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Karo Stein

Ein Weihnachtswunder von A bis Z





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort

Liebe Lesende!

 

Diese Geschichte erschien vor einigen Jahren auf meinem inzwischen stillgelegten Blog. Es war eine Mitmachweihnachtsaktion, bei der mir die Leser zu jedem Buchstaben des Alphabets weihnachtliche Worte geschickt haben. Ich habe dazu eine Adventskalendergeschichte geschrieben und ein Kapitel pro Tag gepostet.

Nun ist mir die Geschichte wieder in die Hände gefallen. Ich habe sie (hoffentlich) gründlich überarbeitet und würde mich freuen, wenn sie euch die Vorweihnachtszeit ein wenig versüßt.

Es ist nur ein kleines weihnachtliches Märchen, gewissermaßen einmal quer durchs Alphabet. So lautete im Übrigen auch der Originaltitel »Quer durchs Alphabet ins Glück«. Für die neue Version musste ich ihn ändern.

Ich wünsche euch gute Unterhaltung beim Lesen und ein hoffentlich wunderbar märchenhaftes Gefühl.

 

Viele weihnachtliche Grüße

Karo Stein

1. Anissterne & Alkohol

 

 

»Jenny, Ich will da nicht rein!« Grummelnd versuche ich, sie am Arm festzuhalten.

»Stell dich nicht so an«, schimpft sie und wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Du hast es versprochen. Und außerdem sind wir jetzt hier, also hinein mit dir.«

Ich schiebe trotzig meine Unterlippe vor und gehe durch die Tür, die sie mir aufhält, ins Innere des Gebäudes. Sofort empfängt mich dieser merkwürdige, muffige Geruch. Es ist eine Mischung aus alten Büchern, Kreide und Mottenkugeln. Vom ersten Moment an habe ich mich hier unwohl gefühlt. Aber das war Jenny egal. Sie fand es toll. Perfekt, alternativ und so besonders.

Gemeinsam gehen wir den Flur entlang, der von kleinen Laternen weihnachtlich beleuchtet wird. Wir müssen in die erste Etage, also halten wir uns links und steigen die Stufen nach oben.

An den Wänden hängen selbstgezeichnete Bilder. Abgesehen davon, dass ich in dem schummrigen Licht ohnehin froh bin, wenn ich heil ankomme, kann ich die Motive kaum erkennen. Vermutlich ist es auch ein Teil der alternativen Lernmethode.

Hier hätte ich bestimmt keine schlechte Note für das Bild mit der grünen Katze bekommen. In dieser Schule wäre es an der Wand gelandet und ich für meine unglaubliche Kreativität gelobt worden. Meine Lehrerin damals hat mit entsetztem Blick die sechs ins Klassenbuch und außerdem noch einen fetten Eintrag für meine Eltern ins Hausaufgabenheft geschrieben. Ich war neun und fand eine grüne Katze wunderbar.

Die Tatsache, dass Bruno an dieser Schule alles zeichnen kann, was ihm gefällt, ohne dafür verurteilt zu werden, ist zumindest irgendwie beruhigend.

Seufzend folge ich Jenny. Vielleicht ist das doch nicht so schlecht.  Wenn nur die ökologisch wertvolle Einrichtung nicht wäre, wenn die Lehrer nur nicht aussehen würden, als lebten sie aus der Altkleidersammlung und wenn es hier nur nicht so riechen würde …  Letztendlich war es Jennys Entscheidung und anscheinend fühlt sich Bruno wohl hier. Also hat sie alles richtig gemacht.

Noch seltsamer als die Lehrer finde ich die Eltern. Hier tummeln sich eine Menge Helikoptereltern, die mit Jenny und mir so gar nichts gemeinsam haben. Allein der Gedanke, dass ich gleich mit ihnen an einem Tisch sitzen muss, verursacht eine unangenehme Gänsehaut. Ich will nichts darüber hören, wie toll Hubertus schon Klarinette spielt oder dass Charlotte bereits jetzt anfängt, Harry Potter zu verschlingen. Nach kaum einem halben Jahr in der Schule kann die Kleine angeblich schon perfekt lesen. Mir reicht es vollkommen, wenn Jenny mit neiderfüllter Stimme davon erzählt und mich dann fragt, wieso sich Bruno weigert ein Instrument zu spielen. Wieso seine Schrift ein einziges Gekrakel ist oder er, obwohl ich ein kleines Buchgeschäft führe, nicht begierig ist, Eragon zu lesen. Ich habe keine Antworten darauf, aber ich finde, dass unser Sohn bisher ziemlich gut gelungen ist.

