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Björn Daniel Vieten

Lockheed L-1011 TriStar

Das fortschrittlichste Flugzeug seiner Zeit


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Die Entstehungsgeschichte eines Großraumflugzeugs

Die Entstehungsgeschichte eines Großraumflugzeugs

Die historische Ausgangslage und die ersten Impulse

Als der kalifornische Flugzeughersteller Lockheed im Jahr 1966 die konzeptionelle Arbeit an einem von großen Mantelstromtriebwerken angetriebenen Mittel- und Langstreckenflugzeug aufnahm, zielte das Traditionsunternehmen aus Palmdale auf nichts Geringeres als die Entwicklung des modernsten und technisch fortschrittlichsten Flugzeugs seiner Zeit. In einem Jahrzehnt, das für die im Kalten Krieg mit der Sowjetunion befindlichen USA mit der Mondlandung ihren technologischen und ideologischen Höhepunkt fand und in dem der Glaube an Technologie und Fortschritt eine tragende Säule in der Weltanschauung der gesamten westlichen Welt war, noch immer eine ambitionierte, aber dennoch insgesamt passende, Zielsetzung.

Von Beginn an arbeitete Lockheed hierzu konzeptionell an einer Maschine, die als Großraumflugzeug mit zwei Gängen zwischen den Passagiersitzen ausgelegt sein sollte. Solche Flugzeuge exisitierten bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich auf Papier und auch die Flugzeugtypen die den Markt seinerzeit dominierten, verfügten über nur einen Gang in einer Kabine mit rund 3,5m Durchmesser. Bis die Großraumflugzeuge Anfang der 1970er Jahre eine zweite Revolution in der internationalen Verkehrsluftfahrt auslösen sollten, ganz so, wie es rund anderthalb Jahrzehnten zuvor der ersten Generation jetgetriebener Verkehrsflugzeuge, insbesondere der DC-8 von Douglas und der 707 von Boeing, schon einmal gelungen war, war aus Sicht des Jahres 1966 noch sehr viel grundlegende Pionierarbeit zu leisten. In den folgenden Jahren wurde diese fast vollständig von nur drei Unternehmen, Boeing, Lockheed und McDonnell Douglas, gestemmt.

Die Ausgangslage für die Entwicklung und den Bau eines zivilen Verkehrsflugzeugs mit sehr großem Rumpfdurchmesser war bis etwa Mitte der 1960er Jahre also noch sehr schwierig: Der technologische Erfahrungsschatz der gesamten westlichen Luftfahrtindustrie im Bezug auf die Entwicklung und den Bau von sehr großen Flugzeugen beschränkte sich auf einige verworfene zivile Konzepte und der planerischen Arbeit an der Lockheed C-5A Galaxy, dem später ersten Großraumtransportflugzeug der amerikanischen Luftstreitkräfte, welches am 30. Juni 1968 erstmals flog.

Die Planung für dieses noch heute so unglaublich dominant wirkende Flugzeug regte aber wohl schon zu dieser Zeit die Phantasie der zivilen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der großen Flugzeugbauer an. Nicht zuletzt auch, da der späteren Realisierung des Projekts C-5A Galaxy ein langwieriger und hart geführter Bieterwettstreit vorausging, der primär zwischen Lockheed, Boeing und Douglas ausgefochten wurde und über den in der amerikanischen Presse intensiv berichtet wurde. Anfangs hatten sich zusätzlich auch noch die Hersteller General Dynamics und Martin-Marietta um den Auftrag bemüht. Diese schieden jedoch schon in der frühen Entwicklungsphase aus. Schlussendlich gelang es Lockheed sich gegen die Konkurrenzentwürfe durchzusetzen, wofür wohl weniger die technische Überlegenheit des Entwurfs den Ausschlag gegeben hatte, sondern der deutlich günstigere Stückpreis der Flugzeuge. So ging die C-5A Galaxy ab Oktober 1965 in Produktion und wurde ab 1970 in Dienst gestellt.

 

Abbildung : Eine Lockheed C-5A Galaxy des 75. Military Airlift Squadron des 60. Military Airlift Wing, aufgenommen über der Küste von Kalifornien.

 

Aus heutiger Sicht hat sich das Flugzeug in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer waren Ikone entwickelt. Die C-5A und ihre Nachfolgerin C-5B wurden vor gut einem Jahrzehnt in großer Stückzahl zu C-5M Super Galaxies aufgerüstet. In dieser Ausbaustufe übernehmen sie seit 2006 bei der United States Air Force und bei der United States Air National Guard strategische Transportaufgaben, bis hin zu Spezialaufgaben wie dem Satellitentransport für die NASA und werden wohl noch für lange Zeit mit ihrem 75,31m langen Rumpf, 67,89m Spannweite und einem herausragendem Wiedererkennungswert für Aufsehen sorgen. Neben den ausgezeichneten Flugleistungen bietet die Maschine mit ihrem riesigen Rumpf mit einer Kabinenweite von 5,79m bei einer Höhe von 4,11m und ihren leistungsstarken Triebwerken die Option, sehr große Nutzlasten auf sehr langen Routen zu transportieren. Es ist kaum vorstellbar, wie die Planung eines solchen Flugzeugs im Jahr 1965, selbst in den damals extrem forschrittsgläubigen USA, auf die Öffentlichkeit und Luftfahrtinteressierte gewirkt haben muss, bedenkt man, dass etwa die 1961 von John F. Kennedy georderten Transportflugzeuge des Typs Lockheed C-141 Starlifter (Erstflug 17. Dezember 1963) bei einem Rumpfquerschnitt von 3,32m, einer Länge von 51,3m und einer Spannweite von 48,8m für die damalige Zeit herausragende Transportkapazitäten zur Verfügung stellten. Auch die legendäre Lockheed C-130 Hercules (Erstflug 23. August 1954), ein „Dauerbrenner“ der Luftfahrtindustrie den der Rüstungskonzern Lockheed-Martin seit den 1950er Jahren fertigt und noch immer in signifikanten Stückzahlen in modernisierter Form ausliefert, verfügt über dieses Kabinenmaß.

