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Egon Erwin Kisch

Hetzjagd durch die Zeit

Reportagen

Egon Erwin Kisch

Hetzjagd durch die Zeit

Reportagen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Aufbau-Verlag, 1926, 1974
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-13-8

null-papier.de/678

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Schol­len­jagd und Hai­fisch­fang

Ei­li­ge Bal­k­an­fahrt

Im Wig­wam Old Shat­ter­hands

»Mon­na Van­na« auf der Hoch­zeits­rei­se

Ver­bre­chen in den Hochal­pen

Il Equi­li­bris­ta

Werf­ten und Docks

Es spukt im Mo­zart­haus

Gäss­chen der Un­ter­rö­cke

Die Be­frei­ung Or­so­vas

Was die Wöch­ne­rin­nen sin­gen

Wil­de Mu­si­kan­ten­bör­se

Mys­te­ri­en des Hy­dro­gra­fi­schen In­sti­tuts

Ers­te und letz­te Aus­fahrt der Flot­te

Der Na­tur­schutz­park der Geis­tig­keit

Be­such beim Pra­ger Schin­ken

Die Fes­tung Bouil­lon

Prag – Wy­sot­schan – Pa­ris

Der Herr der Wag­gon­vil­la

Pi­s­tya­ner Schwe­fel

Die Dame in Trou­ville

»Han­deln mit alte Klei­der …«

Zür­cher Zucht­haus

Die Gift­schrän­ke der Deut­schen Bü­che­rei

Po­li­zei­ak­ten des Baum­gar­tens

Sonn­tags­fahrt durch Nord­see­land

Raub­tie­re fres­sen

Böh­mi­sches Dorf in Ber­lin

Len­ins mö­blier­tes Zim­mer

Die Ge­heim­nis­se des Sa­lons Gold­schmied

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Schollenjagd und Haifischfang

I. Ausfahrt eines Finkenwärder Fischkutters

»Die Steu­eräm­ter und die Zoll­be­hör­den müs­sen eben von Amts we­gen je­den als Spitz­bu­ben an­se­hen«, warf ein al­ter See­mann in die De­bat­te der Schif­fer, die auf dem Pier von Schulau stan­den und zu un­se­rem Kut­ter1 hin­ab­schau­ten; auf Deck ma­ni­pu­lier­ten zwei Zoll­be­am­te. Vom Tran­sit­la­ger wur­de das ame­ri­ka­ni­sche Gas­öl in Kan­nen ge­pumpt, je zehn Li­ter goss der Be­am­te durch einen Trich­ter in die Ver­schrau­bung des Brenn­stofftanks und senk­te einen Me­tall­stab in die Öff­nung; die Stel­le, an der die Stan­ge fet­tig zu wer­den be­gann, mark­te er mit ei­ner Fei­le. Wie­der zehn Li­ter, wie­der eine Ker­be, wie­der wur­de das Öl sorg­sam mit Werg vom Mess­stock ab­ge­wischt, die­ser von Neu­em in den Tank ge­steckt; sechs Fäs­ser wa­ren be­reits ein­ge­füllt, der Stab, zur Ska­la ge­wor­den, be­kam die amt­li­che Plom­be. Nun kann man je­der­zeit fest­stel­len, ob der Ver­brauch des zoll­frei­en Öls der Fahrt­dau­er ent­spricht oder ob der Schif­fer etwa ein Quan­tum ver­kauft hat, was als Schmug­gel zu qua­li­fi­zie­ren wäre. »Nur Schi­ka­nen«, brumm­ten die Zuschau­er auf dem Kai, »das ha­ben uns die Fluss­fi­scher ein­ge­brockt. Die het­zen, wo sie hin­kom­men!« Stun­den­lang dau­er­te die Pro­ze­dur. Manch­mal war ein neu­er Ei­mer ein­ge­gos­sen wor­den, und auf der Leis­te lag die Feuch­tig­keits­gren­ze tiefer als vor­her. Wie­so? Ein großer Damp­fer kreuz­te Schulau, und die Wel­len be­wirk­ten, dass sich un­ser Kut­ter neig­te, für uns un­merk­lich, aber auch un­märk­lich für den Zoll­be­am­ten.

Um drei Uhr mor­gens, zu Be­ginn der Ebbe, gin­gen wir aus dem Ha­fen. Groß­se­gel und den Be­san zog man hoch – mäch­ti­ge Tra­pe­ze, rot­braun von Ei­chen­lo­he, nur die ge­flick­ten Stel­len in der grau­en Ur­far­be des Se­gel­tuchs. Der Bugs­priet2 wur­de aus­ge­scho­ben, wie ein Ka­no­nen­rohr, und mit der Hand der Klü­ver3 dar­auf ge­hisst, ein spitz­wink­li­ges Lei­nen­drei­eck, das bis­her in der Koje ge­le­gen hat­te. Zu­letzt wur­de am Fock­stach, ei­nem Draht­seil, die Fock ge­setzt.


  1. ein­mas­ti­ges Küs­ten- und Fi­scher­fahr­zeug  <<<

  2. über den Bug hin­aus­ra­gen­de Se­gel­stan­ge  <<<

  3. ein drei­e­cki­ges Vor­se­gel  <<<

II. Begegnungen auf der Unterelbe

»RMS1 El­saß« dampft nach W’ha­ven2 zum Übungs­schie­ßen; zwei feld­graue Mi­nen­räu­mer fah­ren an Gro­den vor­bei, wo ehe­dem das Mi­nen­de­pot war, und träu­men viel­leicht von ent­schwun­de­ner Herr­lich­keit. Boo­te des Reichs­was­ser­schut­zes, von de­nen es noch 1922 hier wim­mel­te, sieht man nicht mehr. »Hol­sa­tia« kommt stolz des We­ges, leer sind die Pro­me­na­den­decks, die Pas­sa­gie­re ers­ter und zwei­ter Klas­se rei­sen von Cux­ha­ven mit dem Son­der­zug bis Ham­burg, die ar­men Leu­te vom Zwi­schen­deck müs­sen sich Zeit las­sen. Vie­le Bag­ger, die großen Ei­mer an ei­ner Ket­te ohne Ende, ar­bei­ten von Staats we­gen, auf dass die Oze­an­damp­fer freie Fahrt ha­ben; die em­por­ge­hol­te Erde wird bei Fin­ken­wär­der ein­ge­deicht und auf­ge­dämmt – man braucht Platz für die Deut­sche Werft und Platz für ju­gend­li­che Sträf­lin­ge, back­bord liegt Han­nö­ver­sund, Ge­fan­ge­nen­la­ger für etwa fünf­hun­dert Jun­gen, auch hier­her lie­fert man Elb­grund als Acker­bo­den. Beim Be­lu­mer Au­ßen­deich sind Saug­bag­ger in Tä­tig­keit, die Schlamm und Koh­le schlu­cken, die­se Beu­te auf die Nord­sei­te der Elbe brin­gen und au­ßer­halb der Fahr­rin­ne aus­spei­en. Per­so­nen­damp­fer, einst deut­scher Be­sitz, nach dem Krie­ge an Nord­ame­ri­ka ab­ge­tre­ten, tra­gen die Flag­ge von Pa­na­ma; die dor­ti­gen Fi­lia­len der Schiff­fahrts­ge­sell­schaf­ten fi­gu­rie­ren als Ei­gen­tü­mer, da­mit das Al­ko­hol­ver­bot an Bord nicht gel­te. »Se­na­tor Os­wald« ist ein­mal um­ge­tauft wor­den und hat zwei­mal die Far­ben ge­wech­selt. »Cle­ve­land« führt den al­ten Na­men, aber die Al­ko­hol­flag­ge.

Hin­ter Bruns­büt­tel dreht der Wind her­um, und die Se­gel fan­gen das Klap­pern an, wir neh­men Fock und Klü­ver her­un­ter, stöh­nend win­det sich der Gig­baum um sei­ne Ach­se, den Groß­mast. Acht Mast­bän­der schla­gen an die Rie­sen­stan­ge.


