Prof. Dr. Elisabeth Göbel lehrt an der Universität Trier und forscht zu den Themen Organisation, Neue Institutionenökonomik, Strategisches Management und Wirtschaftsethik. Sie studierte an der RWTH Aachen und an der Universität Tübingen. Dort war sie danach Assistentin am Lehrstuhl für Planung und Organisation bei Prof. Dr. F. X. Bea.

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ISBN 978-3-86764-753-3 (Print)

ISBN 978-3-7398-0214-5 (E-PUB)

ISBN 978-3-7398-0215-2 (EPDF)

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Inhalt

  1. Warum wir Moral in der Unternehmensführung brauchen
  2. Grundlagen der Ethik
  3. Gibt es eine Verantwortung des Unternehmens?
  4. Die Stakeholder als Adressaten der Unternehmensverantwortung
  5. Ethische Grundlagen für die Bewertung von Stakeholderanliegen
  6. Die strategische Option einer Konfliktentschärfung
  7. Die innerbetrieblichen Institutionen
  8. Überbetriebliche Institutionen
  9. Fazit

1 Warum wir Moral in der Unternehmensführung brauchen

1.1 Die Forderung nach mehr Moral in der Unternehmensführung ist populär

Im Oktober 2010 hat der Deutsche Bundestag einen „Aktionsplan CSR“ verabschiedet, welcher zu mehr „Corporate Social Responsibility“ (CSR), also sozialer Verantwortung der Unternehmen führen soll. Ende 2011 beschloss die EU eine „neue Strategie“ zur forcierten Umsetzung von CSR in den Unternehmen der Europäischen Union. Ende 2012 wurde vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden eine „Ermutigung für Führungskräfte in der Wirtschaft“ veröffentlicht (Turkson/Toso [Unternehmer]). Sie fordert die Führungskräfte auf, die Unternehmensführung stärker entsprechend den moralischen Prinzipien der Würde der Person und des Gemeinwohls zu gestalten und sich als Führungskraft vom Ethos einer „dienenden Führung“ leiten zu lassen.

Nun mag man Kirchenvertreter und Politiker noch zu den „üblichen Verdächtigen“ rechnen, welche in wohlfeilen Sonntagsreden leicht mehr Moral einfordern können, ohne dieser Forderung im harten Unternehmensalltag nachkommen zu müssen. Längst ist die Forderung nach mehr Moral aber auch bei den wirtschaftsnahen Institutionen und in der Wirtschaft selbst angekommen. Das Handelsblatt titelt im Mai 2012 mit einem wirtschaftskritischen Interview des Kardinals Reinhard Marx, welcher die Konzentration auf die Kapitalrendite eine „Verirrung“ nennt. Die FAZ weist in ihrer Beilage „Beruf und Chance“ vom August 2012 darauf hin, dass Unternehmen händeringend nach Absolventen suchen, die über Kompetenzen im Bereich CSR verfügen. Befragungen von Studierenden der Wirtschaftswissenschaften haben ergeben, dass zwei Drittel von ihnen Wirtschafts- und Unternehmensethik als Pflichtfach in ihrer Ausbildung begrüßen würden. Noch erstaunlicher: Nach einer Unternehmensbefragung der IW Consult von 2011 fordern Unternehmensvertreter ein solches Pflichtfach sogar zu 90%!

Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat darauf reagiert und im November 2012 eine „Akademie für integres Wirtschaften“ (IW Akademie) gegründet. An den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten wird es zum Normalfall, dass auch Veranstaltungen zur Unternehmens- und Wirtschaftsethik angeboten werden. Große Unternehmensberatungen haben CSR als neuen Markt entdeckt und preisen CSR-Beratungen und Zertifikate an, welche den Unternehmen moralische Integrität attestieren sollen. In seltener Einmütigkeit fordern Politiker aller Couleur, Kirchenvertreter wie Gewerkschaftler, Medien, die verschiedensten Institutionen der Zivilgesellschaft, Studierende und Wirtschaftsvertreter: Wir brauchen mehr Moral und Ethos in der Unternehmensführung sowie eine Verankerung der Wirtschaftsethik in der Ausbildung künftiger Führungskräfte.

Man kann sich natürlich fragen, warum gerade heute die Forderung nach mehr Moral (und Ethos) in der Wirtschaft so populär geworden ist und Bücher, Seminare und ganze Studiengänge zur Wirtschafts- und Unternehmensethik angeboten werden, während man früher belacht oder sogar angefeindet wurde, wenn man sich als Ökonom mit Wirtschaftsethik beschäftigt hat. Wie ist das zu erklären?

