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B. H. Bartsch

Schuldig bis in alle Ewigkeit

Teil 4





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Prolog

Prolog

 

»Wir, die Geschworenen, befinden den Angeklagten in allen Anklagepunkten für schuldig.«

Der Mann reicht einen Zettel dem Gerichtsdiener, der diesen dann an den Richter weitergibt. Er schaut drauf, räuspert sich, schaut zu mir herüber und zieht sich den Stuhl heran, um sich zu setzen.

Mir sacken die Knie weg. Schuldig in allen Anklagepunkten. Aber warum? Die Ampel war doch grün! Ich durfte doch fahren. Der andere hatte doch rot. Mein Verteidiger raunt mir was ins Ohr, aber ich verstehe nichts. Der Schock lähmt alle meine Gehirnfunktionen, er greift nach meinem Arm und stützt mich.

»Sterling, setzen Sie sich«, raunt er mir erneut zu.

Als der Richter sich endlich setzt, lasse ich mich auf dem Stuhl nieder. Ich fühle mich, als ob ich einen Magenschwinger von einem Schwergewichtsboxer kassiert habe. Schuldig bedeutet Gefängnis. Gedanklich schalte ich ab. Das habe ich in den letzten Wochen oft getan, um meine Umgebung nicht wahrnehmen zu müssen. Tief in mich zurückgezogen, um das Geschehene zu verarbeiten und zu verstehen, dass Connor nicht mehr am Leben ist. Mein bester Freund aus Sandkastenzeiten, meine heimliche Liebe, mein Beschützer, mein Kritiker, einfach der einzige Mensch, der mir noch geblieben ist. Tot! Durch den Unfall aus dem Leben gerissen, mit gerade mal neunzehn Jahren.

»… verurteile ich den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren. Dabei hat das Gericht die mentale Reife und das Alter des Angeklagten berücksichtigt.«

In meinen Ohren rauscht es, mein Herz rast dermaßen, dass es zu stolpern beginnt. Das habe ich nicht gewollt. Bei Gott, das habe ich nicht gewollt.

Alle schauen mich an. Ich blicke auf und bemerke die auffordernden Blicke der Geschworenen, dass ich irgendetwas sagen muss.

»Der Richter hat gefragt, ob Sie noch etwas zu sagen haben?«, raunt mir mein Verteidiger zu.

Ich schüttele nur den Kopf und versuche mich aufrecht zu halten. Übelkeit überrennt mich und zwingt mich trotz des Versuches, stark zu wirken, mich zusammenzukrümmen. Ich schlinge die Arme um mich und dann ist scheinbar alles gesagt. Der Richter schließt die Verhandlung mit dem obligatorischen Hammerschlag. Der Gerichtsbeamte kommt und legt mir die Handschellen an, greift mich hart am Oberarm und führt mich an den Besuchern entlang zur Tür. Kurz vor der Tür steht Connors Mutter. Hasserfüllt schaut sie mich an und holt aus. Ihre Hand erwischt mich volle Breitseite auf der linken Wange. Kurzzeitig schwindet mein Sehvermögen, mein Verstand ist wie in Watte gepackt, dann wird sie weggezogen und der Weg zur Tür ist frei. Blut rinnt aus meiner Nase, tropft auf den orangefarbenen Overall, den ich vom Staat zur Verfügung gestellt bekommen habe, weil ich meine eigene Kleidung nicht tragen darf. Ein Tumult im Gerichtssaal entsteht und sie schreit mir »Mörder« hinterher.

Das Medieninteresse ist groß, denn Connors Vater ist Kongressabgeordneter. Connor McNamara senior ist ein einflussreicher Mann. Ihm habe ich bestimmt auch die acht Jahre zu verdanken. Irgendjemand hält mir ein weißes Taschentuch hin. Ich greife es und halte es an meine Nase. Meine Wange glüht und ich wünschte mir, der Boden würde sich auftun und mich verschlingen.

Ich werde in einen kleinen, fensterlosen Raum gebracht, der nur spärlich möbliert ist. Ein Tisch, zwei Stühle, das war’s. Mehr steht nicht drin. Die Tür schließt sich hinter mir und mein Verteidiger weist auf den Stuhl ihm gegenüber. Er setzt sich und notiert sich ein paar Dinge. Dann klappt er die Mappe wieder zu und wartet, bis ich ihm in die Augen sehe. Er ist ein älterer Mann, dessen Anzug genauso schlecht sitzt wie der meines Dads bei Mums Beerdigung damals. Sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass er keine guten Nachrichten für mich hat.

»Sterling, da gibt es noch etwas, das ich heute während der Verhandlung erfahren haben. Es geht um Ihren Vater.« Er senkt den Blick auf seine Kladde und verschränkt seine Hände darüber. Tief Luft holend richtet er sich auf und schaut mir mit gequälter Miene ins Gesicht. Dass es eine Steigerung auf diese Übelkeit von vorhin geben kann, wusste ich nicht.

»Sterling … Ihr Vater ist heute Morgen tot in Ihrer Wohnung aufgefunden worden. So wie es aussieht, hat er sich das Leben genommen. Da lagen eine Menge leere Tablettenschachteln und Alkoholflaschen herum. Es tut mir leid. Aber die Nachricht hätte das Urteil heute auch nicht beeinflusst. Es scheint, dass man Sie für die maximale Zeit aus dem Verkehr ziehen wollte. Das Urteil ist in vier Wochen rechtskräftig. Wenn wir jetzt in Berufung gehen, wird es nur noch schlimmer. Ich werde beantragen, dass man Sie in den Jugendvollzug schickt. Das wären drei Jahre im Jugendknast und fünf im Erwachsenenvollzug. Es tut mir so leid. Ich sorge dafür, dass Ihre persönlichen Sachen gesichert werden. Ich verspreche Ihnen, dass ich die Sachen besorge, bevor alles unter den Hammer kommt. Gibt es etwas, was Sie unbedingt haben wollen?« Sterne tanzen vor meinen Augen und der Schmerz in meinen Eingeweiden droht mich in eine Ohnmacht zu ziehen. Ich räuspere mich, denn meine Stimme hat sich tief in mein Inneres zurückgezogen. Krampfhaft überlege ich, was ich brauchen könnte, wenn ich das Gefängnis lebend wieder verlassen sollte.

»Da gibt es eine Kiste, die in meinem Nachtschrank steht. Ein paar Anziehsachen. Die Uhr von meinem Dad und wichtige Papiere. Wenn Sie die für mich zusammensuchen könnten? Und mein Laptop. Er wird dann zwar veraltet sein, wenn ich aus dem Knast komme, aber da sind Fotos drauf, die mir wichtig sind«, zähle ich leise auf. Meinen Augen brennen. Mein Brustkorb zieht sich zusammen, Schmerzen und ein enormer Druck auf meinen Hals quälen mich, so als ob mir jemand die Hände um die Kehle legen und zudrücken würde. Mir bleibt die Luft weg. Die Erkenntnis, dass ich allein bin, ganz allein, tut ihr Übriges. Ich möchte sterben, dass alles hinter mir lassen und vor allem will ich nicht ins Gefängnis, will das alles nicht, würde das Geschehene so gerne rückgängig machen.