  1. Reichs­ma­ri­ne­schiff.  <<<

  2. Wil­helms­ha­ven.  <<<

III. Der Krieg der Fischer

Klei­ne Seg­ler der Elb­fi­scher lie­gen in Strom­rich­tung vor An­ker; ein Ru­der­boot ha­ben sie längs­seits, auf dem sie ihr Garn, sechs ge­knüpf­te Wän­de von je drei­ßig Me­ter Län­ge, aus­set­zen und alle fünf Stun­den, wenn Ebbe und Flut wech­seln, wie­der ein­ho­len, But­te, Aale, Stin­te und Hech­te ern­tend. Die Ver­bin­dungs­li­nie von Os­te­mün­dung zum Ort Neu­feld bei Hol­stein ist eine Gren­ze: Ober­halb dür­fen die Hoch­see­fi­scher kei­ne Net­ze aus­wer­fen, sie tun es den­noch, von Ok­to­ber an, bis zum Ein­gang, trotz Ver­bots und trotz der Pro­tes­te der Elb­fi­scher, trotz der Ver­hand­lun­gen vor den preu­ßi­schen Land­ge­rich­ten in Sta­de, Frei­burg und Mar­ne (Dith­mar­schen), trotz der (oft mit Re­vol­vern er­zwun­ge­nen) Weg­nah­me von Fi­sche­rei­ge­rät­schaf­ten und trotz Geld­stra­fen bis zu zwei­hun­dert Mark. Ein ve­ri­ta­bler Krieg ist das zwi­schen Elb­fi­schern und See­fi­schern. Das Ge­setz stammt aus dem Jah­re 1887 und ging von der An­nah­me aus, das Grund­netz rui­nie­re die Butt­be­stän­de, so­dass im Som­mer kei­ne Fän­ge ge­macht wer­den könn­ten. Aber ob­wohl die See­fi­scher, de­nen im Krieg das Meer ver­sperrt war und de­nen noch im­mer im Win­ter jede Ver­dienst­mög­lich­keit fehlt (un­ter an­de­rem gibt es kei­ne Aus­tern mehr in den deut­schen Mee­ren), süd­lich der Grenz­li­nie die »Kur­re« aus­set­zen, er­gab sich auf den Märk­ten von St. Pau­li und Cux­ha­ven kei­ne Ver­rin­ge­rung des But­t­auf­triebs. Au­ßer­dem wur­de wis­sen­schaft­lich fest­ge­stellt, dass der Butt zum Lai­chen nach See geht, zu­meist an die hol­län­di­sche Küs­te, und von dort in alle in die Nord­see mün­den­den Flüs­se zu­rück­wan­dert, also durch das Schlepp­netz auf der Elbe die Lai­che nicht ge­stört wer­den kann. Die Elb­fi­scher je­doch be­har­ren auf dem Ge­setz, das sie vor Kon­kur­renz schützt, und die preu­ßi­schen Be­hör­den, be­son­ders der Ober­fisch­meis­ter von Al­to­na, kom­men ih­nen mit stren­gen Stra­fen zu Hil­fe.

IV. Wir laden Eis

Kurz vor Cux­ha­ven, wir hat­ten schon den Turm der Gar­ni­son­kir­che und den Wind­se­ma­phor in Sicht, mach­ten wir den Rest der Se­gel un­ter der Gaf­fel fest, denn es war wind­still ge­wor­den. Der Mo­tor stieß uns in den Al­ten Ha­fen. Die Lan­dungs­brücken »Alte Lie­be«, mit Häu­sern aus Fach­werk im Hin­ter­grund, und »See­bä­der­dienst«, auf der der Ha­fen­bahn­hof steht, und eine Dreh­brücke mit Hand­be­trieb schlie­ßen das Bas­sin ein. Zwei Ton­nen­le­ger, Staats­schif­fe, schwarz, mit gel­bem Schorn­stein, ei­ni­ge Lot­sen­scho­ner, zahl­lo­se Klein­boo­te der Krab­ben­fi­scher, drei Ber­gungs­schif­fe, »See­fal­ke«, »Wo­tan« und »Her­mes« – Ers­te Hil­fe für ha­va­rier­te Schif­fe –, sind ver­staut. Wir leg­ten uns längs­seits ei­nes Fi­scher­fahr­zeugs, und als die­ses mit dem Lö­schen fer­tig war, konn­ten wir an den Pier ver­ho­len.

Das Eis, das zur Kon­ser­vie­rung der zu­künf­ti­gen Beu­te ge­braucht wird, lädt man erst in dem Au­gen­blick, da man in See sticht. An­ge­stell­te der Kühl­wer­ke er­war­ten die von der Elbe kom­men­den Schif­fe, ei­ner no­tier­te un­se­re Be­stel­lung, vier­tau­send Pfund für ins­ge­samt vier­und­zwan­zig Mark, und ein eins­ti­ger Mi­li­tär­train­wa­gen, von ei­nem Auto ge­schleppt, ef­fek­tu­ier­te sie. Die kal­ten Kris­tal­le roll­ten von der Mole in den Ge­frier­raum, der sich Un­ter­decks hin­zieht und dop­pel­te Schot­ten hat, da­mit nicht etwa die ani­ma­li­sche Wär­me aus dem Lo­gis1 das Eis schmel­ze.

Zi­gar­ren, Schnäp­se und Kon­ser­ven be­sorgt ein Agent aus dem Frei­ha­fen, spott­bil­lig ist al­les, aber wir dür­fen von die­ser zoll­frei­en Ware nichts nach Deutsch­land zu­rück­brin­gen. Bei den von See kom­men­den Schif­fern er­kun­di­gen wir uns nach den Fisch­ge­le­gen­hei­ten und Fan­g­er­geb­nis­sen. »Wi hebbt fischt to Spie­ker­oog, Lan­ge­oog un Nor­der­ney, up veert­ein bis sie­ben­tem Fa­den; twee, drei bis süß Stieg Zun­gen, un­d’s Korb an­dert­halb gou­te Schol­len un veer bis fiew Stücker Matt­gut im Strich, dar­un­ner fiew bis süß grou­te von stücker­wat twölf bis fiev­tein Pound twi­schen.« Ähn­lich lau­ten alle Aus­künf­te, und wir wen­den mor­gens ge­gen vier Uhr ge­gen Spie­ker­oog.


