BRYAN EDGAR WALLACE

 

Die Welt steht

auf dem Spiel

 

 

 

 

Ein utopischer Kriminal-Roman

 

Apex Crime, Band 48

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE WELT STEHT AUF DEM SPIEL 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

Ein unbekannter Mann beschließt, die Welt zu erobern. Eine seltsame Waffe, millionenfach gefährlicher als die schrecklichste Atombombe und nur ihm allein bekannt, soll ihm bei der Durchführung dieses wahnwitzigen Planes helfen. Wird es ihm gelingen, die Menschheit seinem Willen gefügig zu machen und alle bestehenden Regierungen mit einem Schlag abzuschaffen?

Bill Tern, der sympathische Geheimagent, versucht gegen die geheimnisvolle Macht anzukämpfen, doch die verschiedensten Umstände lenken ihn immer wieder von der richtigen Spur ab....

 

Bryan Edgar Wallace (* 28. April 1904 in London; † 1971), der Sohn des legendären Schriftstellers Edgar Wallace, wurde in Deutschland insbesondere durch die Verfilmung seiner Romane in den 1960er Jahren bekannt.

Mit diesem Buch legt Bryan Edgar Wallace eine Mischung aus Science-Fiction- und Kriminal-Roman vor. Ein interessanter Versuch, der sich durch Einfallsreichtum und Originalität auszeichnet. Er zeigt, dass Edgar Wallace in seinem Sohn einen Nachfolger gefunden hat, der die Literaturgattung Kriminal-Roman mit neuen Ideen bereichert.

Die Welt steht auf dem Spiel war überdies die literarische Vorlage für den Film Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (Deutschland 1963, Regie: Paul May) mit Peter van Eyck als Bill Tern, Dieter Borsche als George Cockston und Sabine Bethmann als Nancy Masterson.

Der Apex-Verlag veröffentlicht die Werke von Bryan Edgar Wallace als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit nahezu fünfzig Jahren wieder verfügbar.

 

Der Autor

 

Bryan Edgar Wallace.

(* 28. April 1904 in London; † 1971).

 

Bryan Edgar Wallace - auch Edgar Wallace jr. - war ein englischer Kriminalschriftsteller und Drehbuchautor. Er war zudem der Sohn des erfolgreichen Schriftstellers Edgar Wallace.

Bryan Edgar Wallace wurde im April 1904 als Sohn des britischen Schriftstellers Edgar Wallace und dessen erster Frau Ivy Wallace, geborene Caldecott, geboren. Wallace benannte ihn nach dem amerikanischen Senator William Jennings Bryan, mit dem er befreundet war. Bryan Edgar ging auf die Oundle School und später auf das Emanuelle College in Cambridge, anschließend war er Offizier der britischen Armee. Nach seiner Militärzeit arbeitete er als Drehbuchautor bei British Lion, der Gaumont British Picture Corporation, Twentieth Century Fox und anderen Filmgesellschaften, bevor er für zwölf Jahre als Sekretär in der britischen Botschaft in Madrid arbeitete.

Bryan Edgar heiratete 1934 die Biographin seines Vaters, Margaret Lane, die Ehe wurde jedoch bereits 1939 wieder geschieden. 1940 heiratete er Wylodine van Dyke Jones aus Columbus in Ohio. Gemeinsam mit seiner Frau verbrachte er seinen Lebensabend auf dem Schloss Champigny in Champigny-sur-Veude bei Tours an der Loire in Frankreich.

Die Kriminalromane von Bryan Edgar Wallace wurden stark von denen seines Vaters beeinflusst, handelten jedoch vor allem von Agenten und Weltbeherrschungsplänen. Die Berühmtheit seines Vaters konnte er nicht erreichen.

Neben diesen eigenen Romanen schrieb Wallace Drehbücher nach verschiedenen Romanen seines Vaters, darunter The Flying Squad (1932), The Frightened Lady (1932), Whiteface (1932), Strangers on a Honeymoon (1936), The Squeaker (1937) und The Mind of Mr. Reeder (1939).

Nach einem Treffen mit den Filmproduzenten Artur Brauner wurden einige der Romane von Bryan Edgar Wallace im Rahmen des durch Constantin Film und Rialto Film ausgelösten Edgar-Wallace-Booms durch Filme in den 1960er- und 1970er-Jahren verfilmt. Dabei wurde teilweise nur sein Name genutzt und nur ein geringer Teil der Verfilmungen wurde nach seinen Romanen verfilmt; daneben wurden völlig neue, Edgar-Wallace-ähnliche Stoffe erdacht.