1.2 Der Markt als Ersatz für Moral?

Lange Zeit waren sich die Vertreter der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaften einig, dass man sich über Moral in den Unternehmen keine Gedanken machen muss. Nicht, weil man Moral im Allgemeinen für überflüssig gehalten hätte, sondern weil für die Wirtschaft der Marktmechanismus ein vollwertiger Ersatz für moralische Bedenken zu sein schien. Die Überzeugung war: Im Rahmen einer Marktwirtschaft ist die Verfolgung des Eigeninteresses das einzige Gebot. Adam Smith gab 1776 mit seiner berühmten These von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes dafür die Vorlage:

„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“ (Smith [Wohlstand]17).

1970 wurde diese These noch einmal durch den Nobelpreisträger Milton Friedman populär, der postulierte, es gäbe nur eine soziale Verantwortung der Unternehmen, nämlich die, ihre Gewinne zu steigern. Der Markt, so der feste Glaube, würde ganz von selbst für eine effiziente Nutzung knapper Ressourcen, eine bestmögliche Versorgung mit Gütern und gerechte Preise und Löhne sorgen und so das Gemeinwohl steigern. Eine moralische Haltung der Wirtschaftsakteure, insbesondere der Unternehmer, schien dagegen überflüssig, im Grunde sogar schädlich.

Und lange Zeit schien das ja auch zu klappen. Vor allem im Vergleich mit den zentralen Verwaltungswirtschaften (bspw. in der ehemaligen DDR) waren die Vorteile der Marktwirtschaft offensichtlich. Erste Zweifel an der wohltätigen Wirkung des Marktes wurden seit den 1970er Jahren vor allem von Seiten der Umweltschützer geäußert, die auf die schädlichen externen Effekte unserer Wirtschaftsweise und die Grenzen des Wachstums hinwiesen. Mit dem Brundtland-Bericht von 1987 wurde die Forderung populär, die Wirtschaft solle sich stärker dem Gedanken der ökologischen Nachhaltigkeit verpflichten. Von sog. Dritte-Welt-Gruppen wurde auch schon früh an Kinderarbeit, schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen in den Entwicklungs- und Schwellenländern Kritik geübt. Aber erst seit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise der allgemeine Wohlstand nicht mehr wächst, viele Menschen ihre Ersparnisse durch Spekulanten verloren haben, Millionen Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, Banken mit enormen Summen an Steuergeldern gerettet werden müssen, die Jugendarbeitslosigkeit in der EU Rekordzahlen erreicht, vielen Ländern der finanzielle Kollaps droht und die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer wird, ist der Glaube an die heilsamen Marktkräfte in breiten Kreisen der Bevölkerung erschüttert. Nach einer Allensbach-Umfrage von 2010 halten nur noch 38% der deutschen Bevölkerung die Marktwirtschaft für ein gutes Wirtschaftssystem, wobei vor allem die soziale Ungerechtigkeit angeprangert wird. Nur 21% der Menschen empfinden die wirtschaftlichen Verhältnisse als gerecht. Dass allein aus den Gewinnmaximierungsinteressen der Unternehmer von selbst das größte Gemeinwohl erwächst, wird immer mehr angezweifelt.

1.3 Warum der Marktmechanismus nicht reicht

In jüngster Zeit ist Kritik an der Marktwirtschaft populär geworden. Dabei war eigentlich schon immer klar, dass der reale Markt gegenüber den Idealmodellen der Ökonomen Defizite aufweist. Die ausschließlich wohltätige Wirkung des Marktes funktioniert nämlich nur in einer fiktiven Idealwelt. Zu den Funktionsbedingungen des idealen Marktes gehören die vollkommene Transparenz, der vollkommene Wettbewerb und das Fehlen von Marktbenutzungskosten, auch Transaktionskosten genannt. Weil jeder Marktteilnehmer über alle Bedingungen des Tausches vollständig und richtig informiert ist und jederzeit und kostenlos auf andere Anbieter bzw. Nachfrager ausweichen kann, funktioniert die sog. Marktkontrolle vollkommen. Betrug oder Ausnutzung von Macht können nicht vorkommen. Externe Effekte sind ausgeschlossen, weil alles im wohldefinierten Privateigentum von irgendjemand ist und auf Märkten gehandelt werden kann. Will ein Unternehmer bspw. bei der Produktion Lärm oder Dreck erzeugen, muss er die Rechte dazu von den Betroffenen, bspw. den Anwohnern, kaufen. Sämtliche Auswirkungen der Produktion gehen so in seine Kalkulation ein und spiegeln sich im Preis wieder. Der Preis ist ein zuverlässiges Signal für die Knappheit einer Ressource. Knappe und somit teure Ressourcen werden sparsam eingesetzt. Zugleich werden die dringlichsten Bedürfnisse zuerst befriedigt, denn auch die Dringlichkeit eines Bedürfnisses zeigt sich im Preis. Der reale Markt ist von dieser Idealwelt jedoch weit entfernt.