 

Abbildung : Lockheed C-141B-10-LM Starlifter (Seriennummer 63-8085, c/n 300-6016), aufgenommen im Oktober 1984. Dieses Flugzeug wurde später zu einer C-141C aufgerüstet und 2003 bei AMARC abgestellt.

 

Dieser kleine Exkurs in den Bereich des strategischen Lufttransports zeigt, dass bis zur Ankündigung Lockheeds ein ziviles Großraumflugzeug bauen zu wollen, weltweit noch kein solches Flugzeug im Bau befindlich war, auch nicht im militärischen Bereich oder hinter dem Eisernen Vorhang. Betrachtet man vor diesem Hintergrund, welch ambitionierte Ziele Lockheed für sein neues Flugzeug bereits 1966 kommunizierte, also das Erreichen der modernsten technologischen und konstruktionstechnischen Ausstattung aller am Markt befindlicher Flugzeuge, so erhält man ein Wenig einen Eindruck von dem technologischen und unternehmerischen Risiko, aber auch vom Mut den Lockheed aufbringen musste, um ein solches Projekt überhaupt auch nur konkret in Betracht zu ziehen. Ein wesentlicher Baustein des Entwicklungsprojekts für ein ziviles Großraumflugzeug zu dieser Zeit musste also zwangsläufig und aus aus zweierlei Gründen aus grundlegender Forschung- und Entwicklungsarbeit bestehen: Zum Einen, da schlicht noch so gut wie keine Erfahrung mit Großraumflugzeugen vorhanden war und zum Anderen, da Lockheed sich mit der Aussage, das beste und fortschrittlichste Flugzeug der Welt bauen zu wollen Ziele gesetzt hatte, die mit schlichter Neukombination vorhandener Methoden, Fertigungstechniken und Systeme nicht zu erreichen war.

 

Abbildung : Eine Lockheed C-130J Hercules des 146. Airlift Wing der Air National Guard im Flug entlang der Küste der Insel Santa Cruz vor Kalifornien, aufgenommen im Jahr 2006.

 

Fokussiert man die Beschreibung einer Ausgangslage bei Entwicklungsstart des Lockheed TriStar speziell auf Lockheed, so muss man rückblickend feststellen, dass die technologische Ausgangssituation des Herstellers im zivilen Flugzeugbau durch das Verpassen einiger wesentlicher Entwicklungen in der Zeit vor 1966 nicht unerheblich belastet war: Aus heutiger Sicht hatte der Flugzeugbauer aus Palmdale eine viel zu lange Zeit an der Kolbenmotorentechnologie für den Antrieb von Passagier- und Frachtflugzeugen festgehalten: Während Boeing und Douglas mit den jetgetriebenen Baureihen 707 und DC-8 in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein dramatisches und überwiegend selbst induziertes Nachfragewachstum am westlichen Markt und im speziellen in Nordamerika und Westeuropa befriedigten, was wiederum eine wahrhaft revolutionäre Entwicklung der Passagierzahlen nach sich zog, versuchte Lockheed bis in die späten 1950er Jahre hinein mit den konventionell motorisierten Baureihen Constellation und Starliner weiterhin Marktsegmente auf Mittelstrecken und Langstrecken zu besetzen.

Statt danach ebenfalls in den Markt der jetgetriebenen Mittel- und Langstreckenflugzeuge einzusteigen und mit der 707 und der DC-8 in Konkurrenz zu treten, überließ man den zwischenzeitlich scheinbar übermächtig gewordenen Konkurrenten Boeing und Douglas dieses so wichtige und prestigeträchtige Marktsegment quasi kampflos. So gilt der Lockheed L-1649A Starliner (Einsatzbeginn 1957) gemeinsam mit der DC-7C Seven Seas von Douglas (Einsatzbeginn 1956), als der technische Höhepunkt der Entwicklung der kolbenmotorgetriebenen Langstreckenluftfahrt - gleichzeitig aber auch als ihr abrubtes Ende, denn mit Verfügbarkeit der Jets waren die Großflugzeuge mit der unterlegenen Antriebstechnologie de facto nahezu unverkäuflich. Dies traf Lockheed dabei deutlich härter als den Konkurrenten Douglas, da der Flugzeughersteller aus Kalifornien mit der DC-8-10 und ihren Nachfolgemodellen etwa zur gleichen Zeit schon sehr erfolgreich im Markt der Mittel- und Langstreckenflugzeuge mit Jetantrieb aktiv wurde, während Lockheed kein solches Modell im Portfolio hatte.

 

Abbildung : Als Boeing und Douglas bereits in großen Stückzahlen ihre jetgetriebenen Mittel- und Langstreckenflugzeuge absetzte, hatte Lockheed im zivilen Bereich noch immer lediglich von Kolbenmotoren getriebene Flugzeuge im Angebot, wie die hier abgebildete VH-EAG, eine Lockheed L-1049F Super Constellation (msn 4176) mit Baujahr 1955.

 

Abbildung : Die Boeing 707, hier N451PA, eine 707-321C von Pan Am (msn 19273), löste zusammen mit der DC-8 von Douglas die erste große Revolution am westlichen Luftfahrtmarkt aus. Dieses Flugzeug wurde 1967 gebaut und flog bis zum Jahr 2000 bei Iran Air und später bei AECA Carga aus Equador.

 

Abbildung : Als Lockheed noch von Kolbenmotoren angetriebene Flugzeuge baute, verkauften Boeing und Douglas ihre 707 und DC-8 fast schneller, als sie überhaupt Flugzeuge bauen konnten. Hier abgebildet ist N805PA, eine DC-8-33 von Pan Am mit Baujahr 1960 (msn 45258). Diese Maschine wurde 1977 zu einem Frachtflugzeug konvertiert und flog in dieser Rolle noch bis 1985, unter anderem für Concord International und Rosenbalm Aviation. Die vorliegende Aufnahme stammt aus dem Jahr 1965.

