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Daniel Zipfel

Die Wahrheit der anderen

Roman

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Für Caroline

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

Die Piñata hing an einem goldenen Band. Rotes und gelbes Papier, darüber die Äste des Nussbaums im Garten meiner Eltern. Die runden Gesichter meiner Brüder, meiner Schwester, mein eigenes Gesicht. Die Frisuren sauber gescheitelt stehen wir in einer Reihe, der Größe nach geordnet, ich zuletzt. Lange Stöcke halten wir in unseren Händen. Meine Brüder grinsen. Meine Schwester und ich mit unbewegter Miene.

Unwillkürlich zog ich das Mobiltelefon an mich. Polizisten liefen quer über den Minoritenplatz, in die Richtung, wo die Böller krachten. Sie trugen weiße Helme und Schutzschilde aus Plexiglas. Seit einer Viertelstunde hatten sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Sprechchöre hallten von den Seitengassen herüber, Megafone dröhnten die klassizistischen Wiener Gebäude hinauf, zu den hohen Fenstern mit den kunstvollen Verzierungen, den gleißend hellen Fassaden in der Mittagssonne. Ich saß auf einer Bank im Schatten der Minoritenkirche, an einer niedrigen Steinmauer unter dem Glockenturm, und wischte zum nächsten Foto, das meine Schwester mir geschickt hatte.

Meine Geschwister und ich beim Abendessen. Der Inhalt der Piñata vor uns, in einer weißen Porzellanschüssel. Schokoladentaler aus Lübeck, verpackt in goldenes Zellophan. Die Porzellanschüssel unerreichbar, das Kindermädchen überwacht unsere Hände. Der Vater hinter uns, mit Lesebrille und dunkelgrauer Strickweste. Ernst blickt er in die Kamera, ungeduldig.

Beim Abendessen wird er meine Brüder fragen, wer die Piñata zerschlagen hat. Der Sieger wird die Schokolade verteilen dürfen. Meine Brüder werden mir zuflüstern, ich bekäme so viele Taler, wie ich blaue Flecken von ihren Stöcken hätte. So werde ich es dem Kindermädchen erzählen, auch wenn es nicht stimmt, auch wenn meine Brüder das nie gesagt haben, aber ihnen wird niemand glauben, und das Kindermädchen wird sie früh ins Bett schicken, sodass meine Schwester und ich die ganze Porzellanschüssel für uns allein haben werden.

Ich löschte das Foto, reagierte nicht auf die Stimme des Polizisten, der mich anschrie, ich solle hier sofort verschwinden. Stattdessen scrollte ich durch die Nachrichten, die auf meinem Mobiltelefon aufschienen. 2013 würde ein Jahrhundertsommer werden, das wusste man schon jetzt, Anfang Juli. Messrekord im Tullnerfeld. Ernteausfälle in ganz Europa. Die Folgen des Klimawandels. Edward Snowden in Moskau. Der neue Papst in Lampedusa. Am Flughafen Schwechat wurde die bolivianische Präsidentenmaschine durchsucht. Edward Snowden noch immer in Moskau. Ich wischte die Nachrichten weg. Mit meiner freien Hand hob ich den Presseausweis in die Höhe. Der Polizist zögerte kurz, eilte schließlich seinen Kollegen nach.

Die Sperrzone rund um die Kirche, vor den Eingängen der Ministerien, war längst keine mehr. Platzsperre, Demonstrationsverbot, das war gegessen. Von der Herrengasse drangen Trillerpfeifen herüber, vom Ballhausplatz Trommeln. Mit hektischen Bewegungen formierten sich die Polizisten vor den Eingängen der Ministerien, die Schutzschilde am Boden, Visiere vor den Gesichtern. Der Lärm schwoll immer mehr an.

Der Vater trägt eine Kapitänsmütze. Meine Brüder mit ihm Arm in Arm, die gleichen Mützen auf dem Kopf. Im Hintergrund der Steg an der Elbe, das Segelboot.

Wenn man das Bild mit zwei Fingern vergrößerte, verschwammen die Konturen. Ich hatte damals die gleiche Fleecejacke wie sie getragen, die gleichen Handschuhe, die gleiche Mütze, war aber nirgends zu sehen, mir hatten sie nur die Kamera in die Hand gedrückt. Besser, sie hätten mich gar nicht erst mitgenommen, wie meine Schwester. Windig und kalt war es gewesen, und der Fluss hatte nach Phenol gestunken.

