort. Warum hatte sie einfach nur dagelegen? Warum war sie nicht weggerannt? Warum war ich vor all den Jahren nicht weggerannt? Ich schalt mich selbst und wischte wütend die Tränen fort. Lucy brauchte nicht meine Tränen, sie brauchte meine Hilfe. Genau wie ich vor Jahren Hilfe gebraucht hatte – Hilfe, die niemals kam. Nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, kniete ich mich wieder neben sie. Ich strich ihr lächelnd über ihr Fell und versprach ihr leise, dass alles gut werden würde.

Als ich aufstand, rappelte sich auch Lucy auf und drängte sich an mein Bein. Das Rad neben mir her schiebend, gingen wir gemeinsam zu dem Dorfladen, den ich am Tag zuvor schon besucht hatte. Ich befahl Lucy, draußen beim Fahrrad zu warten, und musste dann über mich selbst lachen. Wie sollte sie mich verstehen? Nicht nur, dass sie ein Hund und ich ein Mensch war, sie war noch dazu Türkin und ich Britin. Dennoch schien es uns einander näherzubringen, wenn ich mit ihr sprach.

Der betagte Ladenbesitzer freute sich, mich wiederzusehen, und redete unentwegt auf mich ein, ohne sich darum zu kümmern, dass ich kein Wort verstand. Ich versuchte, ihm die Sache mit dem Hund zu erklären. Er verstand mich nicht. Also nahm ich ihn mit nach draußen und zeigte auf Lucy. Er nickte lächelnd und verschwand im Laden. Als er wieder herauskam, warf er Lucy ein Stück Brot hin. Mir wurde ganz warm ums Herz. Was für ein netter Mann. Dann bedeutete er mir, wegzufahren, während sie damit beschäftigt war, das Brot zu fressen. Ich sagte Nein, ich wolle mich erst vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Er nickte verständnisvoll, doch zu meinem Schrecken rannte er plötzlich auf Lucy zu und wedelte schreiend mit den Armen. Sie ergriff die Flucht. Zufrieden, mir geholfen zu haben, sah sich der Mann mit einem Lächeln nach mir um. Aber ich war entsetzt. Ich verabschiedete und bedankte mich in einem Atemzug, setzte mich aufs Rad und fuhr in die Richtung, in die Lucy geflüchtet war. Ich musste sie unbedingt finden Doch sie war verschwunden. Tieftraurig machte ich schließlich kehrt und fuhr langsam zur Hauptstraße zurück. Wahrscheinlich war es besser so.

Ich wollte gerade richtig in die Pedale treten, als … sich etwas bewegte. Ich sah nach hinten, und da war Lucy, die mir, so schnell sie konnte, aus dem Dorf hinterherhechtete. Ihre Gestalt auf mich zurasen zu sehen, erfüllte mich mit einem unglaublichen Glücksgefühl. Ich sprang vom Rad, kniete mich hin und erwartete sie mit offenen Armen und einem breiten Lächeln im Gesicht. Sie kam mit solchem Schwung bei mir an, dass sie mich fast umwarf, und ich nahm sie in die Arme und sagte ihr wieder und wieder, was für ein gutes Mädchen sie doch sei.

image

02

UNMÖGLICH – ODER DOCH NICHT?

Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Lucy zurückzulassen und weiteren Hundeattacken auszusetzen kam jedenfalls nicht in Frage. Zum Glück hatte ich Handyempfang, sodass Google mich von meiner Ahnungslosigkeit erlösen konnte.

Ich fand eine englischsprachige Website über streunende Hunde in der Türkei. Als ich die Nummer wählte, meldete sich eine Engländerin. »Hallo, hier ist Samantha.« Ich konnte mein Glück kaum fassen.

»Hallo, ich heiße Ishbel und mache mit dem Rad eine Weltreise.«

Ich hielt inne, weil mir klarwurde, dass ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes sagen sollte.

»Sie sind wer … und machen was?«

»Ich bin Ishbel. Ich bin in der Türkei. Diese Nummer habe ich auf Ihrer Website gefunden. Ich habe eine Hündin bei mir. Sie ist mir nachgelaufen. Und sie ist allein.«

Stille.

