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Georg M. Peters

Evolution des Bewusstseins





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Einleitung

Dieses Buch gibt einen knappen Überblick über die gesamte Geschichte des Abendlandes in Form einer neuen Systematik. Es gliedert diese Geschichte in verschiedene Ären, Epochen und Phasen so dass die innere Gesetz­mäßig­keit dieses historischen Entwicklungsprozes­ses sichtbar wird. Wie umfassend die Thematik dieses Buches ist, geht daraus hervor, dass die kulturhistorische Frage­stel­lung nur einen Teil der Gesamtthematik darstellt. Der Denkansatz ist psychologischer Art, indem er die Bewusst­seins­­entwicklung als treibendes Element ansieht, der Ansatz ist religiöser und ethischer Art, indem er die Frage nach der richtigen Lebensgestaltung in den Vordergrund rückt, und er ist künstlerischer Art, indem er die Charakte­ristika der jeweiligen Kunststile als Indikatoren heranzieht.

Die Besonderheit dieses Buches liegt darin, dass hier nicht ein Resümee des neuesten Forschungsstandes von Bewusstseinsforschung, Philosophie und Kulturgeschichte gegeben wird, sondern ein ganz naiver Neuansatz versucht wird - naiv im Sinne von Unvoreingenommenheit und im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für genetisches Lernen. Denn der Neuansatz ähnelt der Methode des gene­ti­schen Lernens, des Selbstentdeckungslernens. Diese Methode, von der man in Pädagogik und Didaktik langsam erkennt, dass sie die beste Methode ist für einen Lernen­den, sich einen neuen Lernstoff wirklich anzueignen, wird hier auf die Kulturgeschichte als Ganzes angewendet.

Die Fragestellung lautet in jedem Falle, wie könnte ich, wobei ‘ich’ nicht nur für das Ich des Autors steht, sondern auch für das Ich des Lesers, wie könnte ‘ich’ also zu der Erkenntnis gelangen, dass Gott die Welt, zum Beispiel in sieben Tagen, erschaffen hat - um ein Beispiel aus der Mythologie zu nennen -, oder wie könnte ‘ich’ die Energie aufbringen, die Pyramiden zu bauen.

Es hat mir viel Vergnügen bereitet, den Text zu schreiben, und ich kann nur hoffen, dass es dem Leser ebenso viel Vergnügen bereitet, ihn zu lesen. Als ich mit der Niederschrift begann, war mir über eine Idee im Zusammenhang mit der Farbwahrnehmung hinaus keines­falls klar, was ich schreiben wollte. Vielmehr kristalli­sierte sich der Stoff während des Schreibens fast gegen meinen Willen immer weiter aus. Natürlich ist mir klar, dass die Zeit der großen philosophischen und weltanschaulichen Syste­me vorbei ist. Wozu dann also doch wieder ein System? Kristalline Strukturen zeichnen sich durch ihre Symmetrien aus. Nur ein einziges Mal stellte ich bei der Niederschrift fest, dass die Symmetrie der Grundstruktur - der inneren Gesetzmäßigkeit des historischen Entwick­lungs­prozesses - fehlerhaft war, was eigentlich genau meiner Erwartung entsprach. Weshalb sollte sich die Geschich­te nach Symmetriegesetzen entwickeln? Doch dann änderte ich die Grundstruktur in einem Punkte, und damit waren die Symmetrieeigenschaften vollständig wiederhergestellt.