 

Durch diese strategische Entscheidung überließ Lockheed den Konkurrenten Douglas und Boeing nicht nur widerstandslos den wohl wichtigsten, prestigeträchtigsten und lukrativsten Bereich des Marktes, nämlich die Mittel- und Langstrecke, zusätzlich verlor der Hersteller auch den Kontakt zu vielen wichtigen technologischen Neuerungen die für die jetgetriebene Luftfahrt notwendig wurden. So konnte man etwa von Seiten Lockheed keine Erfahrungen im Einsatz und Dauerbetrieb der neuen Antriebstechnologie sammeln. Daneben veränderten die Reichweite, die Geschwindigkeit und die Zuverlässigkeit der DC-8 und der 707 immer mehr Verfahren und Prozesse in der Luftfahrt, die ihrerseits wiederum Einfluss auf die technische Ausstattung der Flugzeuge, beispielweise in den Bereichen Kommunikation und Navigation, nahmen. Kurzum: Lockheed hatte sich durch einen strategischen Fehler auf dem Mittel- und Langstreckensektor ab etwa Mitte der 1950er Jahre ins technologische Abseits manövriert und nahm an vielen Entwicklungen der Industrie in diesem Marktsegment nur noch am Rande oder überhaupt nicht mehr teil.

Tatsächlich bezog sich der dargelegte technologische Rückstand von Lockheed aber beinahe ausschließlich auf dieses Marktsegment und nicht auf alle Bereiche des Flugzeugmarkts. Ganz im Gegenteil: In anderen Bereichen war Lockheed stets im führenden Bereich und an vorderster technologischer Front aktiv, auch und insbesondere im fraglichen Zeitraum. So baute das Unternehmen aus Palmdale seinerzeit an seinen verschiedenen Standorten hochmoderne Kampfjets, wie den ultra-schnellen und sehr hoch fliegenden F-104 Starfighter, das sehr hoch fliegende Spionageflugzeug U-2 und seinen indirekten Nachfolger, der schier unglaubliche Lockheed SR-71 Blackbird, das bis heute schnellste Flugzeug der Welt. Alle genannten Maschinen stammen aus der Feder der Luftfahrtlegende Clarence „Kelly“ Johnson, der in führender Rolle für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Lockheed arbeitete, aus der später die noch heute legendären „Skunk Works“ hervorgingen.

 

Abbildung : Der rund 2.200km/h schnelle Lockheed F-104 Starfighter, hier eine F-104C, wurde in mehr als 2.500 Einheiten gefertigt, teilweise auch in Lizenz. Er zählte in den 1960er und 1970er Jahren zu den schnellsten Abfangjägern der Welt und war ein wesentlicher Baustein in der Luftkampfstretgie der NATO.

 

Abbildung : Die Lockheed U-2 ist ein bis heute eingesetztes Spionageflugzeug, welches durch den Abschuss von Francis Gary Powers am 1. Mai 1960 bei Swerdlowsk in der damaligen Sowjetunion geopolitische Bedeutung erlangte.

 

Abbildung : Wenn es um aktuelle Luftfahrtrekorde zu Geschwindigkeit und Höhe geht, führt kein Weg am SR-71 Blackbird vorbei. Die hier abgebildete Maschine ist ein SR-71B Trainer (Doppelsitzer) der NASA, aufgenommen über der Sierra Nevada im Jahr 1994. Auffällig auf der Flügeloberseite die charakteristischen undichten Treibstofftanks aus denen in niedrigen Höhen und bei nicht allzu hohen Geschwindigkeiten stets Treibstoff austrat.

 

Wie bereits erwähnt, baute Lockheed mit der C-130 und der C-141 daneben weiterhin unterschiedlich angetriebene militärische Transportflugzeuge. In vielen dieser Bereiche lotete das Unternehmen neue Grenzen aus und verschob diese und ganz nebenbei sammelte man so auch wertvolle Erfahrung im Einsatz von modernen Turbojet- und Turbofantriebwerken, wie dem TF-33 von Pratt & Whitney an der C-141, einer militärischen Variante des JT3D wie es auch an der Boeing 707 und der Douglas DC-8 eingesetzt wurde, allerdings konsequent abseits der kommerziellen Mittel- und Langstreckenluftfahrt.

Weitere Erfahrungen im Bereich der jetgetriebenen Passagierluftfahrt erarbeitete sich Lockheed in den 1960er Jahren auch durch die Teilnahme an der aufsehenerregenden Ausschreibung der US-Regierung für ein Passagierflugzeug mit Überschallgeschwindigkeit, dem Super Sonic Transport, kurz SST, mit der Lockheed L-2000. Die Planungen im Hause Lockheed waren schon recht weit vorangeschritten als das Projekt wegen überbordender Entwicklungskosten, fundamentaler Veränderungen am Flugzeugmarkt und auch aufgrund von Widerstand in der Bevölkerung gegen mögliche Überschallknalls in der Nähe von Siedlungen von Seiten der Regierung aufgegeben wurde. Während dieses, in den 1960er Jahren lange Zeit als die einzig denkbare Zukunft der Luftfahrt verkannte, Marktsegment nie wirklich etabliert wurde, trug Lockheed erheblich an ganz anderer Stelle dazu bei, einen neuen Bereich für die kommerzielle Luftfahrt zu erschließen: Die jetgetriebenen Geschäftsluftfahrt. Lockheed hatte hierzu Mitte der 1950er Jahre ein vierstrahliges Kleinflugzeug entworfen, mit dem man eine neu erkannte Marktlücke auf dem nordamerikanischen Markt zu schließen versuchte: Ein Flugzeug mit einer kleinen Transportkapazität, aber einer mittleren bis großen Reichweite bei exklusiver Kabinenausstattung. Diese Idee war die Grundlage für den Lockheed L-1329 JetStar.

Etwa zur gleichen Zeit arbeitete Lockheed an einem Kurz- und Mittelstreckenflugzeug mit mittlerer Kapazität, der L-188 Electra. Dieses Flugzeugmuster stellte für Lockheed technologisch den etwas inkonsequent umgesetzten Versuch eines Übergangs im zivilen kommerziellen Flugzeugbau von der Kolbenmotorentechnologie in das Jetzeitalter dar, da man anstelle der zu jenem Zeitpunkt bereits verfügbaren Turbojettriebwerke auf Turbopropantriebssysteme setzte. Beide Flugzeuge, sowohl der Lockheed L-1329 JetStar als auch die L-188 Electra, hatten sicher einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung des ersten Großraumflugzeugs aus dem Hause Lockheed, dem L-1011 TriStar. Daher im Folgenden eine jeweils kurze Vorstellung dieser beiden Muster.

