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Christiane Pröllochs

Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz

Christiane Pröllochs

Sterbebegleitung bei Menschen
mit Demenz

Tectum Verlag

Christiane Pröllochs

Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

E-Pub 978-3-8288-7293-6

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4343-1 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im
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Vorwort

Seit dem Erscheinen des Buchs »Sterbebegleitung bei Demenzkranken« im Jahr 2010 hat die Thematik in nichts an Relevanz verloren. Im Gegenteil, wie erwartet erkranken weiterhin jedes Jahr viele Menschen an Demenz, und sie werden begleitet auf ihrem letzten Lebensweg. Dies legt nahe, aktuelle Entwicklungen darzustellen und das Buch insgesamt um einen stärkeren Praxisbezug zu erweitern.

Das neue Buch trägt nun den Titel »Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz«. Darin soll zum Ausdruck kommen, dass ein Mensch, der an Demenz erkrankt, nicht auf seine Krankheit reduziert und ausschließlich als Patient betrachtet wird, sondern in erster Linie als Mensch, als Person. Sprache schafft Wirklichkeit, im Sprechenden, im Hörenden, im Lesenden. Sie ist ein feines Instrument, das Beziehungen beleben oder behindern, bereichern oder stören kann.

Kommunikation ist eines der Hauptthemen, wenn es um Demenz und um die Begleitung am Lebensende geht. Wie sprechen wir miteinander, wie sprechen wir mit Betroffenen? Ist eine offene Kommunikation möglich, so kann dies lösend, öffnend und verbindend wirken. Die Kommunikation mit Menschen mit Demenz und mit sterbenden Menschen kann uns hierfür sensibilisieren und uns Anstöße geben, unsere Kommunikation auch in anderen Beziehungen zu überdenken und ein wenig achtsamer und authentischer zu gestalten.

Dieses Buch will Grundlagenwissen vermitteln und damit Verständnis schaffen für Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase und ihre Angehörigen. Das konkrete Handeln, die Begegnung, der Kontakt findet immer in der augenblicklichen Situation statt, spontan, oft unvorhergesehen, »aus dem Bauch heraus«. Das ist wichtig und richtig. Dazu will das Buch ermutigen. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen, sondern in der Begegnung wahrhaftig zu sein und in einer fragenden Haltung verstehen zu wollen. Das konkrete Handeln kann vor dem Hintergrund des Wissens, das Ihnen dieses Buch zur Verfügung stellt, reflektiert werden.

Die Forschung hat inzwischen weitere Ergebnisse von Studien zur bedürfnisgerechten Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz in ihrer letzten Lebensphase veröffentlicht. Neben solchen Erkenntnissen wurden auch praxisnahe Konzepte wie »Letzte Hilfe-Kurse« und »Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase« in dieses Buch aufgenommen, ebenso ein Kapitel über Vollmachten und Patientenverfügungen. Zur Veranschaulichung wurden an vielen Stellen Beispiele aus der Praxis eingefügt. Wo keine andere Quelle angegeben ist, handelt es sich um Situationen und Gespräche aus meiner täglichen Arbeit. Die Namen der Personen habe ich selbstverständlich geändert.

Wichtig ist mir, das Thema Demenz nicht als rein individuelle Problemlage zu sehen, sondern es im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen zu betrachten. In den letzten Jahren wurden neue Gesetze verabschiedet, die die Versorgung sterbender und von Demenz betroffener Menschen und ihrer Angehörigen verbessern sollen. Auch sie werden hier beschrieben und kritisch hinterfragt.

Die Begleitung sterbender Menschen liegt mir persönlich seit vielen Jahren sehr am Herzen. Nachdem ich in der eigenen Familie erleben durfte, wie bedeutsam die letzte Zeit im Leben eines Menschen für ihn selbst und die Angehörigen sein kann, engagierte ich mich in der Hospizbewegung. Zunächst selbst ehrenamtlich in der Sterbebegleitung aktiv, bildete ich später Ehrenamtliche aus und begleitete sie in Supervisionsgruppen. Bei meiner Arbeit in einer Beratungsstelle für ältere Menschen und deren Angehörige lernte ich in Gesprächen mit Betroffenen die Belastungen kennen, die eine Demenzerkrankung mit sich bringt – und gewann Verständnis für die Situation pflegender Angehöriger.

Seit 2010 leite ich den Sozialdienst in einer Altenpflegeeinrichtung. Auch hier sind etwa 70% der Bewohnerinnen und Bewohner von einer Demenz betroffen. Die Menschen kommen mit immer höherem Pflegebedarf ins Heim. Die Verweildauer ist oft kurz, beträgt manchmal nur Tage. In Pflege und sozialer Betreuung, auch unter Einbeziehung von Ehrenamtlichen, ist unser Bestreben, möglichst individuell auf die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren Bedürfnissen einzugehen. Aus meiner alltäglichen Arbeit kenne ich die Anforderungen, unter denen Pflegende arbeiten. Sie bringen sich mit großartigem Engagement ein. Trotzdem führen Personalknappheit und Zeitmangel oft zu hohem Druck, unter dem sie arbeiten. Hier ist noch viel zu tun, damit sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern und pflegebedürftige Menschen mit mehr Zeit und Ruhe versorgt werden können.

Bei allem, was noch vor uns liegt, damit Menschen mit Demenz ein Leben mit möglichst hoher Lebensqualität bis an ihr Ende führen können, ist es mir ein besonderes Anliegen, das zu beschreiben und zu würdigen, was an guten Bestrebungen, an Engagement und Weiterentwicklung bereits auf vielen Ebenen auf den Weg gebracht wurde und am Gelingen ist. Wir dürfen dabei nicht stehen bleiben, und die positiven Tendenzen können auch Stärkung erfahren, indem sie benannt und dadurch bewusst gemacht werden. Menschen, die sich einsetzen für andere, verdienen Würdigung und Ansehen. Mit diesem Buch möchte ich all jenen danken, die sich als Angehörige, als professionell und ehrenamtlich Unterstützende tagtäglich gemeinsam für ein gelingendes Miteinander und für Menschen mit Demenz in ihrer letzten Lebensphase einsetzen. Ihr Wirken strahlt aus und gibt unserer Gesellschaft insgesamt mehr fürsorgende und achtsame Mitmenschlichkeit.

