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Ralph-Miklas Dobler, Daniel Jan Ittstein (Hg.)

Fake

Interdisziplinär

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Prof. Dr. Ralph-Miklas Dobler lehrt an der Hochschule München. Seine Fachgebiete sind Medienwissenschaft, historische Bildwissenschaft und Architekturgeschichte.

Prof. Dr. Daniel Ittstein lehrt an der Hochschule München. Seine Fachgebiete sind u.a. Internationales Management, globale digitale Innovation und Geschäftsmodelle, Führung internationaler (virtueller) Teams sowie Internationales Projektmanagement.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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ISBN 978-3-7398-3015-5 (Print)

ISBN 978-3-7398-0505-4 (ePUB)

ISBN 978-3-7398-8015-0 (ePDF)

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– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG

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Vorwort

Fake ist im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu einem omnipräsenten Begriff geworden, der in nahezu jedem Bereich menschlichen Zusammenlebens Verwendung findet. In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist der Anglizismus Fake überwiegend negativ konnotiert und kennzeichnet etwas, das mit den Eigenschaften falsch, unecht, imitiert, gestellt, gelogen und irreal umschrieben werden kann. Obwohl Wahrheit und Lüge zumindest im westlichen Kulturkreis zu den Grundlagen der Geistesgeschichte gehören, wird Fake und Gefaktes aktuell vorwiegend als neue Bedrohung und Gefahr der Ordnungen dargestellt. Dabei kann Fake etwa im Sinn der Imitation nicht nur natürlich sein, sondern durchaus auch Nutzen stiften. Die Ursachen für das inflationäre Aufkommen von Gefaktem sind so vielfältig wie die Gründe für die derzeit eher stigmatisierende Betrachtung. Oft werden die technologische Innovation der Digitalisierung oder die Globalisierung, aber auch Werteverfall, Konstruktivismus und damit die Wissenschaftskultur angeführt. Sicher ist, dass Menschen sich inzwischen mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert sehen, da Personen oder sogar Programme Nachrichten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Produkte faken. Grund genug, um das Thema aus verschiedenen Perspektiven interdisziplinär zu betrachten.

Die Beiträge des Bandes gehen auf eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München zurück, die von den Herausgebern im Sommersemester 2017 organisiert wurde. Dank gebührt den Kollegen, die sich mit großem Gewinn darauf eingelassen haben, das Thema aus ihrem jeweiligen Fachgebiet heraus zu untersuchen und die Ergebnisse zur Diskussion zu stellen. Ohne Christine Schrödls Einsatz wäre die Umsetzung der Veranstaltungsreihe nur schwer möglich gewesen.

Wir hoffen mit dem Buch zum Verständnis eines wichtigen Zukunfts- und Gegenwartsthemas beizutragen. Zudem hoffen wir, einen Ausgangspunkt und eine Grundlage für weitere Forschungen zu FAKE zu schaffen.

München, im Juli 2019

Ralph-Miklas DoblerDaniel Jan Ittstein

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

Ralph-Miklas Dobler

1Fake aus einer historischen Perspektive

1.1Einführung

1.2Illusion – Immersion – Virtuelle Realität – Fake Reality

1.3Simulation – Dissimulation – Verstellung – Realfakes

1.4Nachrichten – Politik – Social Media – Fake News

Nicole Brandstetter

2The Concepts of Truth and Fake in Literature

2.1Preliminaries

2.2Truth, Verisimilitude, and Authenticity

2.3Fiction, Lying, and Inauthenticity

2.4Post-truth, Post-fictional Writing, and Fake

Simone Kaminski

3Psychologie der Täuschung – Wie uns Fake News beeinflussen

3.1Einführung

3.2Wie wir uns von Fake News beeinflussen lassen

3.2.1Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)

3.2.2Der Wahrheitseffekt (Truth Effect)