Immerhin hat er alles andere, als stinknormale Eltern. Das vergisst Jenny jedoch, wenn sie zu lange in die Fänge dieser Leute gerät. Vielleicht, weil sie dazu gehören will, weil sie zum ersten Mal das Gefühl hat, dass es wichtig ist, sich anzupassen. Absoluter Quatsch. Wir werden nie wie die anderen sein. Unsere Familienkonstellation ist in vielerlei Hinsicht besonders. Über uns wird getuschelt, obwohl jeder Akzeptanz und Toleranz predigt.

Mir ist das ehrlich gesagt egal, für Jenny ist es wichtig geworden. Deshalb bin ich hier, um meine Vaterpflichten in Form eines Bastelabends wahrzunehmen. Ein absoluter Schwachsinn, Jennys Instruktionen waren jedoch klar und deutlich formuliert: »Wir benehmen uns anständig! Wir provozieren niemanden! Wir denken an unseren Sohn!«

»Ja, Genevieve«, habe ich geantwortet und sie hat das Gesicht verzogen, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Ihr Vorname ist ein wunder Punkt. Ich weiß nicht, was sich ihre Mutter dabei gedacht hat, denn eigentlich ist sie ansonsten ziemlich gut drauf. Aber Genevieve? Jenny hasst ihn und ich nutze gern die sich äußerst selten bietenden Gelegenheiten, um sie damit aufzuziehen.

Jedenfalls habe ich ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich nicht verstelle. Ich werde auch nicht behaupten, dass ich vegan, lowcarb oder palio lebe und ausschließlich selbstgestrickte Ponchos trage. Es muss niemandem gefallen, wie ich mein Leben gestalte.

»Beeil dich, Anton«, nörgelt sie. »Wir kommen noch zu spät!«

Seufzend beschleunige ich meine Schritte.

»Was ist das für ein seltsamer Geruch?«, frage ich und ziehe die Luft geräuschvoll ein. Inzwischen habe ich nicht mehr den muffigen Schulgeruch in der Nase.

»Es duftet so wunderbar nach Weihnachten«, antwortet Jenny schwärmerisch.

»Weihnachtlich?«, erwidere ich nachdenklich und schnuppere noch mal. Dieser Duft erinnert mich an die Vorweihnachtsparty, viel zu viel Alkohol, Totalabsturz und die Flucht aus einer fremden Wohnung, in der ich mich, einmal abgesehen von einer graugetigerten Katze, allein befand. Auch nach fast zwei Wochen kann ich mich nicht erinnern, mit wem ich da mitgegangen bin. Selbst Micha, mein bester Freund, weiß es nicht mehr. Er war leider mindestens genauso besoffen.

Da lag nur ein Zettel auf dem Nachttisch, dass der Bewohner zur Arbeit musste, er die Nacht genossen hat und ich die Tür hinter mir zuziehen soll. So sehr ich mich auch bemühe, da ist einfach nichts ... ein großes schwarzes Loch, das all meine Erinnerungen verschluckt hat. Nur eines war klar. Wir hatten Sex. Ziemlich stürmischen Sex, denn mein Hintern tat zwei Tage später noch weh und so empfindlich bin ich eigentlich nicht.

 Ach, verdammt, wie komme ich denn an diesem Ort auf Sexgedanken? Richtig, der Geruch! Und jetzt weiß ich auch, woran er mich erinnert. Nichts mit Weihnachten, sondern Ouzo. Allein bei dem Gedanken an den Schnaps wird mir übel.

»Jenny, ich fühle mich unwohl», rufe ich und hoffe für einen winzigen Moment, dass ich vielleicht doch noch um das Basteln herumkomme.

»Ist dir schlecht? Etwa von dem wunderbaren Duft? Wenn das ein Trick ist, um dich zu drücken, dann ist er wirklich erbärmlich.«

»Es riecht nach Ouzo. Davon hatte ich auf der letzten Party eindeutig zu viel.« Jammervoll und leidend sehe ich sie an.