Die Polizisten schrien sich etwas von einer Sperrkette zu, unverständliche Kommandos. Ich ließ das Mobiltelefon sinken. Der Lärm der Trommeln wogte heran, vibrierte in meiner Magengrube, in meiner Brust. Betont lässig legte ich einen Arm auf die Rückenlehne der Bank, drehte mich um. Die Demonstranten strömten über den Platz, liefen dicht an mir vorüber. Beine, Hüften, Rucksäcke drängten sich gegen mich, raubten mir die Sicht. Ein Megafon plärrte, Hunderte Stimmen antworteten rhythmisch, hallten in meinen Ohren. Demonstranten kletterten auf meine Bank, junge Männer in kurzen Hosen. Einer hielt sich beim Hinaufsteigen an meiner Schulter fest. Ich spürte ihre Knie an meinem Kopf, ihre Beine an meinen Oberarmen, roch ihren Schweiß, ihren Atem, hörte ihr Brüllen gleich neben mir. Schließlich rappelte ich mich auf, stellte mich zu ihnen und senkte den Blick wieder auf mein Telefon. Ich wischte die Fotos meiner Schwester weiter, ließ eines nach dem anderen im Papierkorb verschwinden, hielt plötzlich inne.

Brandt. Brandt und ich. Wir sitzen auf den Stufen der Henri-Nannen-Schule in Hamburg, tragen das gleiche Sakko. Die Krägen unserer Hemden sind geöffnet, seine Hand auf meinem Knie. Wir winken in die Kamera, meiner Schwester zu, kneifen die Augen zusammen, wohl wegen der Sonne.

Auf dem Foto erkannte man nicht, dass ich geheult hatte. Was man wisse, sei komplett egal, hatte Brandt zu mir gesagt. Es komme darauf an, was man glaube. Als meine Schwester nähergekommen war, war er verstummt. Sie hatte gefragt, wie es gelaufen sei, und ich hatte gelogen. Brandt hatte uns sein Zigarettenetui hingehalten und gemeint, er würde etwas anderes für mich finden. Journalistenschulen seien ohnehin überbewertet.

Vor der Reihe Polizisten waren die Demonstranten zum Stehen gekommen. Sie hielten Transparente hoch, skandierten den Namen des toten Pakistaners. Aus einem Polizeimegafon ertönte ein schriller Ton. Zwischen knackenden Geräuschen wies eine Stimme auf die Sperrzone hin, wurde von zwei, drei anderen Megafonen unterbrochen, von Trommeln, Tröten und Trillerpfeifen, von der Menge, die den Namen des Pakistaners den Polizisten entgegenbrüllte, die Fenster des Innenministeriums hinauf. Asif Khan. Asif Khan. Überall Asif Khan. Sein Gesicht auf den Schildern, die in die Höhe gingen, auf den Flyern, die alle in ihren Händen hielten, auf dem schwarzen Kartonsarg, den sie durch die Reihen hindurch nach vorne schoben. Ich blickte über die Köpfe der Menschen hinweg, die inzwischen den ganzen Platz füllten, über die Pappkartons und roten Fahnen. Studenten, Pakistaner. Immer mehr Menschen drängten sich rund um die Kirche zusammen. Dann änderten sie die Parole. Zuerst riefen es nur Einzelne, dann immer mehr, und schließlich griffen die Megafone das Wort auf, und Asif Khans Name verebbte.

»Mörder!«

Die Menge schleuderte es den Polizisten entgegen, im kehligen Takt, gegen die Wände, die Fenster, immer lauter, über geballte Fäuste hinweg, übertönte es selbst die Megafone und Trommeln.

»Mörder!«

Die Sonne brannte mir inzwischen in den Nacken. Jemand stieß gegen meine Knie. Ich zuckte vor einem Schild zurück, bekam es fast ins Gesicht. Das Mobiltelefon in meiner Hand vibrierte, zeigte noch ein Foto an.

Der Hamburger Hafen. Der Uhrturm. Schiffe. Sonnenaufgang.

Das Foto musste meine Schwester aus dem Internet haben. Darunter stand, es sei höchste Zeit, dass ich nach Hause zurückkäme. Alle würden sich auf mich freuen. Sie log. Konnte mich längst nicht mehr leiden. War sich nicht einmal zu blöd dafür, mir die alten Bilder zu schicken. Noch eindeutiger konnte man es nicht zeigen. Ich würde trotzdem zurückkommen. Was sollte ich noch in Wien, hier bei Brandt.