Zu den bekanntesten Bryan-Edgar-Wallace-Filmen gehören Der Würger von Schloss Blackmoor (1963), Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963), Der Henker von London (1963) und Das siebente Opfer (1964). 

DIE WELT STEHT AUF DEM SPIEL

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war Punkt 3.35 am Nachmittag des 23. April, als George Harry Cockston den Entschluss fasste, ganz allein die Welt zu erobern.

Später einmal, zu der Zeit, da Cockston und jenes geheimnisvolle Etwas, das unter dem Namen Das Werkzeug bekannt werden sollte, die Schlagzeilen der Weltpresse beherrschten, würden viele behaupten, er sei wahnsinnig. Ja, sogar die Frau, die er liebte, der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen hatte, würde sich mit hysterischem Geschrei dieser allgemeinen Ansicht anschließen: In Wirklichkeit aber war er eiskalt, grausam und völlig bei Verstand. Er mordete weder aus Leidenschaft noch zum Vergnügen. Er wusste jedoch, wenn er seinen Plan verwirklichte, würden soundsoviele Menschen sterben müssen. So einfach war es. Und George Harry Cockston hatte allzu lange jenseits von Gut und Böse gelebt, als dass ihm kleine, technische Details dieser Art Kopfzerbrechen bereitet hätten. Für George Harry Cockston war Mord seit jeher eine in ihrer klaren Endgültigkeit tief befriedigende Lösung gewesen und würde es immer bleiben.

Der Einfall überkam ihn mit der Wucht eines Blitzschlages, als er und der wunderliche Professor die schaurigen Manöver der drei Mäuse beobachteten. Das war alles. Weiter nichts als drei Mäuse in einem großen, mit einem gläsernen Deckel versehenen Käfig auf einem Tisch im Laboratorium des Professors. Ein recht eigenartiges und unglaubliches Milieu: Hier einen Entschluss fassen, der die Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird? So fing es an - mit zwei Männern und drei Mäusen in einem engen, abgelegenen, weißgetünchten Raum. An der einen Seite des Tisches stand Cockston, ein junger Mann noch, etwas über Dreißig, gutaussehend, wenn auch leicht zum Dicklichen neigend, mit kalten, scharfen Augen und einem schmalen gestutzten Schnurrbart. In Anbetracht dessen, dass man sich weit draußen auf dem Lande befand, war er ein wenig zu sorgfältig gekleidet. Sein dunkler Anzug hatte einen leicht kanzleimäßigen Anstrich. Er bildete einen verblüffenden Kontrast zu dem Mann an der anderen Seite des mit einer Glasscheibe versehenen Mäusekäfigs. Der Professor war ein Herr an die Achtzig, seine farblose Kleidung mit Fettflecken übersät, der struppige, nikotinbraune graue Bart längst schon ebenso der Pflege bedürftig wie das spärliche graue Haar. Das einzige, was sie miteinander gemein hatten, war eine Zukunftsvision - für den Professor im Zeichen der Hoffnung, für Cockston im Zeichen der Macht.

In den Augen der Leute, die ihn teils unter dem Namen Cockston, teils unter anderen Namen kannten, erschien Cockston wie ein Proteus in jeweils anderer Gestalt. Der Professor zum Beispiel hielt ihn für einen reizenden Amateur, der danach lechzt, zu den Füßen eines großen Mannes sitzen und von ihm lernen zu dürfen. Für die Interpol aber, die weit verzweigte internationale Polizeiorganisation, die ihn nur als Cockston kannte, war er ein rücksichtsloser Berufsverbrecher, der sich noch nie hatte erwischen lassen, und seine Akte ein aufreizendes Mischmasch aus halben Wahrheiten und totalen Sackgassen. In London wiederum, wo er unter einem ganz anderen Namen bekannt war, akzeptierte man ihn als die Figur, für die er sich ausgab - nämlich als den vielgereisten Mann von Welt. Er hatte sich dort eine recht einflussreiche Stellung geschaffen, eine so sichere Stellung, dass auch nachher, als der Name George Harry Cockston in aller Mund war, einige der klügsten Köpfe Londons nicht auf den Gedanken verfielen, ihn mit dem Mann zu identifizieren, den sie suchten.