3.2.3Der Sleeper-Effekt

3.2.4Zugehörigkeit zur Eigengruppe

3.3Warum wir an falschen Überzeugungen festhalten

3.3.1Kognitive Dissonanz und das Bedürfnis, sie zu vermeiden

3.3.2Backfire-Effekt

3.4Wie wir Fake News aus unseren Köpfen bekommen

3.5Zusammenfassung

Silke Järvenpää

4Alternative Facts and Fake News: Cultural Studies' Illegitimate Brainchildren

4.1Introduction

4.2Discussion

4.3Conclusion

Daniel Jan Ittstein

5Intercultural Copycats – innovative Imitation digitaler Geschäftsmodelle

5.1Einleitung

5.2Geschäftsmodelle

5.3Digitale Geschäftsmodelle und ihre Imitation

5.4Interkulturalität bei digitalen Geschäftsmodellen

5.5Interkulturalität bei digitaler Geschäftsmodellimitation

5.6Fallstudie: Interkulturelle Geschäftsmodellimitation am Beispiel von Amazons Markteintritt in den jungen Versandhandelsmarkt in Indien

5.7Schlussbetrachtungen

María Begoña Prieto Peral

6Political fictions in the construction of Spanish national identity in times of crisis

6.1Charlemagne's vision

6.2"Limpieza de sangre” and the Christian knight

6.3Heretics, Lutherans and Erasmians 1517

6.4From the loss of Cuba in 1898 to 2018

Anne Brunner

7Zwischen Täuschung und Wahrheit: Von der Natur, einem Märchen und einer historischen Persönlichkeit

7.1FAKE: Keine Erfindung des Menschen!

7.2Begriffe

7.2.1Mimik und Maske

7.2.2Wahrheit und Täuschung

7.3Täuschung und Wahrheit in Geschichten

7.3.1Märchen

7.3.2Gleichnis

7.4Eine wahre Geschichte

7.4.1Die Person: Hintergrund

7.4.2Auftakt

7.4.3Auftritt

7.4.4Abtritt

7.4.5Encore: Noch eine Zugabe

Über die Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Kapitel 5

Abb. 1Business Model Canvas

Abb. 2Fähigkeiten des Copycat-Prozesses

Abb. 3Rahmenmodell für interkulturelle Geschäftsmodellinnovation (RIGI)

Kapitel 7

Abb. 1aReh

Abb. 1bLöwe

Abb. 1cSchmetterling

Abb. 2aPfauenauge

Abb. 2bKuckucksei

Abb. 2cVogel

Abb. 3Rhesus-Äffchen – vorher, nachher

Abb. 4Maske

Abb. 5Ent-Täuschung

Abb. 6Des Kaisers neue Kleider

Abb. 7Der Elefant und die Blinden

Abb. 8aVase

Abb. 8bElefant

Abb. 9Eine historische Figur

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Fake aus einer historischen Perspektive

Ralph-Miklas Dobler

1.1Einführung

In der schnelllebigen und vergangenheitsvergessenen Gegenwart fehlt häufig eine historische Perspektivierung scheinbar neuer und folglich beeindruckender und verunsichernder Phänomene. Oft wird versucht, die Kontrolle zu erlangen, indem Probleme nivelliert werden, weil es sie vorgeblich schon immer gab und ihre Bedeutung folglich überschätzt wird. Oder aber scheinbar unlösbare Schwierigkeiten werden benutzt, um Ängste zu schüren und Besorgnis zu erregen. Beides führt nicht zu einem Verständnis der Wirkungszusammenhänge und damit zu den Voraussetzungen, die Zukunft in nachhaltiger Weise zu gestalten. Ein Blick in die Vergangenheit kann helfen, Ereignisse und Zustände der Gegenwart besser zu verstehen und differenziert zu beurteilen. Geschichte wiederholt sich zwar nie in identischer Weise, jedoch bieten historische Sachverhalte Orientierung und Hinweise zum Umgang mit vielen Herausforderungen der Gegenwart.

Eine besondere Herausforderung im öffentlichen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs ist die Definition von Begriffen. Formale und inhaltliche Bedingungen von Worten und Ausdrücken sind oft nicht klar geklärt, das heißt, wir wissen gar nicht genau, wovon wir eigentlich sprechen. Publikumswirksame Buzzwords sind ein gängiges Beispiel hierfür. So wird von „Digitalisierung“ in verschiedensten Kontexten und Bereichen gesprochen, allerdings fällt es schwer, kurz und prägnant zu definieren, was Digitalisierung eigentlich ist, um dann mit dieser inhaltlichen Festlegung zu operieren. Auch der Begriff „Fake“ gehört in diesen Kontext. Das Wort bezeichnet eine Vielzahl von Verhältnissen, Eigenschaften und Diskursen, ohne dass genau definiert wäre, was gegenwärtig (ein) Fake ist.1 Sicher ist, dass der Begriff und seine Verwendung immer ein Verhältnis zur Echtheit oder zur Wahrheit implizieren. Letztere ist bereits ein kompliziertes philosophisches Thema und folglich ist ihr Gegenteil – die Lüge, die Fälschung, der Betrug, das Fake – ebenso schwierig zu bestimmen. Fake kann sowohl als Adjektiv die Eigenschaft und Qualität von Dingen bezeichnen als auch selbst ein natürliches oder virtuelles Objekt sein. „Fake News“ wurde 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Anglizismus und „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gewählt. 2017 wurden „Fake News“ in den Duden aufgenommen.

