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Drachengabe

Finster

Torsten W. Burisch

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

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Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2020

Titelbild und Illustrationen: Torsten W. Burisch

ISBN: 978-3-86196-907-5 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-86196-960-0 – E-Book

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

literaturredaktion@papierfresserchen.de

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Inhalt

Wie alles begann ...

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Akinnas Drachenliste

*

Wie alles begann ...

Halbdunkel.

Dantra und seine Schwester Tami sind in der Klosterschule Patria im Ort Gela aufgewachsen. Warum sie vor vielen Jahren dort untergebracht wurden und wer ihre Eltern sind, wissen sie nicht. Nach dem Schulabschluss und der Entlassung aus dem Kloster erwartete sie bereits die Hexe E’Cellbra. Bei ihr lernte Dantra, der über eine geheimnisvolle, magische Kraft verfügt, diese zu beherrschen. Unglückliche Umstände führen dazu, dass sie beide E’Cellbra fluchtartig verlassen müssen. Auf dem Weg zur Küste werden sie von Banditen überwältig und entführt.

Nicht lange und Dantra sieht keine andere Möglichkeit, als einen Drachenangriff zu provozieren. Da er diesen wie durch ein Wunder überlebt, Tami allerdings für tot hält, geht er ohne ein Ziel vor Augen in die Ortschaft Uka. Dort lernt er den Nalc Comal (hin und wieder auch Mac genannt) und kurz darauf die Halbelbin Akinna kennen. Sie erzählt ihm von einer allseits bekannten Wegsagung, die, wenn sie sich bewahrheitet, die Drachenherrschaft beenden soll. Sie ist davon überzeugt, dass sie eine der drei in der Wegsagung beschriebenen Personen ist. Des Weiteren ist sie sich auch immer sicherer, dass Dantra und vielleicht sogar Comal dort Erwähnung finden.

Auf ihrem Weg zum Zlif Nomos, einem weisen, magischen Wesen, das zum engen Führungskreis des Widerstandes gehört, helfen sie den Bewohnern des Falkenfängergehöfts, sich gegen Banditen zu wehren. Da die Banditen sich allerdings als hinterlistiger und zahlenmäßig stärker, als gedacht, entpuppten, können ihnen nur noch die magische Kraft von Dantra zum Sieg verhelfen. Ihm zu Ehren wird der Falke Bokaj freigelassen. Ein Tier, das als besonders treu und dankbar beschrieben wird.

Auf ihren weiteren Weg gelangen sie in den von Drachen unbeherrschten, also freien Ort Akkus Egg. Hier, wie in fast allen freien Städten, lenken Verbrecherbanden das Geschehen. In diesem Fall heißt deren Anführer Rorret. In der Schenke, in der Akinna einen Verbündeten trifft, sieht Dantra zum ersten Mal Soka und verliebt sich sogleich in sie. Als er sie aus der Bedrängnis eines Verbrechers befreit, müssen Akinna und er schnellstmöglich den Ort verlassen. Hierbei kommt ihnen der Königssohn und Thronfolger Uras zu Hilfe. Dieser entpuppt sich allerdings als Verräter, was Comal schließlich das Leben kostet. Dantra hingegen kann dem Feuer des Drachen Condire mit seiner magischen Kraft standhalten.

Aufgrund der Wegsagung schickt der Zlif Nomos die beiden vermeintlich Auserwählten zum blauen See, um dort von den Elfen der Tiefe das Versteck des Dolches des Vertrauens in Erfahrung zu bringen. Die einzige Waffe, die einen Drachen töten kann.

Diesig.

Nachdem Dantra und Akinna mithilfe von Kapitän Irretio über den Wasserweg in die Nähe des Blauen Sees gelangen, treffen sie auf den desertierten Zerrock Inius. Nicht ohne gegenseitiges Misstrauen begleitet er die beiden zu der Ruinenstadt Astivo. Nach anfänglichen Schwierigkeiten verraten die Elfen der Tiefe Akinna und Dantra, dass der Dolch des Vertrauens im Haus des ehemaligen Hofbaumeisters verborgen liegt. Das Haus jedoch liegt zur Hälfte im schwarzen Baumwald. Und somit auch das beschriebene Versteck.

Bei dem Versuch, den Dolch dennoch an sich zu bringen, werden sie von der Magierhexe Mortuus, der Herrscherin aller schwarzen Baumwälder, dem Reich Sonork, überwältigt. Anfangs treibt sie ihre makaberen Spiele mit ihnen, die Akinna fast das Leben kosten. Sie lässt erst von ihnen ab, als sie begreift, dass Dantra und Akinna zwei von denen sind, die in der Wegsagung beschrieben werden. Mortuus verspricht ihnen, sie bei ihrem Plan, die Drachenherrschaft zu beenden, zu unterstützen. Sie übergibt ihnen nicht nur den Dolch des Vertrauens, sondern bietet ihnen auch an, ihr Reich zu nutzen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Denn während Sonork in der Welt außerhalb des Schattens aussieht wie ein weit versprengtes Puzzle, fügt dieses sich zusammen, sobald man das Reich betritt. Auf diese Weise lassen sich Strecken, für die man außerhalb Tage bräuchte, in wenigen Stunden zurücklegen. Ein weiterer Vorteil ist, dass jeder, der den schwarzen Baumwald betritt, auf seine Ehrlichkeit in Bezug auf seinen Kampf gegen die Drachen von Mortuus auf magische Weise geprüft wird. So kann auch Inius schließlich die beiden von seinen ehrlichen Absichten überzeugen.

Während der Dolch zu einer brauchbaren Waffe umgeschmiedet wird, begeben sich Dantra und Akinna auf die Suche nach Dantras Schwester Tami. Mit der schwarzen Baca, unter dem Kommando des Kapitäns Borodin, gelangen sie auf die Insel Paaliaq. Hier finden sie erneut eine Spur von Tami. Sie ist als Sklavin verkauft, von Piraten entführt und in deren Versteck gebracht worden.