 

Herzlich bedanke ich mich bei Ann-Kathrin Pütz, Christiane Schulten, Waltraud Wulff-Schwarz, Thilo Parg und Tilmann Pröllochs für Korrekturen, kritische Nachfragen und konstruktive Anregungen zum Manuskript und für die wertschätzenden Rückmeldungen, mit denen sie meine Arbeit an diesem Buch begleitet haben.

Christiane Pröllochs

Inhalt

Vorwort

1 Einleitung

2 Sterben

2.1 Sterben einst und heute

2.1.1 Sterben in der postmodernen Gesellschaft

2.1.2 Tod: Das Ende des Sterbeprozesses

2.1.3 Wann beginnt das Sterben?

2.2 Das Hospiz-Konzept

2.2.1 Die historische Entwicklung der modernen Hospizbewegung

2.2.2 Die Entwicklung der Hospizbewegung in Deutschland

2.2.3 Die Hospiz-Idee

2.2.4 Ehrenamtlichkeit

2.3 Das Palliative Care-Konzept

2.3.1 Konzept »Total Pain«: der ganzheitliche Blick

2.3.2 Maßnahmen von Palliative Care

2.4 Hospiz und Palliative Care in Deutschland heute

2.4.1 Die „hospizliche Haltung“

2.4.2 Hospizlich-palliative Unterstützungsformen

2.4.3 Letzte Hilfe-Kurse

2.5 Umgang mit Todeswünschen

3 Demenz

3.1 Krankheitsbild

3.1.1 Formen der Demenz

3.1.2 Krankheitsverlauf

3.1.3 Diagnostik und Behandlung

3.1.4 Malignität

3.2 Theoretische Erklärungsansätze demenziellen Verhaltens

3.2.1 Theorie pathophysiologischer Veränderungen

3.2.2 Umweltbezogene Modelle

3.2.3 Modell der unerfüllten Bedürfnisse

3.2.4 Theorie der Retrogenesis

3.2.5 Phänomenologischer Zugang zum Erleben von Menschen mit Demenz

3.2.6 Theorie mangelhafter Neuroplastizität

3.3 Dementia Care – Ansätze der Betreuung von Menschen mit Demenz

3.3.1 Milieutherapeutischer Ansatz

3.3.2 Personzentrierte Pflege

3.3.3 Validation

3.3.4 Basale Stimulation

3.3.5 Biografiearbeit

3.3.6 Mäeutisches Konzept

3.3.7 Prä-Therapie

3.3.8 Drei-Welten-Konzept nach Held

3.3.9 Zusammenfassung

3.4 Kommunikation mit Menschen mit Demenz

3.5 Ernährung bei Menschen mit Demenz

4 Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz

4.1 Stand der Forschung

4.2 Der Sterbeprozess bei Menschen mit Demenz

4.2.1 Problem der Prognostizierbarkeit

4.2.2 Erleben des eigenen Sterbens

4.2.3 Bedürfnisse sterbender Menschen mit Demenz

4.2.4 Besondere Herausforderungen für Pflegende

4.2.5 Zentrale Themenbereiche

4.3 Kommunikation mit sterbenden Menschen mit Demenz

4.4 Palliative Care bei Menschen mit Demenz

4.4.1 Palliative und Dementia Care im Vergleich

4.4.2 Palliative Care in der letzten Lebensphase

4.4.3 Palliative Care im Sterbeprozess

4.5 Lebensqualität

4.6 Symptommanagement

4.7 Angehörige und Entscheidungen

4.7.1 Künstliche Ernährung

4.7.2 Antibiotika-Behandlung

4.7.3 Klinikeinweisung

4.8 Nicht-medikamentöse Interventionen

4.9 Spirituelle Pflege

4.10 Konzept »Pflegeoase«

5 Rahmenbedingungen

5.1 Versorgung zu Hause

5.5.1 Situation der pflegenden Angehörigen

5.1.2 Über das Sterben sprechen

5.1.3 Bedarfe und Lücken in der Versorgung

5.1.4 Versorgung zu Hause – und ihre Grenzen

5.2 Sterben und Demenz in Altenpflegeeinrichtungen

5.2.1 Implementierung von Hospiz und Palliative Care in Einrichtungen der Altenpflege

5.2.2 Voraussetzungen für die Implementierung von Hospiz und Palliative Care

5.2.3 Unterschiedliche Ansätze der Implementierung

5.2.4 Qualitätssicherung und Standards

5.2.5 Expertenstandard Demenz

5.2.6 Qualifizierung von Mitarbeitenden

5.2.7 Schlussfolgerung

5.3 Rechtliche Rahmenbedingungen

5.3.1 Vollmachten und Verfügungen

5.3.2 Vollmacht

5.3.3 Vorsorgevollmacht

5.3.4 Betreuungsverfügung

5.3.5 Patientenverfügung

5.3.6 Hospiz- und Palliativgesetz

5.3.7 Pflegestärkungsgesetze

5.3.8 Pflegeunterstützungsgeld und Pflegezeitgesetz

5.3.9 Kurzzeit-, Verhinderungspflege und Entlastungsbetrag

5.4 Ansätze zur Verbesserung der palliativen Versorgungssituation

5.4.1 Ethische Fallbesprechungen und Ethikkomitees

5.4.2 Kriseninterventionsplanung

5.4.3 Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase

5.4.4 Vernetzung der unterschiedlichen Berufsgruppen

5.5 Ehrenamtliche in der Begleitung sterbender Menschen mit Demenz

5.5.1 Voraussetzungen für den Einsatz Ehrenamtlicher

5.5.2 Begleitung der Ehrenamtlichen

5.5.3 Resümee

5.6 Gesellschaftliches Bild von Demenz

6 Zusammenfassung und Ausblick

7 Persönliches Nachwort

8 Literaturverzeichnis

Anmerkungen

1 Einleitung

Jeder Mensch muss sterben. Dank der rasanten Fortschritte der Medizin dürfen wir heute mit einer wesentlich längeren Lebensspanne rechnen als die Menschen jemals zuvor in der Geschichte. Die Lebenserwartung beträgt heute für Frauen etwa 83 und für Männer 78 Jahre.1 Noch vor 100 Jahren wurden Frauen nur circa 63 Jahre alt, Männer lebten durchschnittlich 58 Jahre.2