Die Begegnung zwischen Cockston und dem Professor fand in einem verfallenen, einsamen Bauernhaus in Perigord, im Südwesten Mittelfrankreichs statt. Das Haus lag zwischen düsteren, mit Unterholz bestandenen Hügeln in einer öden, unfreundlichen Landschaft. Es war ein gottverlassener Winkel, nur über eine kilometerlange, zerwühlte, sandige Straße zu erreichen, die steil bergan und dann ebenso steil wieder bergab ging und sich durch leere Täler hindurchschlängelte, die scheinbar kein Leben mehr kannten, seit der Cro-Magnon-Mensch seine unvorstellbar schönen Zeichnungen an den Wänden der zahlreichen, in die finster ragenden Kalksteinklippen eingekerbten Höhlen hinterlassen hatte.

Cockston hatte anderthalb Stunden gebraucht, um von der Landschaft aus den Bauernhof zu erreichen. Zweimal war er falsch abgebogen und ins Weglose geraten. Keinen einzigen Menschen hatte er getroffen, den er um Rat hätte fragen können. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit gewesen, Jahrhundert um Jahrhundert, ja, sogar Jahrtausend um Jahrtausend. Für Cockston aber war es zugleich auch eine Fahrt in die Zukunft, eine Zukunft, so strahlend und erregend, wie er sie sich schöner noch nie erträumt hatte.

Von dem Professor hatte er ganz zufällig gehört, als er in einer kleinen Kneipe in Perigueux einen Drink nahm. Er und May Barbara hatten sich vierzehn Tage lang dort aufgehalten und gewartet, bis der Staub sich legte, den er, Cockston, durch einen kleinen Coup in Marseille notgedrungen aufgewirbelt hatte. Er machte sich keine besonderen Sorgen, da er theoretisch genau wusste, die Polizei würde ihn’ unmöglich mit diesem sachgemäß ausgeplünderten Banktresor in Verbindung bringen können, aber er war stets dafür, jedes Risiko zu vermeiden, auch wenn es noch so viel Mühe kostete. Außerdem war May Barbara nervös geworden. Ein kleiner Urlaub zu zweit war ihm als eine vortreffliche Kur erschienen, obwohl er schon wusste, dass das Kapitel May Barbara in seinem Leben sich schnell dem Ende näherte.

Zuerst hatte er sich gar nicht um die beiden Männer gekümmert, die an der Theke standen. Dann war er aufmerksam geworden.

»Und ob du es glaubst oder nicht, lieber Freund«, sagte der größere der beiden, anscheinend ein Lastautofahrer, »er hat einen Schuppen mit nichts als lauter Mäusen drin.«

Der Kumpan des Chauffeurs, klein, dick und äußerst skeptisch veranlagt, schürzte die Lippen mit jenem verächtlichen Ausdruck, den die Franzosen so geschickt zu meistern verstehen, »Mäuse?«

»Gott sei mein Zeuge!«

Der kleine Dicke machte mit dem rechten Arm eine weitausholende Bewegung ins Leere. »Und sie laufen bloß so herum?« Nun hatte der Lkw-Fahrer Gelegenheit, seine höhnische Verachtung zu äußern. »Du bist wohl nicht ganz gescheit! Natürlich in Käfigen.«

»Womit füttert er sie denn?«

Der Lkw-Fahrer lächelte selbstgefällig. »Ich liefere ihm monatlich 400 Kilo Futter zu 68 Francs pro Kilo«, erwiderte er mit berechtigter Zufriedenheit.

Der Kleine, der schnell im Kopf nachgerechnet hatte, schien einigermaßen beeindruckt. »Aber was macht er denn mit den Mäusen?«

»Er steckt sie in kleine Kästen und lässt sie wie Soldaten exerzieren.«

Cockston, der bis zu diesem Augenblick mit müßiger Neugier zugehört hatte, warf dem hochgewachsenen Mann einen scharfen Blick zu, sah aber zu seinem Erstaunen, dass diese wunderliche Bemerkung durchaus ernst gemeint war. Der andere, der kleine Dicke, aber musterte vielsagend das leere Pernod-Glas auf der Theke. »Wie Soldaten? Ja, selbstverständlich, ja, selbstverständlich!«

Der Lastwagenfahrer hob die Hände zum Himmel. »Wenn ich nicht die Wahrheit sage, soll meine Mutter nie einen Sohn geboren haben!«

»Wie fängt er es denn an?«

»Er drillt sie«, erwiderte der Gewährsmann dunkel.