»In Ordnung. Ich sehe, was ich für Sie tun kann. Und wenn es irgendetwas gibt, was ich für Sie tun soll, dann rufen Sie mich an. Okay?« Er reißt mich mit seinen Worten, die Mitleid im Unterton verraten, aus meinen Gedanken.

»Danke, Sir.« Er schreibt mir seine Nummer auf den Unterarm, denn Visitenkarten darf ich nicht behalten.

»Lernen Sie die Nummer auswendig und rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen.« Er steht auf, schiebt den Stuhl an den Tisch zurück und blickt auf mich herab. Ich sehe sein Mitleid, aber das macht es ja nicht besser.

»Das mit Ihrem Vater tut mir sehr leid. Wirklich …«

Dad … Der Schock über die Nachricht seines Todes und das Urteil überfordern mich. Ich lasse meinen Kopf nach unten hängen und schaue auf meine gefesselten Hände. Ich ergebe mich den Tatsachen und fange besser jetzt als gleich damit an, mir meinen Schmerz nicht ansehen zu lassen. Ziehe eine Mauer um mich herum, schließe mich mit meinem Schmerz ein.

Mit dem Wissen, dass die nächsten Jahre furchtbar werden, ergebe ich mich meinem Schicksal.

Kapitel 1 – Sterling Endlich frei

 Kapitel 1 – Sterling

 

Endlich frei

 

Acht Jahre später …

»Hier unterschreiben!« Der wachhabende Beamte schiebt mir einen Zettel unter der Sicherheitsglasscheibe durch und deutet auf einen Kugelschreiber, der mit einer Kette an einer dicken Öse befestigt ist. Diebstahlsicher.

Entlassungsanweisung steht oben auf dem Wisch. Es ist zwei Tage vor Thanksgiving und es schneit sich die Seele aus dem Leib. Ich vermute, dass das eine kalte Reise nach Seattle wird. Warum ich zurück nach Seattle will? Weil ich da noch jemanden besuchen muss und um Vergebung bitten möchte. In den acht Jahren habe ich fast alles Geld, was ich hier mit Knastarbeit verdient habe, auf meinem Anstaltskonto belassen. Der Beamte zählt mir jetzt genau meine fünfhundertsiebenundneunzig Dollar ab und schiebt sie mir in einem Umschlag unter der Scheibe durch, dann hebt er eine große Reisetasche hoch, in der mein ganzes Leben verstaut ist. Mein Anwalt scheint ja Wort gehalten zu haben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er aus unserer Wohnung noch was rausholt. Die Tasche wird in eine Schleuse geschoben, wo ich sie mir herausziehen kann. Sie ist schwer und sobald ich hier raus bin, schaue ich nach, was da alles drin ist. Vielleicht finde ich ja sogar eine etwas dickere Winterjacke. Eine weitere Tüte wird in die Schleuse gelegt. Darin befinden sich meine Geldbörse, mein Handy, mein Hausschlüssel und ein Musikplayer. Das Teil bedeutet mir viel, denn es ist Connors. Seine Lieblingsmusik ist da drauf. Ich hatte es damals an diesem schicksalsträchtigen Abend in meine Tasche gesteckt, weil er keine Taschen hatte, in die er ihn stecken konnte. Ich greife nach den Dingen und verstaue sie auch in der Tasche.

Ich muss hier raus, bevor sie es sich noch anders überlegen und nachher noch einen Grund finden, mich wieder einzusperren. Acht Jahre Hölle machen einen zynisch. Alles schon da gewesen. Nichts Neues. Man ist den Menschen mit Macht, ob nun Insasse oder Wärter, auf ziemlich fiese und perfide Weise ausgeliefert.

»Dort entlang.« Der Beamte, der mich zur Tür bringt, steht in gebührendem Abstand und wartet, dass ich meine Sachen zusammenhabe und abmarschbereit bin.

 

Das Tor hinter mir schließt sich lautstark zur Melodie der Sirene, die das Schließen akustisch untermalt.

Jetzt stehe ich hier auf der Straße und versuche mich zu orientieren. Eine Bushaltestelle zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich schultere meine Reisetasche und mache mich auf den Weg. Das Ticket in Höhe von 42 Dollar für den Greyhound-Bus wird mir ein heftiges Loch in mein Budget reißen, aber irgendwie muss ich von hier ja wegkommen. Die Wartezeit beträgt drei Stunden bis zur Abfahrt. Ich schätze, zu den 42 Dollar kommen noch mal fünf für einen Kaffee dazu.

Kapitel 2 – Cole Böse Überraschung

 Kapitel 2 – Cole

 

Böse Überraschung

 

»Dr. Simmons, bei der Katze in Käfig zwei stimmt der Puls nicht. Die kleine Maus macht mir Sorgen. Können Sie bitte noch mal drauf schauen, bevor Sie gehen?« Mist! Ausgerechnet heute, wo ich pünktlich nach Hause wollte, scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben. Ich schnappe mir mein Stethoskop und eile nach hinten in den Klinikbereich, wo sich die frisch operierten Tiere in ihren Käfigen von den Eingriffen erholen.

Das kleine Unfallopfer hat uns alle damit überrascht, dass sie die OP tatsächlich überlebt hat. Die vitalen Werte sind wirklich nicht besonders gut. Ich spritze ihr noch ein Schmerzmittel und warte ein paar Minuten ab. Als der Puls sich normalisiert, gehe ich dann doch nach Hause.

 

Als ich die Auffahrt hochkomme, sehe ich kein Licht brennen. Etwas irritiert parke ich den Wagen und gehe zum Haus. Die Tür ist abgeschlossen, will heißen, dass Jack nicht da ist. Ich schmeiße meine Schlüssel in die Schale, in die ich sie immer mit meiner Geldbörse zusammen hineinlege. In der Küche schalte ich das Licht an, gehe weiter zum Wohnzimmer und sehe das Licht am Anrufbeantworter leuchten. Enttäuschung macht sich in mir breit, dass Jack jetzt nicht hier ist, denn es war anders abgesprochen. Ich beschließe erst mal duschen zu gehen und mir den Tag vom Körper zu waschen.