  1. Mann­schafts­un­ter­kunft auf Se­gel­schif­fen  <<<

V. Schiffer Hein Hinrichsen verteilt

Zwi­schen Feu­er­schiff II und Feu­er­schiff I, eine gute Stun­de hin­ter Cux­ha­ven, wies Hein Hin­rich­sen mit dem Arm ost­wärts. »Sühst du doar den swar­ten Punkt?« Es wa­ren meh­re­re schwar­ze Punk­te zu se­hen. »Dat sünd lu­der Wracks, ober wie­ter back­bord up Witt­s­and, doar sitt mien Kot­ter, de ›Em­ma-Ka­the­ri­ne‹.« Er blick­te hin­aus. »1903 hab ich sie bau­en las­sen bei Sche­del­garn auf der Werft in Üt­te­sen. Drei­und­zwan­zig­tau­send Mark hat sie ge­kos­tet mit dem Mo­tor zum Net­ze­he­ben, acht Pfer­de stark, zehn­tau­send Mark war ich noch schul­dig, fast sie­ben Jah­re bin ich dar­auf ge­fah­ren. Im No­vem­ber 1909 blie­ben Stücker neun von den Fin­ken­wär­der Kut­tern in See, nur den ›Se­na­tor von Möl­le‹ hat ein Damp­fer nach dem Sturm bis Es­bjerg ge­schleppt, ohne Mas­ten und Set­bor­te, voll von Was­ser, die Mann­schaft halb tot – von un­se­ren an­de­ren neun Fahr­zeu­gen mit den drei­ßig Mann hat man kei­nen Span ge­fun­den. Ich war auch drau­ßen, mit der ›Em­ma-Ka­the­ri­ne‹, den Tag vor dem schwe­ren Wind tra­fen wir sechs von der Fin­ken­wär­der Flot­te, den einen hab ich an­ge­spro­chen, den Ewer ›Frie­se‹ des Ka­pi­täns Klau­sen, und re­de­te mit ihm über das Wet­ter, weil das Baro­me­ter auf sie­ben­hun­dertzwei­und­zwan­zig zeig­te, doch dach­ten wir, der Sturm muss an­ders­wo sein. ›Wi wollt man hier blieft, dat ward woll so schlimm nich we­sen‹, hat Klau­sen ge­meint. Ich aber sag­te: ›Wi wollt weg.‹ Wir hat­ten die Rei­se be­en­digt, sech­zehn Tage hat sie ge­dau­ert. Fünf­zig Mei­len Süd­süd­ost von Hel­go­land konn­ten wir die Küs­te nicht und nicht be­ho­len, so braß­ten wir denn, krieg­ten das Schiff wie­der rum und trie­ben nach See, mor­gens war der Wind süd­li­cher, wir setz­ten den großen Klü­ver auf und lie­fen mit sechs Mei­len Fahrt nach Elbe zu. Nach­mit­tags, sechs Uhr, quer­ab von Hel­go­land, wur­de ich aus­ge­purrt, Klü­ver und Topp­se­gel muss­ten weg, die Bri­se nahm zu, und wir hat­ten schon fast die Büx voll, weil das Baro­me­ter noch im­mer so furcht­bar schlecht stand; Wind ging von vor­ne, beim drit­ten Feu­er­schiff flog uns die neue Fock weg, nur die Sturm­fock blieb uns, zum Ref­fen1 war kei­ne Zeit. Der Kut­ter lag mit der Re­ling zu Was­ser, dick von Re­gen und Schmutz, wir klar­ten Ket­ten und Schlepp­tros­se und Ret­tungs­boot, für den Fall, dass noch mehr bre­chen soll­te – aber es ist nichts pas­siert. Glock2 neun vor­mit­tags ver­täu­ten wir an der Auk­ti­ons­hal­le Cux­ha­ven. Die Fi­schers­leu­te im Ha­fen hat­ten die gan­ze Nacht vor Sor­ge kein Auge ge­schlos­sen. Fi­sche­rei­in­spek­tor Duge kam an Bord. ›On­kel Hein, wie schall dat woll noch wärn?! Doar sünd jo noch een gan­zer Hau­fen bu­ten!‹ Da mein­te ich: ›Wenn de Wind man rum­loopen deit, wie he ge­wöhn­lich deit, denn is jo nix im Weg – wenn er ober süd­west blift, denn seeht dat man nich fein ut for un­ser Ko­me­ro­den, denn se stahn all nörd­lich.‹ Wir lösch­ten die Fi­sche, und nach­mit­tags um vier Uhr fuhr ich mit der Bahn nach Fin­ken­wär­der, an­dern­tags wie­der nach Cux­ha­ven, den Tag dar­auf mit auf­ge­hen­dem Baro­me­ter­stand in See. Als wir raus­ge­hen bei Ku­gel­ba­ke, tra­fen wir den Kut­ter ›Lan­drat Kös­ter‹ mit Schif­fer Fried­richs. ›Na, Ja­cob, woar hett goh?‹ – ›Bös Wet­ter, wenn se man bloß al wed­der rin sünd?!‹ Acht­zig Mei­len Nord­west­west se­gel­ten wir zum Aus­tern­fang, und nach­dem wir neun Tage ge­fischt hat­ten, woll­ten wir heim­ma­chen. Nahe vom Nor­der­ney­er Feu­er­schiff lief der Wind rum, das Baro­me­ter fing das Fal­len an, und wir krieg­ten ein Ut­schei­der, ha­ben die gan­ze Nacht ge­trie­ben; mor­gens wur­de es flau­er, und wir setz­ten Kurs auf El­be­feu­er­schiff. Vier­zehn Tage nach dem Sturm bin ich zu Hau­se, geht die Fra­ge­rei los: ›Hest du mien Vad­der ne sehn?‹ – ›Hest du mien Mann ne sehn?‹ – man moch­te kaum den Deich ent­lang­gehn. Mein Mut war weg, und ich snacke zu mei­ner Frau: ›Nu, wollt wi man Wieh­nacht füern. Denn wür’s jo ook woll an­ners.‹ Bin aber doch den nächs­ten Tag los­ge­fah­ren nach Cux­ha­ven, da meint mein Schwa­ger, der Bru­der mei­ner Frau: ›Du kannst jo mal an Land blie­ven, Han­nes Schramm, de is hier, de kann jo mit bu­ten gohn.‹ Ich sage: ›Jun­ge, Jun­ge, wullt du noch an­ne­re Lüt mit­’n Fohr­tüch schi­cken, wenn de Schif­fer sül­ben keen Mut doar­zu hett?‹ – ›Ach wat‹, macht er, ›lot uns man losg­ohn.‹ – ›Na, denn mient­we­gen. Un pass man gout ups Loot, mock jo to rech­te Tied lüt­te Se­gels, denn schall wi gohn.‹ Nach fünf­zehn Ta­gen ka­men sie zu­rück, hat­ten Scher­bret­ter und Netz ver­lo­ren und frag­ten: ›Nu, kom­m’ wi woll ne wed­der los?‹ Ich be­ru­hig­te sie, das hät­te mir auch pas­sie­ren kön­nen, die Bril­le ist ja noch nicht er­fun­den, mit der wir auf Mee­res­bo­den kie­ken, und gab ih­nen noch ’ne Er­mah­nung, und sie lich­te­ten wie­der An­ker. Auf dem Heim­weg krieg­ten sie Re­gen, Sturm und Strom­ver­set­zung, lie­fen bei Witt­s­and auf. Ein Te­le­gramm aus Cux­ha­ven traf ein: ›See­fi­scher Hin­rich­sen, Fin­ken­wär­der. Kut­ter Emma-Ka­the­ri­ne auf Witt­s­and ge­stran­det.‹ Da war Hol­land in Not! Die Trä­nen lie­fen mir über die Ba­cken, hab an das Ha­fen­amt te­le­fo­nie­ren las­sen und den Be­scheid er­hal­ten: ›Leu­te und der Hund ge­bor­gen.‹ So­fort bin ich nach Witt­s­and, um zu se­hen, ob et­was zu ret­ten wäre; lei­der war der Bo­den her­aus­ge­schla­gen, und so liegt es noch da, das Ge­rip­pe ne­ben zwei an­de­ren Wracks – dort der schwar­ze Punkt. Nur das Baro­me­ter hab ich von der ›Em­ma-Ka­the­ri­ne‹. Vom Feu­er­schiff II war ein Ret­tungs­boot hin, das hat­te die Leu­te auf­ge­nom­men, mei­nen Schwa­ger Karl Helm­cke, den Han­nes Schramm, die bei­den Jungs und den Hund Mol­ly. Ver­si­chert wa­ren wir nur auf fünf­zehn­tau­send Mark, und ich war viel schul­dig – nicht dar­an zu den­ken, einen an­de­ren Kas­ten an­zu­schaf­fen. Ich hab al­ler­hand ge­ar­bei­tet, als Er­satz­schif­fer Heu­er3 ge­nom­men und so. Mein Schwa­ger Helm­cke hat die See­fah­re­rei an den Na­gel ge­hängt und ist Zim­mer­mann auf der Werft in Fin­ken­wär­der.

Mit sechs­tau­send Mark Reichs­dar­le­hen konn­te ich dann die­ses Schiff kau­fen, im April 1910 von Sit­tas auf Kranz-Neu­en­fel­de, ›Lan­drat Theß­mann‹, es war schon neun Jah­re alt, der bis­he­ri­ge Ei­gen­tü­mer ist bei ei­nem Sturm ver­rückt ge­wor­den. Neue An­schaf­fun­gen muss­te ich ma­chen und ein Jahr lang ohne Ma­schi­ne fah­ren. Ich woll­te das Fahr­zeug um­tau­fen, wie­der auf ›Em­ma-Ka­the­ri­ne‹, den Na­men mei­ner Frau, das hat man nicht be­wil­ligt – die Ehrung ei­nes Lan­drats darf nicht be­sei­tigt wer­den. Als ›H. F. 262‹ ist es in die Schiffs­lis­te ein­ge­tra­gen und 1917 (da­mals zo­gen wir nach Schulau, weil’s uns in Fin­ken­wär­der zu eng wur­de) auf ›S. S. 68‹ ge­än­dert.«


  1. Se­geln durch Ein­rol­len ein­zel­ner Bah­nen in der Flä­che ver­klei­nern  <<<

  2. Uhr  <<<

  3. Lohn ei­nes See­man­nes  <<<

VI. Der Fang

An den ost­frie­si­schen In­seln, 53,55 nörd­li­cher Brei­te und 7,30 öst­li­cher Län­ge. Bei stür­mi­schem Wet­ter, Wind­stär­ke neun, See­gang sechs bis sie­ben, furcht un­ser Kut­ter durch un­ru­hi­ge See. Mit­tags, Glock zwölf, wird das Netz an die bei­den Scher­bret­ter steu­er­bords ge­schla­gen und aus­ge­setzt; die Bret­ter, an zwei acht­zig Fa­den lan­gen Draht­seil­lei­nen hän­gend, schie­ßen in der Strö­mung da­von wie Kin­der­dra­chen in der Luft, in­fol­ge der un­glei­chen Ein­falls­win­kel je­des in an­de­rer Rich­tung – aber in ei­ner Di­stanz von hun­dert­vier Fuß kön­nen sie nicht wei­ter von­ein­an­der, das Grund­tau ver­bin­det sie, und das ist nun ge­spannt. Der Mo­tor wird erst auf lang­sam ge­stellt, wenn das Netz un­ten ist, sonst wür­de es über die auf dem Mee­res­grun­de sit­zen­den Fi­sche hin­weg­ge­ris­sen wer­den. Am Be­san­mast wird der Fi­scher­ball hoch­ge­zo­gen (ei­gent­lich kein Ball, son­dern ein Korb), das Zei­chen für an­fah­ren­de Schif­fe, dass wir schwer ma­nö­vrier­fä­hig sind.