Die segensreiche Entwicklung der längeren Lebensspanne bringt mit sich, dass es einen immer höheren Anteil an Menschen gibt, die an einer Demenz erkranken, denn Alter ist der Hauptrisikofaktor für Demenzerkrankungen. Heute leben in Deutschland etwa 1,7 Mio. Menschen mit dieser Krankheit. Bis zum Jahr 2050 wird sich ihre Zahl auf etwa 3 Mio. erhöhen.3

In früheren Zeiten starben die Menschen zu Hause, in den Familien. Sterben war Teil des Lebens. Kinder kamen von klein auf damit in Berührung, es gab Rituale für Abschied und Trauer. In unserer heutigen Gesellschaft ist es nicht mehr selbstverständlich, direkt und persönlich mit dem Sterben konfrontiert zu werden. Menschen sterben in Kliniken und Pflegeheimen, der Tod ist ein »heimlicher Tod« (Ariès) geworden. Die moderne Hospizbewegung bemüht sich seit den späten 1960er Jahren, Sterben, Tod und Trauer wieder einen Platz zu geben und als zum Leben zugehörig zu vermitteln. Doch noch immer gehört Sterben zu den gemiedenen Themen in unserer Gesellschaft, die geprägt ist von Zielstrebigkeit, Leistungsorientierung und Effizienzdenken. Das Nachlassen von Kräften und Fähigkeiten will nicht so recht dazu passen, und dem Prozess des Sterbens einen Wert zuzusprechen, widerspricht der Logik unserer anderen Teilsysteme immens. Sterben und Tod machen Angst und werden daher gern in die Hände von Experten4 gelegt und hinter die Mauern von darauf spezialisierten Einrichtungen gedrängt.

Ein zweites stark angstbesetztes Thema ist in unserer Gesellschaft der geistige Abbau durch eine Demenz. »Vor dieser Krankheit haben die meisten Deutschen mehr Angst als vor dem Tod«5. An Demenz zu erkranken ist für viele Menschen gleichzusetzen mit würdelosem Dahinvegetieren. Die Angst führt zur Meidung des Kontakts mit Betroffenen und damit zu deren Isolation.

So ist offensichtlich, dass Menschen mit Demenz in besonderem Maße gefährdet sind, in ihrer letzten Lebensphase sozial isoliert zu werden, da sie die Umgebung mit zwei Angst auslösenden Tatsachen konfrontieren: dem Sterben und der Demenz. Sterbende Menschen mit Demenz geraten leicht in eine vierfache Isolation: (1) Isolation auf Grund der Demenz, die den Sterbenden in seiner eigenen Welt leben lässt, (2) Isolation durch die für die umgebenden Personen Angst auslösende Situation, dass der Mensch sterbend ist, wodurch sie sich von ihm zurückziehen, (3) Isolation durch das soziale Umfeld, das sich die Wesensveränderungen nicht erklären kann und das Unverständliche meidet, und schließlich (4) Isolation durch die Institution Altenpflegeheim, die an reibungslosen Abläufen interessiert ist, die der an Demenz erkrankte Mensch durchkreuzt.6 Gerade Einsamkeit und Isolation aber fürchten Sterbende in der Regel am meisten.

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Frage nach Konzepten der Begleitung sterbender Menschen mit Demenz. Was brauchen sie, um in Vertrauen und Geborgenheit ihr »Sterben leben«7 zu können? Welche Themen und Problembereiche beinhaltet Sterbebegleitung bei demenzerkrankten Menschen? Unter welchen Rahmenbedingungen findet sie statt? Welche gesellschaftlichen, institutionellen und individuell-persönlichen Voraussetzungen sind für gelingende Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz notwendig?

Auf allen drei gesellschaftlichen Ebenen – Makro-, Meso-, und Mikroebene – gibt es in den letzten Jahren Fortentwicklungen, was die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Thematik widerspiegelt. Die folgende Tabelle veranschaulicht dies.

Auf der Mikroebene geht es um die konkrete Situation der Betroffenen und ihrer Angehörigen und um die jeweiligen Bedarfe, für die es fallspezifische Lösungen braucht. Da diese individuellen Lebenssituationen aber keine Einzelfälle sind, wird auf der Mesoebene der Institutionen und Organisationen darauf mit strukturellen Weiterentwicklungen reagiert.

Makroebene

gesamt gesellschaftlich

Gesellschaftliche Werte

Politische Stellungnahmen

Gesetzgebung

Rechtsverordnungen

Menschenwürde, Leistungsorientierung, Effizienz, Autonomie-Ideal

Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen

Grundgesetz

Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (HPG)

Pflegestärkungsgesetze

§39a SGB V, §45b SGB XI u.a.

Rahmenvereinbarungen zwischen Krankenkassen und Hospizverbänden

Mesoebene

institutionell

Umsetzung und Konkretisierung der Makroebene

Qualitätssicherung

Implementierungsansätze

Erarbeitung von Standards

Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitenden

Qualitätsstandards für Sterbe- und Trauerbegleitung

Curricula für Ehrenamtliche

(»Mit-Gefühl«, »Sterben begleiten« usw., mit Inhalten wie Validation, Basale Stimulation, Biographiearbeit usw.)

Strukturierte Angehörigenarbeit

Entlastungsangebote wie Betreuungsgruppen, Tagespflege, Kurzzeitpflege

Mikroebene

individuell

Konkrete Situation der Sterbenden und der sie Begleitenden

Bedürfnisse sterbender Menschen mit Demenz

krankheitsbedingte Erschwernisse der Begleitung

Situation der Angehörigen

Dienstleistungsangebote werden geschaffen und ausgebaut, Altenpflegeeinrichtungen stellen sich auf die veränderten Bedürfnisse ihrer Bewohnerinnen ein, professionell Pflegende werden weitergebildet und speziell qualifiziert, Qualitätsrichtlinien werden erstellt und Profile geschärft, Ehrenamtliche werden geschult und in die Versorgungssysteme integriert. Auf der Makroebene wird auf die demographischen Veränderungen mit neuen Gesetzen reagiert, die die ambulante vor der stationären Pflege weiter stärken sollen. Gesetzgeber verhandeln mit Kranken- und Pflegekassen über Rahmenvereinbarungen zur Umsetzung der Gesetze. Eine »Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen« wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend8 herausgegeben. Und neben all dem treten die Themen Sterben und Demenz stärker ins öffentliche Bewusstsein, was unter anderem mit dem großen Engagement der Hospizbewegung und Demenz-Kampagnen durch verschiedene bundesweit aktive Demenzinitiativen zusammenhängt.