Der Spiegel ist beschlagen, aber was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die leere linke Seite unter ihm. Jacks persönliche Sachen sind komplett verschwunden. Normalerweise hat er immer eine zweite Garnitur in seinem Waschbeutel, sodass er seine Sachen grundsätzlich stehen lässt. Irritiert gehe ich zurück ins Schlafzimmer und schaue mich um. Nicht, dass wir viel Nippes stehen haben, aber ein Buch und den Wecker auf dem Nachtschrank haben wir beide. Nur dass seine Seite leer ist. Der Wecker ist weg. Ich gehe hinüber und ziehe die Schublade auf, in der wir unser Gleitgel und die Kondome liegen haben. Leer … Langsam dämmert es mir. Mein Blick dreht sich zum Kleiderschrank. Ich stehe vor dem Möbel und traue mich beinahe nicht, die Tür zu öffnen. Doch der Schock, der langsam in meine Knochen kriecht, lässt mich meinen Arm heben und den Knauf ziehen. Alle Fächer sind leer geräumt, an der Bügelstange hängen drei einsame Kleiderbügel. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schnellzug im Gleisbett. Ich taumele zurück zum Bett und muss mich hinsetzen. Meine Hände zittern, mein Mund wird trocken und mein Hirn benötigt einen Reset, damit ich verstehe, was ich gerade herausgefunden habe.

Meine Haut kühlt aus und ich beginne zu frieren. Nur mit Mühe komme ich an meine Kommode und ziehe mir eine Jogginghose, ein warmes Fleeceshirt samt dicken Socken und einer Boxershorts aus der Schublade. Ich fühle mich, als befände ich mich inmitten dichten Nebels. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Wo ist er? Warum ist er nicht hier? Warum hat er seine Sachen mitgenommen? Meine Schultern fühlen sich schwer an und ziehen mich runter.

Ich beschließe mir einen Tee aufzubrühen. Mit der Tasse gehe ich ins Wohnzimmer und drücke auf die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters.

»Hallo Jack, ich bin’s, Garry. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich auf dich freue und die Flasche Champagner schon kalt gestellt habe. Ruf mich doch an und sag mir, wann du landest, dann kann ich dich von der Arbeit aus abholen, bevor wir nach Hause fahren. Ich habe dich vermisst. Ich hoffe, du konntest mit deinem Ex alles klären? Na ja, wie dem auch sei, das hat ja jetzt alles ein Ende. Bis heute Abend, ich wünsche dir einen guten Flug.«

»Was zum Teufel?« Wütend werfe ich die Tasse in den Kamin, wo sie scheppernd in tausend kleine Teile zerspringt, und greife nach meinem Handy. Mit zitternden Fingern scrolle ich mich durch meine Kontaktliste und suche nach Jacks Telefonnummer. Nach all den Jahren Beziehung habe ich mir wohl das Recht auf Ehrlichkeit verdient. Bebend drücke auf den Anrufbutton und lausche dem Ansagetext, dass der angerufene Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar ist. Das schürt meine Wut noch mehr und ich kann kaum glauben, was hier gerade passiert. Es ist sein Glück, dass ich ihn jetzt nicht erreiche, denn ich könnte mich in der Wortwahl vergreifen. Aber mit dem Wissen, dass er sich heute einen schönen Abend mit Garry macht, nachdem er hier wortlos ausgezogen ist, beginne ich unsere Beziehung infrage zu stellen. Wer war ich denn, verdammt noch mal, für ihn, wenn er mich so eiskalt abservieren kann?

Kapitel 3 – Sterling Zurück in Seattle

 Kapitel 3 – Sterling

 

Zurück in Seattle

 

Müde und angespannt verlasse ich in Seattle den Bus, in den ich vor fast fünf Stunden eingestiegen bin. Es ist dunkel und es regnet. Gott sei Dank sind die Temperaturen hier etwas milder als in Walla Walla, denn es war dort schon lausig kalt.

Die Obdachlosenunterkünfte in der Stadt dürften jetzt alle besetzt sein, was bedeutet, dass ich diese Nacht auf der Straße sitze, wenn ich mir kein Motel leisten will. Motels sind teuer und ich muss mein Geld zusammenhalten. Ich beschließe meine Tasche in eines der Schließfächer am Bahnhof einzuschließen und mich zu erkundigen, wo ich erst mal hingehen kann. Die Heilsarmee ist meine erste Anlaufstelle, aber die Überwindung, dort um Hilfe zu bitten, macht mir schon zu schaffen.

Ich lungere am Bahnhof herum, der sich langsam leert. Doch bevor ich niemanden mehr antreffe und die freiwilligen Helfer in ihren wohlverdienten Feierabend gehen, überwinde ich meine Scham und trete in das kleine Büro, das von einer altersschwachen Lampe erhellt wird.

Eine ältere Frau sitzt an einem Metallschreibtisch und schaut sichtlich müde, aber lächelnd auf, als ich eintrete. Sie erhebt sich und kommt zum Tresen, der den Raum teilt.

»Guten Abend, Ma’am. Ich befürchte, ich brauche Ihre Hilfe«, bringe ich mit heiserer Stimme hervor.

»Kommen Sie rein. Darf ich Ihnen einen heißen Tee anbieten? Es ist so ungemütlich da draußen.«

»Das wäre großartig.«

»Setzen Sie sich doch.« Ihre Stimme ist weich und nicht besonders laut. Sie geht zu einem Tisch, auf dem eine große Kanne und ein paar Becher stehen. Sie nimmt einen weißen Becher, gießt den gebrühten Tee ein und bringt ihn zu mir herüber. Sie deutet auf den Stuhl und nimmt auf dem andern gegenüber Platz.

»Was kann ich denn für Sie tun?« Sie stellt die Tasse vor mir ab und deutet auf ein Tablett mit Zucker und Plastikrührstäbchen in einem Plastikbecher. Ich ignoriere den Zucker und lege meine Hände um die heiße Tasse.

»Ich bin neu in der Stadt, weiß aber nicht, wo ich hingehen kann. Mein Budget ist sehr klein und ich weiß nicht, wo es hier Anlaufstellen für Gestrandete gibt. Vielleicht können Sie mir da weiterhelfen?«

»Die Obdachlosenunterkünfte sind ab siebzehn Uhr geöffnet. Da kostet eine Übernachtung vier Dollar. Die meisten Unterkünfte sind schon nach kurzer Zeit voll, also muss man da schnell sein. Es ist hart und es sind große Schlafsäle mit vielen Betten. Einige gehen nicht mehr hin, weil sie dort keine Ruhe finden.«

Ich versuche das Gehörte zu verstehen und wäge meine Möglichkeiten ab. Für diese Nacht bleibt mir nichts übrig, als irgendwo in einem Hauseingang ein trockenes Plätzchen zu finden.

»Ich gebe Ihnen einen Zettel mit Adressen, wo sich Obdachlose hinwenden können. Aber am besten ist es, Arbeit zu finden. Billige Wohnmöglichkeiten sind in dieser Stadt selten und wenn, sind sie schnell weg. Sie machen mir jetzt nicht den Eindruck, dass sie schon lange auf der Straße sind. Ihr Erscheinungsbild ist sauber und gepflegt. Erhalten Sie sich das. Wenn man erst verwahrlost aussieht, geht es schnell bergab. Ich spreche da aus Erfahrung. Ich bin als junge Mutter mit meinen beiden Kindern obdachlos geworden. Aber ich habe es geschafft und meine Kinder haben sich ihr College mit Stipendien und Nebenjobs finanziert.« Sie schaut mich durchdringend an.