Drei Stun­den lang schlep­pen wir eine Fal­le, die drei­ßig Me­ter breit ist und hun­dertzwei­und­vier­zig Me­ter hin­ter dem Achters­te­ven un­se­res Kut­ters ihr Ende hat.

Um drei Uhr nach­mit­tags wird das Netz ge­ho­ben, die Brem­sen der Mo­tor­win­de ge­löst, die Schiffs­schrau­be los­ge­kop­pelt, die Draht­lei­ne auf­ge­rollt, und das Fahr­zeug treibt. Sind die Scher­bret­ter wie­der auf Deck, fas­sen alle Hän­de an, das Strick­ge­flecht über die Bord­wand zu brin­gen, bis der Beu­tel er­reich­bar ist, ge­nannt »Steert«. Zwei Fisch­trail­len, an den Mast­bäu­men mit zehn Me­ter lan­gen Tros­sen be­fes­tigt, wer­den jetzt in den Steert ein­ge­hakt und die­ser mo­to­risch über die Re­ling ge­holt.

Un­heim­lich schwebt der nas­se Rie­sen­sack auf den bei­den Kran­ha­ken hoch in der Luft. Aus sei­nen Ma­schen schie­ben sich Fisch­köp­fe, Kie­men sind auf­ge­spießt, run­de Au­gen glot­zen, Krebs­sche­ren grei­fen ins Lee­re, Flos­sen flat­tern, her­aus ra­gen Za­cken von Sees­ter­nen, Mu­scheln, Strick­res­te, Fla­schen­hälse, Kno­chen, Tang, Koh­le, Or­ga­ni­sches und Un­or­ga­ni­sches. In ohn­mäch­ti­ger Be­we­gung sind die Ge­fan­ge­nen um ihre Be­frei­ung be­müht, ver­geb­lich, denn wenn es ih­nen ge­lingt, pur­zeln sie auf Deck. Tau­melnd, bau­melnd, trie­fend ist die­ser Bal­len zu un­se­ren Häup­tern – leb­los und doch be­lebt in sei­ner Ge­samt­heit, von tau­send­fäl­ti­gem Kie­men­ge­zap­pel, Flos­sen­schlag und Sche­ren­grei­fen im De­tail. Ein Sack nur, ein Sack je­doch, der nach al­len Sei­ten mit le­ben­di­gen Au­gen über ent­setzt auf­ge­sperr­ten Mäu­lern starrt!

Ei­ner der Fi­scher, un­ter die­se Du­sche sprin­gend, reißt den Schlipp­kno­ten mit bei­den Hän­den auf, die Ver­fal­le­nen stür­zen hin­ab.

Schon wird drü­ben das zwei­te Netz aus­ge­setzt, aber hier, steu­er­bord, bro­delt ein Berg. Fi­sche, den fla­chen wei­ßen Bauch nach oben. Fi­sche, den schlei­mig brau­nen Rücken nach oben, dass man sie vom Schlamm nicht zu un­ter­schei­den ver­mag. Mu­scheln mit auf­ge­klapp­ten Scha­len. Enor­me Ta­schen­kreb­se, in ih­ren wie Pa­pa­gei­en­schnä­bel aus­se­hen­den Sche­ren eine Schol­le hal­tend: sie ha­ben sie im Netz er­hascht und las­sen sich den Fang nicht ent­win­den. Ein­sied­ler­kreb­se, die rot und gelb aus dem Scha­len­ge­häu­se krie­chen, be­gnü­gen sich mit ei­nem Sees­tern. Ei­nen hal­b­en Me­ter lang sind die Stein­but­te. Fisch­band­wür­mer, viel­leicht in der To­des­angst ex­kre­men­tiert, um­schlin­gen kleb­rig das Ge­fan­ge­nen­la­ger. See­zun­gen, als wä­ren sie sich ih­res Markt­wer­tes ge­nau be­wusst – sie sind be­son­de­re Ern­te –, pres­sen den Kopf an eine Plan­ke,1 so­dass sie nicht zu grei­fen sind, denn der schlei­mi­ge Rumpf glitscht aus je­der Hand. Die Kreb­se zwi­cken, ohne ihre Beu­te los­zu­las­sen, mit Sche­ren oder ste­chen mit Kral­len; die hin­ters­ten Füße, bei de­nen man sie un­ge­fähr­det pa­cken könn­te, ver­ste­cken sie. Es schlägt der Butt und gar man­che Schol­le mit re­spek­ta­bler Wucht dem auf die Fin­ger, der sie in den Korb wer­fen will. Knurr­häh­ne stre­ben ge­ra­den­wegs zur Ab­fluss­gat­te in der Bord­wand – wis­sen sie, dass dort der Weg ins Freie führt? Sch­ar­ben, Ka­bel­jau, Schell­fi­sche und Stin­te zap­peln oder sprin­gen, Tin­ten­fi­sche, Se­ei­gel, Qual­len, To­ten­kopf­mu­scheln, See­a­ne­mo­nen, See­ro­sen, Schwäm­me, Spin­nen, See­mäu­se, min­der­wer­ti­ge Krab­ben, ge­nannt »Klaus De­dels«, und an­de­res Un­kraut und Un­ge­zie­fer wünscht der Un­heim­lich­keit von Ta­ges­licht und Men­schen­nä­he zu ent­rin­nen.