Ich schloss die Nachrichten meiner Schwester, wechselte auf die Fotofunktion. Mit ausgestrecktem Arm bemühte ich mich, möglichst viele von den Demonstranten und den Polizisten ins Bild zu bekommen, von den Transparenten und den Schildern mit Asif Khan darauf. Ich suchte das richtige Licht, kniff die Augen zusammen. Drückte ab. Auf einmal rempelte jemand gegen meine Schienbeine. Das Telefon rutschte mir aus der Hand. Ich fluchte, erwischte es gerade noch im Fallen, fiel dabei selbst fast von der Bank, stieß jemandem gegen den Hinterkopf. Im selben Moment rammte mich eine Schulter. Die Menge unter mir war in Bewegung geraten. Ich hielt das Telefon wieder hoch. Eine Gruppe Polizisten hatte sich von der Absperrung gelöst. Ihre weißen Helme glänzten in der Sonne. Dicht aneinandergedrängt schoben sie einen Keil durch die Menge, versuchten, die Demonstranten zu teilen. Der Rhythmus der Parolen geriet durcheinander, verstummte, ging in aufgeregte Rufe über, in gellende Pfiffe. Rund um den Trupp lichtete sich die Menge, geriet ins Schieben, ins Stoßen. Ein paar Demonstranten gingen zu Boden. Der Vorstoß kam ins Stocken. Polizisten stolperten über die Gestürzten, zerrten sie zur Seite. Ich zoomte heran. Die Demonstranten wehrten sich, strampelten, hielten sich gegenseitig fest. Dann sah ich die Frau auf dem Display. Wenige Meter von mir entfernt wankte sie in dem Gemenge herum, eine Hand an den Kopf gelegt, den Blick nach unten gerichtet, als würde sie etwas suchen. Ein blauer Seidenschal hing ihr am Rücken herab. Auf einmal rempelte sie jemand von hinten, sie fiel nach vorne, auf die Pflastersteine. Ein Polizist tauchte neben ihr auf, hielt ihr die Hand hin. Sie sah zur Seite, schüttelte den Kopf. An ihrer Schläfe klebte Blut. Der Polizist machte einen halben Schritt zurück, legte die Hände an den Gürtel, offenbar unschlüssig, was er tun sollte.

Ich drückte ab.

Der Polizist mit weißem Helm und schwarzem Nackenschutz, das Visier vor dem Gesicht. Eine drohende, massige Gestalt, die Hände am Gürtel, die Arme angewinkelt. Neben seinen schweren Stiefeln am Boden die junge Frau mit blauem Seidenschal. Sie sieht zu ihm auf, Blut an der Schläfe, das Blut rinnt in einem dünnen Faden an ihrer Wange hinunter.

Noch einmal drückte ich ab, noch einmal, hielt den Finger noch immer auf das Display gepresst, als die beiden schon längst auseinandergegangen waren. Ich wusste, das war etwas Großes. Dann ließ ich das Mobiltelefon sinken, ließ meinen Kopf in den Nacken fallen, hörte die Trommeln nicht mehr und die Rufe, die Megafone und die Trillerpfeifen. Stattdessen blickte ich in die Sonne und schloss die Augen, während Schokoladentaler auf mein Gesicht prasselten, auf meine Schultern, nein, gefüllte Pralinen waren es, nein, Halloren-Kugeln und Katzenzungen, und rund um mich herum segelte Papier, die zerfetzten Reste der Piñata.

2

Ich hatte mich darauf gefreut, aus Wien wegzukommen. Meine Wohnung war bereits leer geräumt, die Hälfte der Umzugskisten schon auf dem Weg nach Hamburg zu meiner Schwester. Dort würde es nicht so heiß sein, in Hamburg würde ich nichts über die Hitzewelle schreiben müssen, nichts über den Jahrhundertsommer, den sechstwärmsten in der Messgeschichte. In Hamburg würde ich nicht darüber schreiben müssen, warum man Kinder nicht im Auto lassen soll oder wie man einen Hitzeschlag bei seinem Hund erkennt. In Hamburg wäre ich weit weg vom Sommer und von allem anderen.