»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»Sicher!« Ich nicke und trinke von dem Tee, der zwar furchtbar schmeckt, aber wärmt.

 

»Setzen Sie sich Ziele. Verlieren Sie sie nicht aus den Augen und wenn es Rückschläge gibt, dann lassen Sie sich nicht entmutigen. Warum auch immer Sie jetzt in dieser Situation sind, lassen Sie die Vergangenheit hinter sich und schauen Sie nach vorn. Gehen Sie mit Ihren Ressourcen sparsam um und planen Sie immer ein paar Eventualitäten ein.« Das macht Sinn.

»Danke, Ma’am.« Ich trinke meinen Tee aus und erhebe mich. Nicht gerade glücklich, wieder in die Kälte rauszumüssen.

»Ich habe einen Bekannten, der im Norden der Stadt einen kleinen Trailerpark leitet. Vielleicht hat er ein Plätzchen für Sie. Ich gebe Ihnen die Adresse. Vielleicht finden Sie ja dort Ihren Weg. Ich wünsche es Ihnen jedenfalls.«

Die Frau geht zu einem Aktenschrank und holt einen Zettel heraus. Und dann geht sie zu ihrem Schreibtisch, wo sie etwas auf einem kleinen Notizzettel notiert.

»Hier, das ist die Adresse von dem Trailerpark, den ich ansprach. Fragen Sie nach Old Balou, er ist ein bäriger Kauz mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Er hilft, wenn er kann. Sagen Sie ihm liebe Grüße von Beth. Dann weiß er schon Bescheid.«

Sie gibt mir die Zettel und betrachtet meine dünne Jacke.

»Warten Sie. Mit der Jacke kommen Sie bei dem Wetter nicht weit.« Sie geht nach hinten und stöbert in einer Art Kleiderkammer. Nach ein paar Minuten kommt sie wieder und hat ein paar Klamotten über dem Arm.

»Hier sind ein paar Sachen, die gestern gespendet wurden. Ich denke, das dürfte Ihnen passen. Nur Schuhe habe ich leider keine. Aber eine Mütze und Schal sowie Handschuhe habe ich Ihnen in die Jackentasche gestopft.« Sie legt die Sachen auf den Tresen und wartet meine Reaktion ab. Sie beschämt mich, denn mit so viel Hilfe hätte ich jetzt nicht gerechnet. Meine Sachen in der Tasche im Schließfach sind ausschließlich Sommersachen. Aber besser als nichts.

»Ich gebe Ihnen eine Tüte.« Der Kloß in meinem Hals wird größer, sodass ich schlucken muss, aber ich nicke. Mein Gesicht brennt vor Scham. Das Gefühl sollte ich eigentlich vor vielen Jahren verloren haben. Damals … als ich meine Rechte abgab und zum Außenseiter und Geächteten der Gesellschaft, ein verurteilter Straftäter wurde.

Sie legt eine Jeans, einen Kapuzenpulli und zwei T-Shirts zusammen in die Tüte und reicht sie mir.

»Gott schütze Sie, mein Junge.« Wieder bin ich nur in der Lage zu nicken, und was ich von Gott halte, sage ich lieber nicht.

»Danke für Ihre Hilfe. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal froh sein würde, bei der Heilsarmee Unterstützung zu bekommen.«

»Dafür sind wir da. Wir helfen Menschen, die in Not geraten sind.« Sie begleitet mich zur Tür und schließt hinter mir ab. Es laufen nur wenige Menschen zu den Bahnsteigen. Zwei Sicherheitsmänner kommen in meine Richtung und schauen mich finster an. Ich drehe mich um und gehe schnellen Schrittes zu den Gepäckfächern. Es ist wohl besser, wenn ich mich hier vom Acker mache. Ich weiß, dass der Betreiber hier keine Obdachlosen duldet und man eine Menge Ärger bekommen kann, wenn man den Anweisungen der Sicherheitsleute nicht folgt. Ich stecke den Schlüssel in das Schloss und öffne die Tür. Das Geräusch von schweren Stiefeln nähert sich und verebbt in gebührendem Abstand zu mir. Schnell ziehe ich meine Tasche aus dem Fach, schwinge sie sie mir über die Schulter und drehe mich um. In etwa drei Metern Entfernung stehen die beiden Männer von vorhin und blicken mich noch immer finster an.

»Wollen Sie verreisen?«, fragt mich der Ältere von den beiden. Sie bauen sich vor mir auf, verschränken die Arme und warten meine Antwort ab. Einschüchternd stehen sie da, mit ihren schwarzen Bomberjacken, die sie in der Schulter noch breiter wirken lassen.

»Nein, Sir. Ich bin vorhin erst angekommen. Musste noch was erledigen. Ich werde jetzt gehen.« Er nickt und deutet mit seinem Kopf Richtung Ausgang. Mit gesenktem Kopf gehe ich an ihnen vorbei und eile aus dem Bahnhof. Als ich nach draußen komme, stelle ich fest, was ich die Jahre im Knast nicht vermisst habe. Nämlich den vielen Regen über dieser Stadt. Seattle wird nicht ohne Grund »The rainy City« genannt. Mit großen Schritten gehe ich zu einem Unterstand eines kleinen Buchladens, der schon vor Stunden geschlossen wurde. Der Wind hat zugenommen und peitscht den Regen beinahe waagerecht in mein Gesicht. Fröstelnd ziehe ich die neue Jacke aus der Tüte und ziehe sie an, denn es ist echt empfindlich kalt. Wie Beth schon sagte, finde ich in der Tasche eine Mütze und einen Schal. Die Tüte stopfe ich in die Reisetasche, schwinge sie wieder über meine Schulter und mache mich einfach auf den Weg.

 

Ich laufe die Straßen entlang und betrachte die Stadt bei Nacht. Es regnet noch immer und mir ist kalt. Hier hat sich nicht viel verändert.

Im Knast wäre es zwar warm und ich würde jetzt auf meiner Pritsche liegen und schlafen, umgeben von schlechten Gerüchen, die viele Menschen auf einmal eben ausdünsten, und in zwei Stunden würde das Licht angehen. Aber um nichts auf der Welt würde ich jetzt dort sein wollen.