  1. lan­ges, dickes Brett; Bau­holz für den Schiffs­bau  <<<

VII. Auch menschliche Spuren sind auf dem Meeresboden

Er­staun­lich ist die Zahl der Men­schen­spu­ren am Mee­res­grund: große Koh­len­stücke, in­tak­te und lee­re Kon­ser­ven­büch­sen, ein Sack Mais, Kno­chen, Holz­pan­ti­nen, ein zer­ris­se­ner Strand­korb, Bier­fla­schen, eine Ma­tro­sen­müt­ze, ein Süd­wes­ter, An­ten­nen­draht, ein Sei­den­schal und ein Ei­mer ka­men schon mit dem ers­ten Fisch­zug in un­ser Fund­bü­ro. Res­te ei­nes Lie­ge­stuhls wa­ren zwi­schen den Fi­schen, morsch das Holz, die Lein­wand fehl­te, und man er­kann­te die Stel­len des eins­ti­gen Ei­sen­be­schlags an ei­nem Hauch von Rost und an un­ver­sehr­ten, gol­den glän­zen­den Me­tall­schrau­ben. Ei­nen Lan­dungs­steg er­beu­te­ten wir auf der Fahrt und einen Po­lo­ball. Die Ta­fel ei­ner Ba­de­an­stalt ließ ent­zif­fern: »Schwimm­ho­se 10 Pf., Hand­tuch 5 …« Froh wur­de eine Fla­sche fran­zö­si­schen Ko­gnaks, Ori­gi­nal­pa­ckung mit Kork­band, be­grüßt, trüb­se­lig stimm­te es die Fi­scher, als sie ein Fi­scher­netz im Fi­scher­netz fan­den, ein Scher­brett mit sechs Me­ter lei­nen­ge­knüpf­ten Rhom­ben. Ein Krebs hielt ein zu­sam­men­ge­knüll­tes Stück Pa­pier in der lin­ken Sche­re, nur mit Mühe konn­te man es ihm ent­rei­ßen; es war ein in por­tu­gie­si­scher Spra­che be­druck­tes Blatt. Zwei Pfund wog wohl die Schol­le, die einen schwar­zen Druck­knopf aus Hart­gum­mi mit dem Da­tum 1.5.1913 links un­ten am Rücken ein­ge­presst hat: sie ist von der »Po­sei­don«, dem bio­lo­gi­schen Ver­suchs­schiff, zur Fest­stel­lung von Wachs­tum und Le­bensal­ter aus­ge­setzt, in Ham­burg müs­sen wir den Fisch bei der Staat­li­chen Fi­sche­rei­di­rek­ti­on ge­gen Be­loh­nung von drei Mark und ge­gen Be­zah­lung nach Ge­wicht ab­lie­fern. Höchs­tens zwan­zig Ster­ne noch und kaum vier Wel­len­li­ni­en mehr hat der Uni­on Jack, der im Netz lag. Auf ei­nem Gum­mischwamm, Fa­brik­wa­re, saß ein Mee­res­schwamm, na­tur­ge­bo­ren. Über­haupt nis­ten in den meis­ten die­ser mensch­li­chen Über­res­te Mu­scheln, Sees­ter­ne und See­ro­sen. Ein schma­ler, klei­ner Da­men­schuh war der­art gar­niert, der her­aus­schau­en­de Rest ei­nes Sei­den­strumpfs pass­te gut zu den Far­ben; mit Scher­zen: »Scha­de, dass das Frau­en­zim­mer nicht dar­in steckt!«, ging der Schuh von Hand zu Hand, bis je­mand ein we­nig an dem Strumpf zog und ein Fuß zum Vor­schein kam – al­ler­dings nur für einen Au­gen­blick, denn schon flog das grau­se Stück dort­hin, wo­her es ge­kom­men war. – In der vier­ten Nacht ma­chen wir einen noch un­heim­li­che­ren Fang. Der Mond leuch­tet, und das Was­ser strafft sich in den mat­ten Far­ben, die wir tags­über nur am Kühl­was­ser­ab­fluss se­hen, wenn der Mo­tor stoppt, jetzt aber sind das oxy­dier­te Sil­ber und das Perl­mutt mäch­ti­ge Flä­chen des Hin­ter­grunds, vor dem der Netz­beu­tel, heu­te zum ach­ten Mal ge­hisst, un­ge­dul­dig über uns Un­ge­dul­di­gen schau­kelt. Man öff­net, und ein Mensch stürzt her­ab – ein nack­ter Mann, mit grau­en­haf­ten Glanz­lich­tern auf ei­nem Kör­per von gift­grü­ner Grell­heit und un­ge­heu­rer Brei­te, Tang und Ge­tier an al­len Stel­len und in al­len Haa­ren, sinkt auf Deck in die Knie, schlägt mit der Stirn auf das Ret­tungs­boot, die El­len­bo­gen an die Hüf­ten ge­presst. Wir je­doch sprin­gen, von sinn­lo­ser Feig­heit ge­packt, der Luke un­se­res Lo­gis zu und fal­len die Lei­ter hin­ab, ei­ner auf den an­de­ren, ohne zu flu­chen. Der ers­te, der flucht, ist Steu­er­mann Klaas, er kriecht wie­der hin­auf, wir an­de­ren ihm nach, stumm, mit zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen. Nur der Schiffs­jun­ge fal­tet die Hän­de, kaum dass sie frei sind, und stam­melt in die­ser Hal­tung wei­ter: »… also auch auf Er­den … ver­gib uns un­se­re Schuld …«

Ein Schlipp­kno­ten wird ge­macht, und man ver­sucht, ihn dem Leich­nam um den Hals zu wer­fen. Aber der tote Gast stützt un­ent­wegt sei­ne Stirn an die Wan­ten des Ret­tungs­boo­tes, ganz fest, kein Zwi­schen­raum bleibt für das Las­so. Der Hüne Klaas geht hin und stößt dem Kni­en­den, ohne ihn zu be­rüh­ren, ein Tau um die Brust und knüpft eine Sch­lin­ge. Jetzt erst fasst der Ka­pi­tän das Seil, es wird an die bei­den Fisch­trail­len ge­bun­den, der Mo­tor zieht hoch, und der Kran­ha­ken mit der schau­er­li­chen Last dreht sich au­ßen­bords, schwebt mit­ten in den fah­len Strahl des Mon­des hin­ein. Der Leicht­ma­tro­se öff­net den Kno­ten, und blass und wort­los schla­gen die Schif­fer ein Kreuz. Bloß der Boy klap­pert: »… zu­kom­me uns dein Reich …« Wir neh­men die Schau­feln, und al­les, was im Steert ge­we­sen, fet­te Stein­but­te, statt­li­che Zun­gen, Rie­sen­kreb­se – al­les fliegt über Bord, in die Frei­heit. Dann scheu­ert man das Deck.

Noch zehn Tage dau­er­te un­se­re Fahrt, doch wur­de von die­sem Fisch­zug nie­mals ein Wort ge­re­det.

VIII. Der Hai

Nur ein­mal, am 14. Mai, der Fisch­beu­tel tauch­te ge­ra­de aus dem Was­ser, frag­te der Leicht­ma­tro­se scheu, ob er nicht au­ßen­bords öff­nen sol­le. Es schi­en, dass aber­mals eine Lei­che im Netz sei, und er woll­te die Ar­beit der Be­sei­ti­gung er­spa­ren. Wir schau­ten vor­ge­neigt und durch­drin­gend auf das Netz und er­kann­ten, der große wei­ße Kor­pus be­we­ge sich. Ein le­ben­der Mensch also? Nein, ein Hai­fisch. Es wur­den »Stropps« ge­holt, eine Art Wurf­sch­lin­ge, und die Holz­keu­le; wir stan­den mit Ha­cken zur Not­wehr be­reit. Der Ma­tro­se, der im­mer den Kno­ten auf­rei­ßt, war noch nie so schnell bei­sei­te ge­sprun­gen wie dies­mal. Heraus spritz­ten die Fi­sche, und kra­chend saus­te Meis­ter Hai her­nie­der. Das Schiff er­beb­te. Zwei­mal schlug er mit der Schwanz­flos­se, Butt und Schol­le von Bord fe­gend, schon je­doch warf ihm der Steu­er­mann eine Sch­lin­ge über den Kopf, das Tau, das vor­her durch einen Bol­zen ge­zo­gen war, zwei Mann hol­ten zu, und der Hai lag wehr­los im Ring. Wehr­los, wohl wehr­los, doch kei­nes­wegs leb­los, toll trom­mel­te sein Hin­ter­leib auf den Bo­den. Ein Schlag auf den Schä­del be­täubt ihn – ein Stich, hart an der za­cki­gen Af­ter­flos­se – das Blut spru­delt hoch – durch­schnit­ten ist die Schwanzader – in zwei Mi­nu­ten ver­en­det er – ein Ko­loß von un­ge­fähr hun­dert­fünf­zig Pfund.

Wir schlitz­ten ihn auf. Den größ­ten Ei­mer füll­te die Le­ber, im Ma­gen steck­te ein Kon­glo­me­rat von But­ten, Ka­bel­jaus, Sch­ar­ben, See­zun­gen so­wie von Fi­schen ganz fer­ner Ge­gen­den, halb­ver­daut und man­che un­ver­sehrt. Ein Klum­pen von Ei­ern, die größ­ten wie Hüh­nerei­er, die kleins­ten mit bloßem Auge kaum wahr­nehm­bar, kleb­te an je­dem Eier­stock, in zwei Beu­teln sa­ßen un­ge­bo­re­ne Jun­ge, etwa vier­zehn Tage vor der Ge­burt. Hat­ten wir kom­men müs­sen, um ihr Le­ben zu ver­hin­dern?

In Bot­ti­chen lös­ten wir das Fett auf, ver­koch­ten es und die Le­ber zu Tran, leg­ten das Fleisch auf Eis. (Fünf­zehn Mark wird in Al­to­na der Fisch­händ­ler be­zah­len, der das Hai­fisch­fleisch als »See­aal ohne Grä­ten in Ge­lee« oder als Fisch­kar­bo­na­de wei­ter­ver­kauft.) Zwei Stun­den dau­er­te die Ar­beit, und es wur­de Zeit zum Ein­ho­len des nächs­ten Net­zes. Die Fi­scher pro­phe­zei­ten wie­der einen Hai, denn sie glau­ben an das Ge­setz der Se­rie; im vo­ri­gen Jahr ha­ben sie bei Hel­go­land vier Stück auf ein­mal ge­fischt, und Damp­fer brin­gen oft zehn Korb nach Ham­burg. Der Fisch­beu­tel tauch­te em­por, wir sa­hen kei­nen Hai. Und doch war ei­ner dar­in. Als aus­ge­schüt­tet wur­de, lag er auf dem Bo­den, nicht so groß wie die Dame, die wir vor­her ge­fan­gen hat­ten und die viel­leicht sei­ne Mut­ter war, aber im­mer­hin fünf­und­zwan­zig Pfund schwer. Trotz­dem wir un­vor­be­rei­tet wa­ren, ge­lang es uns, ihn aufs Haupt zu schla­gen.