Nun ist die Kulturgeschichte eine so komplizierte Struktur, dass man jedes beliebige Muster irgendwie in sie hineinprojizieren kann. Viele werden behaupten, dass ich genau das getan habe. Aber selbst, wenn es so wäre, und dem Muster keinerlei konkreter Realitätsbezug zugrunde läge, würde ich es für mitteilenswert halten - allein wegen seines Unterhaltungswertes, ästhetischen Wertes, mnemo­techni­schen Wertes. Allerdings bin ich darüber hinaus von dem Realitätsbezug durchaus überzeugt, auch wenn ich ihn nicht beweisen kann, selbst wenn ich noch beliebig viele weitere Belege aufeinander häufen würde. Ein solches Bekenntnis, wie es Galilei der Kirche verweigert hat, würde ich freiwillig geben, wenn es verlangt würde: Ich liefere nur ein Mittel zur vereinfachten Beschreibung. Wie die Wirk­lichkeit tatsächlich beschaffen ist, weiß ich auch nicht.

Unterhaltungswert! Oh, Graus! Und das in Deutschland. Ich habe mich allerdings ganz bewusst, wenn ich vor der Wahl stand, ob ich den wissenschaftlichen Charakter oder den Unterhaltungswert stärker gewichten sollte, für den letzte­ren entschieden - jedenfalls soweit es möglich war, ohne den Erkenntniswert zu beeinträchtigen.

Wenn Sie mir in diesem Text weiter folgen, dann werde ich Ihnen, wie ich hoffe, ein Gefühl für das Fortschreiten der historischen Zeit vermitteln, das heißt, je weiter Sie fortschreiten in der Lektüre, desto eher werden Sie ahnen, in welche Richtung der nächste kulturhistorische Entwick­lungs­schritt sich bewegen wird. Wie in einem Zeitrafferfilm das Wachstum einer Pflanze sichtbar wird, so wird sich vor Ihrem geistigen Auge die abendländische Kultur entfalten.

Diese Entwicklung, in die Sie eingebunden werden, beginnt mit dem zweiten Kapitel. Das Buch enthält aber nicht nur die Darstellung eines Entwicklungsmodells. Es will sich auch der Antwort auf die Frage nähern, wie man leben soll - also einer ethisch-psychologischen Fragestellung. Wenn Sie sich auf dieses Leseabenteuer einlassen wollen, müssen Sie auf den folgenden Seiten jedoch zuerst einmal einen Einführungskurs durchlaufen, in dem einige Grundbegriffe eingeführt werden. Sie erscheinen in einem psychologischen Gewand.

Diese einführende Darstellung ist sehr kurz und lakonisch, und die Begriffe werden Ihnen zunächst fremd erscheinen und auch am Ende des ersten Kapitels noch fremd geblieben sein. Das wird sich jedoch im Laufe der weiteren Lektüre bald ändern. Diese Begriffe sorgen für die innere Struktur der dargestellten kulturhistorischen Entwick­lung. An den Haltestellen dieses Prozesses sorgen sie für ein Erlebnis des déjà vu, wobei sie sich jedesmal in einem anderen Lichte darstellen und zu einem vertrauten Element in einer jeweils verwandelten Welt werden.

Dass Sie als Leser hier in einen Entwicklungsprozess eingebunden werden, wie oben behauptet, ist nicht nur eine aufmunternde Randbemerkung, sondern bildet das wesent­lich Neue dieses Buches. Die hier eingeführten Begriffe sind keine theoretischen Konstruktionen - durch ethnische oder historische Untersuchungen untermauert. Sondern es sind Stratageme, Regeln, vermutete Lebens­gesetz­lichkeiten, die nur auf Grund eigener Lebens­praxis verifizierbar oder verwerfbar sind. Außerdem werden wir sehen, dass die Menschen schon immer auf der Suche nach solchen Stratagemen waren. Derjenige Leser, der dieses Buch richtig lesen will - richtig im Sinne des Autors - steht also nicht vor der Aufgabe, sich eine Reihe von Deduktionen und Beweisen vorführen zu lassen, sondern sich die vorgeführten Stratageme anzueignen und sie selbst auf ihre Lebenseignung zu prüfen. Letztlich kann er dieses Buch nicht lesen, ohne sich zu verwandeln.