Aber ich war noch immer in Wien, am unteren Ende der Kärntner Straße, nahe der Oper, und hielt das Mobiltelefon hoch, in mehrere Richtungen. Ich ging ein paar Schritte, hielt es wieder hoch, aber hier, in dem unterirdischen Gang, gab es keinen Empfang. Der Steinboden unter meinen nackten Füßen war kalt, glatt, es roch nach nassem Holz, nach Schweiß. Die verschnörkelten Fliesen glänzten feucht vom Wasserdampf aus den Kabinen, und ich konzentrierte mich darauf, nicht auszurutschen. Meine Haare hatte ich mit einem Gummiband zusammengebunden, hielt das Handtuch um meine Hüften fest. Mit der anderen Hand legte ich mein sinnlos gewordenes Mobiltelefon in eine Marmorschale. Am Ende des Gangs würde der alte Affe warten. Es war schon spät. Wir würden allein sein.

Konrad Brandt kam jeden Abend. Nur hier hatten sie so lange geöffnet, für Leute wie Brandt, die um diese Uhrzeit noch müde an der Oper vorbeizogen, durch die schmalen Gassen mit den leuchtenden Schaufenstern, um schließlich hinter der Eingangstür zu verschwinden, die sie hinab in die Sauna führte, wo es keinen Handyempfang mehr gab. Eine Stunde würde Brandt hierbleiben, nachdem er an den Spätredakteur übergeben hatte. Dann würde er die Stufen wieder hinaufsteigen, die Ringstraße queren, in seine Wohnung schlurfen, einen Lachstoast mit Cognac hinunterspülen. Um Mitternacht die Nachrichten im Deutschlandfunk hören. Seine Stimme dort vermissen. Im Ohrensessel einschlafen.

Schemenhaft erkannte ich seine Umrisse im Dampf hinter der Glastür. Als ich die Tür öffnete, umhüllte mich die Hitze, knallte mir gegen die Stirn, drang in alle Körperöffnungen. Brandt hob den Kopf, als ich eintrat. Wangen und Hautfalten hingen an ihm herab, sein Schwanz zwischen die Schenkel geklemmt. Immer mehr sah er aus wie ein alter Silberrücken mit einer riesigen Wampe.

»Heiko?« Er kniff die Augen zusammen, brauchte offenbar eine Weile, bis er mich erkannte.

»Ach, du bist es, Kleiner«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang trocken, überrascht. »Ich dachte, du seist Heiko. Kommt manchmal auch hierher.«

»Gorilla«, erwiderte ich. »Jetzt siehst du auch aus wie einer. Wie ein hässlicher alter Affe.«

Das sagte ich nicht. Ich wünschte ihm einen Guten Abend. Der Schweiß schoss mir aus den Poren. Ich nahm auf der oberen Sitzbank Platz, höher als er. Mein Handtuch ließ ich umgebunden.

»Du bist noch in Wien.« Er strich sich mit dicken Fingern die Haare zurück. »Das ist gut, Kleiner, das ist klug. Klug. Hast ja auch ein gutes Foto gemacht, da musst du dranbleiben.« Er gähnte, riss dabei den Kiefer auf, fletschte die Zähne. »Ich habe deine Kündigung sowieso nicht weitergeleitet. Dachte mir schon, dass du nicht zurückwillst nach Hamburg. Was machst du dort auch, ohne mich?«

Ich zupfte das Handtuch unter meinem Hintern zurecht, zog es in die Länge, sodass zumindest meine Fersen das heiße Holz nicht berühren mussten.

»Hast einen guten Riecher gehabt«, meinte er anerkennend. »Wer hätte gedacht, dass sich bei der Sache tatsächlich etwas herausholen lässt? Die Demo, diese Flüchtlinge, das interessiert ja niemanden.« Er wedelte mit seiner Hand in der Luft. »Das Video war die Story. Wie die Polizisten diesen Typen am offenen Fenster fixieren, diesen Khan. Wie er fällt. Wie er schreit, wie er aufschlägt. Wie man das Hirn sieht. Schade, dass wir das Video nicht zuerst bekommen haben. Khan, so hieß der doch? Pakistaner, oder? Aber egal, übermorgen ist alles vergessen. Nur ein paar Studenten regen sich auf, eine Demo, ein paar Einträge auf Twitter.«