In Cockstons Hirn begann eine blasse Erinnerung sich nach vorne zu drängen. Er wusste, es sei etwas Wichtiges, konnte sich aber nicht genau besinnen, was es sei.

Er blieb noch eine Weile neben den beiden stehen und hörte zu, aber sie gingen zu anderen Themen über. Immerhin gelang es ihm, sich ins Gespräch zu mischen und die Adresse dieses seltsamen Mäuseprofessors zu erfahren.

Den ganzen Abend hindurch beklagte sich May Barbara bitterlich darüber, dass er ein so ausnehmend schlechter Gesellschafter sei: Er jagte nämlich unablässig jener flüchtigen Erinnerung nach, die stets gleich hinter der nächsten Ecke zu lauern schien. Dass es mit einem Krankenhaus zusammenhing, einem amerikanischen Krankenhaus, und mit einer Zeitungsnotiz - so weit tastete er sich voran - aber nicht weiter.

Zwei Tage später überwältigte ihn die Neugier. Ganz allein brach er auf, um mit eigenen Augen den Professor und seine Mäuse zu besichtigen.

Der Professor war abwechselnd mürrisch, geschmeichelt und argwöhnisch, aber unter den Strahlen der restlosen Bewunderung des fremden Besuchers schmolz sein Widerstand dahin, und er fing an, ihm alles zu zeigen. Trotzdem verging fast eine Woche, bevor er sich endgültig erweichen ließ und Cockston die Quintessenz seines Experimentes erläuterte.

Die Vorführung, mit der er Cockston beehrte, war simpel, effektiv und restlos überzeugend. Und mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück, der Cockston bis dahin vergebens nachgespürt hatte. Er wusste, dass ihm hier eine Gelegenheit winkte, wie sie in hundert Menschenleben allerhöchstens einmal an die Tür klopft. An Ort und Stelle wurde die Idee geboren - das Werkzeug. George Harry Cockston fasste den Entschluss, die Welt zu erobern.

Wie der Chauffeur in der Kneipe wahrheitsgetreu berichtet hatte, beherbergte einer der Schuppen Hunderte und aber Hunderte kleiner Käfige, in denen Mäuse aller Art, Farbe und Rasse hausten.

Aus diesem Schuppen führte der Professor seinen Gast in ein makellos sauberes Laboratorium.

Mitten im Raum stand ein großer Tisch, etwa zwei Meter im Quadrat, und auf dem Tisch ein Kasten mit ungefähr fünfzehn Zentimeter hohen Seitenwänden und einem Glasdeckel, so dass man ins Innere hineinschauen konnte. An zwei Seitenwänden lief eine massive Arbeitsbank entlang, die zum Teil mit chemischen Apparaten bedeckt war. Der restliche Teil sah aus, als würden dort alte Funkgeräte repariert: ein wirrer Haufen von Röhren, Drähten, Spulen und sonstigen elektrischem Gerümpel.

Nachdem der Professor kurz erklärt hatte, dies sei sein Laboratorium, verschwand er in den Schuppen, kehrte aber sogleich mit drei Mäusen wieder, die er durch eine kleine Falltür in den Kasten steckte, der auf dem Tisch stand.

Lange Zeit betrachtete er dann stumm die drei Tierchen, die ziellos und aufgeregt in dem Gehege umherzappelten. Dann - noch immer, ohne ein Wort zu sagen - sperrte er eine Verbindungstür auf, ging in einen Nebenraum und sperrte die Tür sorgfältig hinter sich ab.

Sowie Cockston allein war, spazierte er rasch durch das ganze Laboratorium. Aber was er sah, war ihm unverständlich. Er kehrte zu den Mäusen zurück. Drei Mäuse. Zwei kleinere graue und eine größere, schwarzweiß gefleckte, die nervös in einer Ecke kauerte, während die beiden anderen schüchtern ihr neues Heim erkundeten. Das Ganze machte einen lächerlichen Eindruck. Cockston bereute schon, dass er sich unnützerweise so viel Mühe gemacht hatte. Er sei, sagte er sich, selber dran schuld: sich das dumme Geschwätz zweier beschwipster Rüpel anzuhören...