»Die Feier, bei der du in einem fremden Bett aufgewacht bist und keinerlei Erinnerungen mehr hast?«, fragt sie und grinst mich hämisch an. So etwas würde ihr natürlich niemals passieren. Sie ist nahezu eine Heilige. Die heilige Genevieve.

»Keine Sorge, hier gibt es keinen Alkohol. Das ist der Duft von Anis.« Sie zwinkert mir lachend zu.

Soll mich das etwa aufbauen?

»Bereit?«, fragt sie, als wir vor der Tür des Klassenzimmers stehen. Gedämpfte Stimmen und Weihnachtsmusik dringen in mein Ohr. Ich möchte den Kopf schütteln und nach einem Fluchtweg suchen, aber ich zucke lediglich mit den Schultern. Es gibt schließlich kein Zurück.

Schon öffnet Jenny die Tür und etliche Augenpaare richten sich auf uns. Das ist mir allerdings egal, denn der Anisgeruch nimmt deutlich zu und für einen Augenblick habe ich tatsächlich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Das fängt ja ganz großartig an. Wie soll ich mit einem flauen Magen nur den Abend überleben?

Jenny ergreift meine Hand und zieht mich in den Raum. Wir rufen einen Gruß in die Runde und nehmen an einem Tisch Platz. Vor mir stehen verschiedene niedrige Kisten. In einer davon befinden sich Anissterne. Ich rümpfe die Nase und schiebe sie angewidert ein Stück von mir weg.

»Schön, dass ihr auch kommen konntet«, werden wir von einem Mann angesprochen.

»Das machen wir doch gern«, erwidert Jenny und reicht ihm lächelnd die Hand. Ihre Stimme hat einen einschmeichelnden Tonfall angenommen und das Lächeln erscheint mir irgendwie unnatürlich. Dann wendet sie sich an mich, immer noch mit diesem komischen Grinsen im Gesicht: »Das ist übrigens Brunos Vater, Anton Schreiber. Anton, das ist Brunos Lehrer für Gestalten und Deutsch, Frank Lehmann.«

Ich reiche ihm automatisch die Hand und zucke dann zurück, als sich unsere Blicke treffen. Er mustert mich, offensichtlich erstaunt und scheint ein paar Sekunden um seine Fassung zu ringen. Ich verspüre ebenfalls ein merkwürdiges Gefühl in mir, so, als wären wir uns bereits begegnet. Aber als sich unsere Hände lösen, ist der Eindruck wieder verschwunden.

 »Freut mich, dich kennenzulernen«, sagt er und klingt ein bisschen zittrig. »Bruno hat schon viel von dir erzählt.« Trotzdem ist seine Stimme angenehm und verursacht ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Bauch. Ich sehe ihn verwundert an und lächle schließlich, denn im Moment fällt mir nichts Adäquates ein. Aus irgendeinem Grund ist mein Kopf leer oder vielleicht ist mein Gehirn auch nur von dem Anisgeruch ganz vernebelt.

»Also gut, dann wollen wir mal anfangen.« Er klatscht in die Hände. Die Gespräche rund um uns hören auf und es herrscht augenblicklich ein gespanntes Schweigen.

Als er an mir vorbeigeht, löst sein Parfüm, zusammen mit dem Geruch der Anissterne, erneut ein eigenartiges Kribbeln aus.

2. Baumschmuck & Bücher

 

 

Es herrscht, entgegen meiner Erwartung, eine angenehme Stimmung im Raum. Im Hintergrund läuft klassische Weihnachtsmusik. Die meisten unterhalten sich angeregt. Auch Jenny ist in ein Gespräch verwickelt. Ab und zu stupst sie mich an, damit ich nicke oder den Kopf schüttle. Bis jetzt habe ich anscheinend immer die richtige Bewegung getroffen, denn sie scheinen zufrieden zu sein. Nur das Gefühl, dass mich Herr Lehmann, ach nein, Frank … wir duzen uns schließlich alle. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass Frank mich ziemlich auffällig beobachtet.