Im Folgenden werden drei aktuelle Bedeutungsfelder von Fake einer historischen Perspektivierung unterzogen. Durch diese Distanznahme kann der Begriff und die von ihm bezeichneten Phänomene besser beurteilt werden. Fake steht immer in einem Bezug zur Wirklichkeit. Wird der menschliche Handlungsraum simuliert, so spricht man von Fake Reality, deren bekanntestes technologisches Beispiel gegenwärtig die virtuelle Realität ist. Bereits dieses Beispiel zeigt, dass Fake keineswegs nur negative Verhältnisse anzeigt. Fake kann auch zu Ruhm und Bewunderung führen. Problematisch wird es aber, wenn Personen ihre Identität fälschen oder verbergen. Besonders in den schwer zu kontrollierenden und anonymen Sozialen Medien ist das (be)trügerische Vorhandensein von Realfakes gang und gäbe. Keineswegs sind jedoch das Verstellen und das Simulieren eine gesellschaftliche Entwicklung des digitalen Zeitalters. Schließlich ist der Begriff des Fake aus dem Bereich der Wissens- und Informationsvermittlung, insbesondere aus dem Kontext von Nachrichten, Presse und Journalismus, nicht mehr wegzudenken. Die Fake News sind wohl das geläufigste Phänomen, mit dem das zur Diskussion stehende Wort im digital kommunizierenden 21. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird.

1.2Illusion – Immersion – Virtuelle Realität – Fake Reality

Wie so vieles beginnt die Geschichte der Illusion in der Antike. Der Geschichtsschreiber Plinius der Ältere berichtet in seiner Naturgeschichte von einem Wettstreit zwischen den Malern Parrhasios und Zeuxis, der sich um 400 v. Chr. in Griechenland zu getragen habe.2 Dabei malte Zeuxis auf seine Tafel Trauben so naturgetreu, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Parrhasios hingegen zeigte seinem Rivalen ein Gemälde, das von einem Vorhang bedeckt war. Zeuxis bat ungeduldig, den Vorhang endlich zur Seite zu ziehen. Als er dies endlich selbst versuchte, bemerkte er, dass dieser nur gemalt war. Gewonnen hat den Wettstreit Parrhasios, weil es ihm gelang, den Menschen zu täuschen, der eigentlich durch seine Vernunft zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden kann. Die Geschichte steht für verschiedene Ansprüche der Malerei, die bis weit in die Neuzeit hinein wirksam waren: Zum einen die perfekte Imitation der Natur, zum anderen die Täuschung der Augen und das Überwinden der Zweidimensionalität der Malfläche.

Die täuschend echte Nachahmung der Realität bis hin zum Schein der Greifbarkeit war jedoch nur der Anfang. In der Renaissance beschäftigte man sich mit den materiellen und geistigen antiken Überlieferungen und versuchte die Leistung der alten Meister zu übertreffen. Naturwissenschaften und bildende Künste waren damals noch Bestandteile desselben Wissenschaftssystems, und eine Erfindung, die bis heute im westlichen Kulturkreis die Wahrnehmung und Einschätzung von Bildern bestimmt, geht auf einen Architekten zurück: Filippo Brunelleschi revolutionierte im Florenz des 15. Jahrhunderts die malerische Darstellung von Räumen, indem er die mathematisch-geometrischen Gesetze der Zentralperspektive ergründete.3 Das bis heute gebräuchliche Verfahren erlaubte es, auf einer Fläche dreidimensional wirkende Räume zu entwerfen, die dem menschlichen Auge maßstäblich und perspektivisch stimmig erschienen. Zweidimensionale Wände konnten folglich „geöffnet“ und der reale Raum illusionistisch „erweitert“ werden. Gemälde wurden zu einer Erweiterung der Realität des Betrachters – nicht eine „augmented“, aber eine „expanded reality“ könnte man sagen.