Leicht gereizt drehte er sich um. Der Professor war eingetreten und hob warnend die Hand, kam heran, blieb neben Cockston stehen und betrachtete wortlos die Mäuse. Aus einem unerklärlichen Grund spürte Cockston, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Plötzlich merkte er, dass er Angst hatte. Wovor? Das wusste er nicht. Vielleicht waren es die Nachwehen der einsamen Autofahrt, die unheimliche Atmosphäre dieses abgelegenen Bauernhofs mit dem seltsamen, dem Studium des Unbekannten gewidmeten Laboratoriums. Aber was es auch sein mochte, es lag etwas in der Luft, das ihm Angst einjagte. Dabei hätte niemand behaupten können, es mangle ihm an Mut. Zuerst vermutete er, es könnte an dem Anblick der Mäuse liegen, die lautlos und abgeschieden unter der dicken Glaswand umherrannten, aber der Verstand kam ihm zu Hilfe und bedeutete ihm, dass das durchaus absurd sei. Ausnahmsweise einmal aber hatte der Verstand ganz und gar Unrecht.

Zuerst geschah nichts. Dann, wie aus heiterem Himmel, machten die drei Mäuse in ein und derselben Sekunde halt, hockten sich auf den Boden hin und blickten furchtsam nach rechts und nach links. Cockston bildete sich ein, dass sie auch ihre Köpfe im gleichen Takt bewegten. So blieben sie etwa fünfzehn Sekunden lang sitzen. Dann machten die beiden Mäuse in der Mitte des Käfigs gleichzeitig eine halbe Kehrtwendung nach rechts und trippelten auf exakt gleichlaufenden Bahnen nebeneinander her, bis sie - wie auf ein Kommandowort - beide im gleichen Augenblick wie angewurzelt stehenblieben. Die Exerziermanöver der beiden grauen Mäuse waren schon recht merkwürdig, aber das Verhalten der gescheckten Maus in der Ecke ganz unglaublich und auf eine wunderliche Art empörend. Durch die Wand behindert, hatte sie nicht die gleiche Richtung einschlagen können wie die beiden anderen, zappelte aber, wie unter dem Zwang eines übermächtigen Befehls, die Schnauze fest gegen die Wand gedrückt, verzweifelt mit den Füßen in ihrem Bemühen, dem Befehl zu gehorchen.

Abermals verstrichen zehn Sekunden. Dann schwenkten alle drei Mäuse auf einmal scharf nach links und rannten drauflos, in die gleiche Richtung, in parallelen Bahnen, wie eine gedrillte Formation. So sehr waren sie darauf erpicht, das geheime und unhörbare Kommando zu befolgen, dass die eine graue Maus zur Linken, die nicht genug Spielraum hatte, um die ganze Strecke zurückzulegen-, mit voller Geschwindigkeit gegen die linke Wand des Kastens stieß, als sei der Einfluss, dem sie ausgesetzt war, stärker als der natürliche Selbsterhaltungstrieb.

Die Vorführung ging noch etwa fünf Minuten lang weiter; die drei Mäuse exerzierten nach allen Regeln der Kunst und in exaktem Gleichschritt. Es war ein phantastisches, gespenstisches Erlebnis - auf irgendeine Weise beängstigend, allen Naturgesetzen Hohn sprechend. Hier in ländlicher Einsamkeit hatte ein alter Mann das Werkzeug unerhörter Macht erfunden.

Der junge Mann sah zu, fasziniert, erschüttert. Und in seinem Kopf regte sich ein Gedanke.

George Harry Cockston sah nach der Uhr.

Es war 3.35 Uhr.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Als Cockston den Bauernhof verließ und die zeitlose Straße entlangfuhr, entwarf er in großen Zügen seinen Plan. Zuerst musste er in Erfahrung bringen, wie der Apparat fungierte, dann hieß es verschiedene Experimente durchführen, und wenn das alles erst einmal besorgt war und der Professor seine Rolle zu Ende gespielt hatte, musste der alte Mann verschwinden. Cockston lächelte vor sich hin. Der alte Mann war ihm in geradezu rührender Weise dankbar gewesen, als er ihm seine Mitarbeit anbot. Ja, das war ihm recht: ein junger, kluger Assistent.