Gerari, ein junger Mann von Paaliaq, hat sich unsterblich in Tami verliebt und ist ebenfalls auf der Suche nach ihr. Zusammen können sie das Versteck ausfindig machen und sie befreien. Auf ihrer Flucht von der Pirateninsel nehmen sie einen Jungdrachen mit. Sie gehen davon aus, dass es sich um den Nachfolger von Vageri handelt. Der Drachen, auf den ihr bereits verstorbener Freund Comal aufpassen sollte und der in seiner Gegenwart Selbstmord beging.

Des Weiteren finden sie heraus, dass sich schon einmal eine Elbin in Begleitung eines Menschen auf die Insel gewagt hat, allem Anschein nach, um dort das Drachenei zu verstecken, aus dem nun Vageris Brut geschlüpft ist.

Zurück auf dem Festland schicken sie Ishii, eine auf der Pirateninsel ebenfalls befreite Kriegerin, und den Jungdrachen zum Baron. Ein Verbündeter, bei dem auch Dantra und Akinna schon einmal untergekommen sind. Die anderen machten sich auf, um mit dem zu einem Speer umgearbeiteten Dolch des Vertrauens einen Angriff auf den Drachen Condire durchzuführen. An dem für diese Aufgabe ausgesuchtem Ort angekommen, entdeckt Dantra, dass er den Teil einer Höhle aus seinem immer wieder kehrenden Albtraum kennt. Hier ist sein Vater gestorben. Getötet von Condire, als dieser bereits vor vielen Jahren das versucht hat, was Dantra nun vollenden soll.

Der Drache jedoch ahnt während des Kampfes Dantras nächsten Schritt, sodass Akinna eingreifen muss. Dabei erleidet sie eine beinahe tödliche Verletzung. Nachdem Dantra es tatsächlich gelungen ist, Condire zu töten, flüchteten sie alle mit der verletzten Akinna in einen nahe gelegenen schwarzen Baumwald. Durch Magie können sie die Hexe E’Cellbra benachrichtigen. Allein auf ihr ruht die Hoffnung, dass Akinna überlebt. Die Hexe erklärt allerdings, wenn Akinna überhaupt eine Chance haben soll, dann dürfe sie sich mindestens drei Tage nicht bewegen. Da aber nun schon andere Drachen die Gegend nach den Tätern absuchen, stellt sich Dantra ihnen freiwillig, um so ein Entdecken von Akinna zu verhindern. Noch während er gefangen genommen wird, stellt er fest, dass seine magische Kraft verschwunden ist ...

*

Kapitel 1

Finster.

Die Umgebung, das Seelenempfinden, die Zukunft. Finster. Was auch immer uns die guten Tage genommen hat, ich kann nicht dagegen kämpfen. Eng wie einst das Ei. Kalt wie einst das Schlüpfen. Chancenlos, ohne die Hilfe derer, die helfen könnten.

Aber ich weiß, ich fühle, mein Gehen bringt Zuversicht und neue Wärme der Freundschaft und Vertrauen in dieses Land. Das selbst Richten lässt ein schwaches Licht der Hoffnung aufkeimen.

So, geh nun, mein Freund. Die Zeit ist endlich da. Geh, lauf so schnell du kannst, und verschwinde aus diesem Berg.

Die Kralle spitz und scharf. Bereit zu tun, was zu tun ist. Angesetzt und ohne weiteres Zögern zugestochen. Schmerzen, unerträgliche Schmerzen, die es zu ertragen gilt. Erst die Haut, dann das Blut bis ins Fleisch. Dann ist es erreicht. Das Ziel. Das Sterben. Das Drachenfeuer!

„Lauf, Comal! Jetzt!“

„Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst?“

Dantras Blick huschte unsicher durch das zuckende Licht der Fackel, das vom schmalen Gang zu ihm hereinsuppte. „Von wollen kann hier keine Rede sein“, erklärte er sich. „Ich muss es tun. Entweder das oder er wird in meinem Kopf spazieren gehen und sich nehmen, was er will.“

„In der Zeit, in der du nun hier bist, hast du schon viel lernen können. Und wenn ich anfänglich nicht so misstrauisch gewesen wäre, würde dein Wissensschatz noch erheblich mehr glänzen. Aber selbst dann könnte ich mir noch immer nicht vorstellen, dass du auch nur die geringste Chance hast, diesen Kampf zu gewinnen.“

Dantras Blick festigte sich und er betrachtete seine Kerkerzelle, als würde die aus schweren Gitterstäben bestehende Tür gerade zum ersten Mal hinter ihm zugesperrt. Die drei Wände um ihn herum, die aus schroff geschlagenem Felsen bestanden, schienen mit jedem Tag näher zu rücken. Die vierte, die wie die Tür in ihrer Mitte auf ganzer Länge aus den zwei Finger dicken Eisenstäben gefertigt war, konnten diesen Eindruck nichts entgegensetzen, da der dort hinter verlaufende Gang bereits nach zwei Armlängen in einer weiteren Felswand endete. Das Betrachten der Decke, die in ihrer Beschaffenheit den Wänden glich und die er ohne Problem mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte, war auch nicht hilfreich, wenn es darum ging, den Raum als ausgedehnt zu bezeichnen. Er war nun einmal nicht größer als die Stelzenhütte von Gonagra in der Küstenstadt Na-Aredla, ganz egal, wie sehr man seine Vorstellungskraft bemühte. Leider war die nicht vorhandene Weite auch schon das Einzige, das diese Zelle mit ihrem damaligen Versteck gemein hatte. Ansonsten war es dunkel, nass und kalt. Nur ein lose verstreuter Heuballen auf dem Steinboden als äußerst magere Wohnlichkeit. Das wenige ihm zur Verfügung stehende, wurde durch einen sich in der Ecke befindlichen Eimer, der als Abort diente, nur schwach aufpoliert.