IX. Verkehr auf flüssigem Platze

Nörd­lich von Wan­ger­oog, Spie­ker­oog, Lan­ge­oog und Bal­trum pen­deln wir seit vier­zehn Ta­gen, zehn See­mei­len Nord­nord­west, Netz auf­zie­hen, um­keh­ren, zehn See­mei­len Süd­süd­ost, Netz auf­zie­hen, um­keh­ren, Tag und Nacht, nie­mals stockt der Mo­tor, alle drei Stun­den ruft der Wa­che­ha­ben­de sein »Rei­se, rei­se, in­te­jn« in die Ko­jen,1 die Schlä­fer sprin­gen auf, das Netz wird ge­hisst, aus­ge­wor­fen, die Dutt durch­sucht, Fi­sche sor­tiert, aus­ge­wei­det, der Kahn wen­det, zehn See­mei­len Nord­nord­west, zehn See­mei­len Süd­süd­ost. Manch­mal sind die Wel­len ru­hig, manch­mal steht der Ste­ven senk­recht, manch­mal scheint der Mond, manch­mal ist hohe See. Dann haut der Gig­baum wie ein Tob­süch­ti­ger um sich, dass Mast und Ta­kel stöh­nen, das Bul­len­tau reißt und vom Groß­se­gel frei her­ab­bau­melt, un­heim­lich bald hier, bald dort auf­tau­chend. Wind und Meer sind ein ziem­li­ches Ei­ner­lei, fragt man aber, ob man hin­auf- oder ob man hin­un­ter­se­gelt, kriegt man gro­be Ant­wort: »Du Mot­ten­ku­gel, kennst du dich auch nicht aus, wenn du mit der Stra­ßen­bahn den­sel­ben Platz hun­dert­mal auf und ab fährst? Siehst du nicht steu­er­bord den Hel­go­län­der Leucht­turm, ach­ter­aus die drei fes­ten Lich­ter der We­ser­schif­fe, das drei­ma­li­ge Blit­zen vom Nor­der­ney­er Feu­er­schiff?«

Die See­leu­te füh­len sich nicht ver­las­sen. »Dort ist der Kut­ter vom Han­nes, den nen­nen wir nur ›Ad­mi­ral Han­nes‹, weil er Dis­zi­plin hält wie auf ei­nem Pan­zer­kreu­zer, so­gar Tep­pi­che hat er im Lo­gis, man sagt, er schrubbt die Ecken hin­ter den Bul­lern mit der Zahn­bürs­te.« – »Der ›Lan­drat La­hu­sen‹, der ge­hört dem Fiet­je, sein Kom­pa­gnon hat in Fin­ken­wär­der eine Gast­wirt­schaft über­nom­men, sei­nen An­teil am Kut­ter ei­nem Fisch­händ­ler ver­kauft, und der will den Fiet­je rau­sekeln, weil ihm das hal­be Fahr­zeug nicht ge­nug ein­bringt.« – »Der ›H. F. 192‹ fährt mit vol­ler Kraft und fischt mit sieb­zig Fa­den, wir fah­ren hal­be Kraft mit hun­dert­sech­zig Fa­den – so sind die Mo­to­ren ver­schie­den.« Die Schif­fe wen­den auf­ein­an­der zu, und die Hand am Mund, be­rich­tet man schrei­end das Fan­g­er­geb­nis der letz­ten Stun­den. Kommt ei­ner vom Ha­fen, so er­kun­digt man sich, wie der Markt ist und wie es da­heim geht.

Ein­mal, mor­gens um sie­ben, vier Mei­len west­lich vom Nor­der­ney-Feu­er­schiff, er­hält un­ser Schiff einen Stoß, dass es jäh dreht und bei­de Gal­gen, die an Bord be­find­li­chen Rah­men für die Scher­bret­ter, nach au­ßen ge­drückt wer­den, als wä­ren sie aus Pap­pe. Wir sit­zen fest, die Tros­sen ha­ben sich in ei­nem Wrack ver­fan­gen. Ein auf­ge­reg­tes Ma­nö­ver be­ginnt, hin­ten wird ge­stoppt, vor­ne ge­hievt. Mor­sches Ge­bälk, Tei­le von al­ten Mas­ten, wohl eben ab­ge­bro­chen, sind in den Ma­schen ver­fitzt. Un­ver­sehrt die Tros­sen, sie ver­ra­ten nichts von dem Ge­heim­nis, mit dem sie uns ver­ban­den, ver­ra­ten nicht, was un­mit­tel­bar un­ter uns ist; viel­leicht un­ge­heu­re Schät­ze, viel­leicht mo­dern­de Men­schen, viel­leicht Ske­let­te von See­räu­bern … Nie wer­den wir es er­fah­ren, un­ser Kahn ist wie­der flott, wir wen­den nach Nord­nord­west, ver­su­chen, die Gal­gen ge­ra­de­zu­häm­mern und das zer­ris­se­ne Netz­werk aus­zu­bes­sern. Der Scha­den ist nicht groß, vor drei Mo­na­ten war es är­ger, da ging durch ein sol­ches Wrack der gan­ze Kan­du­del zum Teu­fel, Grund­tau, Scher­bret­ter und Kurr­lei­ne.

Hol­län­di­sche Damp­fer, er­kenn­bar dar­an, dass sie kein Back und kei­ne Tür­me ha­ben, aus Ymui­den an der Zui­der­see, kreu­zen un­se­re Rei­se, und dä­ni­sche Mo­tor­schif­fe mit we­hen­dem Da­ne­brog brin­gen Schol­len nach Ham­burg, dort die Prei­se zu ver­der­ben. – Schau, der Jo­nas Hin­rich zieht schon ein! – Tun­gen­knie­per kommt ach­tern auf, er ist aus Ei­sen, sein Mo­tor hat hun­dert Pfer­de­kräf­te, und sechs Mann sind an Bord, aber er ren­tiert sich eben­so­we­nig wie un­ser Kas­ten.

Wir ver­brauch­ten für zwei­hun­dertzwan­zig Mark Gas­öl bis jetzt, für fünf­und­vier­zig Mark Schmier­öl zur Ma­schi­ne, für vier­und­zwan­zig Mark Eis. Als vor ei­nem Vier­tel­jahr un­ser Schiff vom Netz und von den Scher­bret­tern über­haupt nichts wie­der­sah, war der Scha­den fünf­hun­dert­acht­zig Mark hoch und au­ßer­dem bei­na­he kein Fang. Im Herbst flog der Zy­lin­der­de­ckel vom Mo­tor weg, ein paar Wo­chen spä­ter ist die Pleu­el­stan­ge ge­ris­sen und das Kur­bel­la­ger aus­ge­brannt – hat auch schö­nes Geld ge­kos­tet. Über drei­tau­send Mark Schul­den las­ten auf dem Fi­scher­kahn.

Un­se­re Rei­se von vier­zehn Ta­gen bringt acht­hun­dert Mark brut­to. Was bleibt bei die­sen Spe­sen? Bei­na­he drei­hun­dert Mark ge­hen also ab für Mo­tor­öl und Eis. Der Ma­tro­se kriegt zehn Pro­zent, das sind fünf­zig Mark, der Schiffs­jun­ge fünf Pro­zent. Um acht­zig Mark wur­de Pro­vi­ant ge­kauft; der Mann, der uns hel­fen wird, in St. Pau­li die Fisch­kis­ten an Land zu tra­gen, muss auch ent­lohnt wer­den, tau­send Mark zahlt man jähr­lich für Ver­si­che­rung. So hat je­der der bei­den Ei­gen­tü­mer (Klaas ist On­kel Heins So­zi­us) für vier­zehn Tage un­un­ter­bro­che­ner Ar­beit, Tag und Nacht, und das gan­ze Ri­si­ko kaum hun­dert­fünf­zig Mark. Und wie viel Mann sind schon in See ge­blie­ben?