Cockstons Lächeln erlosch. Er runzelte die Stirn. May Barbara war durchaus nicht die Assistentin, die er jetzt hätte brauchen können. Eines stand fest: Er durfte keinen Menschen am Leben lassen, der imstande sein würde, den Beginn der Geschichte mit dem Ende, den Besuch auf dem Bauernhof mit den kommenden Ereignissen zu verknüpfen. Er war, wie er sich selber offen eingestand, nicht eben zimperlich. Aber der Gedanke, einer Frau etwas anzutun, noch dazu einer seiner Mätressen, schmeckte ihm nicht. Jedoch: Was bedeutete ein Menschenleben gegenüber der Größe dieses Vorhabens? Nichts. Selbstverständlich würde er einen diskreten Augenblick abpassen müssen, aber er wusste aus Erfahrung, dass dieser Augenblick stets früher oder später eintrifft.

Als er im Hotel ankam, hatte er sich bereits überlegt, wie er das Problem May Barbara anzupacken habe. Nun aber musste er zu seinem Ärger erfahren, dass May Barbara in einem Anfall von Gereiztheit ihre Koffer gepackt und sich davongemacht hatte. Zu guter Letzt gelang es ihm, sie einzuholen, und es kam der diskrete Augenblick - leider aber, zu seinem Pech, um fast fünfzehn Monate zu spät.

Etwa ein Jahr nach seinem ersten Besuch auf dem versteckten Bauernhof verschwand Cockston fast völlig aus dem Gesichtskreis der Welt, die ihn gekannt hatte. Ab und zu machte er einen kurzen Abstecher nach London und erzählte dort seinen Bekannten (unter einem Pseudonym), wichtige Geschäfte hielten ihn auf dem Kontinent fest. Auch seine Akte bei der Interpol schlummerte friedlich. Und nach einiger Zeit, als eines Abends eine Leiche aus der Seine gefischt wurde, war man so unvorsichtig, die Akte abzuschließen.

Aber Cockston war alles eher als tot - wenn auch viele seiner Freunde ein stilles Grab dem Leben vorgezogen hätten, das er führte. Angetan mit schweren Stiefeln und alten abgeschabten Kleidern stand er allmorgendlich um sechs Uhr früh auf, um den Nährvater von zweitausend Mäusen zu mimen.

Langsam schmeichelte er sich in das Vertrauen des Professors ein. In der Freizeit führte er seine eigenen geheimen Experimente durch, bis der Tag kam, da er mit den Ergebnissen zufrieden war. Am Abend dieses selben Tages griff er nach einem dicken Kissen, presste es fest aufs Gesicht des alten Mannes und begrub die Leiche im Wald.

Am 11. Juli verließ Cockston den Bauernhof, aber erst am 7. September ereignete sich der erste merkwürdige Zwischenfall. Und abgesehen von den Augenzeugen interessierte sich kein Mensch dafür.

Madrigal de las Altas Torres ist ein kleines Dorf mitten im alten Kastilien. Von den halbverfallenen Resten einer Ringmauer umgeben, hat es unverändert durch die Jahrhunderte dahingedämmert, seit der Zeit, da Isabella die Katholische aus seinem Kloster weggeholt wurde, um Königin von Spanien zu werden. In Madrigal war der 7. September ein Tag wie alle anderen seit tausend Jahren - bis auf ein seltsames Ereignis. Während die zersprungene Kirchenglocke mühsam die zwölf Mittagsschläge schlug, standen die wenigen Menschen, die sich auf dem staubigen Marktplatz befanden, regungslos stramm.

Als alles vorbei war - und es dauerte ja nur zehn Sekunden machten die Beteiligten äußerst verlegene Gesichter. Etliche Dorfbewohner, besonders die alten Weiber, behaupteten, es handle sich um ein Wunder, aber der Pfarrer, mit einem Auge nach dem Bischof schielend, betonte energisch, es liege lediglich ein reiner Zufall vor. Eine Woche später sicherte die Nachricht durch, die unverheiratete Tochter des Gastwirtes erwarte ein Kind. Mit dieser wahrhaft erschütternden Neuigkeit konnte natürlich der merkwürdige Vorfall zur Mittagszeit nicht konkurrieren. Er geriet in Vergessenheit.

Das zweite Ereignis fand im Nordosten Kenyas statt, in einer Wildnis, in der Nähe eines der großen Tierschutzgebiete. Ein bis dahin friedlicher Stamm geriet plötzlich in Raserei und vernichtete ein Nachbardorf. Aber als man die Leute nachher nach ihren Gründen fragte, wussten sie nur zu sagen, ihre Götter hätten es ihnen befohlen.