Die Vielschichtigkeit des Themas dürfte deutlich geworden sein. Dieses Buch bezieht sich auf die derzeitige Situation in Deutschland. Es wurden Studien und Metastudien der letzten Jahre herangezogen, um die aktuellen Entwicklungen und relevanten Fragestellungen im Bereich »Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz« nachzuvollziehen. Fachzeitschriftenartikel wurden ebenso berücksichtigt wie Handbuchartikel, Monographien und Grundlagenliteratur. So schafft die Publikation einen Überblick über Konzepte und aktuelle Entwicklungen.

Das Buch ist so aufgebaut, dass die Themen Sterben und Demenz zunächst einzeln erörtert werden. In Kapitel 2 »Sterben« wird der Umgang mit Tod und Sterben historisch und gesellschaftlich verortet. Sterben wird als Lebensphase zwischen Tod und Beginn des Sterbeprozesses eingegrenzt, wobei aufgezeigt wird, dass die genaue Bestimmung nicht eindeutig möglich ist und von der Perspektive abhängt. Hospiz und Palliative Care werden als Konzepte der Sterbebegleitung erläutert und der Begriff »Begleitung« in seiner Bedeutung für die so genannte »hospizliche Haltung« ausgeführt. Kapitel 3 befasst sich mit dem Thema »Demenz«, beginnend mit einer Beschreibung des Krankheitsbildes und theoretischer Grundannahmen über demenziell bedingtes Verhalten. Vor diesem Hintergrund werden Ansätze der Betreuung von Menschen mit Demenz vorgestellt. In Kapitel 4 »Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz« werden die beiden Themen zusammengeführt. Nach einer Übersicht über den Stand der Forschung wird der Sterbeprozess bei Demenz in seinen Besonderheiten gegenüber dem ausschließlich somatisch Erkrankter spezifiziert. Die sich daraus ergebenden Themenbereiche werden im Einzelnen abgehandelt. Kapitel 5 beschreibt die Rahmenbedingungen, unter denen Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz stattfindet. Die Situation häuslicher Pflege, Ansätze der Implementierung von Hospizkultur in Altenpflegeeinrichtungen sowie Weiterentwicklungen, die die Versorgung von Menschen mit Demenz am Lebensende verbessern sollen, werden erörtert. Eine Zusammenfassung mit Ausblick bündelt in Kapitel 6 die Antworten auf die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen und schließt mit weiterführenden Gedanken das Buch ab.

2 Sterben

»Der Tod ist doch etwas so Seltsames, dass man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns teuren Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt.«9

2.1 Sterben einst und heute

Sterben ist einerseits so individuell wie das Leben, andererseits unterliegt es gesellschaftlichen Bedingtheiten. Der Mensch weiß, dass er sterben muss, und er muss sich dazu in irgendeiner Weise verhalten. Wie Menschen dies individuell und auch kollektiv tun, ist und war sehr unterschiedlich in den verschiedenen Kulturen und Zeiten. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Weise des Umgangs mit Tod und Sterben, und diese kann als Spiegelbild der jeweiligen Kultur betrachtet werden10.

In früheren Jahrhunderten waren die Menschen wesentlich stärker mit dem Tod konfrontiert als heute. Er umgab sie in ihrem Leben augenscheinlich: die Menschen starben in jüngerem Lebensalter, sie starben oft plötzlich, der Tod war omnipräsent. Ein Viertel der Säuglinge überlebte nicht einmal das erste Lebensjahr11. Wer dann das junge Erwachsenenalter erreichte, konnte dennoch nicht sicher sein, »alt« zu werden. Pest, Hunger und Krieg bedrohten das Leben. Die Menschen mussten mit der Unsicherheit des eigenen Lebens umgehen und diese bewältigen. Eine Verdrängung des Todes war nicht möglich.12

Über das Sterben in der vormodernen Zeit herrscht heute oft die Vorstellung, es sei damals »besser« gewesen, weil die Menschen der Tatsache des Sterbens ins Auge sahen. Außerdem lebten sie in der Lebensform des »Ganzen Hauses« zusammen und die Menschen starben, wo sie gelebt hatten. Für viele Menschen heute ist es eine Art Idealvorstellung, zu Hause im Kreise der Familie zu sterben. Doch diese Vorstellungen eines Sterbens in Geborgenheit sind unrealistisch, wie Arthur Imhof belegt. Sie romantisieren und idealisieren das Sterben in vormodernen Gesellschaften. Dies wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Menschen früher am häufigsten an Infektionskrankheiten starben, an Pest, Typhus, Fleckfieber oder Tuberkulose. All diese Krankheiten führten stets dazu, dass unzählige Menschen gleichzeitig erkrankten und viele von ihnen starben.13 Um sich selbst zu schützen, vermied man den Kontakt zu den Erkrankten, so weit dies möglich war. Das Zusammenleben im ›ganzen Haus‹ war Überlebenserwägungen geschuldet und wenn die Lebenssicherheit nicht mehr gewährleistet war, gab es keinen Grund die Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. So war es auch damals nicht die Ausnahme allein zu sterben, sondern die Regel.14

Hinzu kommt, dass die Kirche die Definitionsmacht über die Sinngebung von Leben und Tod hatte. Das Wichtigste war, gottwohlgefällig zu sterben. In der Sterbestunde entschied sich alles: Entweder man kam ins ewige Fegefeuer, in die Hölle, oder man wurde in den Himmel aufgenommen. Was auch immer man im Leben getan hatte, man konnte sich nicht sicher sein, denn die eigentlichen schweren und gefährlichen Versuchungen hatte man erst auf dem Sterbelager zu erwarten. Hier, so die Vorstellung, feilschten und rangen die Mächte des Teufels um die Seele. So waren die Menschen darauf angewiesen, sich beizeiten auf diesen Kampf vorzubereiten. Sie taten dies, indem sie ein Büchlein, die »Ars moriendi« (Die Kunst des Sterbens), ihr ganzes Leben lang immer wieder betrachteten. Es enthielt Bilder, die alle verstehen konnten, Darstellungen der Versuchungen und des Widerstehens, die dem Menschen den Weg durch die Todesstunde wiesen.15 Sterben war also keineswegs einfacher oder angenehmer für die Menschen früherer Zeiten.