  1. schma­les, fest ein­ge­bau­tes Bett auf ei­nem Schiff  <<<

X. Behandlung der Beute

Ist das Netz hoch­ge­zo­gen, wird die Ern­te ge­schlich­tet. Zu Fü­ßen des schlei­mi­gen, schmut­zi­gen und zu­cken­den Ber­ges stellt man vier Be­häl­ter. Der ers­te nimmt Matt­gut auf, See­zun­ge, Stein­butt und Tar­butt, Bot­tich Num­mer zwei die grö­ße­ren Schol­len und Ka­bel­jau, der drit­te das »Scho­mom«, Schol­len von we­ni­ger als ei­nem Pfund, Sch­ar­ben, Knurr­häh­ne und Ro­chen. In Num­mer vier, eine Kis­te, flie­gen die Koh­len­stücke, die man mit­ge­fischt hat und die sich nach ein paar Ta­gen zu Me­ter­zent­nern häu­fen; Ta­schen­kreb­se – sie ha­ben aber gar nicht Ta­schen­for­mat, son­dern sind oft drei­ßig Zen­ti­me­ter lang – fasst man bei den Hin­ter­fü­ßen, bis zu de­nen die Sche­ren nicht rei­chen, und wirft sie in den Bünn,1 das of­fe­ne Was­ser­bas­sin mitt­schiffs;2 bei Cux­ha­ven müs­sen wir sie al­ler­dings, da­mit sie noch le­bend auf dem Ham­bur­ger Markt um je einen Gro­schen ver­kauft wer­den kön­nen, in einen Korb pa­cken, denn Tro­cken­heit ver­tra­gen sie eher als Süß­was­ser.

Weitaus der größ­te Teil des Em­por­ge­zo­ge­nen ist un­brauch­bar; Ein­sied­ler­kreb­se, Qual­len, Ster­ne, Mu­scheln, Kno­chen, Holz­stücke, durch­lö­cher­te Kör­be, Fla­schen mit zer­bro­che­nen Häl­sen, mor­sche Stri­cke, ver­faul­te Sä­cke, zer­schlis­se­ne Klei­dungs­stücke und vor al­lem die halb­wüch­si­gen Exem­pla­re der Butt- und Schol­len­welt. Wi­der­stands­los las­sen sich die un­ver­wend­ba­ren Tie­re mit der Hand oder mit der Schau­fel auf­neh­men, als wüss­ten sie, dass es ih­nen nicht ans Le­ben geht. Ins Meer zu­rück­ge­kehrt, schie­ßen sie, die noch vor ei­ner Se­kun­de so leb­los auf Deck la­gen, mit wei­tem Stoß da­von. Eine hal­be Stun­de lang ar­bei­tet der Spa­ten, um den Groß­teil des­sen, was man der­ma­ßen müh­se­lig der See ent­ris­sen hat, der See wie­der zu­rück­zu­ge­ben.

Die Ein­ge­wei­de schleu­dert man gleich­falls über die Bord­wand – aber sie kom­men nicht bis ins Was­ser: Mö­wen um­lun­gern un­ser Fahr­zeug, Aas­gei­er des Ozeans, und schnap­pen das Fut­ter im Flu­ge. Be­vor man den Stein­butt in den zu­stän­di­gen Bot­tich warf, hat er einen Mes­ser­stich an die Wur­zel der Schwanz­flos­se be­kom­men, auf dass das Blut ab­flie­ße und das Fleisch weiß blei­be, nun wer­den un­ter­halb der Kie­men die In­ne­rei­en her­aus­ge­schnit­ten. Groß ist die Le­ber und de­li­kat – die meis­ten Kon­ser­ven­fa­bri­ken stel­len Gän­se­le­ber­pas­te­te nicht aus Gän­se­le­ber, son­dern aus Stein­butt­le­ber her. Das aus­ge­wei­de­te Herz ei­nes Butts le­gen wir auf die Setz­b­or­te, ge­nau drei­ßig Mi­nu­ten zuckt es noch re­gel­mä­ßig. Ge­schlach­tet wird auch die See­zun­ge, Gal­le, Bla­se, Le­ber, Herz und Darm flie­gen mö­wen­wärts. Von Schol­len und Sch­ar­ben spült man Schleim und Schlamm ab und bet­tet sie in fla­chen Kis­ten auf Eis. Im Ge­frier­raum wird al­les ge­schlich­tet. Über Deck klatscht das Was­ser aus vie­len Ei­mern, den Un­rat be­sei­ti­gend. Sech­zig bis sieb­zig Mi­nu­ten dau­ert nor­ma­ler­wei­se die Ar­beit; da alle drei Stun­den hoch­ge­zo­gen wird, hat man Tag und Nacht ab­wech­selnd zwei Stun­den Rast und eine Stun­de Fron; ei­ner der Ma­tro­sen bleibt als Wa­che am Steu­er­rad.


  1. Der in der Mit­te der See­fi­scher­fahr­zeu­ge ein­ge­bau­te große Be­häl­ter für die Fi­sche.  <<<

  2. die Mit­te der Quer- wie der Längs­schiffs­rich­tung  <<<

XI. Interieur

Die an­de­ren ste­cken un­ten im Lo­gis: Die Kom­bü­se ist wie eine Kis­te, ge­ra­de so groß, dass die Holz­lei­ter ste­hen kann, und un­ter die­ser »Stie­ge« der Herd. An­gren­zend die Ka­jü­te;1 sie hat vier Me­ter im Ge­viert, die Pe­tro­le­um­lam­pe schwelt, alte Stie­fel und Klei­der und Pa­pie­re duns­ten, Kü­chen­ge­ruch dringt in­ten­siv ein. Sechs Men­schen schla­fen und rau­chen und prie­men und spu­cken und es­sen und ver­dau­en dar­in. Vier höl­zer­ne Schrän­ke mit luft­dicht ver­schließ­ba­rer Tür, auf der die Na­men des Fi­schers und sei­ner Ehe­frau ge­schnitzt sind, die­nen als Schlaf­stel­len. An den Ko­jen der Be­man­nung ist ein Spruch: »Hier eben öber­hin – Is bes­ser als up’n Bünn.« Al­ler­dings blei­ben die Tü­ren zu den Bett­stät­ten meis­tens of­fen, und die Schif­fer schla­fen, in­dem sie die Bei­ne mit den bis zum Schritt rei­chen­den Stie­feln her­aus­hän­gen las­sen. Es lohnt sich nicht, sie aus- und wie­der an­zu­zie­hen – in zwei Stun­den ruft der Wa­che­ha­ben­de sein »Rei­se, rei­se, in­te­jn« hin­ab, und das heißt: auf­ste­hen, auf­ste­hen, ein­zie­hen. Zum Wa­schen ist kei­ne Ge­le­gen­heit, so nö­tig man es auch hät­te; Schlamm und Blut vom Sor­tie­ren und Aus­wei­den der Fi­sche, Teer und Tran vom Aus­bes­sern der Net­ze, Schmier­öl und Ruß von der Be­die­nung des Mo­tors haf­ten an un­se­ren Hän­den. Was tun? Meer­was­ser nimmt kei­ne Sei­fe auf und rei­nigt nicht, mit dem Süß­was­ser in der Ton­ne ist spar­sam um­zu­ge­hen! Au­ßer­dem bringt es Un­glück, wenn man sich wäh­rend der Fahrt wäscht, das weiß je­der See­mann.

Zum Er­sti­cken dick ist die Luft im Lo­gis, die Luke wird nicht ge­öff­net. Nur Muf­fig­keit be­deu­tet der Be­sat­zung, nach zehn bis zwölf Stun­den täg­li­cher Ar­beit in mehr als fri­scher Luft, voll­kom­me­ne Trau­lich­keit (ähn­lich wie sich der Bau­er in eine ver­räu­cher­te, dump­fe, nied­ri­ge Stu­be setzt oder in eine drücken­de Last von Dau­nen bet­tet). Die­se Über­kom­pen­sa­ti­on kommt auch in der Klei­dung der Schif­fer zum Aus­druck, zwei Tri­kots, einen Swea­ter und noch eine Is­land­ja­cke tra­gen sie, Woll­schal um den Hals, Un­ter­ho­se aus blau­em Tuch, zwei Paar Woll­st­rümp­fe, Sees­tie­fel bis zu den Ober­schen­keln, An­zug aus dicks­tem Stoff. So schla­fen sie in den Fe­der­bet­ten der Koje, dass ih­nen Schweiß aus al­len Po­ren strömt, so ro­bo­ten sie, noch um Flot­ten­müt­ze oder Süd­wes­ter be­rei­chert, selbst bei Son­nen­schein und Wind­stil­le, wäh­rend eine Lan­drat­te bar­fü­ßig und bar­häup­tig und halb­nackt auf Deck bleibt.