 

Der Lockheed L-1329 JetStar

Die Aussage, der JetStar habe ein neues Marktsegment in der Passagierluftfahrt eingeführt, die kommerzielle Geschäftsluftfahrt mit Jetantrieb, ist aus rein kommerzieller Sicht betrachtet tatsächlich zu vertreten: Das Muster war das erste Flugzeug, das in diesem Marktsegment einen kommerziellen Erfolg erzielen konnte und dessen Einsatzzweck auch langfristig primär zivil und geschäftsmäßig blieb.

Aus historischer Sicht betrachtet ist die Aussage allerdings nicht ganz unumstritten, da das erste Flugzeug überhaupt mit vergleichbaren Eigenschaften die französischen Morane-Saulnier MS-760 mit Erstflug am 26. Juli 1954 war. Der französische Hersteller sah für das Geschäftsflugzeug deutliche Marktpotenziale in den USA, weshalb er 1955 eine Kooperation mit Beech Aircraft einging um die MS-760 auch in Nordamerika zu vermarkten. Der angestrebte kommerzielle Erfolg dieser Kooperation blieb jedoch aus und die gemeinsamen Aktivitäten der Unternehmen wurden nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Insgesamt wurden 165 MS-760 in unterschiedlichen Versionen gefertigt. Die sehr kleinen zweistrahligen Flugzeuge brachten es bei einer maximalen Startmasse von unter vier Tonnen auf eine Höchstreichweite von bis zu 1.850km. Maximal vier Reisende konnten mit der MS-760 an ihr Ziel gelangen. Entgegen der ursprünglichen Planung sollte ihr überwiegender Einsatzzweck die Pilotenausbildung bei den französischen Luftstreitkräften werden. In diesem Bereich wurde die Maschine in mehreren Versionen über Jahrzehnte eingesetzt. Letzter bekannter signifikanter Nutzer des Musters war die argentinische Luftwaffe, die einige MS-760 bis zum Jahr 2007 eingesetzt haben soll. Aufgrund der geringen Verbreitung und des überwiegend militärischen Einsatzprofils der MS-760 ist es durchaus möglich, dieses Flugzeug im Bezug auf die Begründung des zivilen, kommerziellen Marktsegmentes ein wenig aussen vor zu lassen.


Abbildung : Die Morane-Solnier MS-760 war zwar das erste jetgetriebene Geschäftsreiseflugzeug am Markt, allerdings blieb ihr kein signifikanter kommerzieller Erfolg beschieden. Hier abgebildet ist die 88. gefertigte MS-760 mit Baujahr 1960, heute als N760JS registriert.


Die Entwicklungsgeschichte des Lockheed JetStar ist bewegt und weitgehend dominiert von der Eigeninitiative des Herstellers, gepaart mit wechselnden externen Einflüssen: Mitte der 1950er Jahre startete Lockheed ohne Kundenauftrag ein Entwicklungsprogramm zum Bau eines jetgetriebenen Flugzeugs in der Klasse um 20t Startmasse. Ziel war es, auf eine Kapazität für rund acht bis zehn Passagieren und eine Reichweite von 4.000 bis 5.000km zu kommen. Dies verdeutlicht, dass Lockheed von Anbeginn der Planungen für den L-1329 JetStar, ein im Verhältnis zur MS-760 deutlich größeres und leistungsstärkeres Flugzeug plante und im Bereich der Reichweite transkontinentale Fähigkeiten in Nordamerika anstrebte.

Die Arbeiten am JetStar hatten Anfangs tatsächlich noch einen rein studienartigen Charakter, wurden dann aber rasch intensiviert als die United States Air Force eine Anforderung für ein neues, schnelles und recht kleines Transportflugzeug unter den potenziell geeigneten Herstellern streute, auf die das bisherige Konzept von Lockheed sehr gut passte. Konkret handelte es sich hierbei um das Projekt UCX (Utility Transport Experimental). Die Ingenieure des Herstellers begannen daraufhin unmittelbar damit, das bis dorthin verfolgte Konzept Weiterzuentwickeln und auf eine hybride Nutzung – als Transport- und Stabsmaschine im militärischen Bereich – und – nach Vorbild der MS-760 – auch im zivilen Sektor, auszurichten. Kelly Johnson erhielt den Entwicklungsauftrag und binnen nur 241 Tagen entwickelte er mit seinem Team die zweistrahlige CL-329 JetStar, ein kleiner und leichter Tiefdecker für bis zu 14 Fluggäste oder knapp mehr als zweieinviertel Tonnen Nutzlast. Mit gepfeilten Flügeln und gepfeiltem Leitwerk und den Triebwerken am Heck des Rumpfs, war dem Team von Kelly Johnson ein innovativer Vorgriff auf eine Flugzeugkonstruktion gelungen, die erst einige Jahre später im zivilen kommerziellen Flugzeugbau wieder aufgegriffen wurde: Die deutlich später und erheblich größer konstruierten Vickers VC-10 aus Großbritannien und Ilyushin IL-62 verfügten ebenfalls über einen aerodynamisch „sauberen“ Flügel, also ohne die Störeinflüsse von darunter in Gondeln montierten Triebwerken, der auf diese Weise einen bisher ungekannten Wirkungsgrad erzielen konnte.


Abbildung : Die Vickers VC-10, hier die 1964 gebaute G-ARVJ der BOAC, eine VC.10 1101, stellt gemeinsam mit der Ilyushin IL-62 das größte zeitgenössische Flugzeugdesign mit aerodynamisch „sauberen“ Flügeln dar.


Im Bereich des Antriebs setzte Johnson auf das britische Bristol Orpheus 1/5 Mantelstromtriebwerk mit rund 4.900lb Schub, welches im Rahmen einer Serienproduktion der CL-329 beim US-Hersteller Wright in Lizenz produziert werden sollte. In dieser Konfiguration wurden zwei Testflugzeuge gebaut und die erste dieser beiden Maschinen hatte am 4. September 1957 ihren Erstflug.