„Wie hältst du das nur schon so lange durch? Diese Enge. Dieses eingepfercht Sein wie ein gefährliches Tier? Diese unmenschliche Behandlung? Was sagtest du? Seit wann bist du schon hier unten?“

„Seit …“ Die Stimme aus der Nachbarzelle schwieg zunächst, bevor sie den Satz erneut begann, nun aber nicht im niedergeschlagenen Ton wie anfangs, sondern mit einer Gleichgültigkeit, als würde er doch eh jeden Moment hier hinausspazieren. „Seit ungefähr 35 Jahren. Genau weiß ich es nicht. Ich schätze die Zeit an der Länge meines Bartes. Zuvor war ich noch in so ziemlich jedem anderen Gefängnis, das es in Umbrarus gibt. Frag mich jetzt bitte nicht, wie lange ich schon wie ein Vogel im Käfig gehalten werde. Da kann mir selbst mein Bart nicht mehr helfen. Aber wie ich das ertrage, kann ich dir sagen. Anfangs dachte ich auch, an diese Enge wirst du zerbrechen. Aber wenn man sich jeden Tag, schon beim Aufwachen einredet, dass man erst eine Nacht hier ist und schon morgen gehen darf, ist es nur noch halb so schlimm.“

Während er zuhörte, starrte Dantra auf die Wand ihm gegenüber. Er hatte dort mit einem Stein für jeden Tag, den er hier war, einen Strich geritzt. Ihre Anzahl stimmte wohl nicht mit der tatsächlichen Menge an Tagen überein, denn man konnte nicht sehen, ob es Tag oder Nacht war. Aber Dantra machte es am Essen, wenn man den Fraß so nennen wollte, und den langen Schlafphasen fest. Somit war die Abweichung sicher nicht mehr als zwei oder drei Tage in die eine oder andere Richtung. In jedem Fall hoben sich ihm gegenüber bis jetzt 109 Striche vom dunklen Fels ab. 109!

„Wenn ich darüber nachdenke, dass ich noch eine ganze Nacht hierbleiben muss, bevor ich wieder das Sonnenlicht und die Weiten des Meeres und der Wälder sehen darf, habe ich Schwierigkeiten, nicht die Fassung zu verlieren. Ich möchte dann nur noch schreien, gegen die Wände schlagen und … weinen.“

„Wie gesagt, am Anfang ging es mir auch nicht gut. Egal, was ich mir einredete.“

Die Stimme wollte aufmunternd klingen, verfehlte bei Dantra jedoch jede Wirkung. „Heute werde ich kämpfen. Ich muss. Es hängt so viel davon ab, dass mein Wissen auch meines bleibt.“

„Er wird dich töten!“

„Das ist der Plan.“

„Du willst …?“ Die Worte mussten nicht ausgesprochen werden.

„Ich werde natürlich um mein Leben kämpfen. Aber ich weiß genau wie du um meine Chancen.“

„Und wenn er dich nur quält? Wenn er sich immer kurz vor der Grenze zur Endgültigkeit beherrscht und den letzten Schritt vermeidet?“

„Wenn ich ihn ein- oder zweimal gut attackiere, werden sein Zorn und seine Überheblichkeit dazu führen, dass er vergisst, welch wertvolle Informationen er wegwirft, wenn er mich tötet. Davon bin ich überzeugt. Und dann … sind all meine Geheimnisse sicher. Für immer.“ Erneut schweifte sein Blick durch die Zelle. „Und ich brauche keine Nacht mehr darauf warten, endlich wieder die Freiheit zu spüren.“

Auch wenn Dantras Worte keinen Zweifel an seinem Entschluss zuließen, so ruhte die Stimme hinter der Wand nicht beim Versuch, ihn umzustimmen. „Du bist doch schon so weit gekommen. Und die Magie in dir, die bisher von dieser ominösen Drachenkraft unterdrückt wurde, ist ungewöhnlich hoch. Du kannst sie nur noch nicht voll ausschöpfen. Aber wenn wir mit dem Training erst so weit sind, dann kann er dir …“

„Die Zeit habe ich nicht mehr“, fiel Dantra ihm entschlossen ins Wort. „Jedes Mal, wenn er in meinen Kopf eindringt, wird die Mauer, die ich ihm entgegenstelle, mürber und brüchiger.“

Nachdem die Zerrocks Dantra in einem vergitterten Karren hierher nach Nemrumgard gebracht hatten, wofür sie ganze sechs Tage benötigt hatten, wurde er noch vor dem Einschluss in die Zelle einem ersten Verhör unterzogen. Es war noch ein junger Drachenzauberer, ein sogenannter Minor von niedrigem Rang, kaum älter als Dantra selbst, der ihm gegenüberstand. Dantra war sich nicht einmal sicher, ob er einen Befehl für sein Handeln bekommen hatte oder einfach nur von Selbstüberschätzung getrieben wurde. In jedem Fall war er im Nachhinein froh und sogar dankbar für dessen Übereifer. Denn es war Dantras erstes Verhör gewesen und damit auch seine erste Begegnung mit raumloser Magie. Bei der hinlänglich als Gedankenraub bekannten Methode, jemanden seine Geheimnisse zu entlocken, drang der Fragesteller in die Erinnerung seines Opfers ein und umging so den Willen zum Schweigen. An der Quelle angekommen, nahm er sich einfach die Antworten, die es zu finden galt. Ein jeder Mensch besaß allerdings ein natürliches, geistiges Abwehrsystem. Bei dem einem war es etwas ausgeprägter, bei dem anderen nur kümmerlich klein. Aber je erfahrener und geschickter der Angreifer war, desto chancenloser die Abwehr.

Da dieser Angriff allerdings aus einem Halbwissen heraus geführt worden war, hatte Dantra genug Zeit gehabt, die Art der instinktiven Abwehr kennenzulernen und besser einzusetzen. Es war also gerade so, als hätte ihm sein gegenüberstehender Feind unwissentlich das Führen eines Schwertes gelehrt beim Versuch, ihn damit zu töten.