Ich antwortete nicht. Brandt schob langsam seine Beine auseinander. Er holte tief Luft, legte den Kopf in den Nacken. »Twitter, Kleiner, ist ein Mistplatz für Halbgedachtes.«

»Sie sind noch immer dort«, sagte ich, »und am Minoritenplatz steht jetzt ein Zelt. Das ist nicht vorbei, und das Foto mit der Frau, der Typ von der Bildredaktion hat gemeint, das ist was ganz Großes!«

»Ja, das Foto mit der Frau.« Er hob seine Hand, rieb sich das Kinn. »Das ist was anderes.«

»Ein Symbol«, sagte ich schnell. »Die Frau ist ein Symbol, Konni, ein Symbol für Menschenrechte, gegen Polizeigewalt. Für alles, Konni, für das Gute, für die Wahrheit!«

»Für die Wahrheit, na dann.« Ächzend hievte er sich auf, wankte durch den kleinen Raum zum Aufgussbecken. »Hast du das mit dem Flugzeug in Schwechat gehört? Aus Bolivien?« Sein Kopf war rot, sein Schwanz baumelte hin und her, die Haare klebten wirr auf der Stirn. »Irre Sache. Durchsuchen die einfach das Flugzeug.« Er lachte in sich hinein.

»Was sagst du also zu der Frau, Konni?«

Er seufzte. »Ich sage ja, das Foto war gut. Haben wir ja nicht umsonst auf die Frontpage und online in jede Ecke gegeben.«

»Ich will einen Platz im Printteil«, sagte ich, legte die Hände auf meine nassen Knie. »Fix. Tausendzweihundert Zeichen zum Minoritenplatz. Täglich.«

»Zu der Demo? Den Flüchtlingen? Warum?« Brandt blickte mich an. »Wer bringt das sonst? Hast du gehört, wer das sonst bringt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Niemand vermutlich.«

Er griff nach dem hölzernen Schöpflöffel, tauchte ihn in den Wasserbottich.

»Tausendzweihundert«, wiederholte ich.

Er kippte das Wasser über die glühenden Kohlen. Zischend fuhr eine Wolke aus Dampf hoch, hüllte den Raum ein, nahm mir die Luft. Ich hörte den Alten auflachen, musste die Augen schließen vor der Hitze, hielt mir die Hände vors Gesicht. Als ich sie wieder herunternahm, hatte sich der Dampf verzogen und die Temperaturanzeige in dem Holzrahmen war nach oben gesprungen. Der Silberrücken saß wieder an seinem Platz.

»War das alles? Wenn es dir zu warm ist, kannst du gehen. Gerne.«

Ich schwieg. Wartete.

»Das Foto, Kleiner, ist eine Sache«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Aber deine Demo, diese Flüchtlinge, irgendein Zelt, irgendwelche Studenten. Das ist nicht mehr als ein Strohfeuer, das bringt keiner. Morgen sind die sowieso weg. Was wollen die überhaupt? Die Taliban sind schon wieder weg aus Pakistan, war doch alles letztes Jahr. Haben die was mit den Taliban zu tun, deine Pakistaner? Alles Humbug. Kalter Kaffee. Die Story war das Video.«

Ich wollte etwas entgegnen, aber Brandt breitete die Arme aus, redete weiter: »Vorgestern hat mich dein Vater angerufen. Hat mich was gefragt wegen Somalia. Zuerst haben irgendwelche Piraten einen seiner Tanker erwischt, jetzt hat den Tanker die Küstenwache, aber die rücken ihn auch nicht raus. Dein Vater wollte wissen, ob ich jemanden kenne, von früher, wo alles noch gut und alt war, in den Neunzigern, vor unserer Zeit. Da war ich ja dort für die Süddeutsche. Außerdem wollte er wissen, wie es dir geht. Wann du kommst.«

»Ich war vor Weihnachten in Hamburg«, sagte ich.

»Die Süddeutsche.« Brandt hustete. »Lange her. Die Süddeutsche. Deine Schwester, ist die noch immer an der Humboldt? Wusstest du, dass viele Kaninchen wegen der Hitze sterben? Schreib doch was über Kaninchen. Kaninchen sind Hitzeopfer.«

Die Kohlen knackten. Die Wärme der Holzbretter drang langsam durch das Handtuch. Ich hob meine Füße an, glaubte, ein leichtes Sirren zu hören. Einbildung. Brandt atmete langsam und tief.