Ich stammelte weiter. »Ich habe mich gefragt, was sie in der Türkei mit Hunden machen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte die Frau misstrauisch.

»Na, was tun die Leute hier mit freilaufenden Hunden? Sie läuft einfach mutterseelenallein durch die Gegend. Und sie hat eine pinkfarbene Marke im Ohr. Darauf steht Gonen und eine Nummer. Ich vermute, dass Gonen der Name ihrer Familie ist.«

»Wovon reden Sie da?« Immer noch der misstrauische Tonfall.

»Die Hündin. Sie hat eine pinkfarbene Marke im Ohr«, wiederholte ich. »Ich vermute, dass sie von ihrer Familie stammt, aber ich weiß nicht, wie ich sie finden soll. Kann ich sie irgendwo hinbringen, wo man ihr hilft, ihre Familie wiederzufinden?«

»Die Marke im Ohr bedeutet, dass sie ein Straßenhund ist.«

»Oh.« Meine Hoffnung sank.

Samantha fuhr fort: »Und sie bedeutet, dass Sie sich in der türkischen Region Gonen aufhalten.«

Ich wurde rot.

»Dann hat sie also keine Familie?«, fragte ich.

»Nein.« Die Stimmlage der Frau wurde ein wenig höher. »Sie ist ein Straßenhund. Die Ohren werden getaggt, damit man sieht, dass die Hunde sterilisiert und gegen Tollwut geimpft wurden. Danach lässt man sie wieder laufen.«

»Wie schrecklich«, entfuhr es mir.

Stille.

»Und was soll ich jetzt mit ihr machen?«, fragte ich.

»Es gibt Millionen Straßenhunde in der Türkei«, erwiderte die Frau trocken.

»Ja, aber was soll ich mit diesem hier machen? Sie läuft komisch und wurde von anderen Hunden angegriffen. Ich kann sie nicht einfach zurücklassen.«

Die Frau zögerte kurz, ehe sie schließlich sagte: »Hören Sie, wenn Sie die Hündin zu mir bringen, gebe ich ihr einen Platz in meinem Sanctuary.«

Das Wort Sanctuary setzte meine Fantasie in Gang und ließ mich an das bekannte Wellnesscenter im Londoner Covent Garden und an die bekannte Beautymarke denken. In Großbritannien bedeutet Sanctuary Luxus. Ich konnte unser Glück kaum fassen. Es war definitiv ein Tag, um sich ein Lottoticket zu kaufen.

»Sie wird gefüttert und versorgt, und sämtliche Hunde dürfen auf meinem Grundstück frei herumlaufen.«

»Vielen, vielen Dank!« Ich war ganz aufgeregt. »Und wo finde ich Sie?«

»In der Provinz Muğla.«

»Super. Wo ist das?«

»Circa 550 Kilometer von dort, wo Sie jetzt sind.« »550 Kilometer?« Meine Freude verflog. »Aber das ist unmöglich. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Gibt es denn nichts in der Nähe, wo ich sie hinbringen kann?« Ich war am Boden zerstört.

»Nein!« Samantha klang plötzlich sehr nachdrücklich. »Egal, was Sie tun, bringen Sie sie nicht in ein öffentliches Tierheim! Damit liefern Sie sie dem Tod aus. Es ist hier anders als in Großbritannien. Sie wird in einen kleinen Käfig gesperrt, aus dem sie nicht mehr herauskommt, und ganz schnell sterben. Wenn Sie die Hündin zu mir bringen, verspreche ich Ihnen, dass sie für den Rest ihres Lebens im Sanctuary bleiben kann.«

Ich dankte der Frau noch einmal, und das Gespräch endete mit Samanthas abermaliger Warnung, Lucy nicht in ein Tierheim zu bringen. Als ich auflegte, hallten mir die Worte »aber ich bin mit dem Fahrrad unterwegs« in den Ohren. Zärtlich sah ich zu Lucy hinab. Sie hatte kein Zuhause und keine Familie. Genau wie ich. Plötzlich musste ich weinen.