Flugzeug und Triebwerk zeigten sehr zufriedenstellende Leistungsmerkmale während der Flugerprobung und Lockheed hätte, ausgehend von den erzielten technischen Eigenschaften des Flugzeugs, sehr positiv in die Zukunft blicken können. Doch leider entwickelten sich just zur gleichen Zeit die Rahmenbedingungen um das Flugzeugprojekt alles andere als gut: Die US-Regierung nahm drastische Kürzungen am Wehretat vor, was das Aus für das UCX-Projekt bedeutete. Im zivilen Bereich sah es auch nicht besser aus, da sich 1958 eine bedeutende Eintrübung der Wirtschaft in den USA ankündigte. Entgegen dieser externen Einflüsse, vertraute Lockheed auf die mittel- und langfristigen Potenziale des Flugzeugs und auf eine baldige Verbesserung der Wirtschaftslage und gab die CL-329 im November 1958 zur Serienfertigung frei. Leider setzten sich danach die negativen Geschehnisse um das kleine jetgetriebene Flugzeug erst einmal fort, denn obwohl der JetStar einen kurzfristig durchgeführten Wettbewerb für ein Trainingsflugzeug gewann, kaufte die Air Force dann dennoch die kleinere NA-246 von North American und nicht die CL-329.

Etwa zur gleichen Zeit zerschlug sich dann auch noch die Lizenzfertigung der britischen Triebwerke bei Wright. Da Lockheed wusste, dass es schier unmöglich war der Air Force ein Flugzeug anzubieten das britische Triebwerk hatte, bat man Kelly Johnson inländische Alternativen zu untersuchen. Tatsächlich gab es diese, allerdings hatten US-Triebwerke in der benötigten Dimensions- und Gewichtsklasse nicht die erforderliche Schubkraft. Kelly Johnson ließ sich hiervon nicht entmutigen und entschied, statt zwei Bristol Orpheus vier Pratt & Whitney JT12A-6 mit je gut 2.500lb Schubkraft zu verbauen. Er beließ es hierzu bei der Anordnung der Triebwerke am Flugzeugheck und ordnete die Treibwerke in zwei Doppelgondeln jeweils rechts und links am hinteren Rumpf an. In dieser Konfiguration flog der JetStar, fortan als L-1329 bezeichnet, dann erstmals in Januar 1960 und konnte so später auch einen gewissen kommerziellen Erfolg erzielen: Insgesamt 204 wurden dieser Maschinen wurden bis 1978 als militärische oder zivile Flugzeuge gebaut.


Abbildung : Dieser L-1329 JetStar wurde 1963 mit der Kennung N1 von der FAA in Dienst gestellt. Auf dieser Abbildung schön zu sehen sind die in Zwillingsgondeln am Flugzeugheck angebrachten Triebwerke des Musters und die charakteristisch lange Flugzeugnase.


Die ersten L-1329 verfügten im Gegensatz zu den beiden Prototypen nicht nur über die JT12A-6, sondern zudem auch über eine größere Tankkapazität, einen leicht gestreckten Rumpf und neue Entseisungsvorrichtungen. Spätere Serienflugzeuge erhielten dann schon das JT12-A8 mit 3.300lb Schub. Alle so ausgelieferten Maschinen wurden als „L-1329 JetStar I“ zusammengefasst. Rund 60 JetStar I wurden später mit Triebwerken des Typs AiResearch TFE731-1 aufgerüstet, was ihnen die Bezeichnung „JetStar-731“ einbrachte. 40 Flugzeuge wurden dann ab Werk als JetStar II gebaut und erhielten vier Turbofantriebwerke des Typs TFE-731-3 von Garrett AiResearch mit je gut 3.700lb Schubkraft und daneben auch größere Außentanks. In der Zahl von 204 L-1329 JetStar und JetStar II sind zudem fünf militärische C-140A-LM Inspektionsflugzeuge, fünf militärische Passagier- und Transportflugzeuge des Typs C-140B-LM und sechs VIP-Transportflugzeuge des Typs VC-140B enthalten. Die militärische Nutzung des Flugzeugs von Lockheed hatte also insgesamt eine untergeordnete Bedeutung.

Der vielleicht berühmteste Nutzer eines Lockheed JetStar war Elvis Presley: Er besaß einen JetStar I, der bis heute in Graceland ausgestellt ist und die Kennung N777EP trägt. Drei frühe Maschinen gingen auch an die deutsche Bundesregierung und ein JetStar wurde zum Geschäftsreiseflugzeug für Krupp in Essen.


Abbildung : Der hier im Jahr 1969 in Zürich abgebildete JetStar-731 wurde 1966 ausgeliefert und flog in seiner Karriere für eine Reihe verschiedener Unternehmen als VIP-Transporter. 2003 wurde das Flugzeug abgewrackt.


Abbildung : Die VC-140B-LM mit der Kennung 12492 in voller Lackierung der Vereinigten Staaten von Amerika.


Der möglichweise entscheidende Bezug zwischen dem Lockheed L-1329 JetStar und der Entwicklung des Großraumflugzeugs L-1011 TriStar ist wohl schlussendlich, dass Lockheed im Rahmen der Arbeit an der Maschine und in der Erprobung des Musters Erfahrungen mit den zivilen Anforderungen an jetgetriebene Flugzeuge sammeln konnte, von denen einige als durchaus übertragbar auf größere Muster gelten. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Antriebstechnologie, Avionik und Kabinenausstattung. Im Speziellen erarbeitete Lockheed im Rahmen des Planungs- und Entwicklungs- Projekts des L-1329 JetStar unter anderem neue Erkenntnisse in den Bereichen Triebwerkssteuerung und Geräuschemissionen, neue Navigations- und Flugführungsinstrumente, neuartige Steuerungssysteme, sowie Schalldämmung und Sitzanordnung in der Passagierkabine. Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Erkenntnisse zumindest Grundlage der Entwicklungsarbeit für neue Systeme und Technologien für das Großraumflugzeugprojekt L-1011 TriStar darstellten. Somit kann man den L-1329 JetStar als wichtigen Schritt für Lockheed auf dem Weg zum TriStar verstehen.