Die Unsicherheit, die die Spanne des eigenen Lebens betraf, zog sich durch die Jahrhunderte hindurch bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts.16 Noch 1875 lag die Lebenserwartung für Männer bei 35, für Frauen bei 38 Jahren. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ging dann die Kindersterblichkeit zurück und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts sank durch die Verbesserung der Lebensbedingungen und die medizinischen Fortschritte in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten auch die Erwachsenensterblichkeit. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs reduzierte sich schließlich auch die Sterblichkeit im höheren Alter.17 So vollzog sich der Wandel von der »unsicheren zur sicheren« Lebenszeit erst vor wenigen Jahrzehnten.

Das Leben ist sicherer geworden. Wir können heute davon ausgehen, zumindest ein Alter von 70 oder 80 Jahren zu erreichen. Die moderne Medizin hat dem Tod durch Krankheiten einiges entgegenzusetzen. Früher war Sterben oft eine Sache von wenigen Tagen. Heute gibt es Krankheiten, die lange andauern und ganze Lebensabschnitte betreffen können. Zwischen infauster Prognose und Tod dehnt sich oft eine erhebliche Zeitspanne aus. Wir sind im alltäglichen Leben nicht mehr zwangsläufig mit dem Tod konfrontiert, was zur Folge hat, dass die erste Begegnung mit dem Tod heute für viele Menschen der eigene ist. Und schließlich fürchten wir heute nicht mehr Fegefeuer und Höllenqualen.18 Nicht generell zumindest, denn in unserer postmodernen Epoche der Pluralisierung der Lebensformen und der Individualisierung steht jedem frei, seine eigene Vorstellung von Lebensgestaltung und Sinndeutung zu wählen19.

So sind wir heute weitgehend abgeschirmt von sterbenden Menschen und damit vom Tod und der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Sich der Begrenztheit des eigenen Lebens bewusst zu sein, könnte unserem Leben jedoch Sinn und Tiefe verleihen.

Der demographische Wandel und die damit steigende Zahl der Hochaltrigen, die oft an verschiedenen Krankheiten leiden, führt uns gesamtgesellschaftlich vor Augen, dass wir nicht darum herum kommen, uns mit dem Tod, vor allem aber mit der Lebensspanne davor, dem Sterben, auseinanderzusetzen. Denn die Sterbenden müssen versorgt werden und wo ihre Zahl immer größer wird, steigt der Bedarf an Versorgungsstrukturen.

2.1.1 Sterben in der postmodernen Gesellschaft

Der Umgang mit Tod und Sterben ist ambivalent. Auf eine Art ist das Sterben längst aus der Tabuzone heraus getreten: Durch die Medien werden wir täglich mit dem Tod konfrontiert. In Fernsehen, Internet und Computerspielen sehen schon Kinder Bilder von Sterbenden, Toten, von Mord und Ermordeten, selbst von zu Tode Gefolterten. Über Tod und Sterben werden Bücher geschrieben und Filme gedreht. Die Masse an Literatur in diesem Bereich ist in den vergangenen Jahren fast unermesslich angewachsen. Man spricht darüber, plaudert in Talk-Shows, hört Sendungen im Radio. Und doch haben heute viele Erwachsene noch nie einen Menschen leibhaftig sterben sehen, noch nie einen Toten berührt und viele haben auch in reiferem Alter noch keinen Nahestehenden durch den Tod verloren.20 Ein Todesfall im persönlichen Umfeld führt oft zu Unsicherheit wie darauf zu reagieren ist, zu Hilflosigkeit im Kontakt mit den Hinterbliebenen und zu Sprachlosigkeit.

»Wir haben auch hier eine doppelläufige Entwicklung. Auf der einen Seite wird das Sterben thematisiert und nicht mehr umschwiegen (…). Auf der anderen Seite wird es oft dort nicht besprochen, wo es ansteht.«21

Reimer Gronemeyer, Soziologe und Experte für Sterbeforschung, Hospizarbeit und Palliative Care, sieht im Umgang mit Tod und Sterben ein Spiegelbild der Gesellschaft22. In unserer Gesellschaft werde dem Tod mit modernen Mitteln der Schrecken entzogen: Er wird in die Hände von Experten gegeben. Um Sterbende kümmern sich Intensiv- und Palliativmediziner, Ethikkommissionen, spezialisiertes Pflegepersonal und geschulte Ehrenamtliche.

Der technische Fortschritt ermöglicht es heute, Menschen am Leben zu erhalten, die noch vor wenigen Jahrzehnten an ihrer Krankheit gestorben wären. Der Preis ist hoch. Viele Menschen, die erleben, dass da »nur noch ein Körper« am Leben erhalten wird, hoffen, selbst nie so zu enden und versuchen, sich mit einer Patientenverfügung dagegen abzusichern.23 Auf der anderen Seite sind die Kosten, die Menschen in ihren letzten Lebenswochen verursachen, gewaltig und steigen exponentiell auf das Lebensende hin an, sodass schon die Befürchtung nahe liegt, Hochaltrige könnten bald zum »sozialverträglichen Frühableben« aufgefordert werden24. Die Diskussion um die Legalisierung der Aktiven Sterbehilfe kann als Schritt dazu gesehen werden. Die seit dem Jahr 2009 verbindlich geltende Patientenverfügung gerät ebenfalls in Gefahr, hierfür instrumentalisiert zu werden. Ältere Menschen möchten niemandem zur Last fallen. Wie leicht könnten Sie unter Druck geraten, dies zu verhindern, indem sie entsprechende Verfügungen verfassen oder ihnen zumindest zustimmen.25 Das Thema Sterben und Tod steht so in einem Spannungsfeld zwischen extremen Gegenpolen.