Ich dachte zurück an den Anfang meines Radabenteuers, das ich in Nizza, an der französischen Riviera, begonnen hatte. Ich bin keine Französin, sondern als Tochter einer schottischen Mutter und eines iranischen Vaters in England zur Welt gekommen. Den Großteil meines Lebens habe ich in Schottland verbracht, einem Land, in dem man die Aussicht auf einen sonnigen Tag ebenso aufregend findet wie einen Lottogewinn (was beides höchst unwahrscheinlich ist). Und doch entschied ich mich, von Nizza aus loszufahren. Mit einem breiten Lächeln erklärte ich den Leuten, dass ich den schottischen Regen leid sei und meine ersten Kilometer in der Sonne genießen wolle. Und das glaubte ich auch. Selbst als ich den Billigflieger nach Südfrankreich bestieg, glaubte ich noch daran. Doch als ich Lucy nun so allein und unerwünscht neben meinem Rad liegen sah, wurde mir plötzlich klar, dass bei meiner Abreise einige Dinge gefehlt hatten, die in den Blogs anderer Abenteurer zu finden waren: das Abschiedsessen mit geliebten Menschen am Vorabend, das mit einem Schlummertrunk und Umarmungen endet; Bilder von der Abfahrt, die ersten Meter umringt von jubelnden Angehörigen; Eltern, die die Tränen zurückhalten, und das überwältigende Gefühl, alles zurückzulassen, was einem lieb und vertraut ist. Alles, was Heimat bedeutet. Beim Betrachten von Lucy traf mich eine schreckliche Erkenntnis: Ich hatte meine Tour nicht im sonnigen Nizza begonnen, um dem Regen zu entkommen, sondern um den ersten einsamen Metern einer Weltreise zu entkommen, ohne dass ein Zuhause hinter mir zurückblieb und ohne eine Familie, die mich verabschiedete.

Ich wusste, wie es war, allein auf der Welt zu sein und von Familie und Gesellschaft verstoßen auf der Straße zu leben. Lucy war nach einem Angriff verletzt, sie war verwundbar, allein und nicht in der Lage, sich selbst zu beschützen. Doch obwohl ich wusste, dass eine helfende Hand für Lucy alles verändern könnte, war es für mich ausgeschlossen, sie 550 Kilometer weit zu transportieren. Ich war mit dem Rad unterwegs. Es war unmöglich.

Andre, ein betrunkener Deutscher, den ich Monate zuvor in Italien getroffen hatte, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich war auf dem Weg nach Venedig gewesen und früh am Morgen an zwei Betrunkenen auf einer Parkbank vorbeigeradelt. Als ich merkte, dass ich in die falsche Richtung fuhr, hatte ich kehrtgemacht und war abermals an ihnen vorbeigekommen. Diesmal fiel mir das Tourenrad auf, das neben ihnen stand, und meine Neugierde ließ mich anhalten.

Andre war rot wie ein Hummer und lallte. Mein erster Gedanke war, dass er dringend ein Bad nötig hätte, was viel über seinen Zustand aussagte, denn meine letzte Dusche war selbst neun Tagen her. Ich erfuhr, dass er aus Ostdeutschland stammte und seine Reise lange vor dem Fall der Berliner Mauer begonnen hatte. Er behauptete sogar, seit dreißig Jahren mit dem Rad um die Welt zu fahren. Anfangs schrieb ich die dreißig Jahre der leeren Flasche zu, die neben ihm stand. Doch die Geschichten, die Andre mir erzählte, gepaart mit seiner Fähigkeit, diverse Sprachen zu sprechen, machten mir klar, dass ich es hier mit einem echten Abenteurer zu tun haben könnte. Ich hatte von Radreisenden wie ihm gehört, aber bisher waren sie für mich nur unsichtbare Legenden gewesen.

Andre hatte einen kleinen weißen Hund namens Sweet bei sich, der in einer grünen Plastikkiste lebte, die Andre über dem Vorderrad am Lenker angebracht hatte. Ein pinkfarbenes Plastikverdeck, das aussah, als stamme es von einem Puppenwagen, war über der Kiste befestigt und spendete Sweet Schutz vor Sonne und Regen, während seine Spielzeuge und Schüsseln ringsum am Fahrrad festgemacht waren.