»Gestern stand ich vor einer schweren Entscheidung.« Er hatte wieder die Konrad-Brandt-Stimme aufgelegt, die Preisträgerstimme der Neunzigerjahre aus dem Deutschlandfunk. Der bekannte Redakteur der Süddeutschen zum dritten Weg der Sozialdemokratie, Konrad Brandt über das Vermächtnis von Jassir Arafat, Konrad Brandt im Interview mit Josef Ackermann. Der Konrad, hatte der Vater gesagt, das ist ein richtiger Journalist.

»Gestern musste ich entscheiden, ob wir auf der Frontpage einen Pudel oder den Kanzler in Fußballhosen drucken. Der Pudel ist es geworden. Der Kanzler kommt übermorgen dran.« Er stieß Luft und Schweißtropfen durch die Nase aus. »Mensch, Kleiner, ich hab mal für den Economist geschrieben.«

Ich wusste nicht, dass man auch aus der Nase schwitzen kann. Mein Blick fiel auf seinen Unterarm, seine rechte Hand, die sich in die Kante der Holzbank krallte. Das Zittern, noch immer das Zittern. Damals hatte er auf seine Finger geschlagen, zuerst mit der linken Hand, dann mit dem Ellenbogen, später mit irgendeiner seiner Flaschen, und gebrüllt, das Zittern soll aufhören, es soll endlich aufhören. Irgendwann schrieb er nicht mehr. Seine kurzen Leitartikel diktierte er jetzt. Die waren auch nicht gut.

»Ich wollte das nicht, das mit London«, sagte er durch die Hitze hindurch, die sich verändert hatte, zu einem dichten Kitt geworden war, der die Luft zusammenhielt.

Ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen. Er hob den Kopf und starrte geradeaus, wohl dorthin, wo er die letzten zwei Jahre vermutete, seit er mich damals nach Wien mitgenommen hatte. Er wandte sich zu mir um, blinzelte. »Aber immerhin, ich habe uns beide hierhergebracht, zu diesem Scheißblatt. Sonst wäre ich ja ganz allein.« Schließlich stand er erneut auf, bewegte sich in Richtung des Wasserbottichs. »Vergiss die Tausendzweihundert über den Minoritenplatz. Interessiert keinen.«

»Konni!«, fuhr ich ihn an und fügte hinzu, weil es ohnehin schon egal war: »Wegen der guten alten Zeit gib mir die Kolumne. Wegen uns.«

Der Alte begann zu lachen, sein Oberkörper bewegte sich auf und ab, bis das Lachen in einen Hustenanfall überging. Mit rotem, angeschwollenem Gesicht blickte er mich an. Die Augen traten ihm über den Tränensäcken hervor. »Das gibt es doch schon lange nicht mehr, Kleiner. Geh jetzt.«

»Man muss das erzählen, Konni! Man muss erzählen, was am Minoritenplatz passiert!«

Noch immer dampfte es aus den Kohlen, Brandts Gestalt verschwand hinter den Schwaden. Die Temperaturanzeige war am Ende des roten Bereichs angelangt.

»Erzählen«, hörte ich ihn sagen, »um etwas anderes geht es doch sowieso nicht mehr. Wir berichten nicht mehr, wir erzählen nur noch.« Dann zischten die Kohlen, und die glühend heiße Wolke prallte gegen meinen Körper. Ich verbarg mein Gesicht in den Armbeugen, schnappte nach Luft, hörte wie aus großer Entfernung Brandt fluchen, kurz darauf ein Poltern. Als ich wieder aufblickte, sah ich sein Gesicht im Dampf, wenige Zentimeter von meinem entfernt, fratzenhaft, mit verzerrten Zügen.

»Tausend Zeichen. Eine Woche«, sagte er schließlich.

»Tausendzweihundert«, sagte ich.

Sein Gesicht verschwand. Ein kühler Luftzug kam herein, stob durch den Dampf. »Wegen uns«, hörte ich ihn gedämpft aus dem Nebel, und einen Augenblick später: »Ich weiß nicht, was du dort willst. Schreib bloß keinen Humbug.«

Leise fiel die Tür ins Schloss. Als die Schwaden sich verzogen hatten, war ich allein. Ich richtete mich auf, streckte den Oberkörper durch. Eine Weile blieb ich noch sitzen, ließ den Schweiß in meine Augen fließen. Es brannte nur leicht. Ich blinzelte nicht, hob stattdessen meine Hände, betrachtete sie. Die Linien meiner Handflächen leuchteten rot.