2.1.2 Tod: Das Ende des Sterbeprozesses

Das Sterben findet sein natürliches Ende im Tod. Der Tod tritt ein, wenn der Organismus seine Funktionen vollständig eingestellt hat und der Körper zerfällt. Diese Prozesse lassen sich klinisch messen und beschreiben. In der Endphase des Sterbeprozesses kann es zu Anzeichen kommen, die auf den Tod hinweisen. Solange die Funktionsausfälle noch reversibel sein könnten, spricht man von unsicheren Todeszeichen. Hierzu gehören das Fehlen von Atmung, Puls und Herzschlag. Diese können im Sterben so stark reduziert sein, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden und dadurch als fehlend eingeschätzt werden. Lähmung der Muskulatur und Fehlen von Reflexen sind ebenfalls unsichere Todeszeichen, denn sie können andere Ursachen haben bzw. reversibel sein, ebenso Bewusstlosigkeit und Auskühlung.26

Sichere Todeszeichen entstehen durch länger andauernde Funktionsausfälle, die zu irreversiblen Veränderungen im Gewebe führen: Totenflecken, Totenstarre und eine im EEG feststellbare Nulllinie, die den Ausfall jeglicher Gehirnaktivität anzeigt. 1968 wurde erstmals der sogenannte Hirntod formuliert.27 Er bezeichnet einen Zustand, in dem die Funktionen von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm irreversibel erloschen sind, über kontrollierte Beatmung aber eine gewisse Zeit lang ein stabiler Kreislauf erhalten wird. Der Hirntod ist laut Transplantationsgesetz eine der Voraussetzungen für die Entnahme von Organen toter Spender. Er muss von zwei dafür qualifizierten Ärzten, die nicht dem Transplantationsteam angehören dürfen, unabhängig von einander festgestellt werden.28

Diese rein körperlichen Prozesse werden von der Medizin definiert. Was im Moment des Übergangs auf geistig-seelischer Ebene geschieht, lässt sich am ehesten durch einen verstehenden Zugang aus Schilderungen von sogenannten Nahtod-Erlebnissen ableiten. Im Tod scheint es zu einer Ablösung der Seele vom Körper zu kommen. Die Seele verlässt ihre »leibliche Hülle«.29

Religionen und Philosophie deuten den Tod auf ihre Weise. In der christlichen Tradition wird von »Heimkehr« gesprochen, von »Aufnahme in den Himmel«, was darauf hinweist, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist.

Platon und Aristoteles sahen den Tod dann als gegeben, wenn die Seele den Körper verlassen hat. Nach der Lehre des Tibetischen Buddhismus geschieht dies über einen gewissen Zeitraum hinweg, sodass empfohlen wird, den Körper des Verstorbenen »so lang wie möglich ungestört«30 zu lassen.

Auch in der Sterbebegleitung wird der Eintritt des Todes eher als Verlauf denn als Zeitpunkt erlebt. Angehörige und Begleitende nehmen oft wahr, dass sich der Verstorbene in seinem Gesichtsausdruck in den ersten Stunden und Tagen noch verändert. Für viele ist spürbar, wenn er »endgültig« gegangen ist.

Dem Tod geht eine mehr oder weniger lange Zeitspanne des Sterbens voraus.

2.1.3 Wann beginnt das Sterben?

Woran erkennt man, dass ein Mensch in naher Zukunft sterben wird? Auch bei dieser Frage gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen, je nach dem aus welchem Interesse heraus nach dem Beginn des Sterbeprozesses gefragt wird.

Medizinische Definition

Medizinisch gesehen lassen im Sterben die einzelnen Organe in ihrer Funktion in unterschiedlicher Geschwindigkeit nach und stellen sie schließlich vollständig ein.31 Die eigentliche Sterbephase wird als »Finalphase« bezeichnet. Sie umfasst die letzten Tage oder Stunden. Ihr geht die »Terminalphase« voraus. Diese ist gekennzeichnet von zunehmender Einschränkung der Aktivität und erstreckt sich über die letzten Tage und Wochen des Lebens. Der Mensch hat immer weniger Interesse an seiner Umwelt, an anderen Menschen, an dem was ihm früher wichtig war oder Freude bereitet hat. Er zieht sich zurück, scheint mit sich beschäftigt. Der Appetit lässt nach, es wird immer weniger gegessen und getrunken. Die Übergänge zwischen den Phasen sind meist fließend, was es erschwert, den Eintritt in die eigentliche Sterbephase konkret zu erkennen. Häufige Anzeichen dafür, dass das Sterben begonnen hat, sind extreme Schwäche und zunehmende Schläfrigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit. Die Phasen von Wachheit und Aufmerksamkeit werden kürzer. Der sterbende Mensch hört nun ganz auf zu essen und zu trinken.32 In der Sterbephase kommt es zu einer Zentralisierung des Kreislaufs. Um die Funktionen der inneren Organe und des Gehirns möglichst lang aufrechtzuerhalten, werden die entfernteren Körperteile weniger durchblutet. So haben Sterbende häufig kalte Hände und Füße, die auch leicht bläulich aussehen können. Auch kann oft eine spitze, blasse Nase beobachtet werden. Am Ende kommt es bei vielen Sterbenden zu einer geräuschvollen Atmung, der sogenannten »Rasselatmung«33. Weiter typische Symptome der Sterbephase und ihre palliative Behandlung werden in Kapitel 2.3.2 vorgestellt.

Ein hochaltriger Mann, Herr Bruckner, hatte bis zu seinem Sturz noch selbständig in seiner Wohnung gelebt, sich versorgt, Kontakte gepflegt. Jeden Tag war er eine Kleinigkeit einkaufen gegangen und oft spazierte er auch zum Briefkasten, um Post an seine Brieffreunde zu versenden. Nach seinem Krankenhausaufenthalt soll er nun in der Kurzzeitpflege wieder so weit auf die Beine kommen, dass er in seine Wohnung zurückkehren kann. Der Sohn kümmert sich um alles, schildert detailliert die Biografie, vor allem die Interessen seines Vaters und was ihn wohl motivieren könnte, an seiner Rehabilitation mitzuwirken. Doch Herr Bruckner wird innerhalb kurzer Zeit zunehmend bettlägerig. Er isst kaum noch, hat keinen Appetit. Die Diagnostik bringt keine medizinische Erklärung. Weil Herr Bruckner für sein Leben gern Schach gespielt hatte, wird ihm ein Schachpartner vorgestellt, sehr zur Freude des Sohns. Doch Herr Bruckner winkt ab. Er braucht nichts mehr. Möchte nur seine Ruhe haben. Auf Besuche reagiert er immer weniger. Zwei Wochen später verstirbt er. Der Sohn sagt: »Als mein Vater das Schachspielen abgelehnt hat, wusste ich, er hat aufgegeben. Schach war immer sein Lebenselixier gewesen.«

Gesellschaftliche Statusbestimmung

Sterben kann auch definiert werden über die gesellschaftliche Statusbestimmung. Dann ist zu fragen, wem die Definitionsmacht zugesprochen wird, einen Menschen als Sterbenden zu bezeichnen.