In den letzten Wochen habe ich mir oft Gedanken gemacht, wie es weitergeht, wenn ich entlassen werde. Ich wusste, dass ich keine Hilfe zu erwarten habe und ich auch niemanden habe, der mir helfen könnte. Meine Eltern sind tot, Verwandte habe ich keine und die Anlaufstelle für ehemalige Straftäter will ich nicht besuchen. Mein Zellennachbar hat mir erzählt, dass er dort nur seine Zeit verschwendet hat. »Hilf dir selbst«, hat er gesagt. Und er hat mir Tipps gegeben. »Das Wichtigste: halte dich von den Bullen fern. Die riechen einen Ex-Knacki auf zwanzig Meilen gegen den Wind und jeder ehemalige Gefangene steht unweigerlich unter Beobachtung.« Ich soll bloß keinem auf die Füße treten. Dass der Anfang schwer wird, wusste ich. Aber dass es mich innerlich fertigmacht, damit habe ich nicht gerechnet. Unser Gefängnispsychologe war in den letzten Monaten selbst erkrankt. Daher habe ich keine Vorbereitung auf meine Entlassung bekommen, was mich jetzt einholt und mich geradewegs in eine Depression treibt. Ich habe fünfhundertfünfzig Dollar. Damit mit muss ich haushalten. Mein Magen knurrt. Im Knast gab’s das Essen immer pünktlich, jeden Tag zur selben Zeit, doch jetzt muss ich selbst dafür sorgen, dass ich was esse und auch auf mich achte. Beth hat recht. Wenn ich abgerissen aussehe, schwinden meine Chancen, Arbeit und eine Unterkunft zu finden. In Anbetracht der Tatsache, dass ich zurzeit obdachlos bin, sind die Chancen, eines oder gar beides zu finden, eher schwierig. Wer gibt einem obdachlosen Ex-Knacki schon eine Wohnung und Arbeit. Meine Aussichten sehen echt düster aus. Der Stein in meinem Magen wird immer größer. Ob es der Hunger ist oder die Sorgen, die mich plagen, kann ich im Moment nicht differenzieren. Von einem italienischen 24/-7Imbiss weht mir ein leckerer Duft entgegen. Die letzte leckere Pizza hatte ich an dem Abend, als der Unfall passierte. Wir hatten meinen Geburtstag gefeiert und Connor hatte mich zum Essen eingeladen. Connor … Ich bleibe stehen und schaue auf die Straße, betrachte die Ampel, die wie damals grün zeigt, doch diesmal kreuzt kein LKW von rechts die Fahrbahn.

Ich sehe Nachtgrau, geparkte Autos, zwei, drei Passanten, die mit eingezogenen Schultern den Fußweg entlangeilen, und dann … das Scheppern, der Schlag gegen unser Auto … Schmerzen im Oberarm … Stille … Connor, der mit seinem Kopf in meinem Schoß liegt, weil er nicht angeschnallt war. Sein Blick starr geradeaus …

Stimmen von zwei Männern, die die Pizzeria verlassen, reißen mich aus meinem Flashback und die Erinnerung an den Unfallabend lässt meinen Hunger verschwinden, doch der Stein in meinem Magen bleibt. Ich wende mich ab, um den Anblick loszuwerden. Es ist die Kreuzung, an der der Unfall passiert ist, aber dennoch eine Kreuzung wie jeder andere. Ich orientiere mich und laufe in Richtung Crown Hill los. Das sind knapp zehn Meilen bis zu der Adresse, die Beth mir gegeben hat. Und wenn der Typ nichts für mich hat, überlege ich mir einen Plan B. Irgendwie muss es ja weitergehen. Ein Gutes hat es jetzt jedenfalls. Es hört auf zu regnen.

 

Crown Hill ist ein County, das sich durch seine nette Vorstadtidylle auszeichnet. Einfamilienhäuser, Vorgärten mit weißem Zaun und Spielzeug in den Vorgärten. Zwei Autos vor der Garage und gepflegtem Rasen. So ähnlich war mein Zuhause auch, bis zu dem Zeitpunkt, wo Mum krank wurde. Ab da ging es rasend schnell bergab. Der Tumor in ihrem Kopf war schon so weit fortgeschritten, dass eine OP nicht mehr infrage kam. Wir verloren unser Zuhause und zogen in eine Wohnung wegen der hohen Arztrechnungen, aber Dad sagte immer, dass das Haus ein geringer Preis gewesen sei, wenn wir nur Mum hätten behalten dürfen. Als sie sieben Monate später im Hospiz starb, ist ein großer Teil meines Vaters mit ihr gegangen. Sein Herz, seine Motivation, sein Antrieb, das Leben wieder aufzunehmen. Anstatt sich aufzuraffen, begann er zu trinken. Der Alkohol hat ihn vergessen lassen, aber wenn der Rausch vorbei war, standen die Probleme wieder Spalier. Der Unfall war wahrscheinlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Der Beamte, der mich damals nach meiner Verurteilung im Gefängnis besucht hat, sagte mir, dass mein Dad freiwillig aus dem Leben geschieden sei. Die beiden wichtigsten und vor allem einzigen Menschen innerhalb von sechs Wochen zu verlieren, hat mich verändert. Wenn ich vorher schon ein leiser Mensch war, dann bin ich es jetzt noch mehr. Ich denke, dass ich den Tod meines besten Freundes und meines Vaters zu verantworten habe. Wieder gut, geschweige denn rückgängig machen werde ich es nie wieder können.

Ich laufe jetzt schon gefühlt Stunden durch die Gegend und bin am Meer angelangt. Der Strand ist felsig, es ist kalt, meine Füße sind nass und ich habe Hunger. Manchmal, an Tagen, wo es mir so richtig mies ging, dachte ich immer, dass es eine Erlösung wäre, wenn ich abends ins Bett gehen würde und irgendeine Macht mich nicht mehr aufwachen lassen ließe. Im Schlaf rüber auf die andere Seite und alles hinter mir lassen. Es gibt ja eh niemanden, der mich vermissen würde. Ich stelle die Tasche, die mittlerweile echt schwer ist, auf den Stein neben mir und setze mich auf einen anderen. Mit dem Blick auf den Puget Sound lasse ich mir den Wind ins Gesicht wehen. Früher habe ich oft am Meer gesessen … mit Connor … Dann haben wir immer über unsere Pläne und Träume gesprochen. An das letzte Mal kann ich mich noch genau erinnern. Wir sprachen darüber, nach der Highschool gemeinsam aufs College zu gehen. Dann starb Mum und alles löste sich in Luft auf. Meine Träume und Ziele. Doch Connor meinte, dass wir das schaffen … Dass ich es irgendwie hinbekomme, das College zu finanzieren. Er hat mich nicht hängen lassen, hätte er nie, aber zurückgelassen hat er mich. Mir ist saukalt, ich bin müde und habe Hunger. Im Moment fühle ich mich einfach überflüssig und wertlos.

Kapitel 4 – Cole Schlaflos in Seattle

 Kapitel 4 – Cole

 

Schlaflos in Seattle

 

Ich sitze seit Stunden auf dem Sofa und blicke ins Nichts. Mein Körper fühlt sich taub an. Er hat mich einfach verlassen, ohne ein Gespräch oder wenigstens einen Hinweis, dass er mich nicht mehr will. Aber warum? Was ist passiert? Vor ein paar Tagen noch, da lag er in meinen Armen und schien glücklich. Gut, dass er sich ab und zu seinen Spaß woanders geholt hat, wusste ich. Wir haben ja nicht ohne Grund eine offene Beziehung geführt, aber dass er mich mal auf dieses Weise abserviert, damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Dass er einen Neuen hat, der ihm jetzt alles gibt und vielleicht noch mehr, lässt auf der einen Seite mein Herz bluten, aber auf der anderen fehlt mir im Moment die Energie, um wütend zu werden. Es ist halb zwei in der Früh. Ich sollte besser zu Bett gehen, aber will ich das? In das Bett, in dem er mir alles versprochen hat, was ich seiner Meinung nach hören wollte? War unsere Beziehung letztendlich auf Treibsand gebaut? Hatte Sam damals recht, als er sagte, dass er kein Teil einer Beziehung sein will, wo einer nicht mit offenen Karten spielt, weil er lieber verdeckt agiert? Habe ich meine Jugendliebe geopfert für einen Mann, der es tatsächlich nicht wert war? Was ist passiert? Ich verstehe es einfach immer noch nicht.