Wenn die Maßstäbe überreinstimmten, machte die Raumkontinuität den Inhalt des Gemäldes zu einem Bestandteil der Wirklichkeit. Die Illusion eines begehbaren Raumes war gelungen. Den Fortschritt beschrieb Leon Battista Alberti im Jahr 1435 in seinem Buch über Malerei, das den aktuellen Stand dieser Kunst in einer Art Lehrbuch festhielt: das Gemälde ist wie ein „offenes Fenster“, durch das man eine Geschichte erblicken kann.4 Tatsächlich war die im Bild gezeigte Szene oft nicht die zeitgenössische Realität, sondern eine zweite Wirklichkeit, die grundsätzlich auch in der Vergangenheit oder Zukunft liegen konnte. So wird in Masaccios berühmtem Trinitäts-Fresko in Santa Maria Novella in einem gemalten Anraum des linken Seitenschiffes die Szene der Kreuzigung Christi vergegenwärtigt.5 Das Bild gilt pauschalisierend als erstes Gemälde, das korrekt zentralperspektivisch konstruiert ist, und in der Tat konnte der Betrachter am Geschehen, das ihm außerordentlich real erscheinen musste, sehend Anteil nehmen. Ausschlaggebend hierfür war die maßstäbliche Kontinuität zwischen Realität und Fiktion.

Es fällt heute schwer, die überwältigende Wirkung von damals zu verstehen. Unsere Sehgewohnheiten sind durch Fotografie und bewegten Film sowie durch die Dauerpräsenz von Bildern völlig andere. Wahrscheinlich hatte der Blick auf das Fresko eine ähnlich verunsichernde Wirkung wie heute das Eintauchen in die Virtuelle Realität. Tatsächlich erinnert die Vorstellung Albertis, das Gemälde sei ein Fenster, durch das man in eine Art zweite Wirklichkeit blickt, an die Bildschirme der digitalisierten Welt, deren Screens eine durchsichtige, zweidimensionale Grenze bilden, die man zwar nicht körperlich durchschreiten, durch die man aber in andere Räume und Realitäten blicken kann.6

Ziel vieler Gemälde seit dem 15. Jahrhunderts war es, die Distanz zwischen Wirklichkeit und Darstellung zu überwinden und dem Betrachter quasi das Gefühl zu geben, im Bild zu sein und ein Teil der bildlichen Realität zu werden. Insbesondere religiöse Geschichten konnten so glaubhaft und emotional vermittelt werden. Diese Verbindung von fiktionaler Realität und Gefühlen ist bis heute bestimmend für die Entwicklung virtueller Realität. Immersive Techniken zielen darauf ab, den Betrachter am Gezeigten zu beteiligen, „aus Rezipienten werden Partizipierende“.7 Das lateinische Wort „immersio“ bezeichnet das physikalische Eintauchen in eine Flüssigkeit. In der Medientheorie bezeichnet der Begriff unmittelbar erfahrbare körperliche Rezeptionsprozesse, bei denen der Betrachter mental in eine Welt eintaucht, die künstlich oder weit entfernt ist.8

Erlaubte es die Zentralperspektive seit dem 15. Jahrhundert, begrenzte Malflächen an der Wand oder auf Tafeln als Erweiterung der realen Räume zu gestalten, so war mit der sogenannten Quadratura-Malerei im 17. Jahrhundert eine neue Stufe der Fiktion erreicht.9 Die Künstler erweiterten die Realität nicht nur hier und da durch „Fenster“, sondern die Wände und Decken von Räumen wurden mit malerischen Mitteln komplett aufgelöst. Da die geometrische Konstruktion von der auf einen Punkt ausgerichteten Zentralperspektive ihren Ausgang nahm, konnten die Raumgrenzen von einem bestimmten Standpunkt aus nicht mehr wahrgenommen werden. Noch für heutige Betrachter ist kaum auszumachen, wo beispielsweise in der Kirche Sant’Ignazio in Rom das halbrunde Tonnengewölbe des Kirchenschiffs ansetzt und wie es verläuft, da auf den Seitenwänden scheinbar eine mehrgeschossige gemalte Architektur ansetzt, in deren Mitte der Blick in den von Engeln bevölkerten Himmel frei bleibt. Der Sinn dieser Malerei war die Überwältigung der Besucher durch Illusion und Täuschung. Der Maler, Andrea Pozzo, war Jesuit und Mathematiker. Für ihn, wie für viele andere Wissenschaftler der Frühen Neuzeit, waren Mathematik und Geometrie Disziplinen in denen sich die Perfektion und Vollendung Gottes manifestierte.