Als sterbend kann danach jemand bezeichnet werden,

wenn der Arzt durch Kenntnis der Fakten dem Sterbenden diesen Status zuspricht, ohne dass die Person selbst es schon weiß. Der Arzt wird damit zum Türsteher, der den Eintritt in die Rolle des Sterbenden regelt.

wenn die Angehörigen über die tödliche Erkrankung informiert sind und sich gegenüber dem Kranken in entsprechender Form verhalten. Hier ist der Sterbende als solcher sozial definiert.

wenn der Patient selbst sich der Fakten bewusst wird oder sie akzeptiert.

wenn nichts mehr für den Patienten getan werden kann, um sein Leben zu erhalten.

wenn der Patient beginnt, sich zu verabschieden.34

Definition: formale Aufnahmekriterien für ein Hospiz

Da stationäre Hospize »sich als Orte des Sterbens verstehen«35 können Menschen, die hier aufgenommen werden, als sterbend bezeichnet werden. Die Aufnahmekriterien bilden dann die Definitionsgrundlage. Dazu gehören folgende:

Der betroffene Patient leidet an einer zum Tod führenden Krankheit (z.B. einer Krebserkrankung oder dem Vollbild von AIDS).

Bei der Person ist bereits die konkrete, individuelle Todesursache vorhersehbar.

Betroffene Person, Angehörige und möglichst auch der behandelnde Arzt kennen und billigen die Prinzipien der palliativen (auf Linderung, nicht mehr Heilung abzielenden) Versorgung und wünschen weder weitere Therapieversuche noch invasive Untersuchungen.36

Eine ähnliche Definition findet sich bei Buchmann, der sich auf Anschütz bezieht. Demnach ist ein Patient sterbend,

»bei dem die wegen der Grunderkrankung eingesetzte Therapie nicht zum Erfolg führt, sondern eine schnelle Verschlechterung mit Zusammenbruch der Grundfunktionen offenbar wird. Die Diagnose ist hochwahrscheinlich, weitere (…) Maßnahmen nicht mehr zumutbar, ein operativer Eingriff ist nicht mehr möglich, der sich verschlechternde Verlauf lässt vermuten, dass der Tod innerhalb von Tagen oder wenigen Wochen eintreten wird«37.

Soziales Sterben

Sterben ist also nicht eine rein medizinisch zu fassende Zeitspanne. Die gesellschaftliche Definition, wer als sterbend gelten soll, spielt eine wesentliche Rolle. Dieser Zusammenhang wird im Begriff des »Sozialen Sterbens« auf den Punkt gebracht. Er wurde erstmals von Goffman-Schüler David Sudnow geprägt, der ihn definiert als Zeitpunkt, ab dem »der – klinisch und biologisch noch lebende – Patient im Wesentlichen als Leiche behandelt wird«38. In den 1960er Jahren, den Anfängen des institutionalisierten Sterbens, führte Sudnow in den USA eine Studie zum Umgang mit Sterbenden im Krankenhaus durch. Es war die Zeit, in der Sterben als Scheitern der Medizin betrachtet wurde und daher in Kliniken nicht vorkommen sollte. Wo es doch passierte, wurden die Sterbenden in Badezimmer und Abstellkammern geschoben. Sudnow beschreibt Szenen, in denen den Sterbenden schon einmal im Voraus die Augenlider zugedrückt wurden, da dies bei Toten schwieriger sei, die Zahnprothesen wieder eingesetzt wurden oder wo die Sterbenden vorsorglich schon »hergerichtet« wurden, so lang sie noch lebten. Von den 200 durch Sudnow beobachteten Todesfällen kam es nur noch bei etwa 12 zu Interaktionen zwischen Sterbenden und Ärzten bzw. Pflegepersonal.39

Sterben basiert hier auf Kommunikationsabbruch und geht von der Umwelt aus, die sich zurückzieht und den Sterbenden isoliert, weshalb auch von »sozialer Euthanasie« gesprochen wird. Der soziale Tod geht dem physischen Tod häufig voraus. Diese Form »sozialen Sterbens« widerfährt gerade Menschen mit Demenz besonders oft.40

Bereits Glaser und Strauss41 haben in den 1990er Jahren beschrieben, wie es im Sterbeprozess zu Isolation und Kommunikationslosigkeit kommen kann. Sie unterscheiden Bewusstseinskontexte, die dies deutlich machen:

Geschlossene Bewusstheit (closed awareness context): dem Sterbenden wird das Wissen um seinen Zustand aktiv vorenthalten. Das Krankenhauspersonal muss sich in Acht nehmen, um die Wahrheit nicht versehentlich preiszugeben.

Argwohn: der Patient weiß nichts Genaues, ahnt aber, wie es um ihn steht. Die ihn umgebenden Personen weichen seinen Fragen aus und lassen ihn im Ungewissen. Miteinander ringen sie um die Beherrschung der Situation.

Wechselseitige Täuschung: sowohl der Patient als auch die anderen wissen, dass er sterben muss. Alle verhalten sich aber übereinstimmend so, als wäre dies nicht der Fall. Niemand lässt sich etwas anmerken.

Offenheit: alle Beteiligten sprechen offen über den Zustand des Patienten und seinen bevorstehenden Tod.42

Wo nicht über das Sterben gesprochen wird, bleiben sowohl die Sterbenden als auch die Angehörigen allein mit ihren Sorgen und Ängsten. Das Sehnen des Erkrankten geht in Richtung Gewissheit, er will seine Prognose, seinen Status verifizieren.43 Dennoch ist das Erfassen der Situation oft ein langer Prozess, der keineswegs linear verläuft, sondern bei dem sich der Sterbende und seine Angehörigen der Wahrheit des Todes langsam und schrittweise annähern, und bei dem es immer wieder auch ein Wegdrängen dieser Wahrheit geben kann44.

Das Sterben von Herrn Walther zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Die Ehefrau und die Kinder waren jeden Tag bei ihm in der Altenpflegeeinrichtung. Alle versuchten, eine Atmosphäre der Hoffnung und Heiterkeit zu verbreiten. Doch wenn die Familie gegangen war, sank Herr Walther ermattet in seine Kissen zurück. Dem Pflegepersonal schärfte er ein, den Angehörigen, insbesondere der Ehefrau, nicht zu sagen, wie es um ihn steht. Sie könne das auf keinen Fall verkraften. Die Ehefrau ihrerseits brach in Tränen aus, wenn sie das Zimmer verließ. Sie flehte die Pflegenden an, ihrem Mann nichts über seinen Zustand zu sagen. Sie befürchtete, er könne sich aufgeben und dadurch sein Ende beschleunigen. Erst als unter Hinzuziehung des Pastors einfühlsame Gespräche die Kommunikation öffneten, entspannte sich die Situation und der bevorstehende Abschied konnte gemeinsam betrauert werden.