Diese Erinnerung holte mich augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Das war es! Ich musste eine Möglichkeit finden, Lucy auf mein Rad zu setzen, so wie Andre es mit Sweet gemacht hatte. Natürlich war Lucy viel größer als Sweet, aber schließlich war ich losgefahren, um als eine der schnellsten Radsportlerinnen Schottlands und des Irans die Welt zu umrunden. Ich musste einfach daran glauben, dass meine sportliche Vergangenheit mir helfen würde, Lucy zu retten. Trotzdem hätte ich bei der Aussicht, einen 21 Kilo schweren Hund auf mein ohnehin bereits schwer beladenes Rad zu packen, am liebsten gelacht. Es war unmöglich – oder doch nicht?

Mit dem Fahrrad und Lucy machte ich mich zu Fuß auf den Weg zur nächsten Stadt, die mir vielleicht mehr Aussichten auf eine Lösung bieten würde. Seit der Hundeattacke blieb Lucy dicht an meiner Seite, doch sobald sich aus irgendeiner Richtung ein Lastwagen näherte, warf sie sich in den nächsten Straßengraben und blieb regungslos auf dem Bauch liegen, bis der Lärm des Lastwagens verebbte. Es war jedes Mal das Gleiche, daher vermutete ich, dass ein Lastwagen für einige der Verletzungen verantwortlich sein musste, die sie erlitten hatte. Angesichts der Deformation ihrer Pfote erschien es mir vorstellbar, dass sie von einem Reifen überrollt worden war. Gott, musste das wehgetan haben.

Ich erreichte die Ausläufer einer Stadt namens Biga und blieb vor einem Laden stehen, der aussah wie eine Eisenwarenhandlung. Da ich nur wenige Worte Türkisch spreche, brachte ich nicht mehr zustande, als den Verkäufer nach draußen zu winken.

Auch wenn ich um die Welt reise, bin ich, was Sprachen angeht, ein hoffnungsloser Fall. Als der Iranische Radsportverband mir einen Platz in seiner Nationalmannschaft anbot, sprach ich kein Wort Farsi. Mein iranischer Vater hatte es uns nie beigebracht, dafür aber seine Familie verlassen, kurz nachdem er mir mit vier das Radfahren gezeigt hatte.

Meine Farsi-Kenntnisse als Bahnradsprinterin der iranischen Mannschaft beschränkten sich auf »yek dor!«, was »letzte Runde« bedeutet und mir vom Coach aus der Mitte des Teheraner Velodroms zugeschrien wurde. Als ich das Bahnradfahren sechs Monate später aufgab, hatten sich meine Sprachkenntnisse kaum verbessert.

Ohne Türkischkenntnisse spielte ich also Scharade mit dem Verkäufer des Eisenwarenladens, wobei ich mich ziemlich gut angestellt haben musste, denn er ging schließlich wieder hinein und kam mit einer schmalen Gemüsekiste aus Holz, Metalldraht und einer Zange wieder heraus.

Ich wandte mich meinem lilafarbenen Aluminiumrad zu, das für einen urbanen Lebensstil konzipiert war, für Fahrten ins Büro oder um sich mit Freunden einen Latte Macchiato zu besorgen, aber nicht, um damit um die Welt zu fahren. Leichte Ausrüstung mit geringem Packmaß war teuer, was bedeutete, dass mein Gepäck schwer und unförmig war und meine Chancen, einen Winter im Freien zu überstehen, ernsthaft in Frage stellte. Darüber hinaus ließ all das Gepäck mein Rad lächerlich groß aussehen. Mein Schlafsack hatte fünfzehn Dollar gekostet und war selbst in meiner größten Gepäcktasche nicht unterzubringen, daher schnallte ich ihn einfach oben auf die Sachen, die hinter dem Sattel verstaut waren. Dieses Rad war das glatte Gegenteil der teuren, leichtgewichtigen Carbonräder, die ich als Sportlerin gefahren hatte.

Lucy und der Verkäufer sahen zu, wie ich das am Vorderrad angebrachte Gepäck abnahm und auf die hinteren Gepäcktaschen schnallte. Dann kniete ich mich hin und begann die Gemüsekiste mit Draht über dem Vorderrad zu befestigen. In Bezug auf mein Rad gibt es eine eiserne Regel, die für alle gilt, auch für mich: Fass es bloß nicht an, denn es wurde noch nie geputzt. Meine Hände waren im Nu pechschwarz und mein Gesicht, von dem ich den Schweiß abwischte, ebenfalls.