3

Den ganzen Tag war es windstill gewesen. Sobald man sich nach draußen wagte, glühte der Asphalt durch die Schuhsohlen, brannte die Sonne auf den Hals und in den Nacken, legte sich ein eigentümliches Sirren in die Ohren. Die flimmernden Straßen waren leer gewesen, eingebettet in heiße, stickige Luft, und überall sah man das Foto.

Es prangte auf jeder Ausgabe der Metro, auf U-Bahn-Sitzen, Parkbänken, Kaffeehaustischen.

Der blaue Seidenschal der jungen Frau, das Blut an ihrer Schläfe, ihr nach oben gerichteter Blick. Der weiße Helm des Polizisten, sein Gesicht unkenntlich hinter dem blinden Visier. Die Hände am Gürtel, in Handschuhen, beim Griff des Schlagstocks.

Das Foto hatte es in die Abendnachrichten geschafft, in einen langen Beitrag über Polizeigewalt, sogar mit Studiogast, und kursierte im Internet, zehntausendfach geteilt. Jemand hatte versucht, das Foto an die Oper zu projizieren, Unbekannte hatten nachts Polizeiautos damit beklebt. Einige Leitartikel hatten sich mit Gewalt gegen Demonstranten befasst, und das Innenministerium hatte beteuert, alle Vorwürfe zu prüfen.

Der Luftstrom des Ventilators hob das Bild an, zusammen mit den Schlagzeilen des nächsten Tages, bunte Computerausdrucke, die an der roten Magnetwand in unserem Großraumbüro befestigt waren. »Was darf unsere Polizei?« »Schon wieder! Beamter prügelt Obdachlosen«. »So brutal ist die Exekutive«. »Wien kocht: Vier Demos angemeldet«.

Den ganzen Vormittag hatten wir kalt geschrieben, über die Sache mit der Oper, die Polizeiautos, ein paar Demonstrationen gegen Polizeigewalt. »Kalt schreiben« – schreiben, ohne dabei gewesen zu sein. Brandt hatte mir den Ausdruck beigebracht. Meistens schrieben wir kalt. Den ganzen Vormittag war ich im Lärm des Büros gesessen, an meinem Schreibtisch, der eigentlich schon leer geräumt war, einen Kugelschreiber im Mundwinkel, in meinen Ohren das Flattern der Papiere im Luftstrom, und hatte in den Artikeln der Konkurrenz Sätze gesucht für meine Kolumne. Leider schrieb niemand über das Zelt am Minoritenplatz. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als noch einmal hinzugehen.

Gegen Mittag, als die Temperaturen am unerträglichsten waren, hatte sie mich angerufen. Was das alles solle, hatte sie ins Telefon gerufen, ob ich das Foto gemacht hätte, es habe sie niemand um ihre Erlaubnis zu einer Veröffentlichung gefragt, das gehe doch alles nicht. Ob ich das Foto gemacht hätte, hatte sie wiederholt, das habe sie niemandem erlaubt.

Ich hatte mich in meinem Sessel aufgerichtet, den Kugelschreiber aus dem Mund genommen, mir die Nummer vom Display des Festnetztelefons notiert. Als ich nichts sagte, wurde sie leiser, entschuldigte sich für den Tonfall, nannte ihren Namen. Sie sprach fließend Deutsch, mit einem leicht singenden Akzent. Scharia oder so hieß sie, ich verstand es erst beim zweiten Mal. Shahida. Veena.