Bei schwerer Krankheit steht die Frage nach dem Tod irgendwann immer im Raum. Auch wenn die Betroffenen nicht darüber sprechen, kann davon ausgegangen werden, dass sie sich innerlich damit beschäftigen, darüber nachdenken, sich sorgen oder ängstigen. Das Thema anzusprechen bedarf einer einfühlsamen Kommunikation. Dass die Krankheit (möglicherweise) zum Tode führt, bedeutet nicht, dass er direkt bevorsteht. Doch wenn den Fragen und Gedanken kein Raum gegeben wird, bleiben die Menschen allein damit. Den richtigen Zeitpunkt dafür gibt es nicht. Eine offene Frage, die mitfühlendes Interesse zeigt und die Bereitschaft zuzuhören, kann das Gespräch eröffnen, in dem der schwerkranke Mensch sich anvertraut.45

Die Frage nach dem Beginn des Sterbeprozesses hat mitunter weit reichende Konsequenzen, insbesondere wenn es um die Beurteilung geht, welche Maßnahmen am Lebensende noch sinnvoll sind.46

»Ein natürlicher Tod ist angesichts der medizinisch-technischen Möglichkeiten in unserer Gesellschaft nahezu unmöglich geworden, fast immer ist das Sterben von einem Tun und Lassen abhängig, also von der Entscheidung, dass gestorben werden »darf«47.

Im Folgenden wird das Hospiz-Konzept als anerkanntes Konzept der Sterbebegleitung vorgestellt.

2.2 Das Hospiz-Konzept

Die Hospizbewegung ist eine Antwort auf Fragen, die sich in modernen Gesellschaften, im Hinblick auf die letzte Lebensphase stellen. Sie sieht im Sterben keine Krankheit, sondern eine Lebensphase, die die menschliche Existenz charakterisiert. Übergänge sind im menschlichen Leben immer krisenhafte Zeiten. Es sind aber auch Zeiten, in denen Wachstum, Entwicklung und innere Reifung möglich ist. In der Postmoderne sind viele alte Rituale, die diese Übergänge zu bewältigen halfen, verloren gegangen, sodass vermehrt neue Formen der Unterstützung notwendig werden. Auch die soziale Einbindung in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis ist nicht mehr selbstverständlich. Die Hospizbewegung will mit ihrer ganzheitlichen Orientierung und durch mitmenschliche Umgangsformen dazu beitragen, die letzte Lebensphase zu bewältigen.48

2.2.1 Die historische Entwicklung der modernen Hospizbewegung

Der Begriff »Hospiz« kommt von (lat.) »hospitium«, was Herberge oder Gastfreundschaft bedeutet. Hospize gab es schon im Mittelalter. Dies waren an Pilgerwegen gelegene Klöster, in denen Ordensleute Wanderern und Pilgern Übernachtungsmöglichkeiten boten und Menschen aufnahmen, die unterwegs krank wurden oder starben. Hier wurden sie versorgt und auf ihrem letzten Weg begleitet.

Heute steht der Begriff »Hospiz« nicht mehr nur für Orte der Sterbebegleitung, sondern beinhaltet viel mehr das dahinter stehende Konzept.

Die moderne Hospizbewegung ist eng mit den Namen Elisabeth Kübler-Ross und Cicely Saunders verknüpft. Zur gleichen Zeit – Ende der 1960er Jahre – trugen die beiden Frauen49 entscheidend dazu bei, die Lebensbedingungen sterbender Menschen zu verbessern, indem sie Sterben und Tod öffentlich thematisierten, einen neuen Umgang mit diesen Themen anregten und konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation der Sterbenden und ihrer Angehörigen einleiteten und umsetzten.

Elisabeth Kübler-Ross veröffentlichte 1969 in den USA ihr weltweit bekannt gewordenes Buch »Interviews mit Sterbenden«. Sie gilt als Pionierin auf dem Gebiet der Sterbe- und Trauerbegleitung, das bis dahin die Domäne der Geistlichkeit war. In ihren Gesprächen mit Patienten, die an einer unheilbaren Krankheit – meist waren es Krebserkrankungen – litten, wurde deutlich, dass die Menschen in ihrer letzten Lebensphase noch wichtige Prozesse und unterschiedliche Gefühlslagen durchleben. Kübler-Ross konnte überzeugend vermitteln, dass Menschen darin nicht allein gelassen werden sollten und dass sowohl die Sterbenden selbst als auch ihre Angehörigen in der letzten Phase des Lebens Begleitung und Gespräche brauchen. Ihre Einteilung des Sterbeprozess in sogenannte »Sterbephasen« ist heute eine umstrittene Theorie, da die Phasen leicht als normative Zustände missverstanden werden können, die vorgeben, wie der Sterbeprozess »richtig« zu durchlaufen ist. Dadurch besteht eine gewisse Gefahr, persönliches individuelles Erleben zu kategorisieren und zu bewerten. Auch beschränken sich die Erkenntnisse auf den Personenkreis der onkologisch Erkrankten im Endstadium. Trotz aller Kritik verdankt die Hospizbewegung Elisabeth Kübler-Ross viel, da durch sie weltweit eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik begann und Sterben und Tod zu Themen wurden, die öffentlich diskutiert werden konnten. Das Modell der Sterbephasen ist nach wie vor sehr verbreitet und wird häufig zitiert. Allerdings wird es heute nicht mehr als Abfolge von Stadien betrachtet und auch nicht ausschließlich auf sterbende Menschen bezogen. Es gilt vielmehr als Modell für die Reaktion von Menschen auf Verluste in einem umfassenderen Sinne.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es bereits einen eher unbekannten50 Vorläufer der heutigen Hospizbewegung, der von fünf irischen Schwestern ausging. Sie nahmen sich in einem Londoner Reihenhaus sterbender Menschen an und befassten sich mit der Erforschung der Schmerzbegrenzung am Ende einer Krankheit. Menschen sollten hier »wirklich leben, bis sie sterben«51. Daraus ging das St. Joseph’s Hospice hervor.