Reale Raumgrenzen durch eine malerische, optische Illusion zu überwinden, blieb eine unübertroffene Leistung der Malerei. Die Qualität der Immersion war vorerst nicht zu steigern. Zugleich liegen hier hinsichtlich der Vortäuschung von Zeit und Raum die Voraussetzungen für die virtuelle Realität, die dem Betrachter bzw. Benutzer erlaubt, sich in fiktiven, dreidimensionalen Welten zu bewegen. Erst mit der digitalen Nachbildung und Erzeugung von Räumen konnte der Ausblick zu einem Eintritt in eine andere Welt werden. Allerdings sind die jahrhundertelangen Anstrengungen, aus der Fläche heraus in den Raum des Betrachters hinein zu wirken, nicht zu unterschätzen. Spätestens seit dem barocken 17. Jahrhundert wurde die Augentäuschung – der Trompe-l’oeil – zu einer weit verbreiteten Praxis. Hierbei schufen Maler keine Räume hinter dem Bildträger, sondern versuchten dezidiert die Illusion von Gegenständlichkeit vor dem Bildträger zu erwecken.10 Beide Möglichkeiten der Täuschung, Raum hinter der Malfläche oder Räumlichkeit vor der Bildfläche wurden von den Malern Parrhasios und Zeuxis bereits in der Antike erprobt. Mit dem Film, der bewegte Bilder auf einer Leinwand lieferte, verstärkten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Möglichkeiten, aus einer Fläche in den Raum des Betrachters bzw. des Zuschauers hinein zu wirken. Berühmt ist das Beispiel der Brüder Lumière, die 1895 in einem Pariser Café einen Film zeigten, bei dem eine Lokomotive auf die Kamera, d.h. auf die Zuschauer, zufuhr.11 Die Anwesenden sprangen entsetzt auf, weil sie befürchteten, überfahren zu werden.

Aus der Antike über die Renaissance in den Barock bis zum Film des 20. Jahrhunderts hat ein beständiger technischer Fortschritt die Illusion, die Immersion, die Beteiligung des Betrachters an Dingen, die scheinbar hinter einer zweidimensionalen Fläche ablaufen, stetig verbessert. Hinter aber auch vor der Fläche oder der Leinwand wurden Realitäten vorgetäuscht, deren Existenz oft nur durch den Tastsinn und das Anfassen als Irreführung entlarvt werden konnten. Das Entdecken der Täuschung war von Anfang an mit eingeplant, womit zumindest der medientheoretischen Definition von Martin Doll nach ein Charakteristikum dessen vorliegt, was wir heute als Fake bezeichnen: „Fakes können nur dann ausreichend beschrieben werden, wenn man ihre Prozesshaftigkeit und damit verbundene Statuswechsel in den Blick nimmt.“12 In der Kunst- und Bildgeschichte führten Täuschungen und Ent-Täuschung zu Ruhm und Bewunderung. Noch heute wird bei Veröffentlichungen von Falschmeldungen deren Demaskierung eingeplant, worin eine besonders wichtige Funktion des Fake augenfällig wird: Es emotionalisiert, erregt Aufmerksamkeit und führt dazu, dass der Autor in aller Munde ist. Fake bildet für eine absehbare Zeit eine Empörungswelle.