Die Lockheed L-188 Electra

Einen noch größeren und direkteren Einfluss auf die Entwicklung des L-1011 TriStars als der L-1329 JetStar hatte wohl lediglich die wesentlich größere und von Turbopropmotoren angetriebene L-188 Electra. Der Zweite Weltkrieg und die Jahre danach hatten gezeigt, dass aus den anfänglich noch sehr experimentellen und störanfälligen Turbojettriebwerken immer leistungsfähigere und zuverlässigere Antriebe wurden, wodurch sie fast zwangsläufig auch für den zivilen und kommerziellen Einsatz immer interessanter wurden. Auch Lockheed erkannte den bevorstehenden Wandel, agierte aber insgesamt etwas konservativer als andere Flugzeugbauer, wie etwa der Pionier deHavilland aus Großbritannien, der mit der Comet das erste kommerzielle Passagierflugzeug mit Turbojets überhaupt anbot. Trotz der Katastrophen der frühen Comet aufgrund von Materialermüdung, folgten Sud Aviation aus Frankreich und auch Boeing und Douglas aus den Vereinigten Staaten mit eigenen Flugzeugen auf Basis von Turbojets. Sie verstanden die Geschehnisse um die Comet zwar als klare Warnung vor den besonderen Herausforderungen des Flugzeugbaus für Geschwindigkeiten nahe der 1.000km/h, hielten die Probleme aber für lösbar und die Marktpotenziale für zu groß, um eigene Projekte zurückzustellen.

Im Gegensatz hierzu entschieden sich nicht wenige Flugzeughersteller dazu, einen aus ihrer Sicht technologischen Zwischenschritt zu nehmen: Das Turboproptriebwerk. Diese basiert ebenfalls vollumfänglich auf dem Prinzip des Jetantriebs, wobei allerdings anstelle des Gebläses am Triebwerkseingang, üblicherweise als „Fan“ bezeichnet, ein frei rotierender Propeller montiert ist. Diese Antriebsform ist durchaus effizient und sicher, verleiht einem Flugzeug schlussendlich aber nicht die gleichen Geschwindigkeitpotenziale. Neben den traditionsreichen Unternehmen Bristol (Britannia) und Vickers (Viscount und Vanguard), ging auch Lockheed mit der L-188 Electra diesen Weg. Aus heutiger Sicht kann man durchaus sagen, dass diese Entscheidung langfristig die Gewinner am Markt von den Verlierern trennte. Doch der Reihe nach:

Die konkreten Anfänge der L-188 Electra liegen im Jahr 1954: Im Jahr des Wunders von Bern startete Lockheed, auf eigene Initiative, das Programm zur Entwicklung eines Flugzeugs mit Turboproptriebwerken, einer Reichweite von über 5.000km und einer Passagierkapazität von rund 80 Passagieren. Die Maschine sollte durch eine, verglichen mit Kolbenmotorflugzeugen, hohe Reisegeschwindigkeit von über 600km/h und durch eine sehr hohe Zuverlässigkeit und Ausfallsicherheit bestechen. Von einem solchen Flugzeug versprach sich Lockheed einen großen kommerziellen Erfolg auf dem Heimatmarkt und eine weitgehende Verdrängung älterer Flugzeuge mit Kolbenmotoren, wie beispielsweise der Martin 4-0-4 oder Douglas DC-3. Die Electra sollte somit bei Lockheed das Erbe der ultimativen von Kolbenmotoren getriebenen Entwicklung auf Basis der Constellation, den Lockheed L-1649 Starlinern, antreten. Von diesen wurden noch 44 Einheiten gebaut, u.a. auch für TWA, Air France und Lufthansa.


Abbildung : Lockheed L-188C Universal Airlines (N854U). Diese Electra mit Baujahr 1959 wurde am 29. Januar 1985 im Dienste von Galaxy Airlines bei einer Bauchlandung auf der Dobbins AFB so stark beschädigt, dass eine Reparatur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus nicht mehr sinnvoll war. Die drei Insassen blieben hierbei unverletzt.


Schon am 6. Dezember 1957 flog die Lockheed Electra zum ersten Mal. Danach dauerten Flugerprobung und Zulassung recht lange, so dass erst am 23. Januar 1959 der kommerzielle Einsatz des Musters beginnen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war die Electra das erste westliche mit Turboproptriebwerken ausgestatte Flugzeug im gewerbsmäßigen Passagierdienst überhaupt.

Dennoch - und so paradox dies klingen mag - kam die Maschine für einen großmaßstäblichen kommerziellen Erfolg zu spät: Zwischen der Aufnahme der konzeptionellen Arbeit an der Electra und ihrem Debüt im gewerbsmäßigen Verkehr, hatte sich die Situation am Flugzeugmarkt insgesamt auf bisher nie gekannte Weise fundamental und revolutionär verändert: Im Jahr 1957 hatten mit der DeHavilland DH.106 Comet 4 und der Boeing 707-120, sowie im Jahr 1958 mit der Douglas DC-8-10, spürbar größere und mit leistungsstärkeren Turbojettriebwerken ausgerüstete Maschinen erfolgreich ihren Erstflug gefeiert. Gegen die Geschwindigkeit und den Reisekomfort dieser Flugzeuge entpuppten sich die 600km/h Reisefluggeschwindigkeit der L-188 Electra als nicht konkurrenzfähig. In nur kurzer Zeit entwickelten sich die Turbojettriebwerke zum neuen Standard und Fluggesellschaften und Reisende gleichermaßen fragten die mit diesen Antriebssystemen ausgestatteten Maschinen gezielt und in bis dorthin nie gekanntem Maße nach.

Die bei Aufnahme ihrer Entwicklung als modern und technologisch führend konzipierte Lockheed L-188 Electra war also noch vor ihrer Markteinführung ins technische Hintertreffen geraten und dies, obwohl die Maschine sehr kostengünstig zu betreiben war. Hatte man von Seiten Lockheed wohl insgeheim auf die Fortsetzung der technischen Schwierigkeiten mit schneller fliegenden Maschinen gesetzt, musste man schon in den späten 1950er Jahren zusehen, wie Boeing und Douglas hohe Stückzahlen ihrer Jets absetzten, während man selbst Probleme hatte weitere L-188 an den Käufer zu bringen.