Der dritte Zwischenfall - der einzige, den die Öffentlichkeit zur Kenntnis nahm - trug ernsteren Charakter. Eine etwa vierhundertköpfige Teenager-Schar hielt an der Peripherie von Söderhamn in Schweden ein Jazzfest ab. Eines Abends, ganz unversehens, kamen die Jugendlichen auf die Idee, die ansässige Bevölkerung zu überfallen. Sie strömten durch die Straßen der Kleinstadt, schlugen Schaufensterscheiben ein und plünderten die Läden. Das Ganze dauerte knapp eine Stunde. Als es vorbei war, lagen drei Tote auf dem Pflaster, und 142 Personen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Es war die Zeitungssensation Schwedens, wurde in Norwegen auf der ersten Seite berichtet, von der New Yorker Boulevardpresse recht groß aufgemacht und in der .Times' mit einer versteckten Notiz abgetan.

Mehrere gelehrte Artikel über die Probleme der Jugendkriminalität wurden veröffentlicht. Als Cockston an Bord der Queen Mary auf der Rückfahrt von New York einen dieser Artikel las, lächelte er.

Sechs Monate später, dreizehn Monate, nachdem George Harry Cockston jene einsame Perigord-Straße entlanggegondelt war, waren die Vorbereitungen abgeschlossen, und am ersten Juni fand man den verkrümmten Leichnam Colonel Thomas Mastersons im Grase neben der A5 zehn Kilometer nördlich von Dunstable.

Das Tempo wurde schneller: Das Werkzeug hatte sein zweites Einzelopfer ereilt.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Bill Tern langweilte sich - titanisch, kolossal, unvorstellbar. Mit säuerlicher Miene betrachtete er den Korb mit den Bergen eingelaufener Aktenstücke und sodann den ominös leeren Ablegekorb. Erbittert dachte er an die vielen Stunden, die er brauchen würde, um das Verhältnis umzukehren.

Mürrisch sah er sich in der Hundehütte um, die der Personalchef mit eherner Stirn als Büroraum zu bezeichnen wagte. Dann aber sagte er sich, dass das im Grunde ganz in Ordnung sei. Seit der verflixten Affäre mit dem Koffer war er in Ungnade gefallen und sozusagen auf den Hund gekommen. Damals hatte er sich frohen Gemütes eingebildet, wenn er erst einmal dem gestrengen Joe die Beute ablieferte, würde alles vergeben und vergessen sein, aber das war ein gewaltiger Irrtum gewesen. In den Augen Joe Ranks hatte Bill Tern einen allzu dicken Klecks in sein Schulheft gesetzt, einen Klecks, der noch keinerlei Anstalten machte, auch nur zu verblassen. Seine Aussichten, mit einem Auftrag losgeschickt zu werden, waren eigentlich heute nicht rosiger als vor sechs Monaten, nachdem man ihn schließlich hinter einen Schreibtisch gesperrt hatte.

Er war jung, sah gut aus, hatte ein vierkantiges, kraftvolles Gesicht, ein festes, streitlustiges Kinn. Seine langen Beine hatten keinen rechten Spielraum in dem engen Ausschnitt seines Schreibtisches. Sein Haar war schwarz und zerrauft, wie man es als Kennzeichen einer rebellischen Natur zu betrachten pflegte. Er war sichtlich nicht der Typ, der sich ohne weiteres in veraltete Kategorien eingliedern lässt.

Vor allem flößte er Vertrauen ein: männlich, entschlossen, selbstsicher, schien er so gar nicht in dieses dumpfe, prosaische Büromilieu hineinzupassen.

Ärgerlich langte er nach einem Aktendeckel, knallte ihn geöffnet auf den Schreibtisch und begann einen endlosen Bericht über neofaschistische Umtriebe in Italien zu lesen. Deutlich ging daraus hervor, a) dass der Verfasser nicht wusste, wovon die Rede war, b) dass er seinen Bericht wahrscheinlich in der nächstbesten Bar abgefasst und c) dass er ihn auf jeden Fall nur nach Hause geschickt hatte, uni dem Innenministerium den Mund zu stopfen. Bill Tern schrieb einen scharfen dreizeiligen Kommentar und warf dann die Akte in den Ablegekorb. Er verfehlte sein Ziel. Die Mappe fegte den ganzen Kram auf den Boden hinunter. Steifbeinig arbeitete er sich unter dem Schreibtisch hervor, ging nach hinten und hob die Papiere auf. Das war seit drei Tagen die erste Amtshandlung, die er durchführte, wenn man davon absah, dass er brav den Hosenboden abgenutzt hatte.