 

13.6.2017 Georg M. Peters

 

 

Bewusstseinsradius

Ich sehe mich einem andern Ich gegenüber. Welche Einstellung habe ich zu dem andern? Ich kann das Gegenüber als Objekt be­trachten. Das heißt, ich kann mich auf die Wahrnehmungen meiner Sinnesorgane beschränken und meine Aufmerksamkeit auf die Oberflä­che richten. Wissen vom andern, Projektionen auf das andere Ich sind ausgeschlossen. Das pathologische Extrem ist eine Einstellung, die den anderen lediglich ohne jede Einfühlung als Objekt, betrachtet. Eine kriminelle Einstellung.

Oder das Extrem in der andern Richtung: Ich statte das Gegen­über, weil es ein Ich ist, und weil ich weiß, dass es ein Ich ist, mit meinem gesamten eigenen Wissen aus. Indem ich so das Gegenüber als ein Bewusstsein erlebe, das mich bis in die letzte Tiefe meines Wesens durchschaut, entwickle ich eine pa­thologische Einstellung - wie ein Schizophrener, der sich von all­ge­genwärtigen Strahlen durchdrungen, von Röntgenaugen durchleuchtet weiß. Sein Gegenüber erscheint als ein höheres, unantastba­res, ta­buisiertes und allwissendes Wesen, und das Wissen um diese Allwis­senheit löst Angst aus. Er wendet seinen Blick ab und nimmt eine Demutsstellung ein. Das Gegenüber in seiner Eigenart und seinem äu­ßeren Erscheinungsbild nimmt er nicht mehr wahr. Es wird von einem Heiligenschein überstrahlt.

C.G. Jung unterteilte die Menschen typologisch in vier Gruppen: Den Wahrnehmungs-, Intuitions-, Denk- und Gefühlstyp. Der Intuiti­onstyp entspricht in gewisser Weise dem soeben dargestellten patho­logischen Fall. Denn auch der Intuitionstyp nimmt die Eigenart seines Gegenübers nur durch Einfühlung wahr, also von innen her, während er für die äußere Erscheinung keinen Blick hat.

Für einen Klienten war es unerträglich, etwa in der Straßenbahn sich dem Blick älterer Frauen ausgesetzt zu sehen. Die Ursache für diese Phobie lag darin, dass er unbewusst seine eigenen Selbstzweifel in das fremde Bewusstsein projizierte. Er hatte noch ein zweites Problem: Er dünkte sich wegen seiner Art zu gehen auffällig und fühlte sich ständig von allen Leuten wegen seines Ganges kri­tisch und geringschätzig beobachtet.

Eine erste Lösung ergab sich für diese beiden langjährigen Pro­bleme, als wir die Ursache analysiert und als Therapie eine medita­tive Übung entwickelt hatten: Einen therapeutischen Wechsel in das andere Einstellungsextrem - die andern Menschen als Dinge, als Bäume, anse­hen! Der Klient geht nicht mehr durch eine belebte Straße, sondern ist allein in einem Wald voller Bäume - "allein" im Sinne von unbeob­achtet. Das heißt, er verkleinert intentionell seinen Bewusstseinsra­dius, entzieht dem andern, dem fremden Bewusstsein die Ausstattung mit seinem eigenen Wissen.

Voraussetzung war: Das Nachdenken über fremdes Denken zu un­terlassen. Trotz der meditativen Vorbereitung war Mut erforderlich - etwa um beim Gehen stehen zu bleiben in dem Augenblick, da er den Gedanken hatte, "Ich möchte jetzt stehen bleiben." Die alte Einstel­lung verlangte von ihm zwanghaft weiterzugehen. Denn die andern könnten sonst denken, "warum bleibt er jetzt stehen?".

Maßgebend für sein Handeln war nicht der eigene Impuls sondern das imaginierte Denken und die imaginierte Einstellung der andern. Die Therapie bestand darin, dass er solche Imagination beendete, und dass er seinen Bewusstseinsradius auf den körperlichen Abstand der andern Men­schen reduzierte.