Sie begreift das alles nicht, sie hat doch gar nichts getan, und überhaupt hat auch der Polizist nichts getan. Und diese Spalte in der Zeitung, ob ich die schreibe, ob ich geschrieben habe, der Polizist habe sie geschlagen. Sie wurde wieder lauter. Ich soll aufhören mit all dem, was ich da schreibe. Nein, ein Interview will sie nicht machen. Sie ist kein Opfer, kein wehrloses Mädchen, und eine Jungfrau von Orleans ist sie auch nicht. Was das überhaupt heißen soll. Bei der Demonstration ist es um die Rechte von Asylsuchenden gegangen, um ihre eigenen Rechte und die der anderen, die Asyl beantragt haben wie sie. Sie hat nichts gegen die Polizei, sie will in Ruhe gelassen werden, und mit den Leuten am Minoritenplatz hat sie nichts zu tun, die kennt sie gar nicht. Sie studiert hier, und ihre Anwältin ist sicher gegen das mit Orleans. Kein Interview. Ob ich ihr überhaupt zuhöre. Ob ich weiß, was ich angerichtet habe, sie kann nicht mehr an die Uni gehen, ihre Freunde reden nicht mehr normal mit ihr, ihre Familie – Sie brach ab, wiederholte mit ruhigerer Stimme: Ihre Freunde wissen das mit dem Asylantrag nicht einmal. Und nein, sie will kein Interview, und nein, das hat nichts damit zu tun, dass sie nicht hinter dem steht, was sie tut. Natürlich setzt sie sich für die Rechte der anderen ein. Nein, sie sieht das nicht als Chance, sie will ihre Geschichte nicht erzählen, was soll das denn heißen. Mir geht es doch nur um diese Artikel, um diese Spalte, die ich da schreibe, um den Lärm. Sie hat sich erkundigt, es gibt in Österreich einen Presserat. Für meinen Lärm hat sie keine Erlaubnis gegeben. Was ich damit meine, es könne ihr helfen beim Asylverfahren, sie hat schon ihre Anwältin, die hilft ihr, die kümmert sich seit zwei Jahren um sie. Ja, so lange dauert das. Was ich damit meine, öffentlicher Druck, die Behörden erteilen doch nie einen Aufenthaltstitel, nur weil jemand in den Medien ist. Woher ich das weiß. Warum ich das glaube. Welche Beispiele in Deutschland ich meine. Und die haben ein Visum bekommen, nur wegen einer Demonstration? Ob ich da sicher bin? Ich soll endlich aufhören. Es geht doch gar nicht um sie. Bitte.

»Das ist gleich wieder vorbei.« Brandt klopfte mit dem Marker auf den gläsernen Besprechungstisch. »Ein Strohfeuer. Den Leuten steigt die Hitze zu Kopf, das ist alles.«

Ich blickte zu der roten Magnetwand, die mitsamt all den Papieren hierher gerollt worden war. Mit den Fingerspitzen malte ich Kreise auf die Glasplatte, betrachtete meine Schuhe unter dem Tisch, spürte die Blätter des Gummibaums im Rücken und dachte an den Anruf der pakistanischen Studentin. Die anderen Redakteure gähnten, lehnten in ihren schwarzen Plastikstühlen, lasen in ihren Mobiltelefonen. Rund um uns surrten die Ventilatoren an den Schreibtischen, brachten keine Abkühlung, verteilten nur den Geruch von Kaffee und Deodorants im ganzen Raum.

Der Silberrücken schlurfte vor dem Flipchart auf und ab. An der roten Magnetwand hinter ihm hingen die Seiten der letzten Printausgabe, in der Mitte das Cover mit dem Foto, überdimensional vergrößert. Kaum ein Artikel, der sich nicht mit Polizeigewalt beschäftigte, aber von den Flüchtlingen am Minoritenplatz hatte nur ich berichtet. Brandt blieb stehen, legte die dicken Finger auf das Kunstleder seines Sessels, blickte in die Runde der Redakteure.

»Das Foto konnte was, gebe ich zu, aber Polizeigewalt interessiert doch in Wahrheit keine Sau. Und deine Flüchtlinge auch nicht, Uwe.« Er holte Luft. »Das habe ich auch Heiko gesagt. Ich habe ihm gesagt, morgen ist alles wieder vergessen.«

Meine Fingerspitzen hielten inne. Die Redakteure blickten von ihren Mobiltelefonen auf.

»Aber leider«, setzte der Gorilla fort, »hat Heiko gemeint, wir sollen dranbleiben, Content liefern. Er will es so, und die anderen im Board auch. Einstimmige Entscheidung des Managements. Und natürlich machen wir alles, was Heiko und das Board uns sagen. Sogar über Polizeigewalt schreiben, und Uwe hat noch ein paar Tage für seine Flüchtlinge.« Schnaufend ging er zum Flipchart, nahm die Kappe des Markers ab. Er musste den Stift gegen das Papier drücken, um mit seiner Hand schreiben zu können. »Emotion«. In zittrigen Großbuchstaben.