Der junge Mann, der jetzt hereinkam, war klein, ein bisschen dicklich und feierlich wie ein Leichenbestatter. Stephen Rowe nahm sich, die Welt und seine Pflichten sehr ernst. Frivolität aller Art betrachtete er als eine Todsünde, und da es eine lange Liste verschiedener Themen gab - von der Mutterliebe bis zur Regierung Ihrer Majestät, einschließlich solch unwahrscheinlicher Punkte wie der Verdauung klassischer Musik und Sex -, an denen er selten etwas Komisches finden konnte, war sein Sinn für Humor eng begrenzt. Er besaß ein erstaunliches Gedächtnis und einen guten analytischen Verstand, vorausgesetzt, dass kein unzulässig fremdartiger Faktor in die Gleichung mit einbezogen wurde, und in schöneren Tagen - das heißt, vor Bills Verbannung in die Hundehütte - war er Bills Assistent gewesen. Momentan war er zu seiner großen Zufriedenheit in der statistischen Abteilung beschäftigt, eine Tätigkeit, die, wie Bill insgeheim dachte, seiner Begabung besser lag. Er hatte ein rundes Mondgesicht und runzelte ewig die Stirn, voller Betrübnis über die böse Welt.

»Hallo, Steve, schieß los!«, sagte Bill Tern.

Stephens finstere Miene wurde noch um einen Grad finsterer. Bill Terns schlichte Bemerkung enthielt zwei schlimme Steine des Anstoßes: Jargon, den er als vulgär und, überflüssig betrachtete - es sei denn natürlich in der Domäne des Jazz, wo es überhaupt nichts anderes gab als Slang und sich jeder in einer für den Außenseiter völlig unbegreiflichen Weise ausdrückte - und den Namen Steve. Er empfand diese saloppe Abkürzung als einen Affront gegen den Geschmack seiner Eltern, die ihn Stephen getauft hatten. Außerdem fühlte er sich auf eine Stufe gestellt mit Jockeis und haarigen Rabauken, die zum Vergnügen kleine Vögel jagen. »Schieß los!«, wiederholte er in eisigem Ton.

Bill schüttelte zerknirscht den Kopf. »Was verschafft mir die Ehre deiner Gesellschaft? Hat sich in der weiten Welt etwas Besonderes ereignet?«

Diese elegante Ansprache schien Stephens Unwillen ein wenig zu mildern. Er geruhte, aus seiner Schale zu kriechen. »Ja, ich dachte, es würde dich interessieren, dass im zweiten Stock große Aufregung herrscht.«

»Was ist los? Hat Joe seinen üblichen Rappel?«

»Es scheint sich etwas Wichtiges ereignet zu haben«, sagte Stephen zögernd. »Kennst du Colonel Masterson?«

Bill schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Ich glaube, es handelt sich um ihn.«

»Inwiefern? Ist er ins Fettnäpfchen getreten?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls geht es hoch her und drunter und drüber.«

»Anders als in diesem verdammten Kabuff, das sich Büro - nennt!«, sagte Bill erbittert.

Stephen schielte selbstgerecht an seiner Nase entlang. »Wie ich schon öfters bemerkt habe, Bill - hättest du mich bei diesem fatalen Fall um Rat gefragt, dann wärst du nicht wegen einer vorübergehenden Neigung zu einer jungen Dame in eine äußerst heikle Lage geraten.«

Bill gönnte seinem früheren Assistenten einen äußerst missgünstigen Blick. »Ich habe schließlich und endlich meine Aufgabe durchgeführt, nicht wahr? Und wenn du von dem vorübergehenden Charakter der Neigung sprichst - woher sollte ich das wissen? Sie hat mich aufgefordert, mir einen anderen Beruf auszusuchen, und als ich mich weigerte, ist sie mir einfach weggelaufen.« Betrübt sah er sich in seinem engen Büro um. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich hier landen würde, hätte ich ihr vielleicht zugestimmt.«

»Eines Tages wirst du dahinter kommen, dass zwei schlanke Beine kein ausreichender Ersatz für einen soliden Verstand sind.«

»Weißt du, Stephen, ich möchte gerne die Frau sehen, die in deinen Augen eine ideale Partnerin ist.«

Stephen sah noch selbstzufriedener aus. »Das würde gar nicht so schwierig sein.«

»Heißt das, dass du dir eine angelacht hast?«, fragte Bill skeptisch.