Schon der nächste Tag hatte jedoch gezeigt, dass sein frisch erlerntes geistiges Kämpfen kaum Schutz bot, wenn der Gegner taktisch statt tölpelhaft vorging. Der Minor, der ihn in die Zange nahm, war dem Aussehen nach nun dreimal älter als er selbst. Bei Menschen mit magischen Fähigkeiten konnte man allerdings nicht viel aufs Aussehen geben. Ab einem bestimmten Alter verlangsamt sich der natürliche Altersprozess, da bei diesen Menschen der Lebensabend um einige Hundert Jahre später anbrach als bei normal Sterblichen. An der Art, mit der er Dantra begegnete, konnte man allerdings einen hohen Grad an Erfahrung im Umgang mit Gefangenen, die es zu berauben galt, anmerken. Keine Spur von der angeberischen, aufschneidenden Art des jungen Spundes vom Vortag. Eine kühle und zielorientierte Herangehensweise schlug Dantra entgegen. Nur mit Mühe und vor allem viel Glück hielt er dem Verhör stand, bei dem nicht ein hörbares Wort gewechselt wurde.

Nach diesem kraftraubenden Akt ließ man ihn einige Zeit in Ruhe. Genau fünf Striche an der Wand vergingen, bis die Zellentür erneut aufgeschlossen wurde, ohne ihm Essen hinzustellen oder das vormals Verzehrte wieder herauszuholen. Wieder bei geistigen Kräften und auf Kommendes einigermaßen vorbereitet, schaffte er es erneut, seine Geheimnisse unter Schloss und Riegel zu halten.

Ausgelaugt und matt fiel er zurück auf den spärlich zusammengezogenen Strohhaufen. Als die Schritte der Zerrocks, die ihn zurückgebracht hatten, verhallt waren, vernahm er zum ersten Mal die Stimme. Sie klang alt. Aber vor allem so kratzig, als wäre sie lang nicht mehr benutzt worden. Dabei hörte sie sich an, als würde sie von der Last der Unschlüssigkeit gedrückt, ob dies nun tatsächlich ein triftiger Grund war, der schweigenden Gewohnheit den Rücken zu kehren.

„Kämpfen ist ehrenhaft. Und umso ehrenhafter, wenn dieser Kampf doch eigentlich von vorneherein verloren ist.“

Dantra schwieg. Er wusste ja nicht, wer dort mit ihm sprach? Die Worte kamen aus der Richtung, aus der er noch nie hergeführt oder weggebracht worden war. Für ihn verlief der Gang vor seiner Zelle beim Verlassen nur nach links und endete bei seiner Rückkehr, wenn er rechts in seine vergitterte Kammer abgebogen war. Auf dem Weg dorthin kamen sie an anderen Zellen vorbei, aber entweder war niemand dort drin oder wenn doch, wurden sie von den langen Schatten, die dort düster hausten, verschluckt. Zwar konnte er erkennen, dass dem Gang folgend noch mehr Zellen die rechte Seite für sich in Anspruch nahmen, aber hineinschauen konnte er nicht. Die Möglichkeit, dass direkt neben ihm ebenfalls einer einsaß, war daher nicht undenkbar. Aber wieso hatte er ihn noch nie gesehen? Achteten sie bewusst darauf, dass er seinen Zellennachbarn nie zu Gesicht bekam? Aber wenn, warum? Hatten sie dort vielleicht einen altgedienten Zerrock sitzen, der sein Vertrauen erschleichen sollte? So gerne er auch endlich wieder mit jemandem geredet hätte, der Verdacht lag einfach zu nahe, dass sie versuchten, ihm eine Falle zu stellen. So hielt sein Schweigen und die kalte Stille legte sich erneut über ihn.

Die Erschöpfung ließ Dantra einnicken. Erst das quietschende Drehen des Schlüssels im schweren Schloss schreckte ihn wieder auf. Ein junger Zerrock, der ihn kaum beachtete, stellte eine Schüssel voll magerer Brühe hin und legte ein Stück harten Krumen auf den schmutzigen Boden daneben. Vor der Zellentür warteten zwei weitere, kampferfahren wirkende Zerrocks, die Dantra argwöhnisch beobachteten. Reden tat niemand. Alles verlief wie immer. Tür auf, Essen rein, Tür zu. Dann ging die Abordnung wieder aus Dantras Blickwinkel und es klapperte und quietschte noch einige Male, bis erneut völlige Ruhe einkehrte.

Aufmerksam durch die Worte, die er kurz nach seinem Wiedereinschluss gehört hatte, lauschte er nicht nur den Geräuschen bis zu ihrem Ersterben, er drückte auch seinen Kopf fest gegen die Gitterstäbe, um so weit wie möglich den Gang – und damit den drei Männern – hinterher sehen zu können. Denn was Dantra bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war die Tatsache, dass die Essensausgabe immer von links nach rechts vorgenommen wurde. Auch wenn die vergitterte Wand eine Armlänge zurücklag und er nicht an der angrenzenden Zellenwand vorbei einen Blick auf den Dreimanntrupp erhaschen konnte, so war aber der lang gezogene Schatten des einen Postens, geworfen von der Fackel, die der andere hielt, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie nur ein paar Schritte hinter Dantras Zelle schon wieder stehen geblieben waren. Das Drehen des Schlüssels das geräuschvolle Bewegen der Scharniere, alles deutete darauf hin, dass dort wirklich ein Gefangener saß. Sie würden wohl kaum einen der Ihren tatsächlich dort einschließen. Oder gerade doch? Seine Unsicherheit verärgerte ihn. Um auf keinen Fall einen Fehler zu begehen, beschloss er, wenn der Fremde noch einmal etwas sagen sollte, ihn weiter zu ignorieren.