Keine Ahnung. Ich bin womöglich paranoid. Allerdings kann ich nicht anders, als ihn ebenso anzuschauen. Er gefällt mir, aber da ist auch dieses merkwürdige Gefühl, dass ich ihm bereits begegnet bin. Es ist kaum mehr als eine hauchdünne Erinnerung, von der ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich sie tatsächlich erlebt habe. Frank ist ziemlich groß, mit breiten Schultern. Die schwarzen Haare sind mit einigen grauen Strähnen durchsetzt. Er trägt eine klassische Kurzhaarfrisur, mit einem definierten Seitenscheitel. Ein leichter Bartschatten, dazu leuchtend blaue Augen. Sie wirken ein bisschen unnahbar und kalt ... oder vielleicht forschend, so, als würde er auf eine bestimmte Reaktion von mir warten. Möglicherweise hat er bereits einiges über unsere Familienkonstellation gehört. Im Grunde ist es mir egal, solange Bruno nicht darunter leiden muss.

Frank ist vermutlich Mitte vierzig. Das macht ihn nicht zu einem bevorzugten Zielobjekt. Ich stehe nicht auf ältere Kerle. Ein oder zwei Jahre sind okay, aber zehn oder mehr ... Da sind die Ebenen im Leben einfach viel zu unterschiedlich. Allerdings muss ich zugeben, dass er eine ziemlich heiße Figur hat und sein Hintern ist in dieser Jeans wirklich …

»Shit, sag mal, geht’s noch?«, jaule ich schmerzverzerrt und sehe Jenny wütend an. Sie hat mir gerade mit voller Wucht auf den Fuß getreten. Der Schmerz treibt sich durch meinen Körper und mein Zeh fängt an zu pochen.

»Du hast mir den Fuß gebrochen«, motze ich und ignoriere die anderen, die mich jetzt neugierig anstarren.

»Tut mir leid, das war nicht mit Absicht«, behauptet sie frech und grinst mich dabei an. Ich starre sprachlos zurück. Dann lächle ich in die Runde, murmle Frauen und ihre Stiefel, ernte dafür ein paar Lacher und habe die Aufmerksamkeit wieder von mir weg, hin zu den Bastelmaterialien gelenkt.

»Du hast gestarrt«, flüstert Jenny und verdreht die Augen.

»Du spinnst, ich bastle«, erwidere ich ebenso leise und wende mich den stinkenden Anissternen zu.

»Ich habe bereits drei von den Dingern fertig, du dagegen ziehst den Lehrer mit deinen Blicken aus.« Sie mustert mich einer hochgezogenen Augenbraue, was zugegebenermaßen ziemlich gruselig aussieht.

»Ich ziehe niemanden aus«, zische ich und kann nichts dagegen machen, das meine Wangen zu brennen beginnen. »Ich bastle, brauche eben ein wenig länger, denn ich bin nicht so ein Naturtalent wie du.« Ich halte die Ironie in der Stimme nicht zurück.

»Außerdem wird niemand deinen Baumschmuck kaufen, wenn er erst gesehen hat, wie liebevoll dekoriert meiner ist.« Ich klebe provokativ einen Anisstern neben einen Kiefernzapfen und halte ihr stolz mein Werk vor die Augen. Eilig zupfe ich noch ein paar Kleberfäden weg.

»Du wirst es kaufen müssen, denn es wird nämlich niemand sonst tun. Ich würde das auch nicht als Baumschmuck bezeichnen … mir fällt überhaupt kein Begriff dafür ein.« Jenny streckt mir kindisch die Zunge raus. Zuerst will ich sie daran erinnern, dass so ein Verhalten mit Sicherheit gegen die Schulordnung verstößt, dann betrachte ich jedoch mein wenig attraktives Werk und seufze tief.

»Biest!«, brumme ich lediglich.

»Du könntest es deiner Mutter schenken. Bei all den bunten Lichtern an ihrem Baum und den furchtbaren Kitsch in der Wohnung, fällt es sicherlich nicht auf.« Ihr Kichern erinnert mich an eine Hexe, sodass ich ihr nun gegen das Schienbein trete. Natürlich nur leicht. Lachend dreht sie sich weg und unterhält sich mit einer anderen Mutter, als wenn nichts passiert wäre.