Technisch blieb bei den Bild-Illusionen über Jahrtausende hinweg die zweidimensionale Fläche als unüberwindbare Grenze erhalten. Dies änderte sich erst mit der Digitalisierung in der ihr eigenen schnellen und vor allem grundlegenden Weise. In der Videospiel-Entwicklung wurden nicht nur künstlich generierte Welten erschaffen, der Spieler konnte nun auch in diesen handeln. Genau genommen handelt es sich um die „Darstellung erlebten Handelns“, bei der eine Figur im Spiel zugleich verkörpert und unbeteiligt vor dem Bildschirm betrachtet wird.13 Das komplizierte Verhältnis von Person und Identität in der Realität und im digitalen Raum des Spieles, der Sozialen Medien, der Chats etc. kann im gegebenen Rahmen nicht erläutert werden. Die Täuschung in virtuellen Realitäten erfolgt jedoch über den Einsatz von Avataren. Digitalisiert wurde das Bild zu einem Ereignis, das beeinflusst, verändert und gestaltet werden konnte. Ein geläufiges Beispiel sind Adventure oder Egoshooter, bei denen der Betrachter die Sicht des Handelnden einnimmt und über den Controller die sichtbaren Gliedmaßen im Spiel steuert. Die Immersion in die grafische Illusion wird dermaßen verstärkt, dass ein gefühlter Übertritt in die Spielewelt hinter dem Bildschirm erfolgt.14

Die totale Immersion in virtuellen Realitäten ist längst durchführbar. Hier ist die Distanz zwischen Wirklichkeit und künstlich konstruierter Welt weitgehend aufgehoben und der höchste Grad an Fake Reality erreicht. Das künstlich generierte Bild ist nun kein Gegenüber mehr, auf das man durch ein Fenster oder einen Bildschirm schaut. Aus dem Abbild der Welt ist eine zweite Welt geworden, in der man sich nicht nur bewegen, sondern die man auch gestalten kann. In Forschung und Entwicklung wird zunehmend versucht, alle Sinne zu aktivieren und die gefakte Welt so perfekt wie möglich zu gestaltet. Momentan reagiert der Körper oft noch mit Schwindel, Seekrankheit oder gar epileptischen Anfällen, dennoch wird das was früher ein Spiel mit Täuschung und Enttäuschung war, heute eine Möglichkeit zur Flucht aus der Realität. Die Folgen sind momentan noch nicht abzusehen. Kritiker warnen davor, dass sich die Nutzer in der Wirklichkeit immer schlechter zurechtfinden könnten, erst recht, wenn die Fake Reality einen durch und durch positiv gestimmten Raum anbietet, der frei von Frustration und Anstrengung ist.15

Die Entwicklung strebt in die Richtung, die im Film „The Matrix“ (1999) bereits vor der zweiten Digitalisierungswelle des 21. Jahrhunderts als Zukunftsvision vorhergesehen wurde: Den Menschen wird eine virtuelle Realität, d.h. ein Programm, direkt in das Gehirn implantiert, wodurch ein Unterschied zwischen Realität und digitalisierter Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen werden kann. Der hier ebenfalls thematisierte Transhumanismus, der durch den Aufschwung künstlicher Intelligenz ebenfalls ein aktuelles Thema ist, hat im Film zu einem negativen Ausgang geführt, da die Programme den Menschen beherrschen und in einer virtuellen Welt nur am Leben erhalten, um ihn als Energiequelle zu benutzen. Das Leben im Sinn von sozialem Handeln, emotionaler Bindung, sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung findet komplett als Fake Reality nur noch im Gehirn von Personen statt, die wie im Koma auf bequemen Sesseln liegen. Im Netz bewegen sie sich ähnlich wie im Computerspiel als Avatar, dessen Übereinstimmung mit dem realen Körper unendlich weit gedehnt werden kann. Allerdings braucht man für das Vortäuschen einer anderen Identität nicht unbedingt digitale Technologien, wie der nächste Abschnitt kurz darlegt.