Insgesamt wirkte sich dieser technische Rückstand selbstverständlich erheblich und in negativer Weise auf den kommerziellen Erfolg des Flugzeugs aus und dies obwohl zusätzlich zur initialen Version (L-188A) frühzeitig auch die Langstreckenversion (L-188C) verfügbar gemacht wurde. Letztere Version konnte rund 1.000 Gallonen mehr Treibstoff aufnehmen als die L-188A und mit 116.000lb Startmasse abheben, anstelle der 113.000lb der Standardversion.

Neben dieser kommerziellen Problematik durch die rasanten Verkäufe der von Turbojets angetriebenen Flugzeuge, insbesondere der DC-8 und der 707, entwickelte sich in der frühen Einsatzzeit des Flugzeugs ein zweites wesentliches Problemfeld: Die technische Sicherheit des Flugzeugs. Die vier ausgewählten Allison Propellerturbinen des Typs 501 zum Antrieb der Electra erzeugten durch die Art ihrer Aufhängung und die Resonanz des Tragflügels unter bestimmten Bedingungen und bei hohen Fluggeschwindigkeiten so starke Vibrationen, dass es zum Auseinanderbrechen der Maschinen im Reiseflug kam. Hierdurch gingen 1959 und 1960 mindestens zwei L-188 Electra verloren. Konkret handelte es sich hierbei um Braniff Airlines Flug 542 am 29. September 1959, bei dem 34 Menschen getötet wurden und um den Flug 710 von Northwest Orient am 17. März 1960, bei dem 63 Menschen ihr Leben verloren. Nachdem es zuvor schon am 3. Februar 1959 zu einem Totalverlust einer Electra gekommen war, limitierte die FAA öffentlichkeitswirksam die maximale Fluggeschwindigkeit er L-188, bis die Ursache der Unglücke ermittelt war.

Als die Vibrationen als Unfallursache feststanden, setzte Lockheed das Modifikationsprgramm LEAP (Lockheed Electra Achievement Program) auf, welches die Treibwerksaufhängungen erneuerte und wesentliche strukturelle Elemente der Flügelaufhängung verbesserte. Alle bestehenden L-188 durchliefen daraufhin auf Kosten von Lockheed die Modifikationen auf Basis von LEAP, was pro Flugzeug 20 Tage in Anspruch nahm.

Im Nachgang der Modifikationen trat das Problem nie mehr auf, doch die Berichterstattung über die Abstürze und ihre Ursache zerstörten das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Flugzeug, so dass die Maschinen noch etwas schneller von den großen Gesellschaften abgestossen wurden, als durch das starke Aufkommen der jetgetriebenen Flugzeuge ohnehin schon. Es ist schon insgesamt fast eine Ironie des Schicksals, dass Lockheed ursprünglich gehofft hatte, mit der Electra und ihren Turboprops die sicherere Alternative zu den Turbojets bieten zu können.

 

Abbildung : Hier eine zum Frachtflugzeug konvertierte Lockheed L-188C(F) mit der Kennung C-GNWD, aufgenommen am Vancouver International Airport. Sehr schön zu sehen, die im Verhältnis zum Rumpf sehr große Frachtladeluke.


Die L-188 Electra wurde insgesamt und entgegen der Erwartungen bei Lockheed, nur in 170 Einheiten verkauft. Der größte Teil dieser Maschinen ging an Kunden in den USA. Dort waren es mit Eastern Airlines (40 L-188A), American Airlines (35 L-188A), Northwest Orient Airlines (18 L-188C) und National Airlines (14 L-188A), die großen etablierten Fluggesellschaften, welche die meisten Electras bei Lockheed abnahmen. In Europa tat sich lediglich die Fluggesellschaft KLM als Käufer hervor. Insgesamt zwölf L-188C nahm die niederländische Airline bei Lockheed ab. Diese Zahlen deuten es schon an: Lockheed machte insgesamt große Verluste mit der Electra, die sich aus dem Programm selbst und aus Schadensersatzforderungen nach den Abstürzen zusammensetzten. Die modifizierten Electras waren dennoch gute Flugzeuge, was sich an der hohen Zahl zu Frachtern konvertierter Maschinen und deren langer Lebensdauer belegen lässt. Einige L-188 fliegen noch heute - ein halbes Jahrhundert nach ihrem Bau.

Um den Verlust mit der L-188 zu reduzieren, suchte Lockheed nach weiteren Verwendungsmöglichkeiten für das Design. Im frühen Entwicklungsprozess untersuchte das Entwicklungsteam neben einer Turboprop-basierten Lösung auch zwei-, drei- und vierstrahlige Umsetzungen auf Basis von Turbojets. Allen Turbojet-basierten Konzepten war ein langer, aber gleichzeitig dünner Rumpf gemein und dazu große Flügel mit voluminösen Treibstofftanks, um den Anforderungen der Seeaufklärung gerecht werden zu können. Ein zweistrahliges Konzept machte insgesamt einen so vielversprechenden Eindruck, dass Lockheed das Design der US Navy vorstellte. Hierbei gab es geteiltes Feedback: Wenngleich das Design und die angestrebten Leistungswerte gefielen, so kritisierten die Seestreitkräfte die geringe Ausfallsicherheit bei nur zwei Triebwerken. In Zeiten vor ETOPS galten zwei Triebwerke schlicht als ein großes Risiko. In Konsequenz entschied man sich bei den Seestreitkräften gegen Turbojets und für eine militärische Variante der L-188 Electra mit vier Turboprotriebwerken. Da es sich bei dem Projekt um eine Abwandlung eines bestehenden Flugzeugs handelte und nicht um eine komplette Neuentwicklung, überstieg die Zahl der Mitarbeiter den tatsächlichen Arbeitsaufwand, weshalb in kleinen Gruppen und neben der eigentlichen Hauptaufgabe, weiter an den vor der Festlegung auf vier Turboprops entwickelten zwei-, drei- und vierstrahligen Flugzeugkonzepten gearbeitet wurde. Eines dieser dreistrahligen Konzepte für ein Passagierflugzeug gilt heute als die älteste bekannte Wurzel des späteren L-1011 TriStars.