Die Angoradecke, die ich letztes Jahr zu Weihnachten aus Great Falls bekommen habe, ist Bagheeras Lieblingsplatz. Mein Kater weiß ein luxuriöses Plätzchen ebenfalls zu schätzen. Sam lässt es sich nach wie vor nicht nehmen, mir ein Päckchen zu Weihnachten zu schicken, auch wenn wir kein Paar mehr sind und er in der Zwischenzeit mit seinen Männern sehr glücklich ist. Tony und Tarec sind das, was er braucht und verdient. Habe ich jetzt die Quittung für alles bekommen? Sam verloren und Jack ebenfalls? Liegt es an mir? Immer wieder die gleichen Fragen, auf die ich jetzt keine Antwort habe. Ich hebe den Kater von der Decke, ziehe sie über meinen Körper und lasse mich in die Kissen fallen. Mit der Fernbedienung schalte ich das Licht aus. Das Schlafzimmer werde ich heute meiden. Bagheera maunzt, kuschelt sich an meinen Bauch und schläft weiter.

Das leise Ticken der Uhr in der Küche erscheint mir gerade echt laut. Vorsichtig lasse ich meine Hand über den Rücken meines kleinen Räubers gleiten. Er atmet flach und gleichmäßig. Genießt die Streicheleinheiten und schnurrt. Er hat eine beruhigende Wirkung auf mich und irgendwas löst sich in mir. Die Schockstarre fällt von mir ab und Wut überkommt mich.

 

Es ist drei Uhr. An Schlaf ist nicht zu denken und den Kater habe ich mit meiner inneren Unruhe auch vertrieben. Er liegt jetzt im Schlafzimmer auf Jacks Seite, mitten auf dem Kissen, als würde er damit ein Statement setzen wollen. Ich mache mir einen Kaffee und werde in die Praxis fahren. Mike, mein Tierpfleger, wird sich freuen, etwas früher Feierabend machen zu können. Die Nachtwache in der Klinik zieht sich, wenn ich schon nicht schlafen kann, werde ich eben arbeiten.

 

»Chef, was machen Sie denn schon hier?« Mike schaut überrascht von seinem Buch auf, das er gerade liest, und blickt zur Uhr.

»Kann nicht schlafen«, brummele ich und gehe in die Küche, um mir einen weiteren Kaffee aus dem Automaten zu ziehen.

»Mike, du kannst nach Hause gehen. Ich übernehme ab jetzt. Wir müssen nicht beide hier sitzen. Wie geht es der Katze in Käfig zwei? Gestern Abend war ihr Allgemeinzustand nicht besonders.«

»Die kleine Maus hält sich wacker. Ich habe ihr ein bisschen Elektrolytlösung gegeben.« Mike hustet und schnäuzt sich lautstark. Er sieht fiebrig aus und gehört eigentlich ins Bett.

»Chef, ich muss mit Ihnen reden.« Das hört sich nicht gut an. Wäre schön gewesen, wenn Jack diesen Satz auch zu mir gesagt hätte. Gefrustet atme ich aus und drehe mich um. Mike ist mir in die Küche gefolgt und setzt sich angespannt auf einen der Stühle, die um den Tisch herumstehen. Ich nehme die Tasse unter dem Vollautomaten weg und fülle Wasser in den Tank nach, damit der Nächste, der einen Kaffee zieht, auch einen bekommt und nicht erst alles auffüllen muss. Ich hasse es, wenn der Wassertank leer ist, oder die Bohnen. Geduldig abwartend schaut Mike zu mir herüber. Ich setze mich ihm gegenüber und schaue ihn an. Auf eine schlechte Nachricht mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an.

»Schieß los!«, fordere ich ihn auf und trinke einen Schluck des schwarzen Muntermachers.

»Ich werde Seattle Ende Dezember verlassen. Ich habe beschlossen nach Kalifornien zu gehen und dort ein Tiermedizinstudium aufzunehmen. Ich habe in den letzten Jahren hier bei Ihnen viel gelernt und möchte das umsetzen, verstehen Sie? Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, als Sie damals an mich geglaubt haben und mir diese Chance hier geboten haben, nach allem, was in meiner Vergangenheit war. Meine Mum ist alt geworden und meine Schwester bekommt bald ihr Baby. Sie ist ja schon dort unten. Es wird Zeit, dass Mum ihre Arbeit bei der Heilsarmee aufgibt und an sich denkt. Wir verbinden mit dieser Stadt so vieles. Gutes wie Schlechtes, und jetzt ist es Zeit, die Zelte hier abzubrechen und nach Neuem zu streben.«

»Mike, deinen Wunsch kann ich total verstehen. Ich weiß, wie du dich fühlst. Das war damals bei mir nicht anders. Ich musste von Zuhause weg, um mich entfalten zu können. Wer wäre ich, wenn ich dir deine Ziele ausreden würde? Du hast hier immer einen super Job gemacht, wir werden dich vermissen. Richte Beth meine liebsten Wünsche aus und sag ihr alles Gute, ja? Mein Lieber, es ist gut, nach höheren Zielen zu streben, und ich wünsche dir, dass du sie erreichst, verlier sie nur nicht aus den Augen.«

»Nein, Sir, dafür werden meine Mum und meine Freundin schon sorgen. Meine Schwester hat uns eine Wohnung besorgt, im selben Wohnkomplex, wo sie wohnt. Ich freue mich auf das warme Klima da unten. Was ich hier allerdings nicht vermissen werde, ist dieser verdammte Regen.« Ich muss lachen, denn dieser November ist wirklich nass. So viel geregnet hat es gefühlt seit Jahren nicht.

»So, jetzt aber ab nach Hause. Du gehörst ins Bett. Deine Erkältung klingt nicht gut.«

»Danke, Sir. Für alles.« Er erhebt sich und schlurft zur Tür. Ich bleibe sitzen, schaue in meine Kaffeetasse und blicke auf den schwarzen Sud. Minuten vergehen, als die Hintertür zuklappt und ich allein bin. Vier Uhr morgens … Ich beschließe, dass es Zeit ist, nach der Katze in Käfig zwei zu sehen.

 

»Masha, ich brauche einen Handwerker, der das Schloss in der Eingangstür von meinem Haus austauscht. Kannst du da mal für mich recherchieren, wer kurzfristig kommen kann? Ach, und buch mir für heute Abend einen Flug nach Montana. Ich will über Thanksgiving nach Hause.« Ich werfe die Post in das Eingangskörbchen meiner Empfangsdame und nehme die nächste Patientenakte.