Ge­ges­sen wird gut, denn Ar­beit und See­luft ma­chen hung­rig und er­for­dern Kräf­te. Um acht­zig Mark wur­de in Cux­ha­ven für die vier­zehn­tä­gi­ge Rei­se Pro­vi­ant ein­ge­kauft, Speck, Erb­sen, But­ter, Kaf­fee, Salz, Kar­tof­feln, Sala­mi und so wei­ter, aber schon vom drit­ten Tage an es­sen wir das, was wir er­beu­ten, ge­bra­te­ne Fi­sche, Stein­butt­le­ber, Krab­ben­sa­lat, ge­ba­cke­ne See­zun­ge, so frisch be­käme man es an Land selbst zu höchs­ten Prei­sen nicht. Auch süße Spei­se gibt es manch­mal, die ein hier­her­ver­schla­ge­ner Li­te­ra­tur­aus­druck »Früh­lings Er­wa­chen« nennt. Koch ist der fünf­zehn­jäh­ri­ge Schiffs­jun­ge, der »Mo­ses«, und er macht sei­ne Sa­che ganz gut, ob­wohl uns zu wün­schen wäre, es be­stün­de we­nigs­tens für ihn eine Mög­lich­keit, sich zu wa­schen. Schlimm ge­nug, dass sie für uns nicht vor­han­den, wir müs­sen mit den Hän­den es­sen, und die Hän­de glei­chen den Schol­len, die wie­der ih­rer­seits eine chro­ma­ti­sche An­pas­sung an den Schlamm durch­ge­macht ha­ben. Was­ser­klo­sett ist das Meer; als ein­zi­ger Eti­ket­te­feh­ler gilt es an Bord, auf die falsche Sei­te zu ge­hen, dort­hin, wo­her der Wind kommt, wes­halb man sich den Schüt­tel­reim ein­prä­ge: See­leu­te ma­chen’s auf der Lee­sei­te.

Ist der Fisch­zug gut, ist die Lau­ne gut. Man er­zählt von den gol­de­nen Ta­gen des Sprit­wech­selns, da die Kut­ter von den Schmugg­lern zur Fahrt nach Skan­di­na­vi­en ge­mie­tet wur­den, wie­der­holt ver­dien­te man mas­sig Geld, wie­der­holt wur­de man er­wi­scht, der Bru­der un­se­res Steu­er­man­nes hat sein Fahr­zeug in ei­nem nor­we­gi­schen Ha­fen ste­hen, es ist be­schlag­nahmt. Ein­träg­li­cher Fän­ge wird ge­dacht, nicht im­mer muss die Ren­ta­bi­li­tät von Fi­schen stam­men, vor ein paar Wo­chen fand ein Blan­ke­ne­ser Ewer im Netz einen To­ten­kopf mit gol­de­nem Ge­biss und der Bü­su­mer Krab­ben­fi­scher Thieß eine Men­schen­hand mit pla­tin­ge­fass­tem Bril­lant­ring. Nahe von Nor­der­ney ist vor Mo­nats­frist ein Schiff ge­stran­det, das Gold­bar­ren und Sil­ber­kis­ten nach Deutsch­land brin­gen soll­te, für die Ber­gung be­ka­men die Nor­der­ney­er hun­dert­tau­send Mark. Mit Schiff­brü­chi­gen hat man hier über­haupt viel zu tun; als bei Bor­kum-Riff die »Bul­ga­ria« un­ter­ging, zo­gen die Fin­ken­wär­der Fi­scher mehr als fünf­zig Lei­chen aus der Tie­fe. Man­nig­fach sind die Ge­fah­ren: Im März nah­men Ham­bur­ger See­leu­te einen Pas­sa­gier mit, der die Mann­schaft er­schoss und den Kut­ter in Eng­land zu ver­kau­fen such­te; in Lon­don wur­de er ver­haf­tet und hin­ge­rich­tet. Seit­her ist man miss­trau­isch, und un­se­re Schif­fer sind von ih­ren Ka­me­ra­den be­schwo­ren wor­den, mich nicht mit­zu­neh­men; da wir Glück hat­ten, schö­nes Wet­ter und rei­chen Fang, la­chen sie jetzt über die­se War­nung.

Von Er­leb­nis­sen an Land, vom Jahr­markt in Fin­ken­wär­der spricht man, strei­tet, wel­che Fi­scher­knei­pe der Nord­see den steifs­ten Grog ser­viert, und schickt den Schiffs­jun­gen, wenn das Ge­spräch noch stär­ker ab­biegt, aus der Ka­jü­te, in­dem man ihn an­schreit: »Musst du jüm­mer tou­hö­ren, wenn Vad­der snackt?!« Manch­mal ver­treibt man sich die Zeit mit ei­nem Spiel, das dar­in be­steht, Wor­te weg­zu­las­sen aus dem Lied:


Un­ser Hans hot Bü­xen2 an,
Un die sinn bunt,
Er hat ban­nig Knöp­pe dran,
Und die sinn rund.

Kei­ner von den Fi­schern kann schwim­men, wo­für sie so­gar eine Be­grün­dung ha­ben: Wenn man über Bord ge­schleu­dert oder schiff­brü­chig wird, so kön­ne man sich auf ho­her See durch Schwim­men ja doch nicht ret­ten, und der Ver­such ei­nes Kamp­fes mit den Wel­len ver­län­ge­re nur Verzweif­lung und To­des­rin­gen. – Fast im­mer ha­ben wir ge­fie­der­te Pas­sa­gie­re, Zug­vö­gel, die auf ih­rer Über­que­rung des Ozeans aus­ru­hen oder ein Stück We­ges fah­ren wol­len, auf dem Ste­ven sit­zen sie, un­ter dem Bugs­priet, oft vier bis fünf bei­sam­men. Die bei­den letz­ten Tage fisch­ten wir mit leich­tem Garn, den Schol­len­net­zen, die die Ge­fan­ge­nen nicht be­schä­di­gen; nach je ei­ner Stun­de wur­de ein­ge­holt, die Beu­te kam le­bend in den Bünn, um noch le­bend am St.-Pau­li-Fisch­markt ver­auk­tio­niert zu wer­den.

Am vier­zehn­ten Tage mor­gens zo­gen wir den Korb vom Be­san­mast und wen­de­ten heim­wärts.


  1. Wohn- und Schlaf­raum auf Schif­fen  <<<

  2. Buch­sen, Ho­sen  <<<

Eilige Balkanfahrt

Mai 1913

Hin­ter Szala­ria, nahe der Ser­pen­ti­ne Cat­ta­ro-Ce­t­in­je, wo die Schup­pen der Schmie­de und der Fuhr­leu­te (ihr Esel­stall ist im­mer­hin schö­ner als ihr Wohn­raum) und der Häus­ler ste­hen, spie­len schmie­ri­ge Kin­der mit Alo­eblü­ten, mit Py­ra­mi­den­glo­cken­blu­men und mit wil­den Ro­sen. Man fragt ei­nes der klei­nen Mäd­chen, möch­test du mir die Blu­men ge­ben, und ohne wei­te­res er­hält man den Strauß, aber den Kreu­zer, den man der Klei­nen da­für reicht, will sie nicht neh­men, schaut scheu die Mün­ze an, dann den Spen­der, dann die Spiel­ge­fähr­ten, dann läuft sie schnell und freu­dig mit dem Geld­stück da­von. Kommt man nach ei­ner hal­b­en Stun­de des­sel­ben We­ges zu­rück, lau­ern etwa drei­ßig Kin­der, stre­cken Blu­men ent­ge­gen, bet­teln und sind nicht ab­zu­schüt­teln. Man hat sie mit dem Kreu­zer ver­dor­ben – ein Mi­nia­tur­bild der Po­li­tik, die die Groß­mäch­te auf dem Bal­kan be­trei­ben.

Müt­zen­kun­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­