Als Dantra sich die bitter riechende Suppe heruntergewürgt hatte und nur noch der verbliebene Rest ihres faden Aromas seinen Geschmackssinn tyrannisierte, kauerte er sich, mit dem Rücken an die kalte Steinwand gelehnt, zusammen und verlor sich in seinen sorgenreichen Gedanken. Wie war es wohl seinen Freunden ergangen? Hatten die Drachen wirklich ihre Suche mit seiner Gefangenschaft beendet? Oder waren noch andere auf die Lichtung gekommen, um ihre Suche auf den schwarzen Baumwald auszuweiten? Selbst wenn sie dort wirklich in Sicherheit waren, wie fühlten sie sich gerade? Vor allem Tami. Da hatte er sie endlich wieder in sein Leben zurückholen können und schon wieder hatte sie das Schicksal erneut voneinander getrennt. Aber seine größte Sorge galt natürlich Akinna. Wie stand es um seine schwer verletzte Weggefährtin? Die Bilder in seinem Kopf, wie sie dalag, blutend und hilflos, quälten ihn mehr, als es seine momentane Situation je tun könnte. Tränenwasser benetzte seine Augen und wollte an seinen Wangen entlang zu Boden stürzen, als er sie mit seinen Handrücken daran hinderte. Was würde er dafür geben, wenigstens zu erfahren, ob sie noch lebte. Ob E´Cellbra ihr wirklich helfen konnte? Ob sie wieder ganz die Alte werden würde. Schmerzhaft drückte er den angesammelten Kloß in seinem Hals herunter und murmelte für Akinna die Worte vor sich hin, die seinerzeit die Hexe zu ihm und seiner Schwester gesagt hatte. „Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, der behütende Einhornbann umschließt und begleitet dich.“

„Was hast du da gerade gesagt?!“

Irritiert sah Dantra auf. Es war wieder die Stimme, die irgendwo hinter der Wand zu seiner Rechten ihren Ursprung hatte. Jetzt jedoch war sie lauter und klang ehrlich überrascht. Dennoch war ihm nicht wohl dabei, zu antworten. Vor allem, weil er sich doch sehr darüber wunderte, dass überhaupt jemand hören konnte, was er gesagt hatte. Es sei den … „Bist du ein Elb?“, fragte er in seine Einsamkeit hinein, ohne weitere Bedenken zu beachten.

„Nein“, wurde seine Vermutung kurz angebunden abgehandelt. „Aber zurück zu dem, was du gerade gesagt hast. Waren das deine eigenen Worte oder wurden sie dir von jemand anderem in den Mund gelegt?“

Dantra gefiel der angeschlagene Ton gar nicht. Er klang zu herrisch und hatte zu viel Verhörcharakter. Jedoch nahm er auch wahr, dass der Mensch, wer immer er war, nicht überheblich klingen wollte, sondern nur sehr aufgebracht schien. Dessen ungeachtet wollte er trotz alledem nicht die geforderten Antworten ausplaudern, als würde er mit einem guten Bekannten reden. „Das geht dich gar nichts an“, versuchte er, gleichgültig zurückzugeben.

„Bitte.“ Die Stimme war nun wieder leiser, aber dennoch war das nervöse Beben in ihr zu hören. „Ich weiß nicht, wer du bist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich gerade in eine der vielen Hinterlisten tappe, die mir in den unzählbaren Jahren meiner Gefangenschaft schon gestellt wurden, aber die Worte, die du gerade ausgesprochen hast, kenne ich nur von einer Person. Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie ebenfalls gefangen genommen wurde oder gar tot ist. Aber eines ist sicher. Diese Worte würde sie nicht unter Folter sagen. Und wenn tatsächlich ein Gedankenraub bei ihr möglich ist, so würde doch niemand diese Worte beachten und aus ihr herausholen. Also bitte, sag mir, wer dir diesen Wunsch einst gesagt hat.“

Flehen. Anderes konnte Dantra das gerade Gehörte nicht betiteln. „Der Zweifel über die guten Absichten des anderen sind wohl auf beiden Seiten groß“, dachte er. Oder war auch das wieder ein Trick. Seine Unsicherheit bereitete ihm Kopfschmerzen. Er schnaubte genervt und ging dann langsam zum rechten Anfang der Gitterstäbe, um möglichst nah bei dem anderen zu sein. Vielleicht könnte er ja so etwas hören oder gar sehen, was ihm bei seiner Wahrheitssuche helfen konnte.

„Die Worte sind tatsächlich nicht von mir“, sagte er nach einem weiteren Abwägen aller Gefahren.

„Von wem sind sie?“, bekam er als Antwort.

Selbst wenn er seinen Gesprächspartner in die Augen sehen könnte, so war er natürlich nicht bereit, E’Cellbras Namen zu nennen. „Ich bin erst seit einigen Tagen hier. Noch haben sie mich nicht irregemacht. Da wirst du wohl noch etwas warten müssen, bis ich solche Informationen so mir nichts, dir nichts preisgebe.“

Ein gespanntes Schweigen lag unruhig zwischen ihnen. Dann, als Dantra schon wieder zurück in seine Ecke kriechen wollte, sagte der Mann: „Der Anfang ihres Namens lautet E’Cell, nicht wahr?“

Dantra riss überrascht die Augen auf und sah auf die Wand, hinter der jemand saß, der genau wie er E’Cellbra kannte. Eine Hexe, die sich seit vielen Jahren versteckt hielt. Aber woher? Oder … ihm stockte der Atem … hatten sie sie doch gefunden und verhört?

„Ich … ich …“, stammelte er. Dann schnellte er hoch und drückte sich so weit wie möglich von dem Fremden entfernt an die Wand. Seine Gedanken rasten. Sein Herz schlug so laut wie nie. Es spielten sich alle möglichen grauenhaften Szenarien vor seinem inneren Auge ab. Sie ließen seinen Blick gehetzt durch die Enge der Zelle huschen.

Wie aus einer weit entfernten Ecke eines großen Hauses hörte er verblichen die Stimme des Mannes. Nur langsam formte diese sich, in seinem von einem Panikbeben heimgesuchten Kopf, zurück zu etwas Verständlichen. „Bitte, du musst mir glauben. Ich will dir doch nichts Böses.“ Die Stimme verfiel in ihr anfängliches Kratzen. „Mein Name ist Snasir Wiblin. Von den meisten meiner Freunde werde ich nur Wibli genannt.“ Ein nachdenkliches: „Wenn ich überhaupt noch Freunde habe“, fügte sich seinem Vorstellen an.