Irritiert schaut sie auf, versucht scheinbar meinen Wunsch in einem vernünftigen Kontext zu verstehen und nickt mit gerunzelter Stirn.

»Cole, ist alles in Ordnung? Willst du reden?«

»Nicht jetzt und nicht hier. Ich muss selbst erst mal verarbeiten, was gestern Abend passiert ist. Wir gehen die Tage mal essen, okay? Ach, und wir brauchen einen neuen Tierpfleger. Zumindest einen Helfer, der die Nachtschichten übernehmen kann. Mike wird uns auf eigenen Wunsch verlassen. Mach bitte einen Aushang. Vielleicht haben wir ja Glück und es schneit uns jemand ins Haus, der die Stelle nahtlos übernehmen kann, wenn Mike seinen restlichen Urlaub nimmt.« Meine gute Seele am Empfang runzelt die Stirn noch mehr und jetzt sieht es schon beinahe komisch aus.

»Lass das, das gibt Falten«, necke ich sie und gehe in Behandlungszimmer zwei, wo eine Impfung auf mich wartet.

Kapitel 5 – Sterling Zuhause auf knapp 20 m²

 Kapitel 5 – Sterling

 

Zuhause auf knapp 20 m²

 

Beth’ Worte schwirren in meinem Kopf. Ziele im Auge behalten. Dazu müsste ich mir erst mal welche setzen. Meinen Hunger abzustellen, wäre ein Anfang. Ich habe zwei Alternativen. Ich gönne mir eine Pizza und habe eine zugegebenermaßen leckere Mahlzeit oder ich hole mir Brot und Käse für denselben Preis und habe zwei Tage was davon. Mein Magen sagt, nimm die erste Möglichkeit, doch mein Verstand meint, dass ich das Geld zusammenhalten sollte und ich damit so lange haushalten muss, wie es nur geht.

Der Tag ist trüb und es regnet immer wieder. Mittlerweile bin ich total durchnässt. Bin ich aber auch selbst schuld. Was sitze ich hier im Regen herum und suche mir nicht einen Unterschlupf? Aber wo auch immer ich hingehe, dort wird man mich wegschicken. Herumlungern wird nicht geduldet. Der Strand ist verwaist. Keine Menschenseele weit und breit. Nur Steine, Sand, das Meer und ich. Das Rauschen des Wassers übertönt die Stimme in meinem Kopf. Die, die immer sagt, dass ich schuldig bin. Schuldig – bis in alle Ewigkeit und nichts auf dieser Welt kann an dieser Tatsache etwas ändern. Ich habe das Auto gefahren, als der Unfall passierte. Ob diese Ampel nun grün war oder doch rot, ist unerheblich, denn Connor bringt nichts und niemand mehr zurück. Ich blicke in den Himmel, den ich sonst nur aus einem Blickwinkel meiner Zelle sehen konnte, spüre die unendliche Weite, Freiheit bis zum Horizont und noch darüber hinaus. Wenn man eine parkplatzgroße Zelle hatte, dann ist die wiedererlangte Freiheit wie neu geboren zu werden. Der Hunger und die Kälte beißen an meiner Substanz. Ich beschließe mir aus dem Supermarkt Lebensmittel zu besorgen und dann suche ich nach der Adresse des Trailerparks. Mehr wie Pech haben kann ich nicht. In der Abgeschiedenheit des Strandes fische ich mir einen Zwanziger aus meiner Socke, damit niemand zusieht, wo ich mein Geld versteckt habe, und mache mich auf den Weg.

 

Mit einem roten Korb schleiche ich durch die Gänge eines kleinen Supermarktes. Ein Paket Sandwichtoast, Käse in Scheiben und eine Packung Wurst sowie eine Flasche Wasser und Instanttee finden den Weg in meinem Korb. Ebenfalls eine neue Zahnbürste, Zahnpasta und ein Stück Seife. Ein großes Handtuch, ein kleines sowie ein Waschlappen. Die Straße runter ist ein Truckstop, wo ich mich waschen könnte. Ich bezahle und von den zwanzig Dollar sind fünfundsiebzig Cent über. Das Leben ist teuer. Auf einer kleinen Parkbank esse ich zwei Scheiben Toast. Trinke die Hälfte der Flasche und stecke alles zusammen in meine Reisetasche. Mein Magen dankt es mir. Mir tun die Knochen weh. Ich lege alle meine Hoffnung darauf, dass ich Glück habe und dieser Old Balou einen Trailer frei hat und ihn mir vermietet. Stellt sich die Frage, ob ich mir das Teil überhaupt leisten kann. Fünfhundertdreißig Dollar sind noch über.

 

Anders als ich erwartet hätte, liegt der Park direkt am Puget Sound. Es gibt etwa hundertfünfzig Trailer, Wohnmobile und kleine Hütten. Alles ist alt, aber liebevoll instand gehalten. Es ist ordentlich, es liegt kein Müll herum und das Areal wirkt gepflegt. Das einzige Haus, das auf dem Grundstück steht, scheint das Büro, eine Wohnung, Dusch- und WC-Räume und eine Waschküche zu beherbergen. Zögerlich gehe ich auf das Büro zu und klopfe leise an.

»Herein«, dröhnt es von innen. Ich schiebe die Tür einen Spalt auf und spähe hinein. Ein Mann sitzt in einem Sessel und blickt von seinem Buch auf.

»Guten Tag, Sir.« Ich schlucke und versuche mein Unbehagen abzuschütteln, das mich plötzlich heimsucht.

»Was kann ich für dich tun, Junge?« Ein schwarzer Labrador hebt müde den Kopf, schaut, gähnt und legt sich dann ausgestreckt auf seiner Decke hin und schläft entspannt weiter.

»Ich … ich suche nach einer Bleibe. Sie sind mir empfohlen worden und ich wollte fragen, ob Sie eventuell was frei haben, was Sie mir vermieten könnten?« Er schaut mich an. Von oben nach unten, ohne dass er seine Miene verzieht. Er klappt das Buch zu, legt es neben sich auf den kleinen Tisch und stemmt sich aus seinem Sessel hoch. Der Kerl ist riesig. Da komme ich mir mit meinen eins neunundsechzig winzig vor. Er kommt zwei Schritte auf mich zu und bleibt dann stehen.

»Wer hat mich denn empfohlen?« Er schaut mir unverwandt in die Augen und mir schwant, dass er genau weiß, wo ich herkomme.

Ich schlucke, stelle die Tasche ab und hole den kleinen Zettel aus meiner Jackentasche. Das Papier ist nass und ich reiche ihm mit zitternden Händen den Zettel.

»Die Lady heißt Beth und ich habe sie bei der Heilsarmee kennengelernt. Sie sagte, dass ich Ihnen einen schönen Gruß ausrichten soll, Sir.« Er langt mit seiner großen Hand nach dem kleinen Zettel und nickt. Dann gibt er mir ihn zurück und schaut auf mich herab.