Beispiel: In China werden in manchen Großstädten die Menschen schon davor gewarnt, ihre Wohnungen zu verlassen und die mit Feinstaub verschmutzte Luft draußen einzuatmen. Gleichzeitig verweist man mit Stolz auf die ständig wachsenden Zulassungszahlen bei den privaten PKWs.

Beispiele: Der Verkauf von Drogen ist bei uns verboten, der Verkauf von Waffen streng reglementiert.

Beispiel: Die Käufer von „sauberen“ Dieselautos wurden vorsätzlich darüber getäuscht, wie hoch der Schadstoffausstoß ihres PKW tatsächlich ist.

Beispiel: Die wachsende Zahl von prekären Arbeitsverhältnissen legt Zeugnis ab von den asymmetrischen Machtverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt.

Beispiel: Apotheker und Krankenhäuser klagen über immer größere Versorgungslücken bei gut wirksamen Medikamenten, die von den Pharmafirmen nicht mehr bereitgestellt werden, weil sie nicht mehr rentabel genug erscheinen, bzw. für die es Lieferprobleme gibt, weil sie aus Kostengründen nur noch in einem Werk hergestellt werden.

Beispiel: In Deutschland werden immer mehr schwere Geländewagen verkauft, obwohl sie mit ihrem sehr hohen Spritverbrauch sicherlich zur Verschwendung knapper Ressourcen beitragen.

Beispiel: Wegen illegaler Preisabsprachen mussten vier Lastwagenhersteller 2016 fast drei Milliarden Euro Strafe zahlen.

Die oben genannten Beispiele für Probleme der Marktwirtschaft sollten ausreichen, um zu zeigen, dass die Formel: „Eigennutz der Wirtschaftsakteure + Marktwirtschaft = Gemeinwohl“ so ganz nicht aufgeht. Jenseits der alltagsfernen Modellwelten der Ökonomen werden alle diese Probleme ja auch schon lange akzeptiert und schlagen sich in einem ausgefeilten Regelsystem nieder, in welches die Marktwirtschaft eingebettet ist. Die „freien“ Marktwirtschaften sind tatsächlich hochgradig reguliert, um die Marktdefizite aufzufangen.

Beispiele: Umweltschutzgesetze sollen die Ausbeutung öffentlicher Güter unterbinden. Der Verkauf von Waffen ist an strenge Auflagen gebunden. Zahlreiche Gesetze verpflichten die Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur Offenlegung von Informationen. Arbeitsschutzgesetze verhindern inhumane Arbeitsbedingungen, die Gegenmachtbildung der Arbeitnehmer in Gewerkschaften wird vom Staat unterstützt. Jedem wird über die Sozialhilfe ein Mindestlebensstandard garantiert. Wo der Markt als Versorger ausfällt, springt der Staat mit eigenen Angeboten ein. Knappe Ressourcen werden durch zusätzliche Steuern teurer gemacht, damit der Markt die Knappheit erkennt. Eine Kartellbehörde versucht, die Marktmacht der Unternehmen unter Kontrolle zu behalten und Absprachen zur Einschränkung des Wettbewerbs zu unterbinden.

Ist durch eine solche staatlich regulierte Marktwirtschaft die gemeinwohlfördernde Wirkung unternehmerischer Tätigkeit gesichert? Diese These vertritt zumindest die „Moralökonomik“. Ihre Vertreter sehen den systematischen Ort für Korrekturen unerwünschter Marktergebnisse in der gesetzlichen Rahmenordnung. Denn – so ihr Hauptargument – einzelne Unternehmen könnten es sich in einer Marktwirtschaft bei Strafe des Ruins nicht leisten, freiwillig höheren moralischen Standards zu folgen als die Wettbewerber. Die weniger bedenklichen Konkurrenten würden ein solches Verhalten sofort zu ihren Gunsten ausnutzen. Es sei also nur mit der Markwirtschaft kompatibel, den für alle verbindlichen gesetzlichen Rahmen zu verschärfen. Appelle an die individuelle Moral der Wirtschaftsakteure, vor allem der Unternehmer, seien verfehlt und altmodisch. In einer gesetzlich regulierten Marktwirtschaft wird das „geradezu unbändige Streben nach individuellen Vorteilen“ zum „sittlichen Imperativ“ (Homann [Ethik] 18), die Gewinnmaximierung für Unternehmen zur moralischen Pflicht (vgl. Homann/Blome-Drees [Unternehmensethik] 24). Durch die Einbettung des Marktes in eine ausgefeilte Rahmenordnung scheint seine gemeinwohlfördernde Wirkung gesichert, während man auf die Individualmoral der Wirtschaftsakteure weiterhin getrost verzichten kann und das Verfolgen der eigenen Interessen zur (einzigen) Pflicht macht.