Dantra jedoch beachtete sein kurz aufgekommenes Selbstmitleid nicht. Als er den Namen hörte und ihn in Verbindung mit E’Cellbra brachte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Mit zitternden Fingern angelte er wieder einmal die Karte von Umbrarus aus seiner eingenähten Tasche. Vor zwei Tagen, als er bemerkte, dass er sie noch immer bei sich trug, hatte es sich noch darüber geärgert, sie nicht bei seinen Freunden gelassen zu haben, wie er es auch mit Comals Schwert getan hatte. Jetzt aber war er heilfroh über seinen vermeintlichen Fehler. Mit dem Rücken zu den Gitterstäben, um so viel Fackellicht wie möglich zu nutzen, entfaltete er sie. Sein Blick fiel sofort auf das Wappen in der linken, oberen Ecke. Unter der von einer Salak-Tren Blume und einem Einhorn dominierenden Abbildung prangten die Initialen des Zauberers, der die Karte erschaffen hatte. Ein großes W mit einem normalen S und einem in Spiegelschrift. E’Cellbra hatte zwar nie seinen Namen erwähnt, aber der Mann, der hier weit unter der Erde neben ihm eingepfercht war, kannte sie. Außerdem musste er magische Kräfte besitzen, sonst hätte er Dantras Flüstern von E’Cellbras Worten nicht hören können. Und sein Name deutet zweifellos auf diese Initialen hin, die er unverhohlen anstarrte. Konnte das sein? War das wirklich ein Zufall? Ein Fingerschnipp des Schicksals? Oder doch nur … eine List? Sollten sie E’Cellbra wirklich gefangen genommen haben, war auch die Frage nach der Karte eine Frage, die ihr niemand stellen würde. Denn keinem der Drachendiener war die Existenz der Karte bekannt. Warum auch? Nur eine Handvoll Leute kannte sie. Unter anderen derjenige, der sie mit dem äußerst hilfreichen Zauber belegt hatte, wodurch sie sich immer wieder den neuen Gegebenheiten in Umbrarus anpasste.

Wenn der Mann, der vorgab, E’Cellbra zu kennen, wirklich der war, für den er ihn hielt, musste er ihn über Details der Karte befragen. Nur so konnte er feststellen, ob er einen Irrtum, eine Täuschung oder einen sehr großen Zufall neben sich in der Zelle hatte.

Dantra schaute sich die Linien, Symbole und Farben genau an. Er suchte nach einer Auffälligkeit, die sich eignete. Schließlich blieben seine Augen an dem Schriftzug im Wappen hängen. Die Schreibweise der Wörter stammte noch aus der Zeit, bevor die Drachen die Herrschaft über Umbrarus an sich gerissen hatte.

„Die alte Sprache“, hatte Akinna ihm einst erklärt, als er sie nach deren Bedeutung gefragt hatte. Die Übersetzung, die sie ihn seinerzeit offenbarte, war genau das, was er jetzt brauchte.

„Einhor…“, seine Stimme klang schwach und verängstigt. Sie brach, sodass er sich räuspern musste. Gezwungen selbstsicherer begann er von Neuem. „Einhornblut.“ Das war der Anfang von dem, was dort geschrieben stand. Da der Mann ihm gerade die erste Hälfte von E’Cellbras Namen genannt hatte, war sich Dantra sicher, dass er wusste, was er nun von ihm erwartete.

Was er bekam, war aber nichts als Stille. Das, was ihn hier unten allgegenwärtig umhüllte und ihn fest in den Griff nahm, das Schweigen, von dem, was sonst eine lebendige Welt ausmachte, quälte ihn in diesem Moment nicht mehr nur noch oberflächlich, sondern bohrte sich tief in sein eh schon unruhiges Seelenbefinden. Ein: „Ich weiß nicht, wovon du redest“, oder ein: „Was willst du damit sagen?“, würde ihm die Beurteilung seiner Lage sehr erleichtern. Aber stattdessen wurde wahrscheinlich gerade darüber nachgedacht, wie man die Situation noch retten konnte, um sein Vertrauen auch ohne das erforderliche Wissen für sich zu gewinnen. Schon auf halbem Weg zurück in seine am meisten genutzte Ecke, hörte er doch noch die Stimme hinter der Mauer flüstern.

„Wissen … Macht … und Mut.“ Sie klang dünn und fast so zerbrechlich wie seine eigene. Aber die Worte, die sie preisgab, waren exakt die, die über dem Wappen verewigt worden waren. Dantras Mund war trocken. Seine zittrigen Finger ließen den Papyrus zucken wie einen frisch gefangenen Fisch. Mit überrascht aufgerissen Augen starrte er erneut auf die Wand, als könnte er so durch sie hindurchsehen und das Gesicht des Mannes erkennen. Es dauerte noch etwas, dann fiel sein Blick zurück auf die Karte. Er musste sie mit beiden Händen halten, um ihr genug Halt zu geben. Bei der Frage, mit der er sich noch mehr Sicherheit verschaffen wollte, war der Inhalt des Bildwerks nicht von Bedeutung. „Wer bin ich?“, brummte er ins Halbdunkel.

Die Antwort kam prompt. „Du bist der, welcher die Macht über die Karte hat.“

Er war es! Er musste es sein! Niemand sonst könnte ihm die verlangten Antworten geben, als der von E’Cellbra lang vermisste Freund. Dennoch war Vorsicht geboten. Dantras Denkprozess warf eine Menge an Möglichkeiten auf, die alle zu der Erkenntnis kamen, dass es sich hierbei doch um einen perfiden Plan handelte, seine Geheimnisse auf andere Art als den Gedankenraub aus ihm herauszuholen. Der Mann hinter der Wand hatte eingangs von seiner Unwissenheit, was E’Cellbras Befinden anging, gesprochen. Ihm in dieser Sache sein Wissen anzuvertrauen, konnte nicht viel Schaden anrichten. Selbst wenn sein Gesprächspartner doch nur ein Drachendiener war.