Eine Weile starre ich unentschlossen mein Kunstwerk an. Ich will nach Hause.

»Was sagst du denn dazu, dass der Waldemar so eine Strafe aufgebrummt bekommen hat?«, fragt mich der Mann, der mir gegenüber sitzt und den ich beim Reinkommen schon fast für den Weihnachtsmann gehalten habe. Seine Stimme ist ebenso tief, wie sein Bart lang ist. Hoffentlich klebt er ihn nicht versehentlich mit der Heißklebepistole am Schmuck fest. Obwohl so ein paar Anissterne und Zimtstangen bestimmt nicht schlecht in dem wilden Gestrüpp aussehen würden. Ich versuche ernst zu bleiben und überlege angestrengt, wer zur Hölle Waldemar ist.

»Ich habe keine Ahnung, was dieser Junge angestellt hat«, erwidere ich schließlich vorsichtig und ernte ein empörtes Schnaufen.

»Ich dachte, es hätte schon viel größere Kreise gezogen. Aber na ja, man kann den Lehrern auch nicht alles durchgehen lassen. Sie sind schließlich dazu da, unseren Kindern etwas beizubringen. Und wenn der Waldemar aus ein paar Büchern Seiten herausreißt, um daraus Flieger zu falten, dann muss man doch eher seine Kreativität loben, als ihm den Wochenbonus abzusprechen.«

Ich starre den Mann mit offenem Mund an. Anscheinend weiß er nicht, dass ich einen kleinen Buchladen in der Innenstadt habe und er mit solchen Aussagen wirklich an den Falschen geraten ist. Abgesehen davon, dass ich das Bonusprogramm noch immer nicht verstehe.

»Also, was sagst du? Das geht doch einfach nicht.« Er klingt furchtbar empört, was mich dazu bringt, stirnrunzelnd den Kopf zu schütteln.

»Nein, da hast du vollkommen Recht. Gleich den ganzen Wochenbonus. Was bedeuten schon Bücher, wenn es um die Kreativität der Kinder geht? Vermutlich hatten die Lehrer kein Papier zur Verfügung gestellt und dem armen Kerl blieb ja quasi nichts anderes übrig, als ein Buch zu zerstören. Fantasie ist so wichtig. Schließlich bezahlen wir jeden Monat eine ordentliche Summe, da werden sie wohl ein paar alte Schinken verschmerzen können.«

Ich spüre Jennys Fuß unter dem Tisch und verstumme lieber. Meinem Gegenüber scheint es zu genügen, denn er nickt und wirft mir einen anerkennenden Blick zu.

»Genau das habe ich auch gesagt, aber anscheinend war ich mit dieser Meinung allein. Nun nicht mehr. Wir Männer sehen so was eben ganz anders als Frauen.« Er sieht mich überheblich grinsend an.

Ich nicke instinktiv, kann kaum glauben, in was für eine Scheiße ich mich da wieder hineinmanövriert habe und hole zur Ablenkung je eine Handvoll Sterne und Zapfen aus den Kisten. Ich nehme mir fest vor, Jenny noch einmal nach der Sache mit dem Wochenbonus zu fragen, aber egal, was auch dahintersteckt, wenn dieses Kind meine Bücher zerrissen hätte, dann wäre mir sicherlich eine ganz andere Strafe eingefallen. Bruno wusste schon mit drei, dass man Bücher nicht zerreißt, nicht mit Stiften anmalt und auch sonst nicht beschädigt. Na gut, das ist vielleicht übertrieben. Aber jemand, der diese wunderbaren Kostbarkeiten absichtlich zerstört, weil er zu faul ist, sich ein Blatt Papier zu besorgen ...

»Kommt ihr hier zurecht?«, erkundigt sich Frank in diesem Moment, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich an unseren Tisch. Direkt neben mich. Wieder vermischt sich der Anisgeruch mit seinem Parfüm und erneut reagiert mein Körper darauf. Ich werfe ihm einen verstohlenen Blick zu, den er prompt erwidert. Mir wird heiß und kalt, denn seine Augen strahlen eine Kälte aus, die faszinierend und beängstigend ist, seltsam vertraut und doch vollkommen fremd. Ich senke den Blick, nehme die Klebepistole und merke, wie meine Finger zittern.