1.3Simulation – Dissimulation – Verstellung – Realfakes

Die Idee, sich zu verstellen und so zu tun als ob, geht bis in die antike griechische Philosophie zurück. Berühmt ist die Ironie des Sokrates, mit der die Argumente des Gegners entkräftet wurden, indem der Redner sich selbst als unwissend darstellte. In der römischen Redekunst wurden simulatio und dissimulatio zu wichtigen Verhaltensmustern für Philosophen, Politiker und Herrschende. Die simulatio bezeichnete dabei die absichtliche Täuschung, etwas zu wissen, zu sein, zu haben, also wie das Wort bereits vorgibt, etwas zu simulieren, wohingegen die dissimulatio das Verbergen darstellt, also etwas was man weiß, kann oder hat einfach zu verschweigen. Cicero bemerkte bereits 55 v. Chr., dass die dissimulatio, also das Verstellen im Sinn von Verbergen, „städtisch“ und damit besonders tugendvoll sei.16 Um 70 n. Chr. erklärte der Rhetorik-Lehrer Quintilian, dass Simulation und Dissimulation in der Rede – sei es in der Politik oder vor Gericht zur Verteidigung – perfekt seien, um ein entkräftendes Lachen herbeizuführen.17 Abermals ist die Entdeckung, die im gegebenen Fall positive Wirkung nach sich zieht, fester Bestandteil der Täuschung. Während es in der Antike jedoch eine angesehene Kunst war, sich geschickt zu verstellen, sei es, indem man etwas verbarg oder vorgab, ist das anonyme Handeln durch digitale Avatare heute ein weitreichendes Problem.

Das Verstellen und die Lüge wurden bereits im zutiefst christlichreligiösen Mittelalter geächtet und verurteilt. Schon der bekannte Kirchenvater Augustinus hatte in der Spätantike ein ganzes Buch gegen das mendacium – die Unwahrheit und die Verstellung geschrieben, das als beispielhafte Schrift gegen das gottlose Laster gesehen wurde.18 Der Wandel von einem theozentrischen – auf Gott konzentrierten – Weltbild zu einem anthropozentrischen – auf den Menschen zentrierten – Weltbild brachte es seit dem Humanismus des 15. Jahrhunderts dann aber mit sich, dass in bestimmten Zusammenhängen erneut die Verstellung als positiv und rechtmäßig erachtet wurde. Einen Anteil daran hatten nicht zuletzt die in der Renaissance wiederentdeckten antiken Schriften, in denen das Verhaltensmuster als durchweg positiv beschrieben wurde.

Im berühmten Buch „Der Fürst“ von Niccolò Machiavelli, das 1513 geschrieben wurde und 1532 erstmals gedruckt vorlag, erfolgte eine radikale Wende, bei der nicht mehr das Abwägen zwischen gut und schlecht im Vordergrund der Überlegungen des Herrschenden stehen sollte, sondern alleine der politische Zweck.19 Innerhalb dieses Pragmatismus war es erlaubt, das Wort zu brechen und zu lügen. Oberste Maxime war es jedoch, schlau den Wortbruch zu verschleiern und zu verdecken. Die Möglichkeit, sich zu verstellen, wurde jedoch nicht nur den Herrschern als Machtmittel nahegelegt. Im 16. Jahrhundert begann sich in Europa die höfische Repräsentationskultur zu verbreiten. Zahlreiche Personen, insbesondere Adlige, wurden in verschiedenen Positionen an den Residenzen der großen und kleineren Fürstentümer und Königshäuser beschäftigt. Um in der höfischen Gesellschaft mit ihrer Etikette, den Ritualen und Zeremonien sowie der Diplomatie, Bündnisse und Intrigen überhaupt bestehen zu können, war die Verstellung eine Überlebensstrategie. Dabei wurde die dissimulatio explizit gegen die Lüge abgesetzt da sie nicht darauf ausgerichtet war, anderen zu schaden, sondern eher darauf, selbst keinen Schaden zu nehmen. Baldesar Castiglione – Diplomat und Schriftsteller – führte die Notwendigkeit von Simulation und Dissimulation weiter aus und machte sie zu Tugenden eines jeden Hofmannes.20 Unter dem Begriff der „sprezzatura“ lobte er in seinem Buch „Der Hofmann“ im Jahr 1528 die Fähigkeit und Eigenschaft eines jeden Höflings, alles leicht und mühelos erscheinen zu lassen: was man macht und sagt, geschieht scheinbar ohne Anstrengung und quasi ohne daran zu denken, wie die antiken Autoren ihre Rede vorbereiteten, indem sie ihr eigentliches Wissen verschleierten – „dissimulando il sapere“.21 Dies ist insofern von Bedeutung, als das Täuschen und Verstellen hier erstmals technisch mit einem Gegenstand erfolgt, nämlich der Maske. Diese dient als zweites Ich und in der Tat lautet das lateinische Wort für Maske „persona“.23 Der entscheidende Unterschied ist, dass der Ort ein virtueller ist.