„Vor einigen Tagen habe ich sie zuletzt gesehen“, berichtete er leise. „Da ging es ihr noch gut.“

„Noch?“, fragte die Stimme besorgt. „Hast du Zweifel, dass es immer noch so ist?“

Mit den Gedanken zurück zum Ort des Abschieds erreichte ihn erneut der Kummer um seine Freunde. „Ich habe versucht, alle Gefahren von ihr zu nehmen. Ich kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob es mir gelungen ist.“ Ein betretenes Schweigen gab den unruhigen Gedanken Raum zur Entfaltung.

„Sie wird sich zu schützen wissen. Das wusste sie schon immer.“

Selbst wenn Dantra seinen Leidensgenossen nun dem Namen nach kannte, so war er immer noch ein Fremder. Dennoch hatten Mut machende Worte selten so gutgetan wie diese. „Ja, das denke ich auch.“

„Du musst ihr viel bedeuten, wenn sie dir, nach so langer Zeit in ihrem Besitz, die Karte übergibt.“

Die Feststellung zauberte ein kleines Lächeln auf Dantras Gesicht. Wenn er sich an all die vielen Streitgespräche erinnerte, die sie zuweilen geführte hatten, fand diese Vermutung seines Zellennachbarn in der Wirklichkeit keinen Halt. „Ich denke eher, dass sie meine Schwester sehr mochte. Denn sie übergab mir die Karte, damit ich mit ihrer Hilfe meine Schwester in Sicherheit bringe. Ich selber habe mehr Maßregelungen und Beschimpfungen von ihr erhalten als nette Worte. Vor allem nichts, was darauf hindeuten würde, dass ich ihr etwas bedeutete.“

„Ich habe meine alte Freundin lange nicht gesehen.“ Die Stimme klang nun zufrieden. Weich wie die eines Menschen, der in guten Erinnerungen schwelgte. „Aber ich freu mich, dass sie sich offensichtlich nicht verändert hat.“

„Was meinst du damit?“

„Nun, wenn ihr ein Mensch, ein Elb oder irgendwer anderes, ganz egal welcher Gattung, Herkunft oder Stellung in der Gemeinschaft nichts bedeutete, hätte sie sich niemals in ein Streitgespräch verwickeln lassen. Wenn ihr jemand egal war, so wurde diesem nichts weiter entgegengebracht als Nichtachtung. Und dabei war es belanglos, was er ihr gegenüber sagte oder zu jemand anderem, der einfach nur nah genug stand, dass auch sie es hören konnte. Ihr Freundeskreis war schon immer sehr klein gehalten. Aber für die, die sich innerhalb dieser Grenze befanden, würde sie jederzeit alles tun, was in ihrer Macht steht, um zu helfen, und sie beschützen. Glaub mir also, wenn ich dir sage, dass du ihr sehr viel bedeutest.“

Dantra musste die Worte, die Einschätzung von E’Cellbras Charakter, von jemandem, der sie anscheinend sehr gut kannte, erst einmal sacken lassen.

Seine Sichtweise auf die Hexe, die ja auch ihn und seine Schwester bei sich aufgenommen hatte, obwohl nicht wenige Risiken damit verbunden gewesen waren, veränderte sich schlagartig. Sie hatte einst in den höchsten Tönen über seinen Vater geredet. Sie sagte, sie sei es ihm schuldig, sich nun um seine Kinder zu kümmern.

All das bestätigte, was er gerade gehört hatte. Sie war loyal. Darüber hinaus hatte sie ihm sehr viel beigebracht und ihm die Möglichkeit gegeben, Tami in Sicherheit zu bringen.

Allem Anschein nach gehörten sie beiden, Tami und er, wohl tatsächlich zu einem sehr erlesenen Kreis, den sie Freunde nannte. Er drückte stolz seinen Rücken durch und ließ ein selbstgefälliges Durchatmen hören.

„Ja“, hörte er aus der Nachbarzelle, „ein erhabenes Gefühl! Damals wie heute.“

Die folgende Stille war nur von kurzer Dauer. Mit der Frage: „Warum haben sie dich hier eingesperrt?“, wurde Dantra aus seinen Erinnerungen an die Zeit bei E’Cellbra zurück ins kalte Hier und dunkle Jetzt geholt.

„Ich habe einen Drachen getötet“, sagte er kurz angebunden, so als ginge es um einen harmlosen Mundraub. Die Erwiderung auf sein Schuldbekenntnis fiel daher auch etwas mürrisch und voller Ironie aus. „Und ich habe sieben Kerben in meinem Gürtel. Rate mal, wofür sie stehen.“

Es hörte sich in der Tat etwas überschätzt an, wenn jemand behauptete, einen Drachen getötet zu haben. Jedoch war es nun einmal die Wahrheit. Damit er aber nicht das Bild eines Lügners abgab, führte Dantra sein vorgeworfenes Verbrechen weiter aus. Er berichtete wie, wo und welchen Drachen er getötet hatte. Dabei ließ er allerdings nicht nur die Namen seiner Mitstreiter aus, er verschwieg ihre Anwesenheit und damit ihre Mithilfe gänzlich. Jedoch nicht, um sich in einem noch besseren Licht dazustellen, sondern um seinem immer noch vorhandenen Misstrauen dem Fremden gegenüber gerecht zu werden.

„Und die magische Kraft, die du zu Hilfe genommen hast, wie stark ist sie?“, hakte Wibli kritisch nach.

„Sie war sehr stark“, erwiderte Dantra mit einer Handvoll Wehmut in der Stimme.

„Sie war … stark?“

„Sie ist weg. Ich spüre sie nicht mehr, seit Condire in dem Feuerball sein Leben ließ.“

„Magische Kräfte verschwinden nicht einfach.“ Wiblis Feststellung klang in Dantras Ohren fast wie ein Zweifel an seinen Worten. „Entweder man hat sie oder nicht. Und wenn, dann für immer“, fügte er noch bestimmt hinzu.

Dantra ließ nachdenklich seine Augen durchs Trübe kreisen. Die Erklärung für dieses Phänomen, die er sich selber gegeben hatte, klang in sich schlüssig, würde aber nicht in allen Einzelheiten einem kritischen Nachfragen standhalten können. Und da er bisher seine Gedanken noch nicht mit irgendwem teilen konnte, war er womöglich auf dem ganz falschen Weg, ohne es aus seinem Blickwinkel erkennen zu können.