Immer mehr Einheimische versammelten sich, um das Spektakel mitanzusehen, einige lehnten sich sogar aus den Fenstern der oberen Stockwerke. Es sprach sich herum, dass die Kiste für den Hund gedacht war. Meine Hände waren blutig vom Draht, und das Öl vermischte sich mit dem Blut.

Als ich fertig war, stand ich auf und wischte mir die Hände an meinem geblümten Rock ab, dessen Muster ich genau aus diesem Grund ausgesucht hatte – um zu vertuschen, dass er lebenslang als Handtuch benutzt werden würde. Ich rüttelte an der Kiste. Sie wackelte hin und her. Als ich darunterschaute, stellte ich fest, dass eine dicke Holzstrebe mitten über den Boden verlief. Mist. Das war mir vorher nicht aufgefallen. Aber besser bekam ich es mit dem Wenigen, das ich hatte, nicht hin. Ich polsterte die Kiste mit Kleidung aus, wobei ich darauf achtete, dass mein kariertes schottisches Radlertrikot ganz oben lag.

Natürlich war mein Hundekorb eine wacklige Angelegenheit, trotzdem staunte ich darüber, dass mir diese handwerkliche Meisterleistung gelungen war. Dabei wusste ich nicht einmal, wie man ein Reifenflickset benutzt. Als ich einen Schritt zurücktrat und das Rad, die Kiste und Lucy in Augenschein nahm, schüttelte ich dennoch den Kopf. Die Sache würde niemals funktionieren. Doch mir blieb keine Wahl, ich musste es hinbekommen. Daher beschloss ich, die Tatsache, dass es unmöglich war, lieber zu ignorieren.

Noch war ich nicht bereit, Lucy in die Kiste zu setzen, schon gar nicht vor dieser Menschenmenge. Plötzlich fiel mir ein, dass ich ihr unbedingt noch eine Wasserschüssel kaufen musste. Ich kniete mich hin, streichelte sie und erklärte ihr, dass ich in fünf Minuten zurück sein würde und sie beim Rad auf mich warten sollte. Ohne zu wissen, ob Lucy wirklich warten würde, ging ich in einen Lebensmittelladen. Ich fand eine silberne Tandoori-Schüssel, die viel zu schwer und zu teuer war, und kaufte sie zusammen mit etwas Kochfleisch. Voller Sorge, dass Lucy verschwunden sein könnte, eilte ich wieder hinaus.

Als ich Lucy nach wie vor neben dem Rad sitzen sah, durchströmte mich ein Glücksgefühl. Ich stellte die Schüssel mit Fleisch vor sie hin, doch sie fraß nicht. Seufzend kippte ich das Fleisch aufs Straßenpflaster, wo sie es sofort verschlang. Ich blieb dicht neben ihr, um sie mit meinem Körper vor der Außenwelt und den Menschen zu beschützen, die ihr solch eine Angst einjagten.

Ich zermarterte mir das Hirn, wie sich der bevorstehende Moment des Scheiterns noch hinauszögern ließ. Es hatten sich viel zu viele Menschen versammelt, und alle wollten sehen, was geschah, wenn ich mit dem großen Hund in der Kiste davonzuradeln versuchte. Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da vorhatte. Die einzigen Lebewesen, die ich jemals mit dem Rad transportiert hatte, waren betrunkene Freunde gewesen, nach einem Abend im Pub. Nicht unbedingt die beste Vorbereitung, aber immerhin ein Anfang.

Ich wollte keine Zeugen, wenn die Sache schiefging, schon gar nicht, wenn ich womöglich in Tränen ausbrach. Daher schob ich das Fahrrad, von Lucy begleitet, die Straße entlang, fort von der Menge. Doch Lucys Humpeln machte mir klar, dass wir keine Wahl hatten. Sie musste in die Kiste. Und ich musste meine Angst zu versagen beiseiteschieben und es einfach tun.