»Verrätst du mir deinen Namen, Junge?« Ich nicke nur und er sieht, dass das Gespräch für mich nicht so einfach ist.

»Sterling O’Hara. Ich suche eine Bleibe für mich allein und Arbeit.«

»Hast du denn überhaupt Geld für die erste Miete?«

»Ich habe Geld!«, werfe ich hastig ein. »Wie viel würde mich denn die Miete kosten?«

»Zweihundert im Monat. Hast allerdings kein fließendes Wasser, aber Strom. Der wird extra abgerechnet. Gibt ’nen Zähler für jede Parzelle.«

»Das passt.« Ich senke den Blick und schaue auf das Linoleum, das schon bessere Zeiten gesehen hat.

»Ich dulde hier keine Drogen. Der Wagen, den du bekommen kannst, wurde von einem Dealer gemietet. Der ist hier so schnell rausgeflogen, dass er noch nicht mal blinzeln konnte, bevor ich ihn am Schlafittchen hatte.«

»Keine Drogen, kein Alkohol, keine Zigaretten.« Wieder schüttle ich zur Bestätigung den Kopf.

»Bist nicht gerade gesprächig, oder? Wo hast du gesessen?« Der Schock, dass er mich durchschaut hat, fährt mir in die Glieder. Ich zucke zusammen und spüre, wie mein Gesicht beginnt zu brennen.

»Ich war acht Jahre in Walla Walla. Die ersten drei in der Jugendabteilung, dann die restlichen fünf im Erwachsenenvollzug.« Ein Schauer jagt mir über den Rücken.

»Hast du Bewährung?« Wieder schüttele ich den Kopf.

»Ich habe jeden Tag, für den sie mich verurteilt haben, abgesessen.«

»Wirst du mir hier Ärger machen? Denn wenn ja, bist du schneller wieder weg, als du bis drei zählen kannst.«

»Kein Ärger, Sir. Nur nach vorn schauen.« Er schweigt. Ich fühle mich unter seinem Blick nackt und klein. Er schüchtert mich ein und vielleicht ist es besser, schnell wieder zu verschwinden. Ich merke, dass ich die Luft anhalte.

»Das ist eine gute Entscheidung. Komm, ich zeige dir den Trailer. Er ist nicht groß. Für dich allein wird er reichen. Es sind noch ein paar Sachen drin geblieben. Geschirr, Decke und Kissen. Er hat nur seine Elektroniksachen mitgenommen. Ich hatte ihm fünf Minuten gegeben, um zu verschwinden. Die Sachen, die er nicht mitnehmen konnte, habe ich im Trailer belassen. Ist ja nicht so, dass bei den Leuten, die hierherkommen, plötzlich der Reichtum ausgebrochen ist. Ist diese Tasche dein ganzes Gepäck?« Ich nicke zweimal und greife nach der Tasche, um sie mir über die Schulter zu schwingen. Mein Arm schmerzt. Ich verziehe das Gesicht, versuche aber mir nichts anmerken zu lassen.

»Seit wann bist du draußen?« Mann, der Kerl ist echt neugierig.

»Seit gestern.« Er geht an mir vorbei und greift an der Garderobe nach einem großen Parker, den er sich überzieht. Dann nimmt er einen Bund Schlüssel aus einer Kassette und öffnet die Bürotür. Ich schlüpfe schnell hinaus und warte, dass er ebenfalls das Gebäude verlässt. Erleichterung macht sich in mir breit, denn noch eine Nacht ohne ein Dach über dem Kopf würde mich verzweifeln lassen.

Er geht vor und hinter dem Gebäude biegt er rechts ab. Wir gehen auf einem Kiesweg an jeweils zwanzig Trailern rechts und links vorbei. Er steuert einen kleinen Trailer an, der ganz hinten rechts in der Reihe steht. Nummer einhundert. Schätze, das kann ich mir merken. Er schließt auf und tritt vor mir ein. Es riecht abgestanden, aber es ist ordentlich. Eine kleine Küchenzeile auf der rechten Seite grenzt an einen kleinen Tisch mittig an. Dann ist dort die Waschkabine und links ist ein Bett sichtbar. Ich blicke sehnsüchtig in mein zukünftiges Schlafzimmer und bemerke erst später, dass Old Balou mich mustert.

»Letzte Nacht nicht geschlafen, was?«

»Nein! Nicht geschlafen.« Ich schüttele den Kopf, um zu bestätigen.

»Komm nachher rüber, dann machen wir das Offizielle und bring die Miete mit. Ach, und noch was. Wir helfen uns hier gegenseitig. Wenn du was brauchst, dann mach den Mund auf.«

»Arbeit wäre ein schöner Anfang.«

»Mal sehen, was sich machen lässt. Nun ruh dich aus. Du siehst aus wie der Tod auf Latschen. Und sieh zu, dass du aus den nassen Klamotten rauskommst. Strom stelle ich dir gleich an. Heizung entweder per Strom oder Gasflasche. Muss nur den Stecker einstecken, dann wird’s auch warm hier drinnen. Duschen und Toiletten sind vorn am Parkeingang. Die WC-Benutzung ist für die Bewohner hier frei, nur duschen kostet fünfzig Cent für drei Minuten. In der Waschküche gibt es heißes Wasser zum Abwaschen und ein paar Waschmaschinen. Unter der Spüle sollte noch ein Kanister sein. Nun, dann lasse ich dich jetzt allein. Den Mietvertrag machen wir, wenn du ein bisschen geschlafen hast. Wir reden später.« Er legt mir seine große Hand auf die andere Schulter und da merke ich erst, wie weh mir alles tut. Die Tasche landet auf dem Tisch und ich mache die Fenster auf, um einmal quer zu lüften. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, wie er mit einem kleinen Mädchen spricht. Er lächelt sie an und streichelt ihr über den Kopf. Ich wende den Blick ab und öffne die Schranktüren, um den Inhalt zu inspizieren. Geschirr und Gläser, bunt zusammengewürfelt, ein paar Tücher … Unten stehen zwei kleine Töpfe und eine Pfanne. In dem Schrank neben dem Schlafzimmer liegen Bettwäsche, eine Decke und ein Kissen. Ich hole sie raus und bereite mir mein Bett vor. Mein Anspruch ist nicht besonders hoch. Ich möchte einfach nur schlafen. Schnell schließe ich alle Fenster und schließe die Tür ab. Meine Klamotten landen im Bad und die einzige Jogginghose, die ich habe, ziehe ich schnell wieder über. Ist empfindlich kalt hier. Ich ziehe den kleinen Heizlüfter aus dem Bad und richte ihn in Richtung Schlafkabine. Ich wechsele den nassen Hoodie gegen einen anderen und krabbel ins Bett. Die Wärme, die mir entgegenbläst, lässt meine Wangen auftauen. Meine Füße kribbeln und sind eiskalt. Das Kratzen in meinem Hals lässt nichts Gutes vermuten.