„So wie ich das sehe“, begann er seine Auslegung, „habe ich diese magische Kraft von Condire bekommen.“

„Wie meinst du denn das jetzt wieder?“ Es war Wibli deutlich anzumerken, dass Dantras Geschichte ihm langsam zu haarsträubend wurde.

„Mein Vater hat vor langer Zeit gegen einen Drachen gekämpft. Warum? Weiß ich leider nicht. Aber da es Condire war, den man mit ein paar üblen Beschimpfungen herbeilocken konnte, gehe ich davon aus, dass er es war, mit dem sich mein Vater duellierte.“ Es schauderte ihn, als er das Bild seines mit Brandwunden übersäten Vaters vor seinem inneren Auge sah. In der Vergangenheit war ihm dieser Anblick zwar nach jedem Nutzen seiner magischen Kraft vorgeführt worden, aber da hatte er nicht einmal im Entferntesten daran gedacht, dass es sich dabei um seinen nie kennengelernten Vater handeln könnte.

„Er starb bei dem Kampf“, fuhr er schließlich fort. „Das Feuer hat ihn geholt. Meine Schwester, meine Mutter und ich, noch in ihrem Bauch, standen dicht genug dran, um die Hitze zu spüren. Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Moment die Fähigkeit enormen Druck auf etwas ausübte, nur in meinem Fall halt ohne Feuer, und auf mich überging. Als Condire dann selbst starb, nahm er all seine Magie mit sich. Auch die, die er einst unfreiwillig an mich abtrat.“

Aus der Nachbarzelle war nicht mehr als ein leises Rascheln wahrzunehmen, welches hörbar wurde, wenn man sich nachdenklich in seinem Rauschebart kratzte. In diese Halbstille fiel Dantra auf, dass die Unruhe, die in ihm drinnen unaufhörlich ihr Unwesen trieb, seit er sich dem Drachen gestellt hatte, merklich abgeklungen war. Ganz so, als würde das Reden über seine sich anscheinend im Kreis drehenden Gedanken und Ängste einen Teil der damit verbundenen Sorgen abgeben.

„Ich habe noch nie davon gehört, dass magische Kräfte von einem Wesen auf ein anderes übertragen wurden.“ Die Worte Wiblis klangen nun eher nach einer Antwort suchend als skeptisch. „Aber nur, weil ich noch nie etwas davon gehört habe, bedeutete es natürlich nicht, dass es unmöglich ist.“ Wieder war nur das Rascheln zu hören. „Aber ich bin davon überzeugt, dass ein hohes Maß an Magie für diese Kräfteaufteilung vonnöten ist.“

„Wer hat schon mehr Magie in sich als ein Drache?“, stellte Dantra fragend fest.

„Ich meine nicht den Drachen. Ich meine dich. Die Magie in dir muss unglaublich groß sein. Auf einen Normalsterblichen kann Magie, ob von einem Drachen oder sonst irgendeinem Wesen, nicht übergehen. Das ist wie eine angeborene Anomalie. Wenn bei deiner Geburt zwei deiner Zehen zusammengewachsen sind, dann ist das so. Aber es wird nie passieren, dass nach deiner Geburt zwei Zehen zusammenwachsen.“

Dantra sah auf seine Hände, als suche er dort eine Anomalie. Er fühlte in sich hinein, schaute in jeden Winkel seines Seins und kam schließlich zu dem Entschluss: „Ich spüre nichts. Keine Magie. Nichts, was darauf hindeuten würde, dass ich etwas allein mit meinem Willen bewegen könnte.“

„Allein mit deinem Willen bewegen könnte?“ Da war er wieder. Der kritische Unterton. „Ich rede von Magie. Nicht von irgendeinem übersinnlichen Hokus Pokus.“

„Wie auch immer“, gab Dantra etwas zu rotzig zurück. „Da ist nichts und da kommt auch nichts mehr. Seit der Lichtung, auf der ich Condire den Todesstoß versetzt habe, ist es vorbei mit meinen magischen Kräften. Wenn ich tatsächlich ein Zauberer wäre, dann hätte ich das doch wohl sicher schon anderweitig gemerkt, oder nicht?“

Die Antwort, die er bekam, war erst einmal nicht mehr als ein lang gezogenes: „Mhhh.“ Der folgenden Stille, die wieder vom Raschelgeräusch begleitet wurde, hing sich eine äußerst interessante Theorie an. „Ich könnte mir vorstellen, dass die Kraft, die von Condire ausging, deine natürlichen magischen Fähigkeiten klein gehalten haben. Du darfst nicht glauben, man kommt schon als fertiger Zauberer zur Welt. Man muss es lernen oder die Geduld haben, bis einem die Zeit das Wissen bringt. Das jedoch dauert. Es gibt zwar instinktive magische Handlungen, die auch dann ausgeführt werden, wenn man selbst nicht weiß, dass man Magie in sich trägt, aber das ist eher selten.“

Dantra überlegte. Hatte der Mann neben ihm recht? Oder war es nur seine Art, sich wichtig zu machen? Vielleicht war er ja auch einfach nur schon zu lange eingesperrt. Aber was, wenn Wibli mit seiner Annahme nicht danebenlag? Wenn wirklich Kräfte in ihm im Verborgenen lagen, die ihn zu einem Zauberer werden ließen? Unwahrscheinlich! Aber auch unmöglich?

Wibli holte ihn mit einer Frage aus seinen Gedankenwirrwarr. „Bei alledem, was ich nun schon von dir weiß, könnte ich mir vorstellen, dass dich eine vor Augen geführte Gefahr dazu gebracht hat, schon mit deinem Leben abzuschließen, stimmt das?“

„Einmal?“, entgegnete ihm Dantra. „Als ich das erste Mal im schwarzen Baumwald war, da …“

„Wo warst du?“ Wibli klang ehrlich erschrocken.