Der Seeaufklärer auf Basis der L-188 Electra ging als Lockheed P-3 in Serie und entwickelte sich zu einem Verkaufsschlager: Der kalifornische Flugzeughersteller baute die beeindruckende Gesamtzahl von 650 Flugzeugen in mehreren Ausbaustufen und Generationen. Daneben wurde weitere 107 Flugzeuge vom japanischen Mischkonzern Kawasaki auf Basis eines Lizenzabkommens gebaut. Die moderneren Versionen des Flugzeugs verfügen über vier Allison T-56-14 Turboproptriebwerke, die je 3.700kW Leistung entwickeln. Viele Lockheed P-3 Orion sind weltweit noch immer im Einsatz und erfüllen wertvolle strategische Aufgaben für ihre Nutzerländer.


Abbildung : Eine P-3C Orion der U.S. Navy, aufgenommen am 29.12.2004 in Okinawa


Zusammenfassend bot das L-188 und P-3-Umfeld wertvolle Impulse für den späteren L-1011 TriStar. Neben der erstmaligen Verfolgung eines dreistrahligen Flugzeugkonzepts waren dies unter anderem auch wertvolle Erkenntnisse zur Analyse und Behebung kritischer technischer Probleme. Daneben erkannte der Flugzeughersteller in diesem Prozess auf recht schmerzhafte Weise wesentliche Marktmechanismen und technische Abhängigkeiten, was sich im Rahmen des späteren TriStar-Projekts noch als Vorteil erweisen sollte.


Gesamtsituation von Lockheed vor dem TriStar

Betrachtet man nun vor dem Hintergrund der bis hierhin dargstellten Grundlagen die Gesamtsituation von Lockheed zu Beginn der Planungen für den TriStar, so kommt man nicht umher nach bestimmten Marktsegmenten zu differenzieren: Außer im Bereich des kommerziellen zivilen Flugzeugbaus für die Mittel- und Langstrecke, war Lockheed in nahezu allen Bereichen der Luftfahrt aktiv oder sogar im führenden Bereich platziert. Dort jedoch war der Hersteller aus Kalifornien schlicht nicht präsent, was erheblich am Image und am Prestige des Flugzeugbauers kratzte. Wie kam es nun trotz dieser Ausgangslage schlussendlich zur späteren Umsetzung eines zivilen Projekts im Bereich Großraumflugzeuge durch Lockheed?

Nun, sicher kann die Basis jeder Entwicklung in diese Richtung als der Versuch von Lockheed verstanden werden, nicht auch die mögliche zweite große Revolution am Mittel- und Langstreckenmarkt binnen nur etwas mehr als einem einzigen Jahrzehnt zu verpassen. Noch war kein anderes Unternehmen dabei ein Großraumflugzeug zu bauen oder zu testen, jedoch zeichnete sich mehr und mehr ab, dass die Entwicklung unweigerlich in diesen Bereich hinein verlaufen würde. Sollten sich die Großraumflugzeuge danach auf ähnliche Art und Weise durchsetzen wie seinerzeit die DC-8 von Douglas und die 707 von Boeing, dann wollte man bei Lockheed bei diesem erneuten Umbruch des Markts ein „großes Stück“ vom sprichwörtlichen „Kuchen“ abbekommen und sich gleichzeitig dauerhaft auch in diesem Bereich etablieren.

Auf diese Grundhaltung traf dann im Herbst 1966 die entscheidende externe Initiative: American Airlines, damals wie heute eine der bedeutendsten Fluggesellschaften der Welt, formulierte eine zu diesem Zeitpunkt noch recht grob abgesteckte und nur fünf Seiten umfassende Anforderung an die unterschiedlichen Flugzeughersteller in Nordamerika. Punktuell wurde die Airline darin aber so konkret, dass sie einige bestimmte Anforderungen als „unausweichlich“ definierte. Die Fluggesellschaft orientierte sich für ihre Anforderungen an dem damals wichtigsten Inlandsdrehkreuz der Vereinigten Staaten von Amerika, dem Flughafen LaGuardia von New York City. Der Airport an der Flushing Bay war damals der US-Flughafen, der aufgrund von Topographie und baulicher Situation die größten Einschränkungen bezüglich Lärmentwicklung, Flugzeugdimensionen, Start- und Landestrecke und auch Startmasse des Flugzeugs aufwies. Im Umkehrschluss galt also, wenn ein Flugzeug für LaGuardia geeignet war, dann konnte es nahezu überall eingesetzt werden.


Abbildung : Wenngleich dieses Bild des Flughafens LaGuardia aus dem Jahr 2014 stammt - die Einschränkungen und die daraus resultierenden Probleme die seinerzeit gültig waren, sind auch heute noch auf den ersten Blick vorstellbar.


Aus der gezielten Ausrichtung eines neuen Flugzeugs auf den Flughafen LaGuardia ergaben sich also ganz konkrete Grenzwerte im Bezug auf Dimensionen, Massen, Leistungswerte und die Lärmentwicklung des neuen Flugzeugs die ein Flugzeughersteller einzuhalten hatte. Daneben forderte American des Weiteren ganz explizit den Einsatz moderner Mantelstromtriebwerke und dabei konkret wahlweise des JT9D von Pratt & Whitney, des TF39 von General Electric, oder des RB.178-51 von Rolls-Royce. Die Fluggesellschaft strebte an, mit dem neuen Design die niedrigsten Sitzkilometerkosten der damaligen Zeit zu erreichen.

Dieser Komplex an Anforderungen führte zu Beginn der ersten konzeptionellen Auseinandersetzung mit einem möglichen neuen Flugzeug auch bei Lockheed fast ausschließlich zu zweistrahligen Gedankenspielen mit einer maximalen Gesamtlänge von 56m. Schon von Beginn an wurde auch immer wieder über automatische Landesysteme und eine Auslegung des Flugzeugs für eine außergewöhnlich schnelle Abfertigung am Boden philosophiert - Aspekte die in der späteren Konkretisierungsphase durchaus wieder